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Er dreht den Kopf und schaut in den Wagen.Aus der Dunkelheit seiner Augen spricht purer Hass. Ich hatte noch keine Zeit, mich zu ducken. Mein kleiner Bruder ist auf den Boden des Autos gekrochen. Er kommt immer näher. Mutter fährt rückwärts in den Hof. Sie knallt noch einmal auf die Mülltonne. Das Geräusch von Auto gegen Tonne. Das Geräusch des Umkippens. Dosen fallen polternd auf den Hof.Und plötzlich hat er eine Axt in der Hand.In Wirklichkeit heißt Johanne gar nicht Johanne. Und ihr Bruder, Christian Eriksen, hat seinen Namen nach dem gleichnamigen Fußballspieler gewählt.Johanne und Christian sind auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Vater, und während sie einem neuen Leben hinterherjagen, jagt ihr Vater sie. Werden sie jemals frei sein?Die Jagd ist eine ernste, wichtige und fesselnde Serie über die harten Seiten des Lebens. Aber es ist auch eine warme, zeitgemäße Geschichte über Freundschaft, Verliebtsein und Neuanfang.
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Seitenzahl: 76
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Anne-Marie Donslund
Übersetzt von Alina Becker
Saga
Die Jagd – Undercover
Übersetzt von Alina Becker
Titel der Originalausgabe: Jagten - Undercover
Originalsprache: Dänisch
Copyright © 2023 Anne-Marie Donslund und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728236383
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung des Verlags gestattet.
www.sagaegmont.com
Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.
Ich fühle mich wie ein gejagtes Tier …
Ständig auf der Hut.
Ständig schaue ich über die Schulter.
Hat er uns gefunden? Mein Vater.
Ist jetzt alles vorbei?
Während wir einem neuen Leben hinterherjagen, jagt er uns.
Er wird uns niemals gehen lassen.
Niemals …
„Hast du dir überlegt, wie du heißen willst?“, fragt Mutter.
Ich löse mich von meiner Zeitschrift und schaue in den Spiegel. Mein Haar ist voller Alufolie. Es riecht stechend.
„Hm“, sage ich. Das ist weder ein Ja noch ein Nein. Warum müssen wir überhaupt umziehen? Es ist schön hier. Nette Leute, die sich um uns kümmern. Wachen vor der Tür.
Mutter sucht meinen Blick. Sie taucht den Pinsel in die Farbe und malt Strähne für Strähne an. Dann faltet sie ein Stück Folie um und nimmt ein neues. Ihre Hände zittern ein wenig. Aber nicht so sehr wie früher. Der gebrochene Finger ist verheilt. Die Narben auf ihren Armen sind weiß geworden.
„Christian Eriksen“, ruft mein kleiner Bruder. Er sitzt auf dem Stuhl neben mir, ein Handtuch um sein Haar gewickelt. Er schaut Fußball auf einem iPad, das wir uns ausgeliehen haben.
„Ein Mädchen kann nicht Christian heißen“, sagt meine Mutter.
„Ich möchte Christian Eriksen heißen“, sagt er.
„Das ist ein Fußballer.“ Ich zeige auf ein Foto in der Zeitschrift. Der echte Christian Eriksen, der mit einer Frau in einem langen weißen Kleid auf einem Ball im Schloss ist. Sie hat eine Tätowierung auf der Schulter. Vielleicht könnte Mutter sich ein Tattoo stechen lassen, um die Narben zu verdecken?
Mutter gibt einen Laut von sich, der fast wie ein Lachen klingt. „Oh, ich dachte nur, er würde sich auf Prinz Christian beziehen. Dann könntest du Isabella heißen.“ Sie drückt mir die Schulter und lächelt. Es ist ein trauriges Lächeln.
Aber es ist besser als alles, was wir seit Langem gesehen haben.
„Und dann wärst du Mary, was?“, sage ich.
„Mary“, wiederholt Mutter und wird still. Diesmal wird nicht mehr gelacht.
Es knistert auf meinem Kopf. Draußen auf dem Flur hören wir jemanden weinen. Mutter hebt den Kopf und hört zu. Dann taucht sie den Pinsel ein und malt weiter.
Ich lasse meinen Blick schweifen. Es ist schön geworden hier drin. Wie in einem echten Friseursalon. Den anderen Bewohnern gefällt es. Dem Personal auch. Jeder will einen Haarschnitt von ihr.
„Oder Marianne“, sagt sie. „Das hat mir schon immer gefallen.“
„Marianne Eriksen“, sage ich.
„Eriksen?“
„Wenn er Christian Eriksen heißen soll, müssen wir auch Eriksen heißen“, sage ich und zeige auf meinen kleinen Bruder.
„Hallo. Wir sind die Familie Eriksen.“ Mutter hält einer unsichtbaren Person die Hand hin.
„Marianne Eriksen, Isabella Eriksen und Christian Eriksen.“
Es beginnt und endet mit Geräuschen.
Rufen, Schreien, Schlagen, Weinen.
Glas wird gegen die Wand geschmettert.
Möbel werden umgestoßen und herumgeworfen.
Tritte gegen Türen und auch gegen uns.
Ich halte meinen kleinen Bruder ganz fest im Arm. Halte ihm die Ohren zu, damit er nicht alles hören kann. Aber aus seinen Augen spricht die pure Angst. Sein Atem riecht nach Eisen. Er hat sich in die Wange gebissen.
Eine Tür schlägt zu. Schritte auf der Treppe. Stille.
Endlich wird es still.
Mein Puls pocht in meinen Ohren. Mein kleiner Bruder atmet röchelnd.
Dann sind da die Geräusche von der Straße. Ein Bus fährt. Menschen gehen vorbei. Sie reden miteinander. Und lachen. Ein Krankenwagen in der Ferne.
Aber in unserer Wohnung ist es ruhig. Ich halte den Atem an und lausche.
Irgendwo in dem Gebäude knarrt der Boden. Jemand spielt Musik. Gitarre. Aber aus dem Wohnzimmer und der Küche … kein einziger Ton.
Ist sie tot? Hat er sie dieses Mal getötet?
Dann endlich hören wir, wie sich jemand bewegt und stöhnt. Ein Schleifen auf dem Boden. Das Geräusch kommt langsam näher. Wir können hören, wie sie ihre Hände gegen die Tür stemmt, um aufzustehen.
„Die Koffer“, flüstert eine belegte Stimme durch die verschlossene Tür. Das klingt nicht nach Mutter.
Der Griff bewegt sich nach unten – und wieder nach oben. Versucht er, uns mit einem Trick zum Öffnen der Tür zu bewegen? Nein, das ist unmöglich. Niemand außer Mutter weiß, dass ich zwei Koffer bereithalte. Die Idee stammt aus einem Buch über eine Frau, die ihr ganzes Leben lang einen Koffer bei sich trug, um an dem Tag, an dem ihr alles zu viel wurde, zu gehen.
Dieser Tag ist gekommen.
Wir springen aus dem Bett und öffnen die Tür. Mutter kippt förmlich in den Raum. Ihr Gesicht und ihre Kleidung sind blutverschmiert. Ihre Lippen geschwollen. Ein Auge geschlossen. Überall hat sie Kratzer und Schnitte. Mein kleiner Bruder schnappt nach Luft und fängt an zu weinen.
„Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, flüstert Mutter und streicht ihm über die Wange.
Ich hole die Koffer aus dem Schrank. Erst gestern habe ich einige der Kleidungsstücke ausgetauscht. Wir sind bereit.
Wir laufen die Hintertreppe hinunter. In den Hof. Koffer auf den Rücksitz. Mutters Hände zittern so sehr, dass ich ihr helfen muss, den Autoschlüssel ins Schloss zu stecken.
Zuerst springt der Wagen nicht an.
Dann kriegt sie den Rückwärtsgang nicht rein.
Schließlich gelingt es ihr. Der Wagen macht einen Satz nach hinten und stößt gegen etwas. Mein kleiner Bruder schreit.
„Pssst“, sage ich. Dann wird er still.
„Es war nur ein Mülleimer“, sage ich. „Es ist nichts passiert.“
Mutter wendet das Auto und fährt durch das Tor. Unsere Lichter leuchten auf die Straße hinaus.
Zur gleichen Zeit kommt er über den Bürgersteig gelaufen. Getaumelt. Gewackelt.
„Schließt die Türen ab“, flüstert Mutter.
Es ist ein altes Auto ohne Zentralverriegelung.
Ich schließe die Vorderseite ab, mein kleiner Bruder schließt die Rückseite ab.
„Duckt euch“, flüstert Mutter.
„Ich hatte an Johanne gedacht“, sage ich.
„Nun …“ Mutter wickelt die letzten Haare in Folie ein.
„Das bedeutet: Gott ist barmherzig.“
„Ich hätte einfach nie Johanne als Namen für dich ausgesucht“, sagt Mutter.
„Du hast gesagt, ich könne es selbst entscheiden.“
„Ja, aber du bist doch gar keine Johanne.“
„Warum kann ich nicht genauso gut eine Johanne sein wie eine Isabella? Ich bin doch keine Prinzessin.“
„Du bist meine Prinzessin“, sagt Mutter. „Du bist das schönste Mädchen der Welt.“
„Lass gut sein, Mutter.“
Ich weiß, dass ich Glück mit der Symmetrie meines Gesichts habe. Das ist durchaus ein Vorteil. Unser Instinkt sagt uns, dass Symmetrie schön ist. Die Menschen sind symmetrischen Formen gegenüber aufgeschlossener. Aber jetzt möchte ich nicht verraten, dass Johanne auch „schön wie die Liebe“ bedeutet.
„In meiner Volksschule gab es nur eine“, sagt Mutter, während sie zur Spüle geht und den Farbtopf auswäscht.
„Eine was?“
„Eine Johanne.“ Ihr Rücken wirkt steif.
„Die du nicht ausstehen konntest, richtig?“
Mutter dreht sich um. Ihre Augen schwimmen förmlich. Das Einzige, was sie mir über die Volksschule erzählt hat, war, dass sie und Papa sich dort kennengelernt haben. Er war einer dieser harten Kerle, die rauchten und Moped fuhren. Mutter war die Süße im rosa Kleidchen.
Sie hätte nie erwartet, dass es so kommen würde. Dass er Alkohol und Drogen verfallen würde. Immer krank vor Eifersucht. Woher hätte sie das wissen sollen?
„Wann kann ich das ausziehen?“, fragt mein kleiner Bruder.
„Du musst noch zehn Minuten sitzen bleiben“, sagt Mutter.
„Ich will aber nicht“, schreit er. „Es juckt.“
„Wenn du sitzen bleibst, nenne ich dich Christian Eriksen“, sagt Mutter.
„Dann kannst du mich jetzt so nennen.“
„Okay, Christian Eriksen“, sagt Mutter.
„Ja“, sagt er. „Ich bin Christian Eriksen.“ Christian Eriksen richtet sich auf und lächelt mich an. Er hat zwei Zähne verloren und liebt es, seine Zunge durch die Lücken zu stecken. Ich frage mich, wie er mit blondem, lockigem Haar und Brille aussehen wird.
Ich nehme meine eigene Brille und setze sie auf. Das ist eigentlich ganz nett. Ich sehe fast klug aus.
„Wir haben in der Schule nebeneinandergesessen“, sagt Mutter und nimmt die Trockenhaube in die Hand.
„Johanne war also deine Freundin?“
Mutter antwortet nicht. Sie setzt mir die Trockenhaube auf. Sie ist alt, funktioniert aber noch gut. Meine Mutter hat das Frauenhaus dazu gebracht, sie online gebraucht zu kaufen. Sie schaltet sie ein, und um mich herum fängt alles zu summen an. Jetzt können wir nicht mehr miteinander reden. Ich lese weiter über den Ball im Schloss. Früher fand ich das Königshaus mal klasse.
Mutter und ich spielen Königsfamilie. Sie ist mit meinem kleinen Bruder schwanger, und ihr Bauch ist riesig. Wir basteln uns Kleider aus Decken und Vorhängen.
Wir wickeln sie um uns herum. Legen uns goldene Gürtel an. Und setzen uns Diademe ins Haar.