Die Judenbuche - Annette von Droste-Hülshoff - E-Book + Hörbuch

Die Judenbuche E-Book und Hörbuch

Annette von Droste-Hülshoff

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Beschreibung

Die Judenbuche ist eine Novelle von Annette von Droste-Hülshoff, die erstmals 1842 erschien. Generationen von Schülern haben das bedeutendste Werk der Autorin gelesen. Die Geschichte selbst fußt auf einer realen Begebenheit. Der Protagonist, Friedrich Mergel, wächst in einer geächteten Familie auf. Er gerät unter Mordverdacht und muss aus seiner Heimat fliehen. Jahrzehnte später kehrt er zurück und trifft unerkannt auf die, die ihn einst verdächtigten. Eine Milieustudie, in einer Kriminalhandlung verpackt, mit erstaunlich knapper und packender Sprache erzählt. Null Papier Verlag

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Sprecher:Sven Görtz
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Annette von Droste-Hülshoff

Die Judenbuche

Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen

Annette von Droste-Hülshoff

Die Judenbuche

Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 EV: Insel Verlag, Leipzig, 1919 1. Auflage, ISBN 978-3-962816-45-2

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Die Judenbuche

Wo ist die Hand so zart, dass ohne Ir­ren Sie son­dern mag be­schränk­ten Hir­nes Wir­ren, So fest, dass ohne Zit­tern sie den Stein Mag schleu­dern auf ein arm ver­küm­mert Sein? Wer wagt es, eit­len Blu­tes Drang zu mes­sen, Zu wä­gen je­des Wort, das un­ver­ges­sen In jun­ge Brust die zä­hen Wur­zeln trieb, Des Vor­ur­teils ge­hei­men Seelen­dieb? Du Glück­li­cher, ge­bo­ren und ge­hegt Im lich­ten Raum, von from­mer Hand ge­pflegt, Leg hin die Waag­schal, nim­mer dir er­laubt! Lass ruhn den Stein – er trifft dein eig­nes Haupt!

Fried­rich Mer­gel, ge­bo­ren 1738, war der ein­zi­ge Sohn ei­nes so­ge­nann­ten Halb­mei­ers oder Grund­ei­gen­tü­mers ge­rin­ge­rer Klas­se im Dor­fe B., das, so schlecht ge­baut und rau­chig es sein mag, doch das Auge je­des Rei­sen­den fes­selt durch die über­aus ma­le­ri­sche Schön­heit sei­ner Lage in der grü­nen Wald­schlucht ei­nes be­deu­ten­den und ge­schicht­lich merk­wür­di­gen Ge­bir­ges. Das Länd­chen, dem es an­ge­hör­te, war da­mals ei­ner je­ner ab­ge­schlos­se­nen Erd­win­kel ohne Fa­bri­ken und Han­del, ohne Heer­stra­ßen, wo noch ein frem­des Ge­sicht Auf­se­hen er­reg­te, und eine Rei­se von drei­ßig Mei­len selbst den Vor­neh­me­ren zum Ulys­ses sei­ner Ge­gend mach­te – kurz, ein Fleck, wie es de­ren sonst so vie­le in Deutsch­land gab, mit all den Män­geln und Tu­gen­den, all der Ori­gi­na­li­tät und Be­schränkt­heit, wie sie nur in sol­chen Zu­stän­den ge­dei­hen.

Un­ter höchst ein­fa­chen und häu­fig un­zu­läng­li­chen Ge­set­zen wa­ren die Be­grif­fe der Ein­woh­ner von Recht und Un­recht ei­ni­ger­ma­ßen in Ver­wir­rung ge­ra­ten, oder viel­mehr, es hat­te sich ne­ben dem ge­setz­li­chen ein zwei­tes Recht ge­bil­det, ein Recht der öf­fent­li­chen Mei­nung, der Ge­wohn­heit und der durch Ver­nach­läs­si­gung ent­stan­de­nen Ver­jäh­rung. Die Guts­be­sit­zer, de­nen die nie­de­re Ge­richts­bar­keit zu­stand, straf­ten und be­lohn­ten nach ih­rer in den meis­ten Fäl­len red­li­chen Ein­sicht; der Un­ter­ge­be­ne tat, was ihm aus­führ­bar und mit ei­nem et­was wei­ten Ge­wis­sen ver­träg­lich schi­en, und nur dem Ver­lie­ren­den fiel es zu­wei­len ein, in al­ten stau­bi­gen Ur­kun­den nach­zu­schla­gen.

Es ist schwer, jene Zeit un­par­tei­isch ins Auge zu fas­sen; sie ist seit ih­rem Ver­schwin­den ent­we­der hoch­mü­tig ge­ta­delt oder al­bern ge­lobt wor­den, da den, der sie er­leb­te, zu viel teu­re Erin­ne­run­gen blen­den und der Spä­ter­ge­bo­re­ne sie nicht be­greift. So viel darf man in­des­sen be­haup­ten, dass die Form schwä­cher, der Kern fes­ter, Ver­ge­hen häu­fi­ger, Ge­wis­sen­lo­sig­keit sel­te­ner wa­ren. Denn wer nach sei­ner Über­zeu­gung han­delt, und sei sie noch so man­gel­haft, kann nie ganz zu­grun­de ge­hen, wo­ge­gen nichts see­len­tö­ten­der wirkt, als ge­gen das in­ne­re Rechts­ge­fühl das äu­ße­re Recht in An­spruch neh­men.

Ein Men­schen­schlag, un­ru­hi­ger und un­ter­neh­men­der als alle sei­ne Nach­barn, ließ in dem klei­nen Staa­te, von dem wir re­den, man­ches weit grel­ler her­vor­tre­ten als an­ders­wo un­ter glei­chen Um­stän­den. Holz- und Jagd­fre­vel wa­ren an der Ta­ges­ord­nung, und bei den häu­fig vor­fal­len­den Schlä­ge­rei­en hat­te sich je­der selbst sei­nes zer­schla­ge­nen Kop­fes zu trös­ten. Da je­doch große und er­gie­bi­ge Wal­dun­gen den Haup­treich­tum des Lan­des aus­mach­ten, ward al­ler­dings scharf über die Fors­ten ge­wacht, aber we­ni­ger auf ge­setz­li­chem Wege als in stets er­neu­ten Ver­su­chen, Ge­walt und List mit glei­chen Waf­fen zu über­bie­ten.

Das Dorf B. galt für die hoch­mü­tigs­te, schlaus­te und kühns­te Ge­mein­de des gan­zen Fürs­ten­tums. Sei­ne Lage in­mit­ten tiefer und stol­zer Wald­ein­sam­keit moch­te schon früh den an­ge­bo­re­nen Starr­sinn der Ge­mü­ter näh­ren; die Nähe ei­nes Flus­ses, der in die See mün­de­te und be­deck­te Fahr­zeu­ge trug, groß ge­nug, um Schiff­bau­holz be­quem und si­cher au­ßer Land zu füh­ren, trug sehr dazu bei, die na­tür­li­che Kühn­heit der Holz­frev­ler zu er­mu­ti­gen, und der Um­stand, dass al­les um­her von Förs­tern wim­mel­te, konn­te hier nur auf­re­gend wir­ken, da bei den häu­fig vor­kom­men­den Schar­müt­zeln der Vor­teil meist auf sei­ten der Bau­ern blieb. Drei­ßig, vier­zig Wa­gen zo­gen zu­gleich aus in den schö­nen Mond­näch­ten, mit un­ge­fähr dop­pelt so viel Mann­schaft je­des Al­ters, vom halb­wüch­si­gen Kna­ben bis zum sieb­zig­jäh­ri­gen Orts­vor­ste­her, der als er­fah­re­ner Leit­bock den Zug mit gleich stol­zem Be­wusst­sein an­führ­te, als er sei­nen Sitz in der Ge­richts­stu­be ein­nahm. Die Zu­rück­ge­blie­be­nen horch­ten sorg­los dem all­mäh­li­chen Ver­hal­len des Knar­rens und Sto­ßens der Rä­der in den Hohl­we­gen und schlie­fen sacht wei­ter. Ein ge­le­gent­li­cher Schuss, ein schwa­cher Schrei lie­ßen wohl ein­mal eine jun­ge Frau oder Braut auf­fah­ren; kein an­de­rer ach­te­te dar­auf. Beim ers­ten Mor­gen­grau­en kehr­te der Zug eben­so schwei­gend heim, die Ge­sich­ter glü­hend wie Erz, hier und dort ei­ner mit ver­bun­de­nem Kopf, was wei­ter nicht in Be­tracht kam, und nach ein paar Stun­den war die Um­ge­gend voll von dem Miss­ge­schick ei­nes oder meh­re­rer Forst­be­am­ten, die aus dem Wal­de ge­tra­gen wur­den, zer­schla­gen, mit Schnupf­ta­bak ge­blen­det und für ei­ni­ge Zeit un­fä­hig, ih­rem Be­ru­fe nach­zu­kom­men.

In die­sen Um­ge­bun­gen ward Fried­rich Mer­gel ge­bo­ren, in ei­nem Hau­se, das durch die stol­ze Zu­ga­be ei­nes Rauch­fangs und min­der klei­ner Glas­schei­ben die An­sprü­che sei­nes Er­bau­ers, so­wie durch sei­ne ge­gen­wär­ti­ge Ver­kom­men­heit die küm­mer­li­chen Um­stän­de des jet­zi­gen Be­sit­zers be­zeug­te. Das frü­he­re Ge­län­der um Hof und Gar­ten war ei­nem ver­nach­läs­sig­ten Zau­ne ge­wi­chen, das Dach schad­haft, frem­des Vieh wei­de­te auf den Trif­ten, frem­des Korn wuchs auf dem Acker zu­nächst am Hofe, und der Gar­ten ent­hielt, au­ßer ein paar hol­zi­gen Ro­sen­stö­cken aus bes­se­rer Zeit, mehr Un­kraut als Kraut. Frei­lich hat­ten Un­glücks­fäl­le man­ches hier­von her­bei­ge­führt; doch war auch viel Un­ord­nung und böse Wirt­schaft im Spiel. Fried­richs Va­ter, der alte Her­mann Mer­gel, war in sei­nem Jung­ge­sel­len­stan­de ein so­ge­nann­ter or­dent­li­cher Säu­fer, das heißt ei­ner, der nur an Sonn- und Fest­ta­gen in der Rin­ne lag und die Wo­che hin­durch so ma­nier­lich war wie ein an­de­rer. So war denn auch sei­ne Be­wer­bung um ein recht hüb­sches und wohl­ha­ben­des Mäd­chen ihm nicht er­schwert. Auf der Hoch­zeit ging’s lus­tig zu. Mer­gel war gar nicht zu arg be­trun­ken, und die El­tern der Braut gin­gen abends ver­gnügt heim; aber am nächs­ten Sonn­ta­ge sah man die jun­ge Frau schrei­end und blut­rüns­tig durchs Dorf zu den ih­ri­gen ren­nen, alle ihre gu­ten Klei­der und neu­es Haus­ge­rät im Stich las­send. Das war frei­lich ein großer Skan­dal und Är­ger für Mer­gel, der al­ler­dings Tros­tes be­durf­te. So war denn auch am Nach­mit­tage kei­ne Schei­be an sei­nem Hau­se mehr ganz, und man sah ihn noch bis spät in die Nacht vor der Tür­schwel­le lie­gen, einen ab­ge­bro­che­nen Fla­schen­hals von Zeit zu Zeit zum Mun­de füh­rend und sich Ge­sicht und Hän­de jäm­mer­lich zer­schnei­dend. Die jun­ge Frau blieb bei ih­ren El­tern, wo sie bald ver­küm­mer­te und starb. Ob nun den Mer­gel Reue quäl­te oder Scham, ge­nug, er schi­en der Trost­mit­tel im­mer be­dürf­ti­ger und fing bald an, den gänz­lich ver­kom­me­nen Sub­jek­ten zu­ge­zählt zu wer­den.

Die Wirt­schaft ver­fiel; frem­de Mäg­de brach­ten Schimpf und Scha­den; so ver­ging Jahr auf Jahr. Mer­gel war und blieb ein ver­le­ge­ner und zu­letzt ziem­lich arm­se­li­ger Wit­wer, bis er mit ei­nem­ma­le wie­der als Bräu­ti­gam auf­trat. War die Sa­che an und für sich un­er­war­tet, so trug die Per­sön­lich­keit der Braut noch dazu bei, die Ver­wun­de­rung zu er­hö­hen. Marg­reth Semm­ler war eine bra­ve, an­stän­di­ge Per­son, so in den Vier­zi­gen, in ih­rer Ju­gend eine Dorf­schön­heit und noch jetzt als sehr klug und wirt­lich ge­ach­tet, da­bei nicht un­ver­mö­gend; und so muss­te es je­dem un­be­greif­lich sein, was sie zu die­sem Schrit­te ge­trie­ben. Wir glau­ben den Grund eben in die­ser ih­rer selbst­be­wuss­ten Voll­kom­men­heit zu fin­den. Am Abend vor der Hoch­zeit soll sie ge­sagt ha­ben: »Eine Frau, die von ih­rem Man­ne übel be­han­delt wird, ist dumm oder taugt nicht: wenn’s mir schlecht geht, so sagt, es lie­ge an mir.« Der Er­folg zeig­te lei­der, dass sie ihre Kräf­te über­schätzt hat­te. An­fangs im­po­nier­te sie ih­rem Man­ne; er kam nicht nach Haus oder kroch in die Scheu­ne, wenn er sich über­nom­men hat­te; aber das Joch war zu drückend, um lan­ge ge­tra­gen zu wer­den, und bald sah man ihn oft ge­nug quer über die Gas­se ins Haus tau­meln, hör­te drin­nen sein wüs­tes Lär­men und sah Marg­reth eilends Tür und Fens­ter schlie­ßen. An ei­nem sol­chen Tage – kei­nem Sonn­ta­ge mehr – sah man sie abends aus dem Hau­se stür­zen, ohne Hau­be und Hals­tuch, das Haar wild um den Kopf hän­gend, sich im Gar­ten ne­ben ein Kraut­beet nie­der­wer­fen und die Erde mit den Hän­den auf­wüh­len, dann ängst­lich um sich schau­en, rasch ein Bün­del Kräu­ter bre­chen und da­mit lang­sam wie­der dem Hau­se zu­ge­hen, aber nicht hin­ein, son­dern in die Scheu­ne. Es hieß, an die­sem Tage habe Mer­gel zu­erst Hand an sie ge­legt, ob­wohl das Be­kennt­nis nie über ihre Lip­pen kam.

Das zwei­te Jahr die­ser un­glück­li­chen Ehe ward mit ei­nem Soh­ne – man kann nicht sa­gen – er­freut, denn Marg­reth soll sehr ge­weint ha­ben, als man ihr das Kind reich­te. Den­noch, ob­wohl un­ter ei­nem Her­zen voll Gram ge­tra­gen, war Fried­rich ein ge­sun­des, hüb­sches Kind, das in der fri­schen Luft kräf­tig ge­dieh. Der Va­ter hat­te ihn sehr lieb, kam nie nach Hau­se, ohne ihm ein Stück­chen We­cken oder der­glei­chen mit­zu­brin­gen, und man mein­te so­gar, er sei seit der Ge­burt des Kna­ben or­dent­li­cher ge­wor­den; we­nigs­tens ward das Lär­men im Hau­se ge­rin­ger.

*

Fried­rich stand in sei­nem neun­ten Jah­re. Es war um das Fest der hei­li­gen drei Kö­ni­ge, eine har­te, stür­mi­sche Win­ter­nacht. Her­mann war zu ei­ner Hoch­zeit ge­gan­gen und hat­te sich schon bei­zei­ten auf den Weg ge­macht, da das Braut­haus drei­vier­tel Mei­len ent­fernt lag. Ob­gleich er ver­spro­chen hat­te, abends wie­der­zu­kom­men, rech­ne­te Frau Mer­gel doch umso we­ni­ger dar­auf, da sich nach Son­nen­un­ter­gang dich­tes Schnee­ge­stö­ber ein­ge­stellt hat­te. Ge­gen zehn Uhr schür­te sie die Asche am Her­de zu­sam­men und mach­te sich zum Schla­fen­ge­hen be­reit. Fried­rich stand ne­ben ihr, schon halb ent­klei­det, und horch­te auf das Ge­heul des Win­des und das Klap­pen der Bo­den­fens­ter.

»Mut­ter, kommt der Va­ter heu­te nicht?« frag­te er. – »Nein, Kind, mor­gen.« – »Aber warum nicht, Mut­ter? Er hat’s doch ver­spro­chen.« – »Ach Gott, wenn der al­les hiel­te, was er ver­spricht! Mach, mach vor­an, dass du fer­tig wirst!«