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Im beschaulichen Harzdorf Leuterspring ereignen sich kurz hintereinander zwei sonderbare Todesfälle: Ein Obdachloser erfriert in bitterkalter Nacht vor der Kirche und eine 92-jährige Frau wird in ihrem Haus Opfer eines Brandes. Da es keine erkennbaren Anzeichen von Gewaltanwendung gibt und sich auf den ersten Blick kein Zusammenhang zwischen den Verstorbenen herstellen lässt, sehen die Behörden von weiteren Ermittlungen ab. Einzig Gemeindepfarrer Jörg Ebeling glaubt, dass beide Personen ermordet wurden. Durch seine Beharrlichkeit geraten er und seine Freundin, die zuständige Staatsanwältin aus Goslar, in einen Dauerstreit. Denn auch die deutlich jüngere Frau sieht keinen Handlungsbedarf. Die Liebesaffäre der beiden steht ohnehin unter keinem guten Stern. Ebeling geht bislang einem klärenden Gespräch mit seiner Ehefrau aus dem Weg und legt sich darüber hinaus mit dem Kirchenvorstand an. Da ihm die Todesfälle keine Ruhe lassen, stellt der Pfarrer auf eigene Faust Ermittlungen an. Ganz allmählich trägt er jedes einzelne Puzzleteil, auf das er stößt, zu einem Bild zusammen, hinter dem sich eine jahrzehntealte Geschichte aus Verdrängung und Vertuschung auftut. Er findet die Identität des obdachlosen Toten heraus und gibt ihm dadurch seine verloren gegangene Würde zurück. Und er kommt einem Mörder auf die Spur, während die Staatsanwältin noch immer keinen Grund sieht, tätig zu werden. Dann beginnen die Ereignisse in Leuterspring sich zu überschlagen.
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Seitenzahl: 244
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Dirk Rühmann
Harzkrimi
Dirk Rühmann
ISBN 978-3-96901-014-3
ePub Edition
V2.0 (06/2021)
© 2021 by Dirk Rühmann
Abbildungsnachweise:
Umschlag © lucianmilasan | #6228323 | depositphotos.com
Porträt des Autors © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat:
Sascha Exner
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
E-Mail: [email protected]
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Allgemeiner Hinweis:
Bei den Schauplätzen dieses Romans handelt es sich – bis auf Leuterspring – um reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.
Titelseite
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Über das Buch
Über den Autor
Danksagung
Mehr von Dirk Rühmann
Eine kleine Bitte
Ein gellender Schrei durchschnitt die Abendruhe und schreckte zwei ältere Eheleute auf, die sich auf dem Nachhauseweg befanden. Die Herrschaften blieben stehen und sahen angsterfüllt in alle Himmelsrichtungen. Sie hielten inne und warteten kurz. Dann trieb sie die eisige Kälte weiter vorwärts.
Da sie nichts vernahmen, maßen sie der Angelegenheit keine besondere Bedeutung bei. Die Straßenlaternen, eher Funzeln, wiesen ihnen den Weg bis zur Hauptstraße. Als sie sie erreicht hatten und überqueren wollten, hörten die beiden das Aufheulen eines Motors und quietschende Reifen.
Das Ehepaar blieb vorsichtshalber auf dem Fußweg stehen. Nur einen Moment später raste ein Wagen mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit an den beiden vorbei. Sie meinten, am Kennzeichen des Fahrzeugs ein M für München erkannt zu haben, konnten sich aber ebenso gut in der Dunkelheit auch geirrt haben. Außerdem waren nur Bruchteile von Sekunden vergangen, in denen sie fast nichts hatten erkennen können. Schnell entschwand das Fahrzeug über die Hauptstraße hinter der lang gezogenen Kurve ihren Blicken. Sie schimpften wie die Rohrspatzen, setzten dann aber ihren Nachhauseweg unvermindert fort.
Unterwegs stellten die Eheleute Vermutungen über das Erlebte an. Den Autofahrer hielten sie für betrunken und der seltsame Schrei mochte gleichsam von einem Betrunkenen ausgestoßen worden sein. Dass beides möglicherweise unmittelbar miteinander zusammenhängen und dass sie vielleicht Zeugen eines abscheulichen Verbrechens geworden sein könnten, daran verschwendeten sie keinen einzigen Gedanken. Warum auch?
Nachdem sie die Haustür hinter sich verschlossen hatten, war für sie der Frieden des Harzdörfchens Leuterspring wieder hergestellt. Es ereignete sich nichts weiter in dieser Nacht, sodass die Eheleute schnell in den Schlaf fanden und die Ereignisse des Abends einfach wieder vergaßen.
Der Kirchturm warf seinen langen Schatten auf die mit einer hauchdünnen Schneedecke überzogene Rasenfläche, die das aus dem Mittelalter stammende Sandsteingebäude umrundete. Das vor den Toren des Harzdorfes Leuterspring auf einem Hügel stehende Gotteshaus, das mit seinen klassischen Rundbögen prägend für den romanischen Baustil jener vergangenen Tage war, galt seit ewigen Zeiten als das unverwechselbare Wahrzeichen des in der Talsohle gelegenen Dorfes. Zerstörten Feuersbrünste, Kriege und Seuchen den Ort gleich mehrfach in seiner fast tausendjährigen Geschichte, so überlebte die kleine Kathedrale mit ihrem winzigen Kirchenschiff die grausigen Verwüstungen aus verschiedenen Epochen, als habe sie das alles nie etwas angegangen. Doch der Zahn der Zeit machte nicht ewig Halt vor Zerstörungen, und so nagten die modernen Umwelteinflüsse an dem scheinbar für die Ewigkeit geschaffenen kunstvollen Bau aus der fernen Vergangenheit. Steine wurden locker und brachen einfach aus dem Gotteshaus heraus.
Der Klingelbeutel konnte gar nicht groß genug sein, um das nötige Geld für die Reparaturen aufzubringen. Außerdem wurde der Kreis der freiwilligen Spender ohnehin von Jahr zu Jahr kleiner. Wenn es eine Rettung aus öffentlicher Hand für das mittelalterliche Gotteshaus geben sollte, so hieß sie Denkmalschutz. Schützen war das eine, bezahlen das andere. Von selbst floss kein Geld für die dringend notwendige Instandhaltung. Deshalb war die Kirchengemeinde immer mehr auf ehrenamtliche Helfer und Spendengelder angewiesen.
Ähnlich verhielt es sich mit dem Personal. Die Stelle des Pfarrers selbst war bislang noch nicht gestrichen worden, wurde jedoch in den Haushaltsunterlagen des zuständigen Kirchenamtes als kw geführt, was ausgeschrieben künftig wegfallend bedeutet. Im Klartext hieß das, wenn Jörg Ebeling in einigen Jahren in seinen wohlverdienten Ruhestand verabschiedet werden würde, bliebe die Stelle unbesetzt und die übrig gebliebenen Schäfchen der Gemeinde bekämen keinen neuen Hirten mehr, der mit ihnen in einem Dorf leben könnte.
Bislang hatte sich die Kirchengemeinde immer irgendwie helfen können. Für eine Pfarrsekretärin war noch ein wenig Geld vorhanden. Die Stelle war jedoch auf ein Minimum von drei Stunden pro Woche zusammengestrichen worden.
Dann gab es da Hans-Werner Vahldieck, der vor zwei Jahren in Rente gegangen war. Ein Leben lang hatte er sich als Schlosser seine Brötchen verdient. Doch es kribbelte dem hageren Mann in den Händen und er hatte sich gelangweilt, da ein Tag für ihn wie der andere gewesen war. So hatte er sich der Kirchengemeinde angedient. Jetzt im zunehmenden Alter suchte er die Nähe Gottes und glaubte, sie bei der täglichen Arbeit hier zu finden. Es gab nichts, was der alte Mann nicht konnte. Er sah ständig im Gotteshaus und drum herum nach dem Rechten. Irgendetwas gab es dort immer instandzusetzen. Für die kleinen Reparaturarbeiten fühlte er sich zuständig. Die bröckelnde Bausubstanz allerdings konnte der in die Jahre gekommene Mann auch nicht retten. Im Sommer hatte er freilich mehr zu tun. Der große Kirchgarten wollte gepflegt und der Rasen regelmäßig gemäht werden. In der kalten Jahreszeit musste Vahldieck sich manchmal Aufgaben suchen. Doch schien das offenbar kein Problem für den älteren Herrn darzustellen. Er fand immer was zum Pruckeln.
Die Kirche wurde im Winter nur noch beheizt, wenn besondere Veranstaltungen auf dem Programm standen. Ein junges Pärchen wollte sich an diesem Tag das Jawort geben. Da eine grimmige Kälte herrschte und sich die Temperaturen nach der vergangenen wolkenlosen Nacht im zweistelligen Minusbereich befanden, hatte sich Vahldieck schon früh am Morgen auf den Weg gemacht, um das Kirchenschiff einigermaßen warm zu bekommen. In einen dicken Wintermantel gehüllt ging er mit hochgestelltem Kragen, einem kunstvoll um den Hals geschwungenen Wollschal und einer blauen Pudelmütze auf dem Kopf den sich schlängelnden Weg zur Kirchentür hinauf. Seine in Lederstiefel verstauten Füße trotteten gemächlich vor sich hin, während der Atem tief und schwer unter seiner Brust brandete. Vor seinem Mund kräuselte er sich zu einer Rauchwolke. Der Mann schaute nach unten, nicht nach vorn, da ihm die Einöde sehr vertraut war, durch die er hier seit rund zwei Jahren fast täglich hindurchstapfte. Niemand begegnete ihm zu dieser verhältnismäßig frühen Stunde auf dem Gottesacker vor dem Kirchturm.
Von dem Hügel, auf dem die Kirche stand, ließ sich die Quelle des Flüsschens Leuter gut erkennen, die unweit vom Dorf entfernt lag und selbst bei diesen arktischen Temperaturen niemals zufror.
Die tief stehende Sonne leuchtete in einige wenige Straßen, ohne ihnen jedoch auch nur ein Fünkchen Wärme zu spenden. Dafür stieg der Rauch senkrecht aus den Schornsteinen der Häuser von Leuterspring und erhob sich in zumeist weißen, qualmenden Säulen ganz gemächlich gen Himmel.
In diesem Ort zwischen zwei mächtigen Bergen des Harzes passierte so gut wie nichts. Hier kannte jeder jeden. Doch an diesem so kalten Dienstagmorgen sollte es anders kommen. Noch bevor Hans-Werner Vahldieck, der vom Kirchenvorstand offiziell zum Kirchenvogt ernannt worden war, die Kirchentür erreichte, blieb er kurz stehen, um zu verschnaufen. Er hatte das Ziel seines Fußmarsches greifbar nahe vor Augen, als er etwas Ungewöhnliches am Boden erspähte.
Neben der Eingangspforte zum Gotteshaus lag etwas, das aufgrund seiner Länge ein Mensch sein konnte. Ein schlafender Mensch draußen bei dieser Kälte?
Die restlichen Schritte bis zum Gotteshaus lief Vahldieck, um eilig nachzusehen, was er dort fände. Neben dem Weg zur Eingangstür direkt auf dem verschneiten Rasen lag ein ziemlich heruntergekommener Mann, der dreckige und löcherige Kleidung trug. Sein Gesicht war rot gefroren und durch eine Narbe gezeichnet, die tief in die Haut seiner linken Wange gegerbt war und wie ein Peitschenhieb aussah. Ansonsten lag das Gesicht in tiefen Falten über einem unrasierten Kinn. Eine Glatze kam unter einer Kapuze zum Vorschein. Sie war verrutscht und bedeckte nur noch den hinteren Teil seines kahlen Kopfes. Die Augen waren verschlossen, als ob er schliefe. Trotzdem war für den Kirchenvogt unschwer zu erkennen, dass die eisige Kälte diesem Menschen das Leben geraubt zu haben schien. Als er sich zu dem Toten hinunterbückte, flatterte ihm eine mächtige Alkoholfahne entgegen, die sich vom Tod ganz offensichtlich unbeeindruckt zeigte.
Nun streifte er sich die Handschuhe ab, griff mit der rechten Hand in seine Jackentasche, wo seine vor Kälte steifgefrorenen Finger nach dem Handy suchten. Nachdem der inzwischen sehr nervös gewordene Kirchenvogt es unter mehreren dort verstauten Dingen ausgemacht hatte, holte er es heraus und setzte einen Notruf ab. Er blieb dabei in gebückter Haltung, als ob der Tote es mitbekommen könnte, was Vahldieck seinem Handy anvertraute.
Dann richtete er sich auf, atmete tief durch und öffnete die Kirchentür. Da die Kälte trotz seiner warmen Kleidung für ihn unerträglich war, ging er in das Gotteshaus hinein und drehte dort die Heizung an. Deshalb war er ja eigentlich hierhergekommen. Am Mittag würde eine Hochzeit stattfinden, für die das Kirchenschiff geheizt werden sollte. Freud und Leid!, schoss es Vahldieck durch den Kopf. Trotzdem kam dem hageren Mann das alles äußerst seltsam vor. In Leuterspring war doch noch niemals ein Obdachloser gesehen worden!
Nachdem die Heizung angesprungen war, stellte er sich in die Tür, rieb sich die kalten Hände und starrte hinaus in den sonnigen Morgen, bis er von ferne die Martinshörner hörte.
Pfarrer Jörg Ebeling hatte im letzten Sommer seinen 60. Geburtstag groß gefeiert. Seit Jahrzehnten war er der gute Hirte, der seine Schäfchen immer wieder zusammenführte und behütete. Aber um seine Ehe war es nicht mehr so gut bestellt. In Leuterspring war es ein offenes Geheimnis, dass das Pastorenehepaar getrennte Wege ging, obwohl die beiden weiterhin unter einem Dach wohnten, aber nicht mehr dasselbe Bett teilten. Was genau die Eheleute auseinandergebracht hatte, wusste niemand im Dorf so genau. Manchmal hatte es den Anschein, als wüssten die beiden Streithähne selbst nicht mehr, warum sie sich entzweit hatten.
Der Geistliche hatte erst kürzlich mit einer zündenden Idee für neuen Schwung im Gemeindeleben gesorgt. In Zusammenarbeit mit dem niedlichen Hotel von Leuterspring organisierte er Fastenurlaube mit spirituellem Input. Hierbei war ihm die attraktive Cora Dennigsen, eine Staatsanwältin aus Goslar, über den Weg gelaufen, die fünfzehn Jahre jünger als er war und als Single kinderlos durchs Leben marschierte. Von Anfang an war es mehr als die schwarze Robe gewesen, die sie in ihren verschiedenen Berufen miteinander verband und irgendwie einte. Er hatte sich Hals über Kopf in die wesentlich jüngere Frau verliebt. Sie war nicht abgeneigt, blieb dem Pfarrer gegenüber jedoch auf Distanz, da sie größere Probleme fürchtete. Ein Ort wie Leuterspring würde einen derartigen Skandal vielleicht nicht verkraften. Außerdem wollte die Staatsanwältin sich nicht in eine bestehende Ehe einmischen, die für Ebeling jedoch nur noch auf dem Papier bestand.
Seine Frau war schon früh zur Arbeit gefahren. Die 58-Jährige arbeitete als Lehrerin an der dorfeigenen Grundschule. Ebeling stand hinter der zugezogenen Gardine am Fenster seines Wohnzimmers und blickte nach draußen in Richtung Kirche. Längst hatte Vahldieck ihn angerufen und von dem schrecklichen Fund vor dem Gotteshaus berichtet. Doch die eisige Kälte hielt den Geistlichen zurück, das Pfarrhaus zu verlassen. Er sah die Sanitäter den geschlängelten Weg zur Kirche hinauflaufen.
Als nun auch zwei Polizeibeamte erschienen, eine junge Frau mit blonden langen Haaren und ein etwas älterer Mann mit kurzen grauen Haaren, beide in Dienstuniform, hielt es den Pfarrer nicht mehr länger zurück. Ihm schien die grimmige Kälte auf einmal egal zu sein, die ihn bislang abgeschreckt hatte. Er zog sich warm an. Dann verließ er das Haus und ging ebenfalls zur Kirche, wo sich etwas Unerfreuliches ereignet hatte.
Als er an der Kirchentür ankam, wagte er einen Blick zu dem Mann am Boden, dessen Tod von einem Notarzt festgestellt wurde, woraufhin die Rettungssanitäter ihre Erste-Hilfe-Koffer wieder verschlossen.
Nun bückte sich die junge Polizistin zu dem Toten hinunter und durchsuchte seine zerrissene Kleidung. Alles, was sie fand, war ein gut erhaltenes Foto, das der Verstorbene in der Innentasche seines dreckigen Mantels verstaut hatte. Einen Pass oder Ausweis, der über seine Identität hätte Auskunft geben können, fand sie hingegen nicht.
Kirchenvogt Vahldieck kam nun aus der sich langsam ausbreitenden wohligen Wärme des Gotteshauses ebenfalls in die Kälte nach draußen und grüßte die dort Anwesenden kurz. Dann kam es zu einem klärenden Gespräch zwischen ihm und dem Polizeibeamten, das der Pfarrer interessiert mitanhörte.
Die Polizistin stellte zeitgleich fest, dass ja die Staatsanwältin im Anmarsch sei, woraufhin Pfarrer Ebeling sich überrascht umdrehte und seine Angebetete den geschwungenen Weg zur Kirche heraufkommen sah.
Cora Dennigsen wünschte einen guten Morgen und machte gleich danach die Einschränkung, dass ein Morgen nicht mehr gut sein könne, der mit einem Toten begänne. Sie schüttelte niemandem die Hand und beachtete auch Ebeling nicht, worüber er sich natürlich erleichtert zeigte. Einen Augenblick hatte sein Atem gestockt. Heimlich bewunderte er die hübsche Frau, die ebenfalls eine Pudelmütze trug, unter der ihre langen dicken braunen Haare zum Vorschein kamen.
Die Juristin besah sich nun auch den Toten und zeigte sich von dessen Alkoholfahne angewidert. Die junge Polizistin teilte ihr unaufgefordert mit, dass sie keinen Ausweis bei ihm gefunden habe und deshalb nichts über dessen Identität aussagen könne. Sie händigte der Staatsanwältin das Foto aus, das sie in der Mantelinnentasche des vermutlich erfrorenen Mannes gefunden hatte, der allem Anschein nach ein Stadtstreicher gewesen sein musste.
Cora Dennigsen besah sich das Foto genauer. Pfarrer Ebeling stellte sich hinter seine Angebetete und begutachtete das Bild ebenfalls. Er genoss ihre Nähe, zeigte sich von dem Duft angetan, der sie umhüllte, und wusste, dass niemand Verdacht schöpfen würde, wenn er ihr in diesem Moment so nahe war.
Notarzt und Rettungssanitäter zogen ab. Der Polizeibeamte fragte die Staatsanwältin, ob er einen Bestatter verständigen dürfe und wohin der Tote gebracht werden solle.
»In die Gerichtsmedizin. Da wir keine Identität des Toten besitzen, möchte ich ausschließen, dass Fremdeinwirkung die Todesursache gewesen sein könnte«, sagte Cora Dennigsen.
Wegen der bitteren Kälte gingen Staatsanwältin und Pfarrer zusammen zum Pfarrhaus und verschwanden dort im Innern des Gebäudes.
Kirchenvogt Vahldieck störte sich nicht daran. Er hatte die Staatsanwältin schon des Öfteren in der Kirche gesehen. Nun war sie aus dienstlichen Gründen hier erschienen.
Ebeling taute regelrecht auf, als er in Begleitung von Cora sein Haus betrat. Beide legten ihre warme Kleidung ab und setzten sich über Eck um den Küchentisch, von dem aus sie einen ungehinderten Blick auf die Kirche und somit das Geschehen vor deren Tür hatten.
Verliebt schaute der Pfarrer die Staatsanwältin von der Seite an. Sie genoss das und beschloss, nicht Nein zum Interesse dieses Mannes an ihr zu sagen.
»Die ganze Zeit, in der ich hier jetzt der Pastor bin, hat es so etwas nicht gegeben. Und nun erfriert ein Mensch vor meiner Kirche. Früher war die Tür nie verschlossen. Aber seit vielen Jahren schließen wir sie aus Sicherheitsgründen ab. Der Kirchenvorstand hat es so beschlossen. Ich weiß nicht, ob es richtig ist, Gottes Haus zu verschließen und den Menschen den Zutritt dazu zu verwehren«, sagte er gedankenversunken vor sich hin.
Cora Dennigsen hatte Mühe, auf Ebelings Gedankenwechsel einzuschwenken. Seinen Blicken nach zu urteilen, hätte sie nicht vermutet, dass seine ersten Sätze in ihrer Gegenwart dem Toten vor seinem Gotteshaus gelten würden. Sie zeigte sich innerlich ein bisschen enttäuscht.
»Der Tote war ein Stadtstreicher und stinkbesoffen. Vermutlich hat er in der Kirche Zuflucht vor der eisigen Kälte gesucht«, reagierte sie nun etwas schroff und sachlich.
»Rettende Wärme und Geborgenheit. Er hat sie dort gesucht, wo er sicher war, sie zu finden und sie hätte finden müssen. Aber Gott hatte geschlossen. Keine Sprechstunde, auch nicht für Notfälle«, sinnierte der Pfarrer.
Sprach er nur von Wärme und Geborgenheit in der Theorie und wollte er nicht sehen, dass Cora ihm in diesem Augenblick innerlich so nahe war, dass er nur zuzufassen brauchte? All ihre Ängste vor Konsequenzen mit der Ehefrau und den Gemeindegliedern schienen in diesem Moment von ihr gewichen. Doch den Pfarrer beschäftigte im Augenblick nur der Tote. Also ging die Staatsanwältin sogleich darauf ein.
»Hierher hat sich doch in all den Jahren noch nie ein Penner verlaufen, oder?«, rückversicherte sie sich.
»Nein. Noch nie. Man konnte nicht davon ausgehen, dass so etwas passiert. Was wirst du jetzt machen? Du bist extra aus Goslar angereist.«
»Als ich gehört habe, dass es sich um deine Kirche handelt, dachte ich mir, fahr doch mal rüber.«
»Nett von dir«, lächelte Ebeling sie an und schien sich wieder auf sie zu konzentrieren.
Doch Cora blieb jetzt gezielt dienstlich. »Sie sollen ihn obduzieren, auch wenn das vermutlich Blödsinn ist. Der neue Oberstaatsanwalt wird mir wahrscheinlich Übereifer vorwerfen.«
»Er ist doch ein Hardliner. Begegne ihm genau dort, wo er abgeholt werden will. Sag ihm, dass du ein Verbrechen ausschließen können musst.«
»Der dreht alles so, wie er es braucht. Ich weiß noch nicht, wie ich die nächsten Jahre mit diesem Mann an der Spitze in unserm Justizpalast verbringen soll. Vielleicht lasse ich mich versetzen.«
»Au ja. An die Ostsee. Ich komme mit.«
Betreten sah Cora Jörg von der Seite an.
»Zeig mir noch einmal das Foto, das der Tote bei sich hatte«, bat Ebeling die Staatsanwältin, um sie von einer möglichen Antwort auf sein Ansinnen abzulenken.
Sie zog argwöhnisch die rechte Augenbraue nach oben und nahm es aus ihrer Aktentasche, in der sie es verstaut hatte. Auf dem Küchentisch strich Cora das Foto glatt.
Sie besahen es sich beide ein weiteres Mal. Es handelte sich um eine ziemlich alte Aufnahme, deren Farben stark verblasst waren. Im Vordergrund stand ein Mädchen mit langen blonden Haaren, einem weißen T-Shirt, einer Bluejeans mit breitem Schlag und hölzernen Klapperlatschen an den nackten Füßen.
»Jeans mit einem solchen breiten Schlag waren in den Siebzigern ebenso große Mode wie Klapperlatschen. Fast jedes Mädchen, aber auch viele Jungen sind damals mit diesen Holzdingern durch die Gegend gelaufen. Doch ich frage mich, warum der Tote keinen Ausweis, aber dieses alte Foto bei sich hatte. Im Gegensatz zu seiner Kleidung ist es bestens erhalten. Warum? Wer ist das Mädchen mit den Klapperlatschen?«
»Wie alt mag sie da sein?«, wollte die Staatsanwältin wissen.
»Fünfzehn oder sechzehn, würde ich sagen.«
»Das heißt, dann ist sie inzwischen um die sechzig, wenn sie damals wirklich so jung war und heute noch lebt und das Foto tatsächlich so ungefähr Mitte der Siebzigerjahre aufgenommen worden ist.«
»Auf über sechzig würde ich den Toten auch mindestens schätzen«, merkte Ebeling an.
»Mal sehen, was die Obduktion ergibt«, stellte Cora Dennigsen fest und steckte das Foto wieder ein.
»Heb das gut auf!«, riet ihr der Pfarrer.
»Wenn kein Verbrechen vorliegt, handelt es sich auch um keinen Fall. Dann bringe ich es dir wieder mit und schenke es dir. Nun muss ich ins Büro, sonst zieht mir mein neuer Chef die Hammelbeinchen lang.«
»Um deine wunderschönen Beine kümmere ich mich lieber selbst«, lachte der Pfarrer.
Doch Cora Dennigsen überging seine zweideutig eindeutige Bemerkung mit einem müden Lächeln. Der Moment war verstrichen, der alles hätte verändern können. Ein Toter lag zwischen ihren Gefühlen und genoss höhere Priorität.
Der Amtsvorgänger des neu eingeführten Oberstaatsanwalts Dr. Jünger hatte immer die Distanz zu seinen Kollegen gewahrt und war nie einfach in das Büro eines Staatsanwalts hereingeplatzt. Doch der Nachfolger scherte sich um Diskretion einen Dreck. Ohne anzuklopfen drang er in Cora Dennigsens Büro ein und stellte sie wegen der angeordneten Obduktion des toten Stadtstreichers zur Rede.
»Sie haben ganz offensichtlich nichts Wichtigeres zu tun. Haben Sie sich den Aktenberg einmal angesehen, der sich hier, aus welchen Gründen auch immer, aufgetürmt hat?«
»Wollen Sie mir unterstellen, dass ich meine Arbeit zu langsam oder unvollständig mache?«, zeigte sie sich empört über diesen Auftritt.
»Die Staatsanwaltschaft arbeitet nicht effizient genug. Viel zu viele Strafsachen bleiben zu lange auf unseren Schreibtischen liegen. Wenn die Dinge vor Gericht kommen, wissen Beschuldigte häufig nicht einmal mehr, weswegen sie überhaupt vor Gericht stehen. Das muss sich ändern. Und das wird sich ändern. Es ist tragisch, wenn ein Stadtstreicher wegen der lausigen Kälte erfriert. Aber wir können uns nicht damit aufhalten, diesen Fall als Offizialdelikt zu behandeln. Das ist er nämlich nicht. Der Mann war ein Trinker und jetzt, wo es kalt geworden ist, da ist ihm eingefallen, dass er kein Dach über dem Kopf hat. Einer von denen, die nicht einmal für sich selbst Verantwortung übernommen haben. Da muss der Steuerzahler nicht noch für eine kostspielige und völlig sinnlose Obduktion zur Kasse gebeten werden.«
»Wir kennen nicht einmal die Identität des Toten. Alkoholisiert ist er gewesen, als er gestorben ist. Das konnte man riechen. Dass es sich um einen Stadtstreicher handelt, nehmen wir aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes an. Wissen tun wir das nicht. Zu einer guten Arbeit der Staatsanwaltschaft gehört eine sorgfältige Ermittlung. Ich möchte Fremdverschulden ausschließen.«
»Liebe Frau Dennigsen, wer soll denn einen Penner umbringen und dafür lebenslangen Knast riskieren? Ein Mord braucht ein Motiv. Das sehe ich in diesem Fall nicht im Mindesten.«
»Sagen Sie bitte nicht liebe zu mir. Sehr geehrter Herr Oberstaatsanwalt, bisher konnten wir hier in eigener Verantwortung arbeiten und unser Vorgesetzter hat uns vertraut. So würde ich das gern in Zukunft auch handhaben.«
»In Zukunft befolgen Sie Anweisungen. Ich muss Sie wohl nicht daran erinnern, dass Sie als verbeamteter Mensch – ich hoffe, ich habe mich in Gendersprache korrekt ausgedrückt – weisungsgebunden sind. Ich bin als Ihr Vorgesetzter dafür verantwortlich, dass diese Behörde künftig effizienter arbeitet. Da können wir uns nicht mit Bagatellen aufhalten. Oder haben Sie einen Anfangsverdacht?«
»Was bitteschön soll ein Anfangsverdacht sein? Verdacht ist Verdacht.«
»Ich muss Sie ja wohl nicht über den Terminus Anfangsverdacht aufklären. Dieser Begriff ist in unserem Berufsstand allgemein üblich. Spielen Sie hier bitte nicht die Oberlehrkraft. Haben Sie nun einen solchen Verdacht? Ja oder nein?«
»Nein.«
»Also, in Zukunft nichts ohne mein ausdrückliches Einverständnis. Diese Aktion bleibt Ihre einzige eigenmächtige. Ich hoffe, wir haben uns verstanden. Schönen Tag noch.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ schwungvoll das Büro der Staatsanwältin.
Cora rechnete nach. Sie war jetzt 45 Jahre alt. Das bedeutete, dass sie noch über zwanzig Jahre bis zu ihrer Pensionierung vor sich hatte. Ihr neuer Chef war 43. Wenn er nicht eines schönen Tages Justizminister werden sollte, würde sie ihre Pensionierung unter diesen Arbeitsbedingungen nicht erleben. Sie grübelte über die Möglichkeit einer Versetzung nach.
Jörg Ebeling dachte an seine Pensionierung, deren Schwelle er in drei bis fünf Jahren erreichen würde. Als das junge Brautpaar vor ihm am Altar des Herrn stand und sich das Jawort gab, überlegte er für einen Augenblick, wie vielen Pärchen er das ewige Treueversprechen in all den Dienstjahrzehnten schon abgenommen hatte und wie viele es später vermutlich gebrochen hatten.
Eigentlich empfand er es als romantisch, dass trotz der immer stärker um sich greifenden Nüchternheit Menschen den Weg in die Kirche beschritten, um vor Gott zu bezeugen, dass sie sich füreinander geschaffen glaubten. Meistens verlief das Leben anders, als junge Menschen es sich vorstellten. So kreisten die Gedanken des Pfarrers um seine eigene Ehe, die am Boden lag. Und er dachte an Cora. Er fühlte eine Sehnsucht, als er das Lachen der jungen Menschen sah, die vor ihm standen und die Ringe tauschten. Es war dieses eindeutige, uneingeschränkte Lachen, das Ja zum Leben und vor allem zur Liebe sagte.
Nachdem er den Segen gesprochen und die frisch Vermählten in die eisige Kälte entlassen hatte, schweifte sein Blick über den verschneiten Garten, auf dem am frühen Morgen der Tote gefunden worden war. Keine einzige Spur von dem erfrorenen Obdachlosen war mehr zu entdecken. Nur Ebeling und sein Kirchenvogt Vahldieck dachten für einen Moment an die gespenstische Szene im winterlichen Morgengrauen.
Dann drehte Vahldieck die Heizung wieder ab. Bis zum folgenden Sonntag würde die Kirche unbenutzt bleiben und deshalb auch wieder verschlossen, was Pfarrer Ebeling missfiel.
Er ging zu seinem Haus hinunter und überlegte, ob er Cora anrufen sollte. Aus irgendeinem, ihm nicht ersichtlichen Grunde verwarf er den Gedanken jedoch schnell wieder.
Ebeling traute sich gar nicht mehr, in den Spiegel zu schauen. Wenn er die wenigen grauen Haare auf seinem Kopf betrachtete und die ziemlich rundliche Figur darunter, befielen ihn stets Zweifel, was die hübsche Staatsanwältin so attraktiv an ihm fand. Vielleicht rief er deshalb nicht bei ihr an, weil ihn die Angst plagte, dass sie ihn eines Tages mit offenen Augen betrachtete und ohne den Mantel der Verliebtheit ihren Gefallen an seinem welken Gesicht verlöre.
Am nächsten Tag flatterte der Staatsanwältin der Obduktionsbericht auf den Tisch. Der vermutlich obdachlose Mann, der vor der Tür der Kirche ihres Freundes den Tod gefunden hatte, starb ohne Fremdeinwirkung. Er war erfroren. Es gab auch keine Hinweise darauf, dass ihn jemand tot vor die Kirche gezerrt und da abgelegt hatte. Den Weg dorthin musste der volltrunkene Mann in der Hoffnung, im Kirchengebäude Unterschlupf und Schutz vor der Kälte zu finden, allein zurückgelegt haben. Sein Alkoholgehalt im Blut belief sich auf 3,4 Promille. Cora Dennigsen gab nun ein Polizeifoto, das den Toten zeigte, an Fernsehen, Presse und soziale Medien mit der Frage weiter, ob jemand den Mann kenne. Seine Akte konnte sie definitiv schließen. Falls die Staatsanwältin Glück haben und sich jemand auf ihre Anfrage mit einem Hinweis melden sollte, könnte sie nachträglich seinen Namen den Akten hinzufügen. Ansonsten bliebe er einer von den namenlosen Toten dieser Welt.
Cora Dennigsen zog das Foto, das der Verstorbene bei sich gehabt hatte, aus der Akte heraus und hielt es in den Händen. Es wunderte sie, dass er es so sorgfältig in seinen Lumpen verstaut hatte. Doch wie versprochen legte sie es nicht wieder in die Akte, sondern würde es Jörg zu ihrem nächsten Treffen mitbringen. Im Augenblick wusste sie jedoch nicht, wann eine neuerliche Begegnung mit dem Pfarrer stattfinden würde und ob sie es überhaupt wollte. Cora war wieder gespalten in ihren Gefühlen diesem Mann gegenüber. Sie besah sich das Foto, noch einmal, bevor sie es in ihrer Handtasche verstaute. Dann beschäftigte sie kurz die Frage, was der so stark alkoholisierte Erfrorene mit diesem bildhübschen Mädchen zu tun hatte. Doch schließlich rief die Arbeit. Berge von Akten wollten beackert werden. Cora machte sich daran und schnell geriet das Mädchen mit den Klapperlatschen wieder in Vergessenheit.
Zwei Tage waren vergangen, ohne dass Cora und Jörg etwas voneinander gehört hatten. Es missfiel der Staatsanwältin, dass der Pfarrer sich nicht bei ihr meldete, obwohl ihr nicht klar war, ob sie das überhaupt wollte. Hätte es keinen Grund für sie gegeben, ihn anzurufen, wäre vielleicht noch viel Zeit verstrichen, bis er den Kontakt zu ihr gesucht und aufgenommen hätte.
Für Cora stand fest, dass sein offensichtliches Interesse an ihr verblasst sein musste, wenn er sich nicht meldete. Vielleicht gab es aber auch wieder Stress mit seiner Frau. So gab sie sich schließlich einen Ruck und rief ihn an. Nach mehrmaligem Klingeln ging er an sein Handy. Für Cora nicht spürbar wurde Jörg ganz warm ums Herz, als er ihre leicht angeraute Stimme vernahm. Dieses Mal sprach sie über den Toten vor der Kirche, während er sie mit Komplimenten überzog und sich froh darüber zeigte, ihre Stimme zu hören. Auf die Frage, warum er sich nicht bei ihr gemeldet hatte, gab Ebeling zur Antwort, aus Ärger mit seiner Frau keine Muße dazu gefunden zu haben.
Nach wenigen Minuten befanden sich beide wieder auf einer Wellenlänge und verabredeten sich zum gemeinsamen Abendessen in einem Restaurant in Goslar. Cora wollte dem Pfarrer das fragliche Foto mitbringen.
Wann immer es Jörg aus unterschiedlichen Gründen in dieses Städtchen zog, bewunderte er Goslar mit seiner historischen Altstadt, der Kaiserpfalz und den schmalen kopfsteingepflasterten Straßen.
Die beiden trafen sich in einem der Restaurants am Marktplatz, wo sie sich zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss gaben. Die Angst schwang mit, von irgendjemandem aus Leuterspring, der auch hier verweilte, beobachtet zu werden.
Nachdem sie an dem einzigen noch freien Tisch Platz genommen hatten, kam eine Kellnerin und entzündete die Kerze auf einem geschwungenen Bronzeständer vor ihnen. Sie spendete anfangs ein unruhiges Licht und ließ die Schatten der beiden hektisch über die weiße Wand tanzen. Doch als sie ihr Essen bestellt hatten, fand die Kerze zur Ruhe und die Gesichter der beiden schienen in ihrem Glanz wie verzaubert.
Beide verspürten das starke Bedürfnis zu reden. Angestrengt versuchten sie, Wörter für ihre Gefühle zu finden, was sich als äußerst schwierig gestaltete. Gefühle folgten immer völlig eigenen Sprachregeln jenseits von Semantik und Grammatik. Doch irgendwann ergab sich Klarheit für beide. Sie wollten es gemeinsam wagen und klaren Tisch machen. Die fünfzehn Jahre Altersunterschied blendeten die Verliebten einfach aus.
»Sie werden dich als Pfarrer rausschmeißen«, gab Cora zu bedenken.
»Können sie nicht. Allenfalls strafversetzen. Dann hat Leuterspring keinen Pfarrer mehr. Und bevor ich in einer fremden Gemeinde meinen Dienst aufnehmen muss, lass ich mich so lange krankschreiben, bis sie mich pensionieren.«