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Eine Zwölfjährige stürzt vom Baumwipfelpfad in Bad Harzburg in den Tod. Ein Zeuge behauptet, sie wurde gestoßen, und verfolgt den fliehenden Täter, offenbar der Klassenlehrer des Mädchens, der kurz darauf von einem Bus angefahren wird. Das Ermittler-Duo Ramona Süß und Yannick Sauer misstraut dem Zeugen und entdeckt, dass das Mädchen und ihre Freundin bereits seit Wochen vermisst werden. Während die eine stirbt, bleibt die andere verschwunden. Die Ermittlungen führen die beiden in eine Schule, deren vergiftete Atmosphäre tiefere Abgründe offenbart. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Mädchen und den grausamen Ereignissen an der Schule?
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Seitenzahl: 250
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Dirk Rühmann
TOD AM BAUMWIPFELPFAD
Kriminalroman
Tod am Baum Wipfelpfad
ISBN 978-3-96901-104-1
ePub Edition
V1.0 (09/2024)
© 2024 by Dirk Rühmann
Abbildungsnachweise:
Umschlag © Atmosfera | #4945684 | depositphotos.com
Porträt des Autors © Ania Schulz | as-fotografie.com
Lektorat:
Sascha Exner
Verlag:
EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH
Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt · Deutschland
Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21
Web: harzkrimis.de · E-Mail: [email protected]
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Die Schauplätze dieses Romans sind reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.
Titelseite
Impressum
Ein paar Worte vorweg
Erster Tag
Zweiter Tag
Dritter Tag
Vierter Tag
Fünfter Tag
Sechster Tag
Siebter Tag
Achter Tag
Ein paar Worte hinterher
Über den Autor
Mehr von Dirk Rühmann
Eine kleine Bitte
Die Geschichte und ihre Personen sind frei erfunden. Allerdings werden zahlreiche Probleme aufgezeigt, die einen gesellschaftlichen Rundumschlag darstellen. Im Fokus steht eine fiktive Gesamtschule, in der, wie in vielen deutschen Schulen, alle Alltagssorgen aufeinanderprallen.
Lehrkräfte arbeiten nicht selten am Limit. Integration ausländischer Schüler, deren Familien ohne deutsche Sprachkenntnisse in Parallelgesellschaften leben. Deutsche Kinder, die in einer Schule ohne Rassismus beschult werden, deren Eltern jedoch ganz offensichtlich rassistische Tendenzen aufweisen und diese brühwarm an ihre Sprösslinge weitergeben. Inklusion beeinträchtigter Schüler, die wegen ihrer Behinderung von den Mitschülern gemobbt oder abgelehnt werden, da nicht jede gewollte auch eine gelungene Inklusion darstellt, weil es oft an entsprechendem Personal fehlt. Unterbringung von Kindern Geflüchteter aus Kriegsgebieten, die schwer traumatisiert sind und ebenfalls über keinerlei deutsche Sprachkenntnisse verfügen, denn die Sprachlernklassen in Niedersachsen wurden mit Beginn des größten Flüchtlingsstroms 2015 abgeschafft. Obendrein so verschiedene Kulturen, die einander mit Unverständnis begegnen und sich eher feindselig gegenüberstehen, was sich in einer immer derberen Umgangssprache in der Schule äußert. Internetkriminalität, Pornographie von Minderjährigen und Drogenhandel auf dem Schulhof. Das volle Programm also, das Menschen schockieren mag, die mit dem System Schule heutzutage nicht mehr vertraut sind, da ihnen der Zugang dazu fehlt. Das Ergebnis der PISA-Studie mag manche Menschen immer wieder aufs Neue schockieren. Doch das lässt sich nicht mit zusätzlichen Förderstunden ändern, die am Ende von denen, die sie am dringendsten benötigen, überhaupt nicht aufgesucht werden.
In diesem Umfeld muss das Kommissaren-Duo Süß und Sauer ermitteln, da ein 12-jähriges Mädchen auf rätselhafte Weise am Baumwipfelpfad in den Tod gestürzt ist.
Aber auch die Protagonisten haben ihre Probleme mit den eigenen Kindern, die jedoch schon etwas älter sind als das Mordopfer.
Als die Schule dann noch mit einem Amokläufer zu kämpfen hat und nicht jede Lehrkraft den Feueralarm vom Amokalarm unterscheiden kann, wird es selbst den Ermittlern langsam zu viel. Auch sie stoßen, ähnlich wie die Lehrkräfte, allmählich an ihre Grenzen.
Ein Kriminalroman, der im Harz spielt, der Streiflichter auf höchst unerfreuliche Entwicklungen von Schule und Gesellschaft wirft und die Misere der Bildungspolitik deutlich aufzeigt. Fehlende finanzielle Mittel sowie mangelndes Personal an Schulen und das ohnmächtige Gefühl der dort Tätigen, dass sie von den Regierenden viel zu oft mit all ihren Problemen allein gelassen werden.
Mit dem Osterfest zog traditionell ein Hauch von Frühling ins Land, wenngleich der Frost besonders im Harz noch immer flächendeckend die Oberhand zu behalten schien. Die höheren Lagen wurden zumeist von Kaltluft beherrscht, gegen die sich die leichteren und zugleich wärmeren Luftmassen nur schwer behaupten konnten. Aber die zaghaft an den noch kahlen Zweigen mancher Büsche erblühenden Knospen verliehen auch dem deutschen Mittelgebirge den sich langsam entfaltenden Glanz des Frühjahrs.
Die Osterferien waren zu Ende gegangen. Sie hatten viele Besucher in den Harz gelockt, die sich nun auf die Rückreise begeben mussten, da der Alltag sie rief. Dafür kamen jene, die nicht an Schulferien gebunden waren oder bereits den beruflichen Ruhestand erreicht hatten. Der Bettenwechsel vollzog sich wie immer still und fast unmerklich. Auf Straßen und Plätzen sowie in Geschäften und Gaststätten tummelten sich deutlich weniger Menschen als über die Feiertage in der Woche zuvor. Nicht jedes Hotelzimmer schien demnach einen neuen Gast gefunden zu haben, um ihn zu beherbergen.
Für Polizeibedienstete galt diese Regel allerdings nicht, dass außerhalb von Schulferien weniger in der Kurstadt Bad Harzburg los zu sein schien. Unfälle und Verbrechen ereigneten sich unter eigenen Rahmenbedingungen und ließen sich weder vorhersagen noch einplanen.
Schulkinder kehrten am ersten Tag nach den Ferien, einem Mittwoch, an die gewohnten Orte zurück, an denen ihnen das Wissen dieser Welt vermittelt wurde, damit sie nicht orientierungslos durchs Leben gehen mussten.
Aber auch einige Touristen hatten sich vom schönen Wetter locken lassen und besuchten die allseits bekannten Attraktionen. Das Leben begann auf seine ganz eigene Weise zu pulsieren und es stockte für einen Moment, als sich das Unfassbare ereignete.
Der Tod kannte kein Datum und er lauerte hinter jeder Ecke. Manchmal schlug er gnadenlos zu und zeigte dem Menschen, der sich oft für so mächtig hielt, wie klein und unbedeutend er doch in seiner Gegenwart war. Gelegentlich drängte er sich uns mit seiner abscheulichen Distanzlosigkeit auf wie ein wildes Tier, das sich wahllos seine Beute nahm.
Der Baumwipfelpfad am Ortsausgang von Bad Harzburg zählte noch zu den jüngeren Errungenschaften der Kurstadt. So pompös die Stahlkonstruktion auch zuweilen anmutete, hielt sie sich doch auf den ersten Blick ein wenig hinter den Bäumen versteckt, durch deren Wipfel sich ihr Weg bahnte, der Spaziergänger zahlreich anlockte.
In der Frühe des gerade angebrochenen Tages waren erst wenige Besucher auf den Beinen. Die größere Zahl der Touristen schien sich vermutlich in den Hotels noch das Frühstück munden zu lassen und ging den Tag etwas ruhiger an. Für die Frühaufsteher, die gern das Gold der Morgenstunde in sich aufsogen, sollten die nächsten Minuten und Stunden etwas unerwartet Fürchterliches bringen.
Es wurden für sie ein lauter Streit, ein Aufschrei und ein dumpfer Aufprall hörbar, ohne dass die Ohrenzeugen zunächst in der Lage waren, den Ort auszumachen, von dem die schrecklichen Geräusche kamen, die die Stille des Morgens so gellend durchschnitten. Hektisches Stimmengewirr setzte ein und jeder begriff, dass sich etwas wenig Erfreuliches ereignet zu haben schien. Wirklich gesehen hatten die meisten jedoch nichts.
Der Buschfunk sorgte allerdings sehr schnell dafür, dass der Sturz eines Menschen aus großer Höhe bekannt wurde. Einige jener unfreiwilligen Zeugen, die sich noch im Eingangsbereich des Baumwipfelpfades befanden oder auf dem Weg dorthin, eilten nun zur Unglücksstelle, nachdem sie den Ort ausgemacht hatten, an dem ein menschlicher Körper am Boden aufgeschlagen sein musste. Der Weg durchs Unterholz gestaltete sich als schwer passierbar. Zwei Männer gelangten an das Absturzopfer heran und merkten schnell, dass hier vermutlich jede Hilfe zu spät kam.
Es sollte nicht das einzige schreckliche Unglück an diesem sonnigen, aber kühlen Morgen bleiben. Ein Mann rannte den Weg zur B 4 hinunter und ein anderer folgte ihm auf dem Schritt. Für einige der Besucher stellte sich die Frage, ob die Männer unterschiedlichen Alters zusammen vor irgendetwas davonliefen oder ob der zweite hinter dem ersten her war. Jedenfalls wurden quietschende Bremsen hörbar und wiederum ein Aufprall mit einem Schrei verbunden. Danach kehrte eine beängstigende Stille ein. Niemand schien zu begreifen, was um ihn herum sich gerade ereignet hatte. Doch das Unheilvolle, das hier in den Fokus gerückt war, fesselte alle an diese jetzt so gespenstisch wirkende Örtlichkeit. Niemand traute sich, fortzugehen, bis die Martinshörner in der Ferne hörbar wurden und klar war, dass sich Hilfe im Anmarsch befand.
Obwohl die Rettungskräfte sehr schnell an den Unglücksorten erschienen, vergingen in der Wahrnehmung der hier zufällig anwesenden Menschen gefühlt Stunden, bis die ersehnte Hilfe endlich eintraf. Einige Beamte der Polizei und Feuerwehr sicherten zuerst den Unfallort an der B 4 und kümmerten sich um den Verletzten dort, während andere zu der Stelle eilten, an der das in die Tiefe gestürzte Opfer lag.
Bei Hauptkommissarin Ramona Süß und Hauptkommissar Yannick Sauer handelte es sich um zwei neue Kollegen im Polizeirevier von Bad Harzburg. Beide hatten erst vor wenigen Wochen ihren Dienst in der Kurstadt aufgenommen und wurden nun zu ihrem ersten großen Einsatz geschickt. Eine innere Anspannung befiel die in verschiedenen Städten tätig gewesenen Ermittelnden, als sie sich ihrem Einsatzort näherten und am Fuße des Burgberges die vielen Blaulichter auf den unterschiedlichen Dienstfahrzeugen aufblitzen sahen. Bisher kannten beide den Harz als Ausflugsziel, das seine Besucher mit den vielen Reizen der rauen Natur zu beeindrucken suchte. Nun lernten sie den Alltag fernab jeglicher Idylle kennen. Sie sahen sich tief in die Augen, atmeten noch einmal kräftig durch und stiegen aus ihrem zivilen Dienstfahrzeug aus, nachdem sie es vor dem blauweißen Flatterband abgestellt hatten, das von den Kollegen um den Unglücksort gezogen worden war.
Sanitäter kümmerten sich um einen am Boden liegenden Verletzten, neben dem ein Linienbus mit offenen Türen stand. Unschwer erkannten die neuen Ermittelnden, dass hier ein Mann von einem Bus angefahren worden sein musste.
Doch es gab noch einen zweiten Unglücksort, zu dem sie ein uniformierter Kollege führte, nachdem sie sich ihm gegenüber ausgewiesen hatten. Der Baumwipfelpfad!
Hauptkommissarin Ramona Süß versuchte sich durch das Unterholz vorzuarbeiten, wo sich bereits einige Kollegen unmittelbar zuvor den Weg zu einer Person gebahnt hatten, die dort regungslos im Gebüsch lag. Das Gestrüpp unter der gewaltigen Stahlkonstruktion des Baumwipfelpfades war allerdings sperrig. Doch dort mitten hinein war ein offensichtlich blutjunges Mädchen über das Geländer in die Tiefe hinabgestürzt.
Hauptkommissar Sauer schlug einen anderen Weg ein und begab sich über die Rotunde hinauf auf den Baumwipfelpfad zu jener Stelle, an der das Mädchen über das Geländer in die Tiefe gestürzt oder gestürzt worden war.
Eigentlich versprach die am Morgen hinter den Bergen malerisch aufgegangene Sonne einen schönen Tag. Sie schien vom Himmel und entlockte dem beginnenden Frühling die ersten prächtigen Farben, die sich an Büschen in Form von Blüten und Knospen unter die noch kahlen Bäume mischten. Das Leben gab sich unverwüstlich und demonstrierte seine ständige Wiederkehr. Alles, was tot schien, hatte in Wahrheit nur geschlafen.
Ostern stand dieses Jahr Mitte April auf dem Kalender. Der Vollmond hatte es so gewollt. Das Bild vom Frühling mochte den Glauben an den Sieg des Lebens über den Tod und die daraus resultierende Auferstehung nähren. Doch das so grausam umgekommene junge Mädchen am Rande der B 4 zu Füßen des Baumwipfelpfades vermittelte einen anderen Eindruck. Hier hatte der Tod gesprochen und behielt unwiderruflich das letzte Wort.
Die Kriminalbeamtin hob das blauweiße Band an, das bereits von Einsatzkräften vor Ort um die Tote herum gespannt worden war und geräuschvoll im Wind flatterte, der am Fuß des Burgbergs mächtig Staub aufwirbelte. Der Boden unter der Stahlkonstruktion bestand aus einer Mischung aufgewühlter Erde und vertrocknetem Laub des Vorjahres.
Der Kopf des toten Mädchens lag eingebettet in die zahllosen verwelkten Blätter am Fuße der Bäume und Sträucher, die längst ein neues jahreszeitlich bedingtes grünes Kleid übergestreift hatten. Ihre Augen waren weit aufgerissen und verrieten dem Betrachter einen Ausdruck von panischem Entsetzen. Sie hatte offensichtlich den letzten Sekunden ihres Lebens bewusst ins Auge geschaut und erkannt, dass sie den tödlichen Aufprall nicht mehr abwenden konnte. Ihr Körper schien ganz und unversehrt geblieben zu sein. Kaum vorstellbar, dass der Sturz aus großer Höhe sie getötet haben sollte. Dann begrüßte die Gerichtsmedizinerin Dr. Siems die Hauptkommissarin, die sich ebenfalls mühevoll den Weg durchs Unterholz gebahnt hatte. Die schlanke Frau mit rötlichen Haaren hob den Kopf der Toten an. Darunter lag ein blutüberströmter Stein und der Hinterkopf des jungen Mädchens war völlig zertrümmert.
Die Ärztin versicherte der Kriminalistin, dass der Aufschlag auf diesen Findling den Tod zwar ausgelöst hätte, aber das Mädchen sich mit großer Wahrscheinlichkeit sehr starke innere Verletzungen zugezogen hatte, die ebenfalls den sofortigen Tod herbeigeführt hätten. Aus beruflicher Erfahrung wusste die Medizinerin, dass Verletzungen oft harmloser waren, als es schien, wenn viel Blut geflossen war. Verhielt es sich anders, fanden sich meistens die wesentlich schlimmeren Verletzungen im Innern, ohne dass Körperflüssigkeiten ausgetreten waren. Doch Genaueres dazu könnte sie natürlich erst nach der Obduktion sagen, wofür Ramona Süß Verständnis zeigte.
Sie ging drei Schritte zurück und legte ihren Kopf in den Nacken, um nach oben schauen zu können, von wo das Mädchen in den sicheren Tod gestürzt war. Ihr Kollege Yannick Sauer schaute von dort über die Brüstung und winkte. Ramona Süß signalisierte ihm mit der Hand, dass er zu ihr nach unten kommen möge, was er durch ein kurzes Nicken bestätigte.
Minuten später standen Süß und Sauer gemeinsam vor der Leiche und betrachteten sie. Die Gerichtsmedizinerin war inzwischen wieder fortgegangen. Das tote Mädchen hatte keine Papiere bei sich und ein Smartphone wurde auch nicht bei ihr gefunden.
»Wie alt schätzt du sie?«, fragte die 42-jährige Ramona Süß, die eine 17-jährige Tochter hatte und alleinerziehend war. Es handelte sich bei der Kriminalbeamtin um eine schlanke Frau mit schulterlangen braunen Haaren, die vom Wind ein wenig zerzaust wurden und im hellen Licht der Sonne eine zartrötliche Färbung annahmen.
Yannick Sauer besah sich die Tote daraufhin noch einmal mit leicht gesenktem Kopf aus dem Augenwinkel. Er war mit seinen fünfzig Jahren, die er zählte, Vater eines 25-jährigen Sohnes und einer 21-jährigen Tochter sowie seit fast dreißig Jahren glücklich verheiratet mit seiner zwei Jahre jüngeren Frau. Sein Körper war durchtrainiert. Trotz der sportlichen Figur zeichnete sich ein leichter Bauchansatz unter dem weißen Sweatshirt ab, das er unter der schwarzen Lederjacke trug. Auch ihn ließ der Anblick keineswegs kalt.
»Das ist doch noch ein Kind. Die ist mit Sicherheit keine sechzehn. Völlig unschuldig.«
»Unschuldig? Wie meinst du das?«, sah ihn die Kollegin kritisch von der Seite an.
»Unschuldig im Sinne von ... Na ja, die hätte noch alles vor sich gehabt.«
»Und das eine noch nicht hinter sich? Was macht dich so sicher, dass sie noch Jungfrau gewesen ist?«
»Warten wir die Obduktion ab. Was soll diese Spekulation? Wichtiger ist es doch, ihre Identität herauszufinden«, war Sauer sich sicher.
»Natürlich. Und was sagen die Zeugen?«, wollte Hauptkommissarin Süß von ihrem Kollegen wissen, da er auf seinem Weg nach oben und wieder zurück auf einige von ihnen getroffen sein musste.
»Alle haben plötzlich einen lauten Streit gehört und dann einen entsetzlichen Schrei. Aber fast keiner hat gesehen, wie sie abgestürzt ist. Nur ein einziger Passant hat einen Mann am Arm festgehalten, der da oben auf der Plattform zusammen mit dem Mädchen gestanden hat. Doch der hat sich losgerissen und ist fortgelaufen. Der andere ist daraufhin hinter ihm her und hat die Verfolgung aufgenommen. Der Flüchtende ist panisch auf die Straße und mitten in einen Linienbus hineingerannt.«
»Wie? Der Unfall da vorne hat was mit dem Unglücksfall hier zu tun?«, zeigte sich Ramona Süß überrascht. Sie hatte sich schon gewundert, dass gleich zwei schreckliche Ereignisse beinahe zeitgleich in unmittelbarer Nähe zueinander stattgefunden hatten, es jedoch nicht mit ihrem Kollegen thematisiert, dem aber der Zusammenhang von Anfang an klar zu sein schien.
»Die Kollegen verhören da vorn den Verfolger«, ergänzte Sauer seine Ausführungen. »Er ist nach dem Unglück mit dem Bus nicht da unten geblieben, sondern ein Stück weit wieder hier hochgegangen. Angeblich war ihm der Anblick des Angefahrenen unerträglich. Vielleicht plagt ihn auch das schlechte Gewissen.«
»Und? Hat er gesehen, was da oben passiert ist und wie das Mädchen abgestürzt ist?«
»Er sagt ja. Ich habe einiges von seinen Aussagen gehört, bevor ich über die Rotunde nach oben marschiert bin, um mir alles aus der Nähe anzuschauen. Der Zeuge wollte ebenfalls auf diesen schmalen Steg mit gläsernem Boden gehen. Da haben der Mann, der später in den Bus gelaufen ist, und das Mädchen an dem Geländer gestritten. Dann habe der es in die Tiefe gestürzt, nachdem sie auf dieses Geländer geklettert war.«
»Wie? Die ist von selbst da oben drauf geklettert?«, vergewisserte sich Ramona Süß.
»Oder der Mann hat sie da drauf gehoben. Der Zeuge weiß es nicht.«
»Kann jemand bestätigen, dass dieser Zeuge den mutmaßlichen Mörder verfolgt hat?«
»Nur, dass zwei Männer durch die Rotunde hintereinander hergelaufen sind.«
»Das heißt, unser vermeintlicher Zeuge könnte auch der Mörder sein, und der Mann, der panisch in den Bus gelaufen ist, rannte um sein Leben, weil er in Wahrheit dieses abscheuliche Verbrechen beobachtet hat und jetzt vor einem Mörder auf der Flucht gewesen ist«, kombinierte Hauptkommissarin Süß.
»Das könnte natürlich auch sein. Wäre in diesem Falle mehr als abgebrüht und eine eiskalte Lüge dieses Typen. Wir müssen beide Männer durchleuchten und herausfinden, wer das tote Mädchen ist und wo es mögliche Schnittmengen zwischen ihr und einem der beiden geben könnte.«
»Auf jeden Fall haben wir es wohl mit Mord zu tun«, sagte Ramona Süß mit einem Anflug von Verzweiflung im Gesicht.
»So was passiert auch im Harz und es gehört zu unserem Job, den wir uns ausgesucht haben«, versuchte Yannick Süß seine Kollegin etwas aufzumuntern, was im Angesicht eines so grausam zu Tode gekommenen jungen Mädchens eher aussichtslos schien.
»Was ist mit den anderen hier, die was gesehen haben?«
»Wie ich schon sagte. Die haben eine Menge aufgeschnappt. Allerdings jeder was anderes und nichts von dem kannst du wahrscheinlich verwenden«, seufzte Yannick Sauer.
»Wir haben zwei Vermisstenmeldungen von zwölfjährigen Mädchen seit einigen Tagen auf dem Tisch liegen. Könnte das da eine von ihnen sein?«, fragte Ramona Süß ihren Kollegen eher ängstlich.
»Du meinst, das Mädchen dort ist erst zwölf?«, erwiderte er ihre Vermutung zweifelnd, da er die Tote für deutlich älter hielt.
»Sieht eher wie fünfzehn aus. Aber was heißt das schon?«
»Die sollen sie jetzt hier wegholen. Lass uns zu dem Unglücksort unten an der Hauptstraße gehen. Mal sehen, was es dort an Neuigkeiten über den Verunglückten gibt.«
»Und der vermeintliche Zeuge?«, erinnerte Ramona Süß ihren Kollegen.
»Wenn wir seine Personalien haben, müssen wir ihn laufen lassen. Wir haben ja keine Handhabe gegen ihn«, konstatierte Yannick Süß.
* * *
Wolken zogen inzwischen über den Himmel und verdeckten die Sonne, die sich allmählich vollständig hinter ihnen zurückzog. Das dadurch einsetzende Grau verfinsterte die gespenstische Szene am Fuße des Burgbergs im Schatten des Baumwipfelpfades um ein Beträchtliches. Die Blaulichter von Polizei- und Rettungswagen durchzuckten das menschliche Auge, wohin es auch blickte.
Der Busfahrer saß hinten in dem von ihm gesteuerten Fahrzeug auf einem der Doppelsitze mit Blick zur Seilbahnstation. Doch der Mann schaute nicht aus dem Fenster, sondern vergrub das Gesicht tief in seinen Händen. Vermutlich wollte er den Anblick loswerden, wie er den Mann erwischt und überfahren hatte. Ziemlich sicher aber würde ihm das grauenvolle Erlebnis ewige Albträume bescheren. Das Entsetzliche grub sich meistens tief in unser Gedächtnis ein, so, als wollte es stets Warnung und Mahnung sein, damit wir nicht dasselbe Schicksal erlitten.
Der Verletzte befand sich noch in einem der Rettungsfahrzeuge, in dem ein Notarzt um sein Leben zu kämpfen schien, bevor er in die Klinik transportiert werden konnte.
Yannick Sauer hatte den Personalausweis des Verunglückten erhalten und besah ihn sich. Er hielt einen Namen, ein Alter und eine Adresse in den Händen und signalisierte seiner Kollegin Ramona Süß, dass sie zu den Angehörigen fahren müssten, um sie über das Geschehene in Kenntnis zu setzen. Der Verunglückte hieß Christian Dabelstein und war 35 Jahre alt.
Der Busfahrer konnte unter den gegebenen Umständen unmöglich eine Aussage tätigen. Er benötigte psychiatrische Hilfe. Doch es war noch immer kein Psychologe eingetroffen. Dafür ein Verkehrsmeister in Begleitung eines Busfahrers, der den Omnibus zum Betriebshof bringen würde, wo er auf mögliche Schäden untersucht werden musste.
Die Herren des Verkehrsbetriebes gesellten sich zu beiden Kommissaren, mit denen zusammen sie die Blutspuren vorn am Fahrzeug betrachteten, um daraus berufsbedingt die jeweiligen Schlüsse zu ziehen. Dachten die einen zuerst an mögliche Schäden am Fahrzeug, gingen die Gedanken der anderen in Richtung des Verletzten, der mit einer Aussage Licht in das Dunkel der Ereignisse bringen könnte. Trotzdem hofften alle vier, dass es dem Verunglückten möglichst schnell wieder besser ginge, was auch den Schock des Busfahrers lindern würde, um dessen Wohlergehen sie sich natürlich ebenfalls orgten.
Dann drehte sich Yannick Sauer noch einmal um und sah, wie einer seiner uniformierten Kollegen den Zeugen und Verfolger des Verunglückten verabschiedete. Da beschloss der Hauptkommissar, den Mann nicht einfach so ziehen zu lassen, und ging schnurstracks auf ihn zu.
Der vollschlanke Mann von Anfang sechzig trug kurzes gewelltes Haar, das noch nicht ergraut war. Ein quälender Gesichtsausdruck überzog ihn und es war ihm leicht anzusehen, dass er sich nicht wohlfühlte. Als Sauer direkt vor ihm stand, begann der Mann unaufgefordert zu erzählen.
»Was hätte ich anders machen sollen? Den da einfach laufen lassen? Dass er in einen Bus rennt und jetzt vielleicht stirbt, das habe ich natürlich nicht gewollt.«
»Natürlich nicht. Wenn sich alles so verhalten haben sollte, wie Sie es ausgesagt haben, dann haben Sie keinen Fehler gemacht«, versicherte ihm der Kriminalbeamte.
Der Notarztwagen verließ gerade mit Blaulicht den Unglücksort. Das konnte nur bedeuten, dass der Verletzte lebte und deshalb Eile geboten war.
»Meine Kollegen haben ja Ihre Personalien aufgenommen. Darf ich trotzdem nochmal nach Ihrem Namen fragen und was Sie hier in Bad Harzburg machen?«
»Selbstverständlich. Hugo Renner. Ich komme aus Braunschweig und wollte mir heute einen schönen Tag im Harz machen. Bin extra früh losgefahren, weil das Wetter schön war, sie aber im Radio bereits schlechteres für den Nachmittag angekündigt hatten.«
»Was machen Sie beruflich, wenn ich fragen darf?«
»Anlageberater.«
»Vielen Dank. Wir werden uns bestimmt noch bei Ihnen melden«, sagte Sauer.
»Tun Sie das«, entgegnete Renner und verließ schließlich die gespenstische Szene, an deren Zustandekommen er maßgeblich beteiligt gewesen war.
Als Sauer zu seiner Kollegin Süß zurückging, befragte sie ihn nach seinem Eindruck.
»Ich sehe keinen Grund, die Angaben dieses Mannes irgendwie in Zweifel zu ziehen. Unser Verdacht sollte sich gegen den Verunglückten richten. Wir müssen herausfinden, wer der Mann ist. Da werden uns dessen Angehörige vermutlich ein wenig weiterhelfen können.«
»Erst mal sollten wir die in Kenntnis darüber setzen, was mit ihm Schreckliches passiert ist.«
»Dann nichts wie los, Ramona.«
* * *
Die Straße, in der sich das Einfamilienhaus der Dabelsteins in einer Reihe mit anderen ähnlich ausschauenden Objekten befand, lag am Rande der Harzstadt idyllisch an einem Hang mit ungetrübtem Blick auf die Berge zur einen und über das weite flache Land zur anderen Seite.
Die beiden Kriminalbeamten hielten vor dem fraglichen Haus, in dem Christian Dabelstein wohnte. Keiner der hier Lebenden konnte ahnen, was sich vor wenigen Stunden Schreckliches am Baumwipfelpfad ereignet hatte.
Ramona Süß hatte den zivilen Dienstwagen in diese Straße gesteuert, während Yannick Sauer auf dem Beifahrersitz verweilte. Etwas neidvoll schauten die beiden auf das prachtvolle Anwesen der Dabelsteins, hinter dem ihre eigenen an Glanz zurückstecken mussten. Das Beamtengehalt von Kriminalisten ihrer Besoldungsgruppe ließ ohne Erbe im Rücken den Kauf und Erhalt derartiger Häuser und Grundstücke nicht unbedingt zu.
»Wenn wir da jetzt an der Tür klingeln, bringen wir eine heile Wohlstandswelt ins Wanken«, merkte Ramona Süß an.
»Noch ist Christian Dabelstein am Leben. Wir müssen keine Todesnachricht überbringen«, wandte Sauer ein.
»Allein die Möglichkeit, dass der Verunglückte kurz zuvor einen Mord begangen haben könnte, wird in der Familie dort alles zum Einsturz bringen.«
»Vielleicht ist schon längst das meiste zusammengekracht und das, was wir dort sehen, ist bloß eine Fassade, die aufrechterhalten wird wegen der Nachbarschaft.«
Nachbarn schufteten in ihren Vorgärten und begleiteten Ramona Süß und Yannick Sauer mit misstrauischen Blicken, als sie das Anwesen der Dabelsteins betraten.
Nachdem Ramona den Klingelknopf betätigt hatte, warteten die Besucher geduldig und starrten auf die große gusseiserne Tür, bis sie von einer Frau um die dreißig geöffnet wurde.
»Sind Sie Frau Dabelstein?«, fragte die Hauptkommissarin höflich.
»Ja«, gab die betont schlanke Frau mit langen blonden Haaren und zierlicher Stimme zur Antwort. Sie war mit einem weißen Sweatshirt sowie einer Blue Jeans bekleidet und lief auf weißen Socken.
»Wir sind von der Polizei«, sagte daraufhin Yannick Sauer und zückte seinen Dienstausweis.
»Dürfen wir reinkommen?«, fragte Ramona Süß und sah in das verängstigte Gesicht der Hausherrin, die mit einem lautlosen Nicken die Tür ganz öffnete.
Im Wohnzimmer nahmen die drei Platz und überbrachten der Ehefrau die traurige Nachricht von dem Unglück, dem ihr Mann zum Opfer gefallen war. Beide versuchten die entsetzte Frau Dabelstein sofort damit zu trösten, dass ihr Mann am Leben sei. Yannick Sauer druckste allerdings kurz darauf herum, holte dann aber sein Smartphone heraus und zeigte ihr das Foto von dem toten Mädchen.
»Kennen Sie die junge Frau?«, wollte er nun von ihr wissen.
»Ja natürlich. Ist sie da etwa tot?«
»Leider ja. Wer ist sie? Sie hatte keine Papiere bei sich.«
»Sie ist eine Schülerin meines Mannes. Esther Klein. Er ist ihr Klassenlehrer, genauer gesagt einer der beiden, die sich die Klassenleitung teilen. Die andere ist Frau Machlowitz. Es handelt sich um die Marie-von-Ebner-Eschenbach-IGS. Siebte Klasse. Aber was ist denn mit dem Mädchen passiert? Sie wurde doch schon seit über zwei Wochen vermisst. Sie und ihre Freundin, die auch in dieselbe Klasse geht, also in die meines Mannes. Am letzten Tag vor den Osterferien sind sie nicht mehr in der Schule erschienen. Danach haben wir von ihrem Verschwinden in der Zeitung gelesen und Kollegen von Ihnen wollten von uns wissen, ob wir irgendetwas über den Verbleib der Mädchen aussagen könnten. Konnten wir natürlich nicht. Wie auch?«
»Also handelt es sich tatsächlich um die Vermisste. Siebte Klasse, dann war sie zwölf. Stimmt’s?«, rechnete Ramona Süß vor.
»Ja. Aber was hat das eine mit dem anderen zu tun? Mein Mann schwer verunglückt und seine Schülerin tot? Warum war er denn da draußen? Er ist doch heute Morgen zu seiner Schule gefahren, wo er auch hätte sein müssen.«
»Das können wir Ihnen zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht sagen. Fahren Sie zu Ihrem Mann ins Krankenhaus. Wir melden uns wieder bei Ihnen, sobald wir etwas mehr wissen«, sagte Sauer.
»Alles Gute«, wünschte Ramona Süß, die natürlich verstand, dass sie Frau Dabelstein in dieser Situation unmöglich mit den Mordvorwürfen gegen ihren Mann konfrontieren konnten.
So verabschiedeten sie sich und ließen die völlig verzweifelte Frau mit ihrem Unglück allein zurück.
Ihr Weg führte die beiden in die Dienststelle. Auf der Fahrt dorthin berieten sie sich.
»Der mögliche Mörder der zwölfjährigen Esther soll ihr Klassenlehrer sein?«, zeigte sich Sauer ungläubig.
»Die Ausgangsfrage muss eine andere sein. Zwei Mädchen gelten seit mehr als vierzehn Tagen vermisst. Keine einzige Spur von ihnen. Plötzlich taucht die eine wie aus dem Nichts auf und wird ermordet. Die andere bleibt verschollen. Aber Esther ist in Begleitung ihres Lehrers, unabhängig davon, ob er sie gestoßen hat oder der andere. Woher kannte Dabelstein ihr Versteck? Warum stand er offensichtlich in Kontakt zu einem untergetauchten und von der Polizei gesuchten Mädchen, obwohl er ja unseren Kollegen das Gegenteil versichert hat, wie wir eben gerade gehört haben?«, kombinierte Ramona Süß.
»Wir müssen alles über diesen Anlageberater aus Braunschweig herausfinden. War der wirklich zufällig am Tatort oder gibt es möglicherweise sogar eine Verbindung zwischen ihm, dem Lehrer und dem oder den Mädchen?«, fragte sich Sauer.
»Auf jeden Fall müssen wir jetzt noch eine bis vor vierzehn Tagen heile Welt zum Einsturz bringen und den Kleins verklickern, dass ihre Tochter gefunden wurde, aber nie mehr zurückkommen wird.«
»Ja. Dafür, Ramona, hasse ich meinen Beruf.«
* * *
Esther war das einzige Kind von Sahra und Erik Klein, die in einem Reihenhaus im Osten von Bad Harzburg wohnten. Seit genau zwei Wochen befand sich das Ehepaar von Ende dreißig im Ausnahmezustand. Sie teilten ihre Sorge mit dem Elternpaar Lohner, deren Tochter gemeinsam mit der eigenen von einem auf den anderen Tag spurlos verschwunden war. Die Mädchen waren einfach von der Schule nicht mehr nach Hause gekommen.
Beide Elternteile hatten sich von ihrem Hausarzt krankschreiben lassen und wussten seitdem nicht mehr, wie sie die ganze freie Zeit herumkriegen sollten, die sie nun plötzlich zur Verfügung hatten. Eine völlige Antriebslosigkeit hielt sie davon ab, geordneten Dingen im Leben nachzugehen. Sie hockten nur zu Hause herum, starrten ins Leere und quälten sich mit Gedanken, die nach Antworten verlangten. Doch diese Antworten gab es bisher nicht. Bisher! Jetzt platzte eine solche in den ohnehin zerrütteten Alltag des einen Ehepaares hinein.
Als Erik Klein es an der Haustür klingen hörte und zwei Beamte von der Kriminalpolizei vor sich stehen sah, durchkreuzte ihn ein einziger Gedanke wie ein Blitz.
»Ist sie tot?«, schrie er seine Besucher fast panisch an.
»Wollen Sie uns nicht lieber hereinbitten?«, fragte Sauer höflich, aber distanziert.
Wortlos ließ er die Beamten den Flur betreten, auf dem ihnen Sahra Klein entgegengerannt kam. Sie musste ihren Mann gehört haben und wiederholte dessen Frage mit fast dem gleichen Entsetzen, woraufhin Süß und Sauer wortlos nickten.
Die Eheleute fielen sich in die Arme und begannen laut zu weinen, während die Kriminalisten eher hilflos daneben standen und nicht helfen konnten, sosehr sie es auch gewünscht hätten.
Nach einigen Minuten beruhigten sich die Eltern ein wenig. Dann baten sie ihre unerwarteten Gäste ganz zu sich herein.
Das Wohnzimmer wirkte unaufgeräumt. Es mochte das Innere der Seelen dieser Eltern widerspiegeln. In deren Leben war seit dem Verschwinden der Tochter einfach nichts mehr in Ordnung. Süß und Sauer berichteten vorsichtig von den Umständen, wie Esther zu Tode gekommen war. Doch die rücksichtsvolle Schilderung nahm den Ereignissen nichts von ihrer Grausamkeit, die die Eltern natürlich schwer erschütterte.
»Meine Kollegin und ich sind mit der Vermisstensache nicht betraut gewesen. Aber nun haben wir es vermutlich mit Mord zu tun. Können Sie uns bitte noch einmal genau erzählen, was am Tag des Verschwindens geschehen ist?«, bat Sauer.
»Es war alles wie sonst auch. Der letzte Schultag vor den Osterferien. Sie ist morgens mit Tessa zur Schule gegangen«, begann Erik Klein zu erzählen.
»Tessa ist die Freundin Ihrer Tochter, die am selben Tag spurlos verschwunden ist. Richtig?«, vergewisserte sich Ramona Süß.
Beide nickten. Dann sprach der Vater weiter: »Als sie abends noch nicht zu Hause waren, haben wir mit Tessas Eltern telefoniert. Doch da war sie nicht. Und Tessa war ebenfalls verschwunden. Am nächsten Morgen sind wir schließlich zur Polizei gegangen und haben beide Mädchen als vermisst gemeldet.«
»Was war mit den Smartphones?«, fragte Sauer.
»Nur Mailbox. Wir haben zigmal draufgesprochen und um Rückruf gebeten. Doch es kam keiner«, gab die Mutter resigniert zur Antwort und plagte sich dann mit der grausamen Nachricht, die die Kriminalisten ihnen übermittelt hatten. »Aber warum denn Mord? Wer tut denn so etwas?«, hielt sich die Mutter die Hände vors Gesicht und konnte es einfach nicht fassen.
»Gab es Probleme in der Schule?«, wollte Sauer wissen.
»Nein. Nicht mehr oder weniger als bei anderen Teenys auch«, sagte der Vater.