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Marius von Cysewski und Alexander Schulte, beide geboren zur Jahrtausendwende, sind schon als kleine Kinder begnadete Fußball-Talente. Als sie 14 Jahre alt sind, wechseln sie unabhängig voneinander zu Borussia Dortmund, um sich ihren Traum vom Profifußball zu verwirklichen. Sie schaffen es in die Jugend-Nationalmannschaft und leben das Leben der Stars von morgen: Ausrüsterverträge, ein Leben zwischen Trainingsplatz und Flughafen, gefeierte Auftritte in schwarz und gelb. Ihre komplette Jugendzeit bleiben Alex und Marius beim BVB, den Blick immer nach oben gerichtet, zu den Profis. Doch der Weg dorthin ist steinig und schwer: Trainer, die mehr an der Tabelle als an der Weiterentwicklung ihrer Schützlinge interessiert sind, Verletzungen, mangelnde psychologische Betreuung, Einsamkeit und knallharter Konkurrenzkampf im Fußballinternat. Am Ende entscheiden sich die beiden trotz ihres Ausnahmetalents gegen ein Leben als Berufssportler und für eine klassische Berufsausbildung – aus Konkurrenten sind Freunde geworden. Sie bereuen nichts, nehmen aber bei der Kritik an fragwürdigen Trainingsmethoden und Nachwuchs-Förderkonzepten kein Blatt vor den Mund.
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Seitenzahl: 278
Prolog
Ottendorf-Okrilla
Die Heide rennt
Ein Tor für den Hund
Adidas Predator
Entscheidend is aufm Platz
Wenn du möchtest, kannst du nächstes Jahr beim BVB spielen
Dortmund hat angerufen
Ritterschlag aus Lissabon
Remember the day
Gündogan muss warten
Hells Bells
Deutschland, richtig heftig
HUH!
Herr von Cysewski, wie schätzen Sie die Ausgangslage für das Rückspiel ein?
NBA2K
Der Footbonaut
Wie viel vom Traum der Jahrtausendfußballer noch übrig ist
Chancen? Tod.
Cisse, nimms nicht so schwer!
Alex in Australien
Irgendwie ein total schöner Tag
Paderborner
Danksagung
Das alte Jahrtausend endet mit einem Versprechen: Im Oktober 1999 steht Sebastian Deisler vor seinem Debüt als deutscher Nationalspieler. Deisler gilt als eines der größten Fußballtalente der vergangenen Jahre. Im Sommer ist er für 4,5 Millionen Mark von Borussia Mönchengladbach zu Hertha BSC gewechselt. Ein Spielgestalter, ein begnadeter Techniker. Ein Sehnsuchtsfußballer. Und selten war die Sehnsucht nach Talenten in Deutschland so groß wie jetzt.
Ein Jahr zuvor, bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich, ist die DFB-Auswahl im Viertelfinale an Kroatien gescheitert. Den aufregenden Fußball haben andere Nationen gespielt: Brasilien, Dänemark, Holland – vor allem aber der Weltmeister Frankreich, dessen Triumph auch das Ergebnis einer intensiven Talentförderung ist.
Das jüngste Mitglied im deutschen Kader bei der Weltmeisterschaft war Jens Jeremies gewesen, 24 Jahre alt. Symbolfigur dieser in die Jahre gekommenen Auswahl ist Lothar Matthäus, geboren am 21. März 1961. Die Verantwortlichen im deutschen Fußball hatten sich von den Erfolgen der Vergangenheit und der Wiedervereinigung blenden lassen. Nach dem Sieg bei der WM 1990 hatte sich Teamchef Franz Beckenbauer auf der Pressekonferenz am eigenen Erfolg berauscht: „Wir sind jetzt die Nummer eins in der Welt. Wir sind schon lange die Nummer eins in Europa. Jetzt kommen die Spieler aus Ostdeutschland noch dazu. Ich glaube, dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird.“
Zwar wurde Deutschland 1996 tatsächlich noch einmal Europameister, doch die Folgen der jahrelangen Überheblichkeit waren bereits deutlich sichtbar. Ein modernes Konzept zur Förderung des Nachwuchses wird von Experten seit Jahren gefordert, passiert ist so gut wie nichts. Ende des Jahrtausends ist das ganze System veraltet. Umso größer sind die Hoffnungen, die nun auf den schmalen Schultern von Sebastian Deisler ruhen.
Kurz vor seinem anstehenden Debüt in der Nationalelf muss der 19-Jährige bereits Vergleiche mit dem ehemaligen Weltfußballer Lothar Matthäus aushalten, der einige Monate nach Deislers Geburt seine ersten Spiele für Deutschland bestritt – und noch immer im DFB-Kader steht. Deisler scheint bereits zu ahnen, wie schwer es für ihn in den kommenden Jahren werden wird: „Die wollen aus mir einen Popstar machen. Dabei will ich nur ein guter Fußballer sein.“
Vier Monate nach diesem Zitat spielt Deutschland vor 50 000 Zuschauern ein Freundschaftsspiel gegen Holland in Amsterdam. Beide Teams treten bei der anstehenden Europameisterschaft an, die Holländer als Gastgeber, die Deutschen in ihrer Rolle als ewige Turniermannschaft.
Wie weit die DFB-Auswahl allerdings von einem Titel entfernt ist, zeigt sich in den ersten 45 Minuten. Die Taktik von Trainer Erich Ribbeck stammt nicht nur aus dem letzten Jahrtausend, sie offenbart auch, wie wenig Möglichkeiten diese Nationalmannschaft eigentlich hat. Zur Halbzeit können die Deutschen froh sein, dass es nur 1 : 2 steht. All das, was Ribbecks Riege nicht zu bieten hat, zeigen die Gastgeber: Spielwitz, Raffinesse, Kreativität. Das Ergebnis einer langjährigen hochmodernen Jugendarbeit.
Dies ist die Situation, in der Sebastian Deisler sein Debüt feiert. In der zweiten Hälfte kommt er für den glücklosen Zoltan Sebescen. Die Niederlage kann auch er nicht mehr abwenden.
Das Ergebnis des Testspiels gegen Holland verstärkt die Diskussionen um die Nachwuchsarbeit in Deutschland. Karl-Heinz Rummenigge orakelt düster: „In der Nachwuchsarbeit moniere ich seit Jahren extreme Mängel. Mit Rennen, Kämpfen und Kondition allein kann man heute nichts mehr gewinnen. Die Spanier, die Portugiesen, die Niederländer, die Engländer und Franzosen sind bei den Junioren rechts und links an uns vorbeigezogen.“
Immerhin: Es bewegt sich was im deutschen Fußball. Der DFB denkt laut darüber nach, die Lizenzvergabe für die Bundesliga an entsprechend ausgestattete Jugendinternate zu knüpfen, so wie es in Frankreich bereits seit Jahren der Fall ist. Als Vorbild dient ausgerechnet ein Markenzeichen der untergegangenen DDR: das Modell der „Kinder- und Jugendsportschulen“, kurz KJS. 19 der 22 Sportinternate existieren noch. Während man im wiedervereinigten Deutschland über dieses sportsozialistische Erbe jahrelang die Nase gerümpft hat, kopierte und modernisierte Holland das Modell. Nun, knapp ein Jahrzehnt nach dem Fall der Mauer, gelten Sportinternate plötzlich als Heilsbringer.
Mit viel Pomp eröffnet im Februar 2000, stellvertretend für viele andere Traditionsklubs der Bundesliga, der Hamburger SV sein neues Jugendleistungszentrum. HSV-Cheftrainer Frank Pagelsdorf zeigt sich begeistert: „Solche Bedingungen hätte ich als jugendlicher Spieler auch gerne gehabt.“
Im April 2000 werden in Frankfurt am Main die Weichen für die Zukunft des deutschen Fußballes gestellt: Vom 1. Juli 2001 an müssen Lizenzvereine Leistungszentren und qualifizierte Ausbilder für den Nachwuchs nachweisen, um die Lizenz zur Teilnahme am Spielbetrieb in der Ersten und Zweiten Bundesliga zu erhalten. „Das ist keine Revolution“, sagt DFB-Teammanager Bernd Pfaff, „wir schließen nur zu anderen Ländern auf.“
Ein weiteres Detail dieses längst überfälligen Konzeptes sieht vor, dass alle Klubs mindestens 60 Prozent der Förderverträge mit für Deutschland spielberechtigten Talenten abschließen müssen. Das Ziel ist klar: Mittelfristig soll damit auch das Leistungsniveau der Nationalmannschaft angehoben werden.
Kurzfristig ist der DFB-Auswahl nicht mehr zu helfen. Bei der Europameisterschaft schickt Deutschland eine Mannschaft ins Rennen, die im Schnitt 28,5 Jahre alt ist und von einem Trainer angeführt wird, über den Mittelfeldmann Carsten Ramelow später sagen wird: „Ich glaube schon, dass er Ahnung hatte. Aber das brachte er nicht rüber.“
Der 23-jährige Michael Ballack und der 20-jährige Sebastian Deisler sind die einzigen jungen Hoffnungsträger in diesem Kader, doch auch sie können nicht verhindern, dass das Turnier zu einem Fiasko wird. Das Niveau dieser EM ist beeindruckend hoch, doch die Deutschen gehören zu den großen Verlierern und scheiden bereits in der Vorrunde aus.
Was noch schlimmer wiegt als der sportliche Misserfolg, ist die Art und Weise, wie sich die Spieler ihrem Schicksal ergeben. „Vier Jahre nach dem Triumph von Wembley“, schreibt der Spiegel, „ist das deutsche Team am absoluten Tiefpunkt angekommen.“
Nachdem der erste Schock überwunden ist, sucht das Land nach den Ursachen für das sportliche Desaster – und findet sie in der jahrzehntelang vernachlässigten Jugendarbeit. „Die Besten sind uns in dieser Hinsicht zehn Jahre voraus“, analysiert der in der Realität angekommene Franz Beckenbauer. Berti Vogts fordert in einem Brandbrief in der Welt am Sonntag „ein totales Umdenken. Wir müssen – vor allem in der Nachwuchsförderung – völlig neue Wege gehen. Wir brauchen neue Strukturen, neue Arbeitsweisen und neue Philosophien, um unseren Fußball auf längere Sicht wieder dahin zu bringen, wo er einmal war.“
Was hier zu Beginn des neuen Jahrtausends passiert, ist die Grundlage für den WM-Sieg 2014 und Fundament für all das, was in diesem Buch steht.
2011, elf Jahre nach dem Debüt von Sebastian Deisler, ist in der offiziellen Broschüre der Deutschen Fußball-Liga zu lesen: „Das Aus in der Vorrunde bei der EM 2000 war der Schlüsselmoment: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts stand der deutsche Fußball am Abgrund – es fehlte ihm jegliche professionelle Basis. Was folgte, war eine Revolution der Jugendarbeit.“
Am 27. Januar 1999 kommt Alexander Schulte zur Welt. Ein Jahr später, am 5. Januar 2000, wird Marius von Cysewski geboren.
Dies ist die Geschichte zweier Jahrtausend-Talente.
Als Alexander Schulte drei Jahre alt ist, schenken ihm seine Eltern einen Fußball und Markierungshütchen.
Das Wohnzimmer der Schultes in Ottendorf-Okrilla, einer 10 000-Einwohner-Gemeinde im Landkreis Bautzen, wird zum ersten Stadion im Leben des zukünftigen Nationalspielers. Stundenlang dribbelt er mit dem Ball um die Hütchen herum. Das gibt’s doch gar nicht, denkt sich Vater Ralf und erkennt bald, dass in den kleinen Füßen seines Sohnes ein ganz besonderes Talent steckt. Sport liegt bei der Familie in den Genen: Schwester Larissa ist fünf Jahre älter und eine hochbegabte Schwimmerin. Auch ihr Bruder ist ein natürliches Bewegungstalent. Im Wendehammer, an dem die Doppelhaushälfte liegt, finden regelmäßig heiß umkämpfte Rollhockeywettkämpfe statt.
Dem Alex musstest du nur irgendein Spielgerät hinwerfen, und nach ein paar Minuten hatte der das drauf, erinnert sich Ralf Schulte.
Angelika und Ralf stammen aus dem Sauerland. Für Ralfs Studium ging das Paar nach München, 1995 kam hier Larissa zur Welt. Einige Jahre später zog es die Kleinfamilie nach Ottendorf-Okrilla, wo Ralf als selbstständiger Handelsvertreter tätig wird. Die Schultes wollen ihren Kindern eine heimelige Umgebung schaffen, dazu gehört auch die Möglichkeit, sich sportlich auszutoben. Zehn Minuten entfernt wartet ein Ascheplatz auf die Ausbildung der Stars von morgen. Der gemeinsame Gang dahin wird zum Ritual von Vater und Sohn. Immer mit dabei: Hütchen und Ball. Dribbeln und Abschluss, dribbeln und Abschluss. Alex wird nicht müde, der Ball sowieso nicht, und mit jeder Übungsstunde verschmelzen beide mehr zu einer Einheit.
Eine weitere Gewohnheit wird der morgendliche Wettbewerb auf dem Rasenstück zwischen Haustür und Gartenzaun. Tagessieger ist, wer zuerst drei Tore erzielt hat. Meistens gewinnt Alex. Er ist vier Jahre alt, als er sein erstes Probetraining absolviert. Für die Ausbildung seines Juniors kommen eigentlich nur zwei Vereine infrage. Der SC Borea Dresden, ein Klub, der für seine gute Jugendarbeit bekannt ist, und natürlich das Aushängeschild der Region, die SG Dynamo Dresden.
Anfang der Nullerjahre ist der achtfache Meister der DDR gerade dabei, sich von den Nackenschlägen der jüngeren Vergangenheit zu erholen. Bis 1995 hatte sich Dynamo in der Bundesliga halten können, wurde dann jedoch wegen finanzieller Versäumnisse mit dem Zwangsabstieg in die dritte Liga bestraft und stieg zur Jahrtausendwende gar in die Oberliga Nordost ab. Vier Jahre später, als die Schultes auf der Matte stehen, ist der Traditionsklub jedoch wieder zweitklassig und hat trotz der Berg-und-Tal-Fahrt nichts von seiner Anziehungskraft in der Region eingebüßt. Auch Alex war schon im Rudolf-Harbig-Stadion, hat die stürmische Leidenschaft der Dynamo-Fans erlebt, die bei dem fußballbegeisterten Jungen einen bleibenden Eindruck hinterließ. Einmal darf Alex als Einlaufkind mit auf den Rasen, sogar an der Hand von Publikumsliebling Joshua Kennedy, einem 1,94 m großen Australier mit langen Haaren. An den Geruch von Kennedys Menthol-Kaugummi kann sich Alex bis heute erinnern.
Die Trainer von Borea Dresden würden Alex am liebsten gleich dabehalten. Doch Dynamo ist eben Dynamo, und deshalb entscheidet er sich schließlich für die Bambini der SGD. Es ist der Beginn einer jahrelangen Beziehung zwischen dem Ausnahmetalent und seinem Ausbildungsverein.
Etwa ein Jahr später wird auch Marius von Cysewski erstmals bei einem Verein vorstellig. Der SV Heide Paderborn liegt nur zwei Fußminuten vom Haus der von Cysewskis entfernt. Das erste Vorspielen seines jungen Lebens endet für Marius mit einer Niederlage: Er sei zu klein, sagen die Übungsleiter. Kommen Sie doch noch mal in ein paar Monaten wieder. Marius heult wie ein Schlosshund. Aber ein paar Monate später ist er tatsächlich wieder da, und diesmal darf er bleiben. Die Tränen sind da längst vergessen.
Leyla von Cysewski ist geboren und aufgewachsen im türkischen Amasya, einer 100 000-Einwohner-Stadt in der nördlichen Schwarzmeerregion. Mit neun Jahren zog sie gemeinsam mit ihren Eltern nach Bottrop. Für eine Ausbildung zur Arzthelferin kam sie Jahre später nach Paderborn und lernte dort Theo kennen, einen Steuerberater mit eigener Kanzlei mitten in der Stadt. Zweieinhalb Jahre nach Marius’ Geburt kommen die Zwillinge Lukas und Katharina zur Welt. Sie werden zu den ersten Bewunderern der Spielkunst ihres großen Bruders, der nur selten ohne Ball am Fuß anzutreffen ist. Bei den von Cysewskis geht es trotz der türkischen Wurzeln von Leyla ziemlich deutsch zu. Als sie ihrem Junior einmal versucht, ein paar Brocken Türkisch beizubringen, reagiert der mit einer Heulattacke. Das Projekt Zweisprachigkeit wird abgeblasen.
Der Marius, sagt Alex Schulte, ist der größte Alman überhaupt.
Auf dem Weg zum Kindergarten oder zur Schule ist dieser Alman mit den dunklen Haaren Maradona, ohne Ball geht nichts. Zu Hause kämpft er tapfer für sein Recht, zumindest die erste Halbzeit von wichtigen Champions-League-Spielen im Fernsehen zu verfolgen. Das erste Lied, das er auswendig singen kann, ist der Klassiker „Die Elf vom Niederrhein“, ein Liebeslied für Borussia Mönchengladbach. Ein Freund der Eltern hat es ihm beigebracht.
Der Fußball in Bundesliga und Königsklasse ist für Marius ein Mythos. So groß und so entfernt von seiner eigenen Realität in Paderborn, dass der Wunsch, irgendwann einmal Teil dieses Mythos zu werden, immer größer wird. Die ersten Schritte in diese Richtung macht er bei den Minikickern des SV Heide. Nach ein paar Trainingseinheiten und Spielen gesteht der Trainer den Eltern, dass er schon viele kleine Jungs trainiert habe, aber solch ein Talent wie Marius noch nie. Stolz beobachtet Vater Theo, wie sein Ältester, anders als dessen Mitspieler, beim Dribbeln den Kopf hebt und sich so eine Übersicht über das Spielfeld verschafft.
Die Sommerferien verbringt Marius in einer Fußballschule. Eine Woche lang Fußball jeden Tag, was für ein Fest! Zum Abschluss werden die Sieger in den Wettbewerben Elfmeterschießen, Torwandschießen und Dribbling-Parcours gekürt. Marius wird zweimal Erster und einmal Zweiter. Seinen Eltern ist das fast schon unangenehm. Ihr Sohn hat nur noch das Kicken im Kopf.
An die Erfolge ihres Nachwuchses müssen sich Leyla und Theo jedoch gewöhnen. Einen der größten Siege in seiner Kindheit feiert Marius bei der im Vorfeld der Europameisterschaft 2008 ausgetragenen Paderborner „Mini-EM“. Mit Team Portugal erreicht er das Finale gegen Team Russland und gewinnt spektakulär im Elfmeterschießen.
In meinem Team bist du Cristiano Ronaldo, lobt ihn der Trainer – ein größeres Kompliment kann es für einen fußballverrückten Jungen gar nicht geben.
Was das Turnier außerdem so außergewöhnlich macht: Vor so vielen Zuschauern hat Marius noch nie gespielt. Eine Erfahrung, die den Traum vom Profifußball noch verstärkt. Das Zeitungsfoto am nächsten Tag zeigt einen wilden Haufen jubelnder Kids in Portugal-Trikots und mit bunt angemalten Gesichtern.
Ein anderes Turnier findet in Ibbenbüren statt. Drei Tage Fußball mit Jugendmannschaften aus ganz Europa. Die Kinder übernachten auf Sportmatten in einer Turnhalle. Marius bekommt einen ersten Eindruck davon, was für eine Dynamik diese spezielle Mischung aus verschworener Gemeinschaft und Turniermodus haben kann – als jüngerer Jahrgang kegeln die Jungs ihre ein Jahr ältere E1 aus dem Wettbewerb und werden am Ende sensationell Zweiter. Was nicht nur an Marius liegt. Der 2000er-Jahrgang vom SV Heide ist ein goldener, mindestens vier Spieler ragen heraus, und als Heide ein Jahr später wieder in Ibbenbüren zu Gast ist, gewinnt die Mannschaft das Turnier souverän – mit 8 : 0 im Endspiel gegen die eigene Zweite.
Als Fußballer besitzt Marius eine beeindruckende Auffassungsgabe, ein in die Wiege gelegtes Talent. Er lernt wahnsinnig schnell. Nur nicht, wie man anständig verliert. Weil er bei Niederlagen regelmäßig anfängt zu weinen, scherzen seine Eltern schon, dass er auch Werbung für Taschentücher machen könne – und geben ihm gleichzeitig eine wichtige Lektion mit auf den Weg: Tränen sind erlaubt. Nur nicht, wenn der Ball noch rollt.
Das Prinzip der Auslese gehört zum Fußball wie das Tornetz und der Schiedsrichter. Die vermeintlich besten Spieler stehen auf dem Platz oder in der ersten Mannschaft, und wer besonders herausragt, der bekommt das schon früh in Form von Auswahleinladungen mitgeteilt. In Marius’ Fall sogar sehr früh, denn als er erstmals für die E-Jugend-Auswahl im Kreis Paderborn nominiert wird, ist er eigentlich noch zwei Jahrgänge von dieser Kategorie entfernt. Doch selbst im Duell mit den talentiertesten Kickern aus dem Jahrgang 98 ragt er heraus. Seine Eltern sehen dies durchaus kritisch, sie wollen nicht, dass der Junge von düpierten Älteren zusammengetreten wird. Hinzu kommt, dass sich Theo und Leyla zwar schon viele Zukunftspläne für ihren Sohn ausgemalt haben, eine Tätigkeit als Berufsfußballer in diesen Gedankenspielen aber noch nicht vorkam.
Der hatte Köpfchen, sagt Leyla. Und noch ganz andere Qualitäten als bloß Fußball. Papa Theo ist es vor allem wichtig, den von allen Seiten in den Himmel gelobten Junior auf dem Boden der Tatsachen zu halten: Marius, denk daran, dass es immer jemanden geben wird, der besser ist als du, schärft er ihm regelmäßig ein. Ein Satz, den er auch noch dann wiederholen wird, als der Wechsel zu Borussia Dortmund bereits in trockenen Tüchern ist.
Marius’ Eltern ist es wichtig, sich nicht zu sehr in das Hobby ihres Sohnes einzumischen. Sie wissen, dass zu einer vernünftigen Ausbildung in einem Mannschaftssport auch die Kommunikation zwischen Spielern und Trainer gehört und dass neugierige Eltern in einer Kabine nichts zu suchen haben. Weil Theo aber selbst mal Fußball gespielt hat und weil das schließlich sein Sohn ist, fragt er ihn nach jedem Spiel, ob er die Meinung des Vaters hören wolle. Meistens sagt Marius Ja.
„Alles, was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball“, hat der Literaturnobelpreisträger (und Torwart!) Albert Camus mal gesagt, und Marius weiß ganz genau, was damit gemeint ist. Beim SV Heide bekommt er auf spielerische Art und Weise vermittelt, wie sich ein Mensch in der Gemeinschaft zu verhalten hat und dass die vermeintlich Stärkeren in der Pflicht sind, die vermeintlich Schwächeren unter ihre Fittiche zu nehmen. Im Spitzenfußball kann man diese Prinzipien schnell verlernen, aber bei all dem Geld, dem Glitzer und dem Glamour hat noch keine Fußballmannschaft dieser Welt Erfolg gehabt, ohne ein gewisses Maß an Moral und Verantwortungsgefühl an den Tag zu legen.
Marius ist ein sportlicher Überflieger. Einer, der das Spiel an sich reißt, den Rhythmus bestimmt wie ein routinierter Dirigent und schon in der E- und D-Jugend wunderschöne Torvorlagen gibt. Aber noch mehr reift er mit jedem Jahr zu einem immer besseren Mannschaftsspieler. Stellt sich die Frage, wie lange so ein Fußballer noch beim SV Heide bleiben wird.
Kurz bevor Alex eingeschult wird, zieht Familie Schulte um und findet ein neues Zuhause im Dresdener Stadtteil Leutewitz. Larissa braucht nicht mehr im Internat des Sportgymnasiums zu wohnen und Alex nicht mehr 40 Minuten zum Training kutschiert zu werden. Vater Ralf, fußballbegeistert seit jeher, besitzt einen Trainerschein und coacht zunächst den Jahrgang 1997, Alex hat ihn schließlich in seinem letzten Jahr in der F-Jugend als Trainer an der Seite stehen. Keine leichte Aufgabe, denn nur allzu schnell läuft man in so einer Position Gefahr, den Vorwurf zu hören, den eigenen Nachwuchs zu bevorzugen. Ralf wählt die bestmögliche Option und wird fortan zum größten Unterstützer, aber auch schärfsten Kritiker seines Juniors. Dazu gehört auch eine klare Ansage: Wenn wir auf dem Platz stehen, bin ich dein Trainer. Wenn das Spiel vorbei ist, bin ich wieder dein Vater. Nur folgerichtig, dass Alex seinen Papa beim Fußball respektvoll mit „Trainer“ anspricht.
Tatsächlich könnte sich der Trainer Schulte kaum einen besseren Spieler vorstellen als seinen Sohn. Wenn Alex morgens aufwacht, überlegt er als Erstes, welchen Fuß er heute nehmen soll. Er ist nämlich beidfüßig, kann den Ball rechts wie links zigmal hochhalten. Neben sehr viel Talent besitzt er einen brennenden Ehrgeiz, der sich manchmal in Tränen der Wut, in der Regel aber in Toren und Pokalen zeigt. Sein erster individueller Preis – für den besten Spieler des Turniers – ist ein kleiner Becher. Im Laufe der Zeit wird die Vitrine im Kinderzimmer immer voller. Wenn er mal Ladehemmung hat, braucht sein Vater-Trainer ihn nur bei der Ehre zu packen, und schon startet die Nummer 11 der kleinen Dynamos durch. Jetzt mach mal was!, ruft Ralf nach dem ersten, unspektakulären Spiel eines Hallenturniers, und Alex zündet den Turbo. Ergebnis: Auszeichnung als bester Spieler und Torschützenkönig. Wie so oft in dieser Zeit. Solche Titel sind Alex wichtig. Tore sind seine Währung, sie sind für ihn die Bestätigung, dass er gut Fußball spielen kann.
Einmal darf die F-Jugend im Vorfeld der Profis ran. Zwar nicht auf dem Rasenplatz im Stadion, aber auf einem Kunstrasenfeld im Windschatten der Tribüne. Knapp 100 Fans haben sich hier versammelt und vertreiben sich die Zeit bis zum Anstoß. Für die Nachwuchskicker ist das ein Highlight. Ganz besonders für Alex, der an diesem Tag außergewöhnlich torhungrig ist und neun Tore schießt: je einen Treffer für Mama, Papa, Schwester und weitere Familienmitglieder. Als ihn sein Trainer aus dem Spiel nimmt, protestiert er lautstark: Tor Nummer zehn wäre doch für seinen Hund gewesen! Auf diese spezielle Würdigung muss das Haustier allerdings verzichten, Alex wird nicht mehr eingewechselt.
Was Albert Camus über sich sagte, nämlich dass er dem Fußball alles verdanke, was Moral und Courage angeht, trifft auch auf den jungen Torjäger aus Sachsen zu. Er muss dabei an seinen Mitspieler Noah denken, einen Afrodeutschen, der bei einem Auswärtsspiel rassistisch beleidigt wird. Prompt stellt sich die ganze Mannschaft vor ihn und beweist ihre Solidarität gegen den Hass der anderen.
Nicht nur als Vater, auch als Trainer hat Ralf Schulte großen Anteil an der Entwicklung seines Sohnes.
Als Elternteil, sagt er, gibt man sich der naiven Begeisterung für eine rosige Zukunft des eigenen Kindes als Leistungssportler nur zu gerne hin. Jedes Mal, wenn wieder ein Trainerkollege, Zaungast oder ein anderer Beobachter das Potenzial von Alex lobt, erfüllt das Ralf mit Stolz. Ab und an erlaubt er sich Tagträume: Wenn der Junge schon bei Dynamo Dresden spielt und dort in manchen Spielen zehn Tore schießt, wenn er regelmäßig zu Lehrgängen eingeladen und in Auswahlmannschaften berufen wird, dann stehen die Chancen doch vielleicht ganz gut, dass er irgendwann mal einen Profivertrag erhält – oder etwa nicht? Ralf weiß allerdings nicht genau, wie die Welt im Profisport wirklich aussieht, für ihn ist der Fußball eine heile Märchenwelt und das Dasein als bezahlter Kicker ein Traumjob.
Er ist nicht der einzige Elternteil, der so denkt. Viele der Mütter und Väter der jungen Dynamos haben ähnliche Vorstellungen, träumen denselben Traum und sind fest davon überzeugt, dass die eigenen Kinder gut genug sind, diesen Traum irgendwann zu leben. Das führt zu einer speziellen Stimmung innerhalb der Elternschaft am Seitenrand. Im Laufe der Zeit bildet sich eine verschworene Clique, was es Vätern und Müttern von Neuzugängen schwierig macht, in diesen inneren Zirkel vorzudringen.
Ralf sieht das mit gemischten Gefühlen. Auf der einen Seite weiß er, wie wertvoll so eine innige Unterstützung für die Entwicklung der Kinder sein kann, auf der anderen Seite kann diese Unterstützung auch schnell eine Temperatur erreichen, die weder für die Kicker noch die Eltern gesund ist. Alex’ Vater erfährt das am eigenen Leib, als er den Jahrgang 97 trainiert, wo die Cliquenwirtschaft am Spielfeldrand zum Teil toxische Züge annimmt.
Einmal bekommt Ralf einen Anruf von einem Vater seiner Schützlinge: Ob er ein Problem mit seinem Jungen habe, weil er beim letzten Spiel keinen Elfmeter schießen durfte? Ein andermal gibt es eine Beschwerde, weil der Sohnemann nach dem Schlusspfiff vom Trainer nicht lobend genug über den Kopf gestreichelt wurde.
Von solchen Geschichten hat Ralf einige auf Lager. Mütter, die Buch führen über die Einsatzminuten ihres Kindes; Väter, die bei einem Hallenturnier kurzerhand das Tor verschieben, um Gegentreffer zu verhindern. Oder jener Vater, den Ralf im Verdacht hat, seinen Sohn gegen Alex aufgehetzt zu haben, auf dass er im Training mit gezielten Tritten die Konkurrenzsituation löse. Ein gewisses Verständnis will er nicht verhehlen, auch sein Herz schlägt ja schneller, wenn Alex über den Rasen sprintet. Doch der zunehmend Normen und Regeln überschreitende Ehrgeiz mancher Mütter und Väter irritiert ihn sehr – und ist ein Vorbote für das, was sein Junge in den kommenden Jahren noch erleben wird.
Schach hat er ausprobiert, Leichtathletik auch, doch gegen die Fußballbegeisterung ist bei Marius kein Kraut gewachsen. Er ist noch keine zwölf Jahre alt, als er das erste Angebot seiner Karriere erhält. Wer im Kreis Paderborn für die U12-Kreisauswahl nominiert ist, wechselt eigentlich automatisch zum größten Klub in der Region, dem SC Paderborn. Viele von Marius’ Freunden gehen zum SC, doch er zögert. Er fühlt sich wohl in seinem Klub, hat Erfolg und tolle Trainer – und dazu einen Vater, der über den SCP sagt: Für mich ist das der mit Abstand beschissenste Verein überhaupt.
Was auch mit Theos eigener Vita zu tun hat: Als junger Kerl galt er ebenfalls als Talent, vorrangig aber als waschechter Straßenfußballer, der seine Magie im Park versprühte. Irgendwann hatten die Verantwortlichen aus Paderborn ihm so viel Honig ums Maul geschmiert, dass er dem Verein beitrat, dort allerdings schnell merkte, wie viel schöner das freie Spiel auf der Wiese gewesen war. Kicken konnte Theo, nur hatte er bald keine Lust mehr. Um wieder Spaß am Fußball zu bekommen, wechselte er zu einem kleineren Verein, doch die Paderborner verschlampten es, rechtzeitig seinen Spielerpass weiterzureichen. Ein elender bürokratischer Eiertanz, der dafür sorgte, dass Theo die Fußballschuhe an den Nagel hängte. Allerdings beteuert Theo, dass er Marius damals nicht mit seiner Geschichte belastet, sondern seinem Sohn die Entscheidung vollkommen selbst überlassen habe.
Marius bleibt beim SV Heide und macht damit nicht nur seine Mitspieler und Trainer, sondern auch den eigenen Papa glücklich. Er wird für ein DFB-Stützpunkt-Turnier des 1999er-Jahrgangs in der Halle nachnominiert und überzeugt dort so nachhaltig, dass ihn die Trainer von da an auf dem Zettel haben. Doch es geht noch besser: Mit seinem 2000er-Jahrgang spielt er beim Arag-Cup in Kaiserau, der Heimstätte des legendären Sportzentrums. Der Arag-Cup ist ein Sichtungsturnier für die Westfalenauswahl, der Vorstufe der Nationalmannschaft.
Und tatsächlich erhält Marius bald danach eine offizielle Einladung des Verbandes zum nächsten Lehrgang der Westfalenauswahl in die Sportschule Kamen-Kaiserau. Knapp 80 junge Talente kommen hier zusammen, um die Trainer bei äußerst widrigen Bedingungen von ihren Fähigkeiten am Ball zu überzeugen. Besonders gefragt sind Basics wie der erste Kontakt, Ballannahme, Ballmitnahme, Passspiel. Viele der Jungs finden das langweilig. Marius weiß um die Bedeutung dieser vermeintlich simplen Fähigkeiten, haut sich voll rein und ist bald der einzige Spieler im Kader, der nicht bei einem namhaften Klub untergebracht ist. Jeden Tag wird die Gruppe kleiner, auch Marius’ schweigsamer Zimmernachbar von Wattenscheid 09 ist bald nicht mehr dabei. Marius aber bleibt – und wird bis zur U18 Teil der Westfalenauswahl bleiben.
Ab der D-Jugend spielt der SV Heide auf einem halben Großfeld, die Tore werden an den Rand des 16-Meter-Raumes gestellt, jedes Team spielt mit neun Leuten in der Startaufstellung. Für Zentrumspieler Marius bedeutet das: mehr Platz und mehr Raum, um sich und seine Ideen zu entfalten. Seine Vorbilder heißen Mario Götze und Ilkay Gündogan – Fußballer, die nicht nur über ein hohes Maß an Talent und Ballgefühl verfügen, sondern vor allem über ein großes Spielverständnis, das sie von anderen Kickern abhebt.
Wie gut Marius wirklich ist, weiß natürlich auch Heide-Trainer Christopher Bolte. Nachdem sein bester Mann darauf verzichtet hat, zum SC Paderborn zu wechseln, nimmt er Theo von Cysewski an die Seite und sagt: Ich habe gute Kontakte zum BVB. Irgendwann werde ich da mal ein Probetraining für Marius organisieren.
Zunächst aber schafft es Bolte, die Dortmunder für ein Testspiel zum SV Heide zu holen. Da sind sie dann an einem warmen Sommertag: die U12-Junioren vom großen BVB in ihren schicken, schwarzgelben Trikots mit dem berühmten Wappen auf der Brust. Der kleine SV Heide ist krasser Außenseiter, aber auch dank eines starken Marius im Mittelfeld verlieren die Heider am Ende nur knapp mit 6 : 8. Marius ist überrascht, wie gut er mit den Jungs vom BVB mithalten konnte. Gleichzeitig käme er niemals auf die Idee, sich auf eine Stufe mit den Dortmunder Jungstars zu stellen.
Nach dem Schlusspfiff zieht er sich um und macht es sich im Vereinsheim gemütlich. Currywurst mit Pommes zur Feier des Tages. So bekommt er gar nicht mit, dass unten am Spielfeld eine entscheidende Weiche für seine Zukunft gestellt wird. Der Dortmunder Trainer hat sich nach dem Sieg seiner Mannschaft beim gegnerischen Coach nach dem schmalen Jungen mit den dunklen Haaren erkundigt. Christopher Bolte verweist auf Marius’ Vater Theo, und wenige Minuten später erfährt der, dass der BVB seinen Sohn zum Probetraining einladen möchte.
„Perspektivspieler“ nennen die Borussen solche unentdeckten Talente, ein viel zu umständliches Wort für die simple Freude, die diese Nachricht bei Marius auslöst. Der kurze Heimweg, erinnert er sich gut zehn Jahre später, fühlte sich an diesem Tag ewig an.
Leicht vor Glück fliegt Marius wie auf Flügeln nach Hause. Dass er gut Fußball spielen kann, wusste er schon vor dem Spiel. Aber dass tatsächlich eine reelle Chance besteht, seinen Traum vom Profifußball wahr werden zu lassen, das weiß er erst jetzt. Er ist stolz. Glücklich. Motiviert. Und kann irgendwie kaum glauben, dass das wirklich passiert. Die Schuhe von damals – Adidas Predator – hat er bis zum heutigen Tag aufgehoben.
Alex macht seinen nächsten großen Schritt auf dem Weg zum Leistungssportler in der fünften Klasse. Die Grundschulzeit ist vorbei. Zur Wahl für eine weitergehende Schule stehen das Städtische Gymnasium und das Sportgymnasium, das auch seine Schwester besucht.
Vorteil Städtisches Gymnasium: Es ist nur zehn Minuten Fußweg von zu Hause entfernt, und alle Freunde aus der Grundschule werden hier hingehen. Vorteil Sportgymnasium: Nur hier bekommt Alex die sportliche Förderung, die so ein Talent wie er verdient hat. Er entscheidet sich für die Schule seiner Schwester und steckt bald in einem eng durchgetakteten Wochenplan, wie ihn selbst die meisten Erwachsenen nicht kennen. An seinen längsten Tagen verlässt er morgens um halb sieben das Elternhaus und ist erst abends um halb neun wieder zurück.
Ohne seine Eltern wäre dieses Pensum gar nicht möglich – sie bringen den Sohn zur Schule, holen ihn zum Mittagessen ab und fahren ihn anschließend zum Training von Dynamo. Ein enormer Aufwand und Alex weiß nicht erst seit heute, wie sehr seine Eltern ihm und seiner Schwester zur Seite standen.
Umgeben von Turnerinnen, Leichtathleten oder Wassersportlerinnen beginnen die meisten Tage für den Fußballer Alex um 7.15 Uhr mit einem Training in Kleingruppen. Seine Trainer dort kennt er zum Teil auch von Dynamo. Jeden Mittwoch steht außerdem das DFB-Stützpunkt-Training an, das Alex auch benötigt, um sich für eine Prüfung zu qualifizieren, die nach der sechsten Klasse darüber entscheiden wird, ob er das Sportgymnasium weiterhin besuchen darf.
Und ja: Überflieger Alex darf bleiben! Seine Eltern sind sehr stolz, zumal der Nachwuchs auch sonst mit guten Noten nach Hause kommt und die Doppelbelastung aus Schule und Sport offenbar gut wegsteckt. Doch so langsam scheint Alex dem System Dynamo Dresden zu entwachsen. Vater Ralf weiß genau, was bei der SGD funktioniert und was nicht. Auf den zahlreichen Turnieren und Lehrgängen kommt er mit vielen anderen Vereinen ins Gespräch. Zwar hat Dynamo in Sachsen einen Namen, aber was wäre, wenn sich irgendwann mal ein größerer Klub mit mehr Möglichkeiten für Alex interessierte?
So abwegig sind diese Gedanken nicht. Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Restart im deutschen Nachwuchsfußball boomt das Geschäft mit jungen Talenten. Bei allen wichtigen Turnieren sind die Tribünen voller Scouts, und das Netzwerk der Berateragenturen wuchert wie Unkraut. Einer dieser Scouts aus der Berateragentur von Michael Ballack spricht Ralf Schulte nach einem Turnier an.
Mensch, der Alex kann ja super kicken! Wenn ihr Interesse habt, würde ich gerne mal meine Karte dalassen. Und meldet euch, wenn ihr Schuhe braucht!
Tss, denkt Ralf. Als ob er die Zukunft seines Jungen von einem Paar neuer Fußballschuhe abhängig machen würde. Gleichzeitig erfüllt ihn das Interesse mit Stolz. Sein Sohn steht bei wichtigen Leuten auf dem Zettel.
So hoffnungsvoll die Auftritte von jungen Fußballern, so schillernd die Träume von Kindern und Eltern auch sein können – im Leben eines Nachwuchssportlers droht jederzeit die Gefahr, den Anschluss zu verpassen, physisch oder psychisch stehen zu bleiben. So mancher Überflieger hatte seine beste Zeit in der D-Jugend und endet als motivierter Hobbykicker. Was nicht von Nachteil sein muss, ganz im Gegenteil. Doch wenn man so brillant ist wie Alex und Marius in jungen Jahren, dann wächst mit jeder neuen Spielzeit der Anspruch, wird die Auslese strenger, werden die Anforderungen größer. Der Wechsel vom Klein- aufs Großfeld ist für jeden jugendlichen Fußballer die Reifeprüfung. Neun gegen neun oder elf gegen elf sind ein großer Unterschied zum Kleinfeldfußball, und diesen Sprung muss man erst mal schaffen. Es gehört zur besonderen Geschichte dieser beiden Ausnahmetalente, dass sie ihre eigenen Möglichkeiten auf dem Großfeld sogar noch potenzieren.
Alex erlebt den Wechsel auch als Metamorphose eines Mannschaftssportes. Schon immer haben ihm der Zusammenhalt und die Gemeinschaft gefallen, doch jetzt, in der C-Jugend, betrachtet er den Fußball noch einmal aus einer anderen Position. Taktik und Mentalität werden wichtiger. Mannschaften können sich auf dem Großfeld mit klugem Positionsspiel einen Vorteil verschaffen, defensiv wie offensiv. Entsprechend variantenreich wird auch das Training. Wie verhält man sich in einer Viererkette? Wie schafft es die Defensive, den Gegner ins Abseits zu schicken? Welche Chancen ergeben sich bei plötzlichem Ballbesitz?
Als ob all das nicht schon aufregend genug ist, bekommt er auch noch einen neuen Trainer. Michael Weiss heißt der Mann, ein erfahrener Übungsleiter, der bei Dynamo einen sehr guten Ruf genießt. Weiss ist nicht mehr der Jüngste, entsprechend angestaubt sind zum Teil seine Trainingsmethoden. Doch besitzt der neue Coach große Qualitäten im zwischenmenschlichen Bereich und ist – fast noch wichtiger – ein sehr guter Techniklehrer. Wie stellen sich seine Jungs zum Ball? Wie weit muss dabei die Hüfte eingedreht sein? Es sind solche Details, an denen Weiss sorgfältig feilt. D-Jugend-Spieler Alex spielt in einem Team voller C-Jugendlicher, eine zusätzliche Herausforderung, die noch dadurch gesteigert wird, dass die Dynamos in Alex’ erstem Jahr gegen den Abstieg kämpfen. Ein Umstand, den Alex nicht gewöhnt ist, der für seine Entwicklung aber von enormer Bedeutung sein wird.
Die Hinrunde beenden die Spieler von Michael Weiss auf Platz 14. Erst in der Rückrunde greifen einige der vielen Dinge, die mühsam im Training einstudiert wurden – die Mannschaft beendet die Saison auf dem 7. Platz. Mit Alex Schulte auf der Sechs, einer ungewohnten Position für ihn, der zuvor stets in der Spitze oder auf den offensiven Außenpositionen gespielt hat. Als Stammkraft in dieser hart umkämpften Spielzeit lernt er, Verantwortung zu übernehmen, dahin zu gehen, wo es wehtut, und bei aller Leidenschaft ruhig zu bleiben. Temperament ist gut, Spielkontrolle ist besser.
Die neue Saison in der U15 startet dann jedoch mit einer schlechten Nachricht: Michael Weiss ist erkrankt und wird als Trainer nicht mehr zur Verfügung stehen. Sein Nachfolger wird Eric Schmidt, der zuvor die A-Jugend gecoacht hat.
Für mich persönlich, sagt Alex, begann damit eine der prägendsten Spielzeiten meines Lebens.