Die Judenbuche (Textausgabe) - Annette von Droste-Hülshoff - E-Book

Die Judenbuche (Textausgabe) E-Book

Annette von Droste-Hülshoff

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Beschreibung

Die bewährten Hamburger Lesehefte + Königs Materialien in einem Band.

Die Hamburger Lesehefte PLUS
 umfassen neben dem Text und ausführlichen Wort- und Sacherläuterungen auch einen umfangreichen Materialteil, die Königs Materialien. Die Kombination schafft die Basis für eine eigenständige, vertiefende Analyse und fördert ein umfassendes Verständnis des Textes - ideal für den Einsatz im Schulunterricht.

Das zeichnet die neue Reihe aus:

  • Die preisgünstigste Reihe im deutschsprachigen Raum!
  • Großes Format (DIN A5)
  • Lesefreundlicher Originaltext
  • Breite Randspalte mit kurzen Worterklärungen
  • Platz für eigene Notizen
  • Navigationsleiste zur besseren Orientierung
  • Biografie des Autors
  • Ausführlicher Wort- und Sacherklärungsteil
  • Umfangreiche Materialien, nach Themenbereichen gebündelt

Zum Inhalt: 

Annette von Droste-Hülshoffs Novelle Die Judenbuche (1842) spielt in einem entlegenen westfälischen Dorf des 18. Jahrhunderts, noch vor der Zeit der großen Umwälzungen, die die Französische Revolution für Europa mit sich brachte. Die Novelle handelt von einem unaufgeklärten Mord, erläutert dessen Vor- und Nachgeschichte und wird nicht nur als Kriminalgeschichte, sondern vor allem als Milieustudie verstanden. Der Text wird heute wegen seiner Mehrdeutigkeit als Vorläufer der modernen Literatur angesehen.

 

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Seitenzahl: 142

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Text und Materialien

ANNETTE VON DROSTE-HÜLSHOFF

Die Judenbuche

Ein Sittengemälde aus dem gebirgichten Westfalen

HAMBURGER LESEHEFTE PLUSKÖNIGS MATERIALIEN532. HEFT

Zur Textgestaltung Die kritische Ausgabe der Werke von Annette von Droste-Hülshoff ist 1925 in der Bearbeitung von Karl Schulte-Kemminghausen bei Georg Müller erschienen. Nach dem Text der „Judenbuche“ im dritten Band dieser Ausgabe, der zurückgeht auf den ersten Abdruck der Erzählung in dem Cottaschen „Morgenblatt“ von 1842, haben wir unsere Ausgabe revidiert. Auch die Anmerkungen der kritischen Ausgabe haben wir an einigen Stellen dankbar benutzt. Die Rechtschreibung wurde behutsam den neuen amtlichen Regeln angepasst.

 

Analysiert und interpretiert mit Textverweisen auf dieses Heft wird Die Judenbuche in Königs Erläuterungen, Band 216, C. Bange Verlag.

 

1. Auflage 2024

 

Alle Drucke dieser Ausgabe und die der Hamburger Lesehefte sind untereinander unverändert und können im Unterricht nebeneinander genutzt werden.

 

Heftbearbeitung Text: F. Bruckner und K. Sternelle Heftbearbeitung Materialien: Dr. Oliver Pfohlmann Umschlaggestaltung und Layout: Petra Michel Umschlagzeichnung: Ingeborg Strange-Friis Druck und Weiterverarbeitung: MultiPrint Ltd., Bulgaria

 

ISBN: 978-3-8044-2568-2PDF: 978-3-8044-6568-8EPUB: 978-3-8044-7568-7 © 2024 by C. Bange Verlag GmbH, Marienplatz 12, 96142 Hollfeldwww.bange-verlag.de

 

ISBN: 978-3-87291-531-3PDF: 978-3-87291-716-4EPUB: 978-3-87291-666-2 © 2024 by Hamburger Lesehefte Verlag, Nordbahnhofstraße 2, 25813 Husumwww.hamburger-lesehefte.de

Hinweise zur Bedienung

Inhaltsverzeichnis Das Inhaltsverzeichnis ist vollständig mit dem Inhalt dieses Buches verknüpft. Tippen Sie auf einen Eintrag und Sie gelangen zum entsprechenden Inhalt.

 

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Das E-Book enthält in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, diese verweisen auf die Printausgabe des Werkes.

Versdramen weisen zusätzlich zur Seitenzählung eine Versnummerierung in entsprechender Höhe auf dem Rand aus.

Inhaltsverzeichnis

Text

Biografie

Wort- und Sacherklärungen

Materialien

Zugang

Grauzonen des Sittengesetzes

Zur Entstehung

Geschichte eines Algierer-Sklaven

Die historischen Begebenheiten

Stellung der Juden in der damaligen Zeit

Ein Förster wird erschlagen

Mein erster Versuch in Prosa

Ich habe jetzt eine Erzählung fertig

Die Judenbuche hat das Eis gebrochen

So fürchte ich die Vergleichung nicht

Zur Gattungsfrage

Definition Novelle

Paradigma novellistischen Erzählens

Kriminal- oder Detektivgeschichte?

Psychologie eines Verbrechers

Kriminal- oder Detektivgeschichte?

Unentscheidbarkeit, Rätselhaftigkeit und Ambiguität

Deutungen

Eine Novelle vom Töten

Friedrichs Doppelgänger Johannes Niemand

Programmatische Vieldeutigkeit oder der epochale Zerfall der Metaphysik

Dokumente zur zeitgenössischen Wirkungsgeschichte

Die respektabelste poetische Kraft

Nicht ohne Fragezeichen genießbar

Kostbarer Findling

Eigentlich enthält die Judenbuche zwei Geschichten

[3]Wo ist die Hand so zart, dass ohne IrrenSie sondern mag beschränkten Hirnes Wirren,So fest, dass ohne Zittern sie den SteinMag schleudern auf ein arm verkümmert Sein?Wer wagt es, eitlen Blutes Drang zu messen,Zu wägen jedes Wort, das unvergessenIn junge Brust die zähen Wurzeln trieb,Des Vorurteils geheimen Seelendieb?Du Glücklicher, geboren und gehegtIm lichten Raum, von frommer Hand gepflegt,Leg hin die Waagschal, nimmer dir erlaubt!Lass ruhn den Stein – er trifft dein eignes Haupt!

 

Friedrich Mergel, geboren 1738, war der einzige Sohn eines sogenannten Halbmeiers oder Grundeigentümers geringerer Klasse im Dorfe B., das, so schlecht gebaut und rauchig es sein mag, doch das Auge jedes Reisenden fesselt durch die überaus malerische Schönheit seiner Lage in der grünen Waldschlucht eines bedeutenden und geschichtlich merkwürdigen Gebirges. Das Ländchen, dem es angehörte, war damals einer jener abgeschlossenen Erdwinkel ohne Fabriken und Handel, ohne Heerstraßen, wo noch ein fremdes Gesicht Aufsehen erregte und eine Reise von dreißig Meilen selbst den Vornehmeren zum Ulysses seiner Gegend machte – kurz, ein Fleck, wie es deren sonst so viele in Deutschland gab, mit all den Mängeln und Tugenden, all der Originalität und Beschränktheit, wie sie nur in solchen Zuständen gedeihen. Unter höchst einfachen und häufig unzulänglichen Gesetzen waren die Begriffe der Einwohner von Recht und Unrecht einigermaßen in Verwirrung geraten, oder vielmehr, es hatte sich neben dem gesetzlichen ein zweites Recht gebildet, ein Recht der öffentlichen Meinung, der Gewohnheit und der durch Vernachlässigung entstandenen Verjährung. Die Gutsbesitzer, denen die niedere Gerichtsbarkeit zustand, straften und belohnten nach ihrer in den meisten Fällen redlichen Einsicht; der Untergebene tat, was ihm ausführbar und mit einem etwas weiteren Gewissen verträglich schien, und nur dem Verlierenden fiel es zuweilen ein, in alten staubichten Urkunden nachzuschlagen. – Es ist schwer, jene Zeit unparteiisch ins Auge zu fassen; sie ist seit ihrem Verschwinden entweder hochmütig getadelt oder albern gelobt worden, da den, der sie erlebte, zu viel teure Erinnerungen blenden und der Spätergeborene sie nicht begreift. So viel darf man indessen behaupten, dass die Form schwächer, der Kern fester, Vergehen häufiger, Gewissenlosigkeit seltener waren. Denn wer nach seiner [4]Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, kann nie ganz zugrunde gehen, wogegen nichts seelentötender wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch nehmen.

Ein Menschenschlag, unruhiger und unternehmender als alle eine Nachbarn, ließ in dem kleinen Staate, von dem wir reden, manches weit greller hervortreten als anderswo unter gleichen Umständen. Holz- und Jagdfrevel waren an der Tagesordnung, und bei den häufig vorfallenden Schlägereien hatte sich jeder selbst seines zerschlagenen Kopfes zu trösten. Da jedoch große und ergiebige Waldungen den Hauptreichtum des Landes ausmachten, ward allerdings scharf über die Forsten gewacht, aber weniger auf gesetzlichem Wege als in stets erneuten Versuchen, Gewalt und List mit gleichen Waffen zu überbieten.

Das Dorf B. galt für die hochmütigste, schlauste und kühnste Gemeinde des ganzen Fürstentums. Seine Lage inmitten tiefer und stolzer Waldeinsamkeit mochte schon früh den angeborenen Starrsinn der Gemüter nähren; die Nähe eines Flusses, der in die See mündete und bedeckte Fahrzeuge trug, groß genug, um Schiffbauholz bequem und sicher außer Land zu führen, trug sehr dazu bei, die natürliche Kühnheit der Holzfrevler zu ermutigen, und der Umstand, dass alles umher von Förstern wimmelte, konnte hier nur aufregend wirken, da bei den häufig vorkommenden Scharmützeln der Vorteil meist auf Seiten der Bauern blieb. Dreißig, vierzig Wagen zogen zugleich aus in den schönen Mondnächten mit ungefähr doppelt so viel Mannschaft jedes Alters, vom halbwüchsigen Knaben bis zum siebzigjährigen Ortsvorsteher, der als erfahrener Leitbock den Zug mit gleich stolzem Bewusstsein anführte, als er seinen Sitz in der Gerichtsstube einnahm. Die Zurückgebliebenen horchten sorglos dem allmählichen Verhallen des Knarrens und Stoßens der Räder in den Hohlwegen und schliefen sacht weiter. Ein gelegentlicher Schuss, ein schwacher Schrei ließen wohl einmal eine junge Frau oder Braut auffahren; kein anderer achtete darauf. Beim ersten Morgengrau kehrte der Zug ebenso schweigend heim, die Gesichter glühend wie Erz, hier und dort einer mit verbundenem Kopf, was weiter nicht in Betracht kam, und nach ein paar Stunden war die Umgegend voll von dem Missgeschick eines oder mehrerer Forstbeamten, die aus dem Walde getragen wurden, zerschlagen, mit Schnupftabak geblendet und für einige Zeit unfähig, ihrem Berufe nachzukommen.

In diesen Umgebungen ward Friedrich Mergel geboren, in einem Hause, das durch die stolze Zugabe eines Rauchfangs und [5]minder kleiner Glasscheiben die Ansprüche seines Erbauers sowie durch seine gegenwärtige Verkommenheit die kümmerlichen Umstände des jetzigen Besitzers bezeugte. Das frühere Geländer um Hof und Garten war einem vernachlässigten Zaune gewichen, das Dach schadhaft, fremdes Vieh weidete auf den Triften, fremdes Korn wuchs auf dem Acker zunächst am Hofe, und der Garten enthielt, außer ein paar holzichten Rosenstöcken aus besserer Zeit, mehr Unkraut als Kraut. Freilich hatten Unglücksfälle manches hiervon herbeigeführt; doch war auch viel Unordnung und böse Wirtschaft im Spiel. Friedrichs Vater, der alte Hermann Mergel, war in seinem Junggesellenstande ein sogenannter ordentlicher Säufer, das heißt einer, der nur an Sonn- und Festtagen in der Rinne lag und die Woche hindurch so manierlich war wie ein anderer. So war denn auch seine Bewerbung um ein recht hübsches und wohlhabendes Mädchen ihm nicht erschwert. Auf der Hochzeit ging’s lustig zu, Mergel war gar nicht zu arg betrunken, und die Eltern der Braut gingen abends vergnügt heim; aber am nächsten Sonntage sah man die junge Frau schreiend und blutrünstig durchs Dorf zu den Ihrigen rennen, alle ihre guten Kleider und neues Hausgerät im Stich lassend. Das war freilich ein großer Skandal und Ärger für Mergel, der allerdings Trostes bedurfte. So war denn auch am Nachmittage keine Scheibe an seinem Hause mehr ganz, und man sah ihn noch bis spät in die Nacht vor der Türschwelle liegen, einen abgebrochenen Flaschenhals von Zeit zu Zeit zum Munde führend und sich Gesicht und Hände jämmerlich zerschneidend. Die junge Frau blieb bei ihren Eltern, wo sie bald verkümmerte und starb. Ob nun den Mergel Reue quälte oder Scham, genug, er schien der Trostmittel immer bedürftiger und fing bald an, den gänzlich verkommenen Subjekten zugezählt zu werden.

Die Wirtschaft verfiel; fremde Mägde brachten Schimpf und Schaden; so verging Jahr auf Jahr. Mergel war und blieb ein verlegener und zuletzt ziemlich armseliger Witwer, bis er mit einem Male wieder als Bräutigam auftrat. War die Sache an und für sich unerwartet, so trug die Persönlichkeit der Braut noch dazu bei, die Verwunderung zu erhöhen. Margaret Semmler war eine brave, anständige Person, so in den Vierzigern, in ihrer Jugend eine Dorfschönheit und noch jetzt als sehr klug und wirtlich geachtet, dabei nicht unvermögend; und so musste es jedem unbegreiflich sein, was sie zu diesem Schritte getrieben. Wir glauben den Grund eben in dieser ihrer selbstbewussten Vollkommenheit zu finden. Am Abend vor der Hochzeit soll sie gesagt haben: „Eine Frau, die von ihrem Manne übel behandelt wird, ist dumm oder taugt nicht: [6]Wenn’s mir schlecht geht, so sagt, es liege an mir.“ Der Erfolg zeigte leider, dass sie ihre Kräfte überschätzt hatte. Anfangs imponierte sie ihrem Manne; er kam nicht nach Haus oder kroch in die Scheune, wenn er sich übernommen hatte; aber das Joch war zu drückend, um lange getragen zu werden, und bald sah man ihn oft genug quer über die Gasse ins Haus taumeln, hörte drinnen sein wüstes Lärmen und sah Margret eilends Tür und Fenster schließen. An einem solchen Tage – keinem Sonntage mehr – sah man sie abends aus dem Hause stürzen, ohne Haube und Halstuch, das Haar wild um den Kopf hängend, sich im Garten neben ein Krautbeet niederwerfen und die Erde mit den Händen aufwühlen, dann ängstlich um sich schauen, rasch ein Bündel Kräuter brechen und damit langsam wieder dem Hause zugehen, aber nicht hinein, sondern in die Scheune. Es hieß, an diesem Tage habe Mergel zuerst Hand an sie gelegt, obwohl das Bekenntnis nie über ihre Lippen kam.

Das zweite Jahr dieser unglücklichen Ehe ward mit einem Sohne, man kann nicht sagen erfreut; denn Margret soll sehr geweint haben, als man ihr das Kind reichte. Dennoch, obwohl unter einem Herzen voll Gram getragen, war Friedrich ein gesundes hübsches Kind, das in der frischen Luft kräftig gedieh. Der Vater hatte ihn sehr lieb, kam nie nach Hause, ohne ihm ein Stückchen Wecken oder dergleichen mitzubringen, und man meinte sogar, er sei seit der Geburt des Knaben ordentlicher geworden; wenigstens ward der Lärm im Hause geringer.

Friedrich stand in seinem neunten Jahre. Es war um das Fest der Heiligen Drei Könige, eine harte, stürmische Winternacht. Hermann war zu einer Hochzeit gegangen und hatte sich schon beizeiten auf den Weg gemacht, da das Brauthaus dreiviertel Meilen entfernt lag. Obgleich er versprochen hatte, abends wiederzukommen, rechnete Frau Mergel doch umso weniger darauf, da sich nach Sonnenuntergang dichtes Schneegestöber eingestellt hatte. Gegen zehn Uhr schürte sie die Asche am Herde zusammen und machte sich zum Schlafengehen bereit. Friedrich stand neben ihr, schon halb entkleidet, und horchte auf das Geheul des Windes und das Klappern der Bodenfenster.

„Mutter, kommt der Vater heute nicht?“, fragte er. – „Nein, Kind, morgen.“ – „Aber warum nicht, Mutter? er hat’s doch versprochen.“ – „Ach, Gott, wenn der alles hielte, was er verspricht! Mach, mach voran, dass du fertig wirst!“

Sie hatten sich kaum niedergelegt, so erhob sich eine Windsbraut, als ob sie das Haus mitnehmen wollte. Die Bettstatt bebte, und im Schornstein rasselte es wie ein Kobold. – „Mutter – es [7]pocht draußen!“ – „Still, Fritzchen, das ist das lockere Brett im Giebel, das der Wind jagt.“ – „Nein, Mutter, an der Tür!“ – „Sie schließt nicht; die Klinke ist zerbrochen. Gott, schlaf doch! bring mich nicht um das armselige bisschen Nachtruhe.“ „Aber wenn nun der Vater kommt?“ – Die Mutter drehte sich heftig im Bett um. – „Den hält der Teufel fest genug!“ – „Wo ist der Teufel, Mutter?“ – „Wart, du Unrast! er steht vor der Tür und will dich holen, wenn du nicht ruhig bist!“

Friedrich ward still; er horchte noch ein Weilchen und schlief dann ein. Nach einigen Stunden erwachte er. Der Wind hatte sich gewendet und zischte jetzt wie eine Schlange durch die Fensterritze an seinem Ohr. Seine Schulter war erstarrt; er kroch tief unters Deckbett und lag aus Furcht ganz still. Nach einer Weile bemerkte er, dass die Mutter auch nicht schlief. Er hörte sie weinen und mitunter: „Gegrüßt seist du, Maria!“ und „bitte für uns arme Sünder!“ Die Kügelchen des Rosenkranzes glitten an seinem Gesicht hin. – Ein unwillkürlicher Seufzer entfuhr ihm. – „Friedrich, bist du wach?“ – „Ja, Mutter.“ – „Kind, bete ein wenig – du kannst ja schon das halbe Vaterunser –, dass Gott uns bewahre vor Wasserund Feuersnot!“

Friedrich dachte an den Teufel, wie der wohl aussehen möge. Das mannigfache Geräusch und Getöse im Haus kam ihm wunderlich vor. Er meinte, es müsse etwas Lebendiges drinnen sein und draußen auch. „Hör, Mutter, gewiss, da sind Leute, die pochen.“ – „Ach nein, Kind; aber es ist kein altes Brett im Hause, das nicht klappert.“ – „Hör, hörst du nicht? es ruft! hör doch!“

Die Mutter richtete sich auf; das Toben des Sturms ließ einen Augenblick nach. Man hörte deutlich an den Fensterladen pochen und mehrere Stimmen: „Margret! Frau Margret, heda, aufgemacht!“ – Margret stieß einen heftigen Laut aus: „Da bringen sie mir das Schwein wieder!“

Der Rosenkranz flog klappernd auf den Brettstuhl, die Kleider wurden herbeigerissen. Sie fuhr zum Herde, und bald darauf hörte Friedrich sie mit trotzigen Schritten über die Tenne gehen. Margret kam gar nicht wieder; aber in der Küche war viel Gemur mel und fremde Stimmen. Zweimal kam ein fremder Mann in die Kammer und schien ängstlich etwas zu suchen. Mit einem Male ward eine Lampe hereingebracht; zwei Männer führten die Mutter. Sie war weiß wie Kreide und hatte die Augen geschlossen. Friedrich meinte, sie sei tot; er erhob ein fürchterliches Geschrei; worauf ihm jemand eine Ohrfeige gab, was ihn zur Ruhe brachte, und nun begriff er nach und nach aus den Reden der Umstehenden, [8]dass der Vater vom Ohm Franz Semmler und dem Hülsmeyer tot im Holze gefunden sei und jetzt in der Küche liege.

Sobald Margret wieder zur Besinnung kam, suchte sie die fremden Leute loszuwerden. Der Bruder blieb bei ihr, und Friedrich, dem bei strenger Strafe im Bett zu bleiben geboten war, hörte die ganze Nacht hindurch das Feuer in der Küche knistern und ein Geräusch wie von Hin- und Herrutschen und Bürsten. Gesprochen ward wenig und leise, aber zuweilen drangen Seufzer herüber, die dem Knaben, so jung er war, durch Mark und Bein gingen. Einmal verstand er, dass der Oheim sagte: „Margret, zieh dir das nicht zu Gemüt; wir wollen jeder drei Messen lesen lassen, und um Ostern gehen wir zusammen eine Bittfahrt zur Mutter Gottes von Werl.“

Als nach zwei Tagen die Leiche fortgetragen wurde, saß Margret am Herde, das Gesicht mit der Schürze verhüllend. Nach einigen Minuten, als alles still geworden war, sagte sie in sich hinein: „Zehn Jahre, zehn Kreuze. Wir haben sie doch zusammen getragen, und jetzt bin ich allein!“ Dann lauter: „Fritzchen, komm her!“ – Friedrich kam scheu heran; die Mutter war ihm ganz unheimlich geworden mit den schwarzen Bändern und den verstörten Zügen. „Fritzchen“, sagte sie, „willst du jetzt auch fromm sein, dass ich Freude an dir habe, oder willst du unartig sein und lügen, oder saufen und stehlen?“ – „Mutter, Hülsmeyer stiehlt.“ – „Hülsmeyer? Gott bewahre! Soll ich dir auf den Rücken kommen? wer sagt dir so schlechtes Zeug?“ – „Er hat neulich den Aaron geprügelt und ihm sechs Groschen genommen.“ – „Hat er dem Aaron Geld genommen, so hatte ihn der verfluchte Jude gewiss zuvor darum betrogen. Hülsmeyer ist ein ordentlicher angesessener Mann, und die Juden sind alle Schelme.“ – „Aber, Mutter, Brandes sagt auch, dass er Holz und Rehe stiehlt.“ – „Kind, Brandes ist ein Förster.“ – „Mutter, lügen die Förster?“