Die kapitalistische Gesellschaft - Boike Rehbein - E-Book

Die kapitalistische Gesellschaft E-Book

Boike Rehbein

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  • Herausgeber: UTB
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Der Kapitalismus hat in den vergangenen Jahrzehnten alle Gesellschaften durchdrungen und sie grundlegend verwandelt. Die Gegenwartsgesellschaft ist als kapitalistisch zu interpretieren. Das Buch zeigt, wie der heutige Kapitalismus als weltumspannende Kraft entstanden ist, wie er eine Hierarchie von sozialen Klassen erzeugt, die auf älteren Hierarchien basiert, und wie Wirtschaft, Politik, Recht, Medien und Ideologie im Kapitalismus funktionieren und zu seiner Reproduktion beitragen. Zahlreiche Beispiele aus allen Weltregionen, vor allem aus Deutschland und den USA, reichern die Darstellung an.

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Seitenzahl: 374

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Boike Rehbein

Die kapitalistische Gesellschaft

UVK Verlag · München

Prof. Dr. Boike Rehbein lehrt Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Umschagmotiv: © istockphoto, bCracker

 

© UVK Verlag 2021— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

 

utb-Nr. 5765

ISBN 978-3-8252-5765-1 (Print)

ISBN 978-3-8463-5765-1 (ePub)

Inhalt

1  Einleitung2  Vorgeschichte2.1  Handel und Finanzen2.2  Kolonialismus2.3 Der Nationalstaat2.4 Enteignung2.5 Staatsfinanzen2.6 Technologie und Industrie2.7 Ausbeutung der Natur2.8 Politische Legitimation2.9 Entstehung von Klassen2.10 Gleichheit und Freiheit2.11 Kapitalismus und Markt3  Kapital und Arbeit3.1 Was ist Kapital?3.2 Wachstum3.3  Großunternehmen und Konkurrenz3.4 Arbeit und Tätigkeit4  Ungleichheit und Herrschaft4.1 Ökonomische Klassen4.2 Soziale Klassen4.3  Die Produktion sozialer Klassen4.4 Soziale Klassen in Deutschland4.5 Soziale Klassen im internationalen Vergleich4.6 Überblick über die institutionelle Vermittlung der Klassenherrschaft5  Die globale Ordnung5.1 Der Kalte Krieg und der Neoliberalismus5.2 Förderung der Kapitalkonzentration5.3 Transnationale Unternehmen5.4 Eigentum und Großunternehmen5.5  Grundbesitz und Immobilien6  Finanzkapital6.1 Staatsschulden6.2 Konzentration des Finanzkapitals6.3 Finanzmärkte6.4 Der Internationale Währungsfonds6.5 Welthandel6.6 Ratingagenturen6.7 Buchhaltung7  Politik7.1 Postdemokratie7.2 Herrschende Klasse und politische Ämter7.3 Think Tanks7.4 Stiftungen und Nichtregierungsorganisationen7.5 Ein Beispiel: Die Bertelsmann-Stiftung7.6 Finanzierung der Politik7.7  Kriege7.8 Weltherrschaft8  Recht8.1 Verrechtlichung8.2 Gesetzgebung8.3 Privatisierung8.4 Berater8.5 Legalisierung von Ausbeutung9  Medien, Bildung und Wissenschaft9.1 Vereinheitlichung der Medien9.2  Finanzierung der Medien9.3 Mittel der Manipulation9.4 Wissenschaft9.5 Schule9.6 Beispiel: Gesundheit10  Die herrschende Klasse10.1 Definition10.2 Die Zusammensetzung der herrschenden Klasse10.3 Porträt der herrschenden Klasse in Deutschland10.4 Porträt der herrschenden Klasse der USA10.5 Meritokratie10.6 Verschleierung des Vermögens11  FazitAbkürzungsverzeichnisLiteraturverzeichnisRegister

1 Einleitung

Das Buch bietet einen Gesamtüberblick über die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft. Es erklärt, wie Wirtschaft, Politik, Recht, Medien und Wissenschaft zusammenwirken, um eine hierarchische Ordnung zu errichten und zu erhalten. Dabei geht es nur am Rande um ökonomische Daten. Die grundlegende These des Buches lautet, dass Kapitalismus eine Form der Ausbeutung ist, die ohne andere Formen des Wirtschaftens – beispielsweise Tausch, freundschaftliche Hilfe, Ehrenamt und Markt – nicht existieren kann. Der Kapitalismus ist auf nicht-kapitalistische Gesellschaftsstrukturen angewiesen, usurpiert und transformiert sie jedoch. Damit verwandelt er die Gesamtheit der Strukturen in eine kapitalistische Gesellschaft. Diese These stützt sich auf die Kapitalismustheorie des Historikers Fernand BraudelBraudel, Fernand.

Über BraudelBraudel, Fernand hinausgehend ergänze ich die These um die Behauptung, dass es sich bei der kapitalistischen Gesellschaft um eine Herrschaftsordnung handelt. Kapitalismus ist demnach nicht vorrangig eine Wirtschaftsform oder eine Produktionsweise, sondern eine Vermittlung von Herrschaft. Der Kapitalismus dehnte sich über die Welt aus, nachdem er von den Herrschenden Europas als Prinzip angenommen wurde, zunächst im Kolonialismus, sodann mit der Produktion einer Lohnarbeiterschaft.

Im Kapitalismus sind fast alle Menschen Abhängige, wie das in vorkapitalistischen Herrschaftsordnungen auch der Fall war. Die kapitalistische Gesellschaft unterscheidet sich von früheren Ordnungen, indem sie auf der Trennung von Kapital und Arbeit beruht. Die Einführung der Lohnarbeit drehte die Beziehung zwischen Kapitalismus und Gesellschaft um – die Gesellschaft ist nun auf das Kapital angewiesen. Ohne Arbeit oder eine Hilfe durch die Besitzer des Kapitals würden wir verhungern. Die Bedingungen stellt nicht die Gesellschaft, sondern das Kapital. Die Besitzer des Kapitals oder Kapitalisten sind Menschen, die Profite aus Investitionen nutzen, um ihr Kapital zu vermehren und sich Privilegien zu sichern, die ich in ihrer Gesamtstruktur als Herrschaft bezeichne. Die Kapitalisten umfassen weniger als 0,1 Prozent der Bevölkerung und rekrutieren sich fast vollständig aus einer sozialen Klasse. Die unsichtbare Ordnung sozialer Klassen ist die charakteristische Struktur kapitalistischer Gesellschaften.

Im Gegensatz zur landläufigen Meinung geht es im Kapitalismus nicht um Geld, sondern um Kapital. Geld und andere Formen von Vermögen dienen den meisten Menschen nur als Mittel zum Konsum, verringern sich also. Kapital hingegen wirft einen Profit ab, der zur Kapitalvermehrung eingesetzt werden kann. Der Einsatz von Geld und Profit für den Konsum hat mit Kapitalismus nichts zu tun. Kapital hingegen ist ein Mittel, um die ungleiche Verteilung von Privilegien zu sichern. Diese Ungleichverteilung begründet die kapitalistische Herrschaftsordnung. Die so genannte Wirtschaft ist lediglich ein Aspekt der kapitalistischen Gesellschaft, zu deren Verständnis man die Gesamtheit der Institutionen und Strukturen betrachten muss. Das ist Aufgabe des Buches.

Auch wenn ich die Forschung für dieses Buch noch nicht abgeschlossen habe und viele Thesen einen vorläufigen Charakter haben, erscheint es mir notwendig, das Manuskript in der vorliegenden Form zu veröffentlichen. Denn es gibt meines Wissens leider kein Buch, das verständlich zeigt, wie das System der kapitalistischen Gesellschaft in seiner Gesamtheit funktioniert. Bislang verfügbare Werke konzentrieren sich auf einzelne Aspekte, Auswüchse und Regeln. Überblickswerke beschäftigen sich fast ausschließlich mit wirtschaftswissenschaftlichen Sachverhalten. Die Fragmentierung des Wissens, also die Konzentration auf isolierte Probleme, stärkt das System, weil jede isolierte Erkenntnis oder Maßnahme sich in die Gesamtheit der Zusammenhänge einfügt und diese dadurch in ihrer Funktion verbessert oder so angepasst werden muss, dass sie mit ihrer ursprünglichen Intention nichts mehr gemeinsam hat. Das vorliegende Buch will demgegenüber den Zusammenhang von Wirtschaft, Politik, Recht, Gesellschaft und Öffentlichkeit im Kapitalismus erklären.

Das Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft wird durch die gegenwärtige politische Konstellation erschwert. Die vorherrschende Meinung, die ich als Naturalismus bezeichne, suggeriert, das System beruhe auf naturwissenschaftlichen Grundlagen, die nicht verändert und vielleicht nicht einmal verstanden werden können. Die Gegner der vorherrschenden Meinung tendieren zu Verschwörungstheorien, da die beobachtbaren Prozesse dem Naturalismus ganz offensichtlich widersprechen und eine kohärente Erklärung der gegenwärtigen Gesellschaft nicht zur Verfügung steht.

Die kapitalistische Gesellschaft ist sehr komplex. Sie wird sicher nicht von einer winzigen Gruppe gesteuert. Vielmehr tragen wir alle zum System bei, und wir alle haben ein – wenn auch meist geringes – Maß an Macht, Veränderungen zu bewirken. Fast jede Verschwörung ist kontraproduktiv. Sie sorgt für Sand im Getriebe und bei Aufdeckung für Ärger, weil das Wissen über die Zusammenhänge seitens der Verschwörer nie ausreicht, um alle Folgen zu überblicken. Das Buch wird zeigen, dass das System besser funktioniert, als eine Verschwörung es sich hätte ausdenken können. Andererseits handelt es sich beim Kapitalismus auch nicht um ein selbsterzeugendes System, das unveränderlichen Naturgesetzen unterliegt. Das System wurde durch das Zusammenspiel von Menschen mit unterschiedlichen und oft entgegengesetzten Interessen geschaffen und wird auf die gleiche Weise aufrechterhalten. Es ist keine natürliche oder naturgesetzliche Angelegenheit.

Das vorliegende Buch sucht beide Richtungen zu widerlegen. Beide verdecken, dass der Kapitalismus und die dahinterstehende Herrschaftsordnung sich an der Wurzel des Problems befinden. Sie befürworten undemokratische Lösungen für eine entstehende Katastrophe, die nicht durch zu viel Demokratie erzeugt wurde, sondern durch zu wenig. Sie identifizieren Marktwirtschaft und Kapitalismus, Demokratie und Expertenherrschaft, Öffentlichkeit und Meinungsmache, Gerechtigkeit und Interessenpolitik, Wissenschaft und Manipulation – sei es zustimmend, sei es ablehnend. Diese Gleichsetzungen sind jedoch falsch. Sie verhindern das Verständnis des kapitalistischen Systems und führen in einen totalitären Staat. Nur das Verständnis des gesamten Systems eröffnet das Verständnis seiner Teile und Wege zu einer sinnvollen Veränderung.

Die ersten drei Kapitel des Buches beschäftigen sich mit den Grundlagen. Das erste Kapitel zeichnet die historische Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer wesentlichen Komponenten nach. Das zweite Kapitel sucht den Kapitalismus systematisch zu fassen. Im dritten Kapitel wird die kapitalistische Gesellschaft als Herrschaftsordnung interpretiert und genauer analysiert. Die folgenden Kapitel erläutern, wie die Elemente des Systems – Wirtschaft, Politik, Recht, Gesellschaft und Öffentlichkeit – ineinandergreifen, sich gegenseitig stützen und es nahezu unangreifbar machen. Das letzte Kapitel ist einer genaueren Untersuchung der Herrschaft gewidmet.

Die Vorgeschichte des heutigen Kapitalismus wurzelt in Oberitalien und sodann in der kolonialen Welt, die zwischen dem 17. Jahrhundert und dem Ersten Weltkrieg von England dominiert wurde. Mit dem Ersten Weltkrieg übernahmen die USA zunehmend die Führungsrolle. Daher stehen diese drei Länder im Zentrum der Darstellung, vorrangig die Vereinigten Staaten, England etwas weniger und Italien nur auf den ersten Seiten. Darüber hinaus beschäftigt sich das Buch vor allem mit Deutschland und an einigen Stellen mit Österrreich, da es auf Deutsch verfasst ist und ein Großteil der Leserschaft im deutschsprachigen Raum ansässig sein dürfte.

Vor allem der Lesbarkeit wegen verzichte ich auf eine gendergerechte Sprache. Diese Entscheidung beruht aber auch darauf, dass die bisherigen hierarchischen Gesellschaften mehr oder weniger stark patriarchalische Gesellschaften waren. Die männliche Domination kommt auch in der Sprache zum Ausdruck.

Für ihre präzise Kritik früherer Versionen des Manuskripts danke ich Gerhard Fröhlich, Jochen Rehbein, Martin Seeh, Jessé Souza und Christopher Wimmer.

2 Vorgeschichte

Zu Beginn muss ich vorläufig definieren, was ich unter Kapitalismus verstehe. Diese Definition kann erst am Ende des Buches vervollständigt werden. Es gibt viele Formen des Kapitalismus. Daher sind der Ursprung und die Definition des Kapitalismus umstritten. Wie der Soziologe Max WeberWeber, Max verdeutlicht hat, lassen sich kapitalistische Handlungen bis in die Frühgeschichte vieler Erdteile zurückverfolgen.1 Für alle kapitalistischen Handlungen gilt ihm zufolge dieselbe Definition: Sie sind Investitionen von Kapital mit der Erwartung eines Gewinns. Ähnliches schrieb übrigens auch Adam SmithSmith, Adam, der oft als theoretischer Begründer des Wirtschaftsliberalismus und des heutigen Kapitalismus bezeichnet wird: „Die Erzielung eines eigenen Gewinnes ist das einzige Motiv, welches den Besitzer eines Kapitals leitet“.2 Nun müssen wir hinzufügen, dass der Gewinn erzielt wird, um das Kapital zu vermehren oder zumindest zu bewahren. Die Erzielung eines Gewinns und der folgende Konsum des Gewinns sowie des investierten Kapitals sind nicht als kapitalistisch zu bezeichnen.

Diese Definition ist noch sehr unspezifisch. Sie wird sich verbessern und verfeinern, indem wir die wichtigsten Elemente des Kapitalismus identifizieren und seine Geschichte zumindest in Ansätzen nachverfolgen, um die heutige Konfiguration seiner Elemente zu verstehen. Das soll das vorliegende Kapitel leisten. Die darauffolgenden Kapitel werden die Konfiguration der Elemente in ihrem heutigen Zusammenspiel untersuchen. Erst dann, am Ende des Buches, ist ein vollständiges Verständnis des Kapitalismus möglich. Verbesserte Definitionen des Kapitalismus werde ich jedoch schon am Ende der ersten beiden Kapitel vorbringen.

Das wichtigste Element des Kapitalismus ist Kapital. Wir müssen mit WeberWeber, Max das Kapital als eine Investition mit Gewinnerwartung von anderen Formen des Besitzes abgrenzen.3 Die bloße Verfügung über ein Vermögen ist kein Kapital, weil keine Gewinnerwartung vorliegt. Verbrechen oder Bettelei zielen auch auf einen Gewinn ab, aber der Gewinn wird nicht durch das Kapital selbst erzielt. Oft hat das Kapital die Form von Geld, aber letztlich können alle Gegenstände als Kapital genutzt werden, die einen ökonomisch deutbaren Wert haben und zur Gewinnerzielung eingesetzt werden können, also beispielsweise Häuser, Maschinen, Schiffe oder Wertpapiere.

Das Kapital ist eine Investition, die von Menschen getätigt wird. Ein Mensch, der über Kapital verfügt, wird als Kapitalist bezeichnet. Der Kapitalist setzt sein Kapital ein, um einen Gewinn zu erzielen, der über die ursprüngliche Menge des Kapitals hinausgeht. Dazu muss er das Kapital vor der kapitalistischen Handlung besitzen. Das Kapital als Ressource ist die Voraussetzung des Kapitalismus, nicht sein Resultat. Ferner darf das Kapital im Sinne einer kapitalistischen Investition nicht Gemeineigentum oder für die unterschiedlichsten Leute zugänglich sein. Der Gewinn kommt nur dem Kapitaleigner zugute. Kapital, Investition und Gewinn sind Privateigentum. Das Privateigentum zeichnet sich dadurch aus, dass andere Menschen rechtlich von ihm ausgeschlossen sind.

Die kapitalistische Investition kann unterschiedliche Formen haben. Sie muss nicht, wie Adam SmithSmith, Adam und Karl MarxMarx, Karl behauptet haben, in der Ausbeutung von Arbeitskraft bei der Produktion von Gütern bestehen.4 Vielmehr sind zahlreiche Arten von Kapitaleinsatz möglich, vom Rohstoffabbau über Sklavenarbeit bis hin zum Finanzgeschäft. Historisch weit bedeutsamer als die Ausbeutung von Arbeitskraft ist die Ausnutzung des Unterschieds zwischen Angebot und Nachfrage an zwei Orten: Was an einem Ort relativ billig zu erwerben ist, wird an einem anderen Ort teurer verkauft. Auch der gleichsam kostenlose Abtransport von Rohstoffen und ihr Verkauf an einem anderen Ort ist eine kapitalistische Transaktion, wenn der Profit das Ziel ist. In diesem Fall investiert der Kapitalist Kapital, um Gegenstände an einem Ort zu kaufen oder abbauen zu lassen und an einem anderen Ort zu verkaufen. Der Erlös muss ihm das ursprüngliche Kapital ersetzen und einen zusätzlichen Gewinn liefern, der auch den Lebensunterhalt finanziert.

In diesem Sinne existierte der Kapitalismus, wie Max WeberWeber, Max argumentiert hat, seit Jahrtausenden an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten – allerdings immer nur begrenzt auf eine kleine Gruppe von Kaufleuten – oder Kapitalisten. Er hat bis ins 19. Jahrhundert nie die gesamte Gesellschaftsordnung erfasst, weil die Gesellschaft entweder wie eine Familie strukturiert war oder von einer Familie oder einer kleinen Gruppe beherrscht wurde und die Kapitalisten als besonderer Stand eine untergeordnete Position einnahmen. Wir haben es heute jedoch mit einer Form des Kapitalismus zu tun, die alle Bereiche der Gesellschaft durchdringt und nicht auf eine kleine Gruppe beschränkt ist.5 Die Durchdringung aller Bereiche der Gesellschaft durch den Kapitalismus ist das entscheidende Merkmal der kapitalistischen Gesellschaft, auch wenn sie nie vollständig gelingen kann, und wurde zuerst im neuzeitlichen Europa durchgesetzt. Daher handelt dieses Buch vom westlichen Kapitalismus.6

Mit der Entstehung des westlichen Kapitalismus in der Neuzeit wurde einerseits die persönliche Herrschaft eines Fürsten oder Königs über das Gemeinwesen in die unpersönliche Institution des Nationalstaats verwandelt, andererseits geriet der Staat in finanzielle und soziale Abhängigkeit von den führenden Vertretern des Kaufmannsstandes und der alten Aristokratie, die zu einer herrschenden Klasse verschmolzen. Diese Klasse monopolisierte mehr oder weniger das gesamte gesellschaftliche Kapital, von dem der Staat abhängig wurde. Insgesamt kann die kapitalistische Gesellschaft als eine staatlich institutionalisierte Schuldknechtschaft der Bevölkerung durch die Kapitalisten charakterisiert werden. Wenn im Folgenden von Kapitalismus die Rede ist, meine ich den derart institutionalisierten Kapitalismus, der durch die westliche Weltherrschaft verbreitet wurde. Dieser Kapitalismus ist von den Begriffen Markt, Marktwirtschaft und Wirtschaft zu unterscheiden, die eine materielle Reproduktion der Gesellschaft zum Ziel haben.

Vor diesem Hintergrund lassen sich die Definitionen zu Beginn des vorliegenden Abschnitts etwas präzisieren, auch wenn eine vorläufige Definition des Kapitalismus erst am Ende dieses Kapitels geliefert werden kann. Kapitalisten sind – zu allen Zeiten – zunächst Menschen, die Kapital mit der Erwartung eines Gewinns investieren. In der kapitalistischen Gesellschaft bilden sie eine Gruppe, die Investition mit Herrschaft verknüpft und das Kapital in einem beträchtlichen Maße monopolisiert, während die restliche Bevölkerung zum Überleben auf Lohnarbeit angewiesen ist, weil sie weder Zugang zu Kapital noch zu Subsistenzmitteln wie Ackerland oder Waldprodukten hat und durch die Institutionen von Staat und Wirtschaft zu Arbeit gezwungen wird. Ein Charakteristikum der kapitalistischen Gesellschaft ist die Verschmelzung von Kapital und herrschender Klasse. Investoren, die lediglich vom Ertrag ihrer Investition leben, ohne Herrschaft auszuüben, bezeichne ich in diesem Buch nicht als Kapitalisten. Dass und wie der Staat von einer kleinen herrschenden Klasse abhängig ist, werde ich im Folgenden zu zeigen versuchen. Ich werde außerdem aufweisen, in welchem Maße das Kapital von dieser Klasse monopolisiert und zur Aufrechterhaltung ihrer herrschenden Position eingesetzt wird. Dabei wird sich zeigen, dass das ohne Verschwörung möglich ist.

2.1 Handel und Finanzen

Die am meisten verbreitete Version der Geschichte lautet, dass sich der Aufstieg des Kapitalismus der überlegenen Produktivität verdankte, die er entfaltete.1 Die Entwicklung der Wissenschaft, technische Erfindungen, die betriebliche Arbeitsteilung und der freie Markt sollen den Erfolg des Kapitalismus begründet haben. Tatsächlich spielten diese Faktoren eine Rolle, aber erst in einer Zeit, als der westliche Kapitalismus einen Großteil der Welt schon erobert hatte. Technik und Industrie waren nicht die Triebkräfte des Kapitalismus. Großindustrie, die Dampfmaschine, das Gusseisen, das Schießpulver und viele andere Entwicklungen, die wir für entscheidende Neuerungen des westlichen Kapitalismus halten, gab es in Asien schon Jahrhunderte früher als in Europa.2 Und die Großindustrie entwickelte sich in Europa erst, als die wichtigsten Elemente des Kapitalismus schon existierten. Die Industrialisierung war ebenso wie der Einsatz von Technologie nur ein Element der Entfaltung des Kapitalismus. Das zeigt sich, wenn man die Entwicklung des (westlichen, institutionalisierten) Kapitalismus Schritt für Schritt nachvollzieht.

Die Anfänge des (westlichen, institutionalisierten) Kapitalismus reichen weit in das mittelalterliche Italien zurück, und die vollständige Transformation westlicher Gesellschaften in kapitalistische Systeme ist erst für das 20. Jahrhundert festzustellen. Die Erfindung des handelbaren Kredits, der Kolonialismus, der Nationalstaat, die Staatsverschuldung, die Industrialisierung und die wissenschaftliche Grundlegung der Volkswirtschaft waren wichtige Etappen auf dem Weg zum heutigen Kapitalismus, aber keine Etappe allein hat den Kapitalismus begründet. Diese Etappen werden die folgenden Abschnitte skizzieren, da sie zentrale Elemente des heutigen Kapitalismus begründeten.

Den heutigen Kapitalismus können wir in die oberitalienischen Städte zurückverfolgen, wo Kapitalgesellschaften entstanden, die von Banken finanziert und von der Aristokratie kontrolliert wurden.3 Eine für den Kapitalismus entscheidende Neuerung war um 1200 die Wiederentdeckung des so genannten Wechsels.4 Der Wechsel ist ein Stück Papier, für das ein Kreditnehmer Geld erhält und im Gegenzug auf dem Papier die Zahlung einer entsprechenden Geldsumme zu einem späteren Zeitpunkt verspricht. Der Kreditgeber erhielt normalerweise einen Zins auf den Wechsel, also einen Gewinn. Im 16. Jahrhundert wurde der Wechsel dahingehend weiterentwickelt, dass er gemeinsam mit dem Anspruch auf Rück- und Zinszahlung weiterverkauft werden konnte – ähnlich wie eine Staatsanleihe heute.5

Beim Kreditgeschäft sitzt der Verleiher – oder der Kapitalist oder die Bank – immer am längeren Hebel. Für das Verständnis des Kapitalismus ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, dass beim Kreditgeschäft nicht zwei gleiche Partner einander gegenübertreten. Der Verleiher gewinnt (fast) immer, der Kreditnehmer verliert (fast) immer. Nehmen wir als Beispiel einen Kredit von 1000 Euro mit einer Laufzeit von einem Jahr und einem Zinssatz von fünf Prozent. Ein Geldverleiher hat zu Beginn des Geschäfts 1000 Euro, am Ende 1050. Der Kreditnehmer hat am Anfang 0 und am Ende 0, erhält aber 1000 Euro und muss 1050 zurückzahlen. Der Kreditgeber verliert nur, wenn der Kreditnehmer das Geld nicht zurückzahlt. Die einzige Möglichkeit für den Kreditnehmer, hinterher nicht ärmer als vorher zu sein, besteht darin, die 1000 Euro so zu investieren, dass nach einem Jahr ein Gewinn von mindestens 50 Euro über die investierten 1000 Euro hinaus erzielt wird.

Dieses Ziel verfolgte und verfolgt der Handel. Kaufleute müssen auch heute noch oft einen Kredit aufnehmen, weil sie erst beim Verkauf der Ware Geld erhalten. Oft besitzen sie zum Zeitpunkt des Kaufs das notwendige Kapital nicht. Der Handel ist kapitalistisch, insofern er mit Gewinnerwartung investiert. Das trifft auf den europäischen Handel seit dem 13. Jahrhundert immer mehr zu. Die meisten anderen Kreditnehmer machen mit einem aufgenommenen Kredit keinen Gewinn, sondern finanzieren beispielsweise ihr Eigenheim oder ihren Konsum. Im Handel wird hingegen gekauft, um teurer zu verkaufen. Der Händler erhält am Ende das eingesetzte Kapital plus einen Gewinn, der nicht (vollständig) konsumiert wird.

Der europäische Fernhandel des Mittelalters wurde zunehmend durch Kredite finanziert, und der Wechsel spielte eine wichtige Rolle. Händler bezahlten mit einem Wechsel, kauften also auf Kredit, bevor sie die Ware verkauften. Darüber hinaus handelten die oberitalienischen Kaufleute schon im 13. Jahrhundert mit Währungen oder Edelmetallen, indem sie Gold in goldarmen Gegenden verkauften und Silber dort, wo Silber knapp war.6 Die Kredit- und Währungsgeschäfte wurden immer mehr von Banken übernommen, die in Italien ihre erste Blüte erfuhren. Ein Finanzkapital entstand, das in Banken institutionalisiert und konzentriert war.

Die Herrscher der norditalienischen Stadtstaaten waren oft gleichzeitig Inhaber großer Bankhäuser und Organisatoren des Fernhandels. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist die Familie Medici, die Jahrhunderte lang Florenz beherrschte und mehrere Päpste stellte. Gleichzeitig gehörte ihr das wichtigste Bankhaus der Stadt Florenz.7 Die Medicis brauchten etwa ein Jahrhundert für ihren Aufstieg von einer wohlhabenden zur reichsten Familie der Stadt, bis Cosimo de‘ MediciMedici, Cosimo de‘ zu Beginn des 15. Jahrhunderts Bankier des Papstes wurde. Zu dieser Zeit war die Familie mit den anderen mächtigen Familien von Florenz bereits durch Heirat verflochten.8 Zunehmend entstand ein Konflikt zwischen den Medicis und dem Papst um die Vorherrschaft in Italien, den die Medicis im 16. Jahrhundert dadurch für sich entschieden, dass sie sich selbst zu Päpsten wählen ließen, während sie sich gleichzeitig auf ihre Bank und die Herrschaft über Florenz stützten.9

Zur mächtigsten Handelsstadt entwickelte sich ab etwa 1000 u.Z. Venedig. Der Stadtstaat kontrollierte den Fernhandel im östlichen Mittelmeer, in dem Konstantinopel den Austausch mit Asien vermittelte.10 1204 gelang Venedig der Durchbruch, indem es Konstantinopel eroberte und dadurch den Handel zwischen Europa und Asien weitgehend unter seine Kontrolle brachte. Einige Jahrzehnte später reiste der Venezianer Marco PoloPolo, Marco nach China. 1310 wurde die venezianische Verfassung verabschiedet, die der Aristokratie die Macht im Staat verlieh. Die Aristokratie bildete den Großen Rat und wählte den Rat der Zehn, gleichsam die Regierung, und den Dogen, eine Art Regierungschef. Dieser Staat trieb Handel, Piraterie und Kolonialisierung im östlichen Mittelmeer. In den Kolonialgebieten mussten Sklaven für die Venezianer arbeiten. Die venezianische Aristokratie wurde reich.

Heute führen wir die Entstehung des westlichen, institutionalisierten Kapitalismus eher auf die Geschichte Englands11 als auf die Venedigs zurück. Dafür gibt es gute und weniger gute Argumente. Die soziale und politische Struktur des Staates Venedig sowie die Quellen seines Reichtums waren vom England des 17. Jahrhunderts nicht grundsätzlich verschieden. Die Herrschaft einer kleinen Aristokratie, die sich vermittelt über den Staat durch den Fernhandel, Raub und die Ausbeutung von Sklavenarbeit in Kolonialgebieten bereichert, ist in England und Venedig identisch. Wo der Kapitalismus im heutigen Sinne begann, ist nicht leicht zu sagen. Beide Staaten gründeten sich auf kapitalistisch finanzierten Fernhandel und Kolonialisierung.

Handel und Finanzwesen sind bis heute zentrale Bestandteile des Kapitalismus. Im Handel wird ein Gewinn gemacht, indem man billig kauft und teuer verkauft, im Finanzwesen, indem man Geld gegen Zinsen verleiht. Man mag einwenden, dass der Handel ein Nullsummenspiel sei: Was der eine gewinnt, verliert der andere. Oft wird im Handel tatsächlich eine Seite übervorteilt. Er ist jedoch kein Nullsummenspiel. Erstens hat Adam SmithSmith, Adam mit Bezug auf den Gebrauchswert gezeigt, dass im Handel beide Seiten gewinnen können. Als Beispiel führte er den Tausch von polnischem Getreide gegen portugiesischen Wein an – da in Polen kein guter Wein erzeugt werden könne, beziehe man ihn aus Portugal, und das Getreide beziehe Portugal aus Polen.12 Zweitens hat der europäische Handel schon für Venedig Werte geschaffen, indem nicht nur mit Kaufleuten anderer Staaten gehandelt wurde, sondern Rohstoffe und Sklaven verkauft wurden. Diese wurden zu geringen Kosten akquiriert, verschifft und gehandelt. Ohne die Ausbeutung der Natur ist die Geschichte des Kapitalismus gar nicht denkbar, wie ich weiter unten zeigen werde.13

Ähnlich verhält es sich mit dem Finanzwesen. Geld und Wertpapiere sind nicht einfach Symbole für einen „realen“ Wert, der durch die Produktion erzeugt wird. Vielmehr sind sie auch Machtmittel und können selbst Werte bilden. Darüber hinaus muss dem Geld oder Wertpapier kein anderer Wert entsprechen.14 Sie können einfach geschaffen werden, insofern sie als Zahlungs- oder Wertaufbewahrungsmittel akzeptiert werden. Wir tun das jeden Tag, indem wir auf den Staat und die Gesellschaft vertrauen, dass ein bedrucktes Stück Papier uns den Kauf von Waren ermöglicht. Schließlich wird der Wert des Gesamtvermögens einer Gesellschaft nicht allein durch die Produktion gesteigert, sondern, wie erwähnt, auch durch die Ausbeutung der Natur, sowie durch Dienstleistungen aller Art. Es ist wichtig festzuhalten, dass das Finanzsystem keineswegs eine Entartung eines früher einmal gesunden Kapitalismus bildet, sondern von Anfang an ein zentraler Bestandteil des Kapitalismus war – ganz gleich, wo man den Anfang ansetzt. In der Spekulation können Handel und Finanz verbunden werden.

In England wurden jedoch drei weitere Faktoren wirksam, die so in Venedig nicht gegeben waren, nämlich die Enteignung der Landbevölkerung, die Verwandlung des Gemeinwesens in einen Nationalstaat und die Privatisierung der Staatsschulden über eine Staatsbank. Insgesamt sind mindestens diese Faktoren von Bedeutung: Fernhandel, Finanzwesen, Kolonialismus, Nationalstaat, Enteignung, Staatsschulden und Ausbeutung der Natur. Im Folgenden werde ich die zuletzt genannten Faktoren erläutern, die bislang noch nicht eingehend diskutiert wurden.

2.2 Kolonialismus

Der englische Kapitalismus ist eng mit dem Kolonialismus verknüpft. Man könnte in Anlehnung an Walter MignoloMignolo, Walter sogar sagen, Kapitalismus und Kolonialismus sind zwei Seiten derselben Medaille.1 Der Kolonialismus wiederum erwuchs aus den Kreuzzügen und der Verlagerung der Handelswege in den Atlantik, nachdem die Osmanen mit der Eroberung Konstantinopels 1453 die älteren Handelswege zwischen Europa und Asien zu kontrollieren begannen. Für Venedig war der direkte Weg nach Asien versperrt. Venedigs große Konkurrentin, Genua, profitierte davon und erkundete gemeinsam mit Portugal die Seewege über den Atlantik. 1492 landete Christoph KolumbusKolumbus, Christoph im Namen der portugiesischen Krone auf der Suche nach einem Seeweg nach Asien in Amerika. Daraufhin übernahmen Portugal und Spanien die Kontrolle über den europäischen Fernhandel. Der Handel wurde finanziert, indem die Europäer Edelmetalle aus Amerika raubten, in Asien gegen Waren eintauschten und diese mit einem hohen Gewinn in Europa verkauften.2 Im 16. Jahrhundert verschifften die Europäer 120 Tonnen Silber jährlich aus Amerika allein nach Südostasien.3

Zunehmend stiegen andere europäische Atlantikanrainer in das Geschäft ein. Bereits im 16. Jahrhundert griffen europäische Schiffe einander an und versuchten, Handelsschiffen die Ladung abzunehmen.4 „Der Handel der Europäer in Asien war von Anfang an (ca. 1505) ein bewaffneter Handel.“5 Matthew RestallRestall, Matthew und Felipe Fernández-ArmestoFernández-Armesto, Felipe bezeichnen die spanischen Konquistadoren, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts einen Großteil des amerikanischen Kontinents eroberten und sich vor allem aus dem niederen Adel rekrutierten, als bewaffnete Unternehmer.6 Sie mobilisierten Fußvolk und Kapital für ihre Eroberungen, die ihnen ökonomischen Gewinn verschaffen sollten. Erst im 17. Jahrhundert ging Spanien – wie England – zum staatlich organisierten Kolonialismus über.7

Piraten waren die Vorhut des englischen Kolonialismus. Sie raubten Schätze an Land, verschifften Sklaven nach Amerika und kaperten fremde Schiffe, alles mit Unterstützung des englischen Königshauses. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Freibeuter Francis DrakeDrake, Francis, der zunächst dem spanischen Sklavenhandel Konkurrenz zu machen suchte, dann in der Karibik Piraterie betriebt und 1575 durch den Earl of EssexEarl of Essex für die englische Krone angeworben wurde.8 In dieser Eigenschaft umsegelte er die Welt und brachte sich und dem englischen Königshaus reiche Beute ein. 1581 wurde er in den Adelsstand erhoben.

1588, nach dem Sieg Englands über die spanische Flotte, die Armada, wurden die staatlich unterstützten Raubzüge in Kolonialgesellschaften auch staatlich institutionalisiert. Die englischen, aber auch die niederländischen Kolonialgesellschaften wurden von Adligen, Vertretern des Staates bzw. der Krone und Kaufleuten gemeinsam geführt. Finanzkapitalisten vergaben Kredite für Expeditionen, deren Investitionen die Schiffe mitsamt Besatzung waren. Die Unternehmen erhielten vom Staat das Monopol für eine bestimmte Region.9 Sie trieben Handel, errichteten Festungen, stellten Armeen auf und sprachen Recht. Der Staat verkaufte Anteile an den Kolonialgesellschaften als Aktien an Kapitaleigner und machte so einen Gewinn. Die Aktionäre machten Geld, wenn die Gesellschaft Gewinne einfuhr, die sie mit den Händlern und Seeleuten teilten. Die Gewinne konnten astronomisch sein. Im 17. Jahrhundert warfen Gewürznelken einen Profit von rund 2500 Prozent ab.10

Die Engländer beraubten die Schiffe anderer europäischer Mächte und der Araber, eigneten sich in den Überseegebieten gewaltsam Waren an, handelten mit gewaltsam entführten Menschen und setzten sie als Arbeitssklaven ein, betrogen örtliche Bevölkerungen und legten in der ganzen Welt Häfen an. Kapital wurde nicht durch Produktion und Handel akkumuliert, sondern durch Piraterie, den Raub von Rohstoffen, Sklaverei und Betrug. Allerdings geschah all das auf der Grundlage von Kapitalinvestitionen und mit staatlicher Unterstützung – und nicht, wie bei Seeräubern, zum eigenen Lebensunterhalt und außerhalb staatlicher Regulierung. „Der Kapitalismus triumphierte nur dann, wenn er mit dem Staat identifiziert wurde, wenn er der Staat war.“11

Der nationalstaatliche Kolonialismus unterschied sich ab dem 16. Jahrhundert zunehmend vom venezianischen Kolonialismus. Während in Venedig der Handel das Zentrum der Wirtschaft bildete, verdrängte in den portugiesischen, spanischen, niederländischen, englischen und französischen Kolonien die Ausbeutung den Handel, insbesondere in Form von Sklaverei und Rohstoffabbau. Im Laufe der Zeit dehnten sich die europäischen Niederlassungen über die Welt aus und bedeckten ganze Territorien, die in Kolonien verwandelt wurden. Um 1800 beherrschten die Europäer rund 35 Prozent der Erdoberfläche, 1914 waren etwa 85 Prozent unter westlicher Herrschaft.12

Die territoriale Weltherrschaft wird auch als Imperialismus bezeichnet und vom Kolonialismus unterschieden, weil weltumspannende Reiche errichtet wurden, die aus den europäischen Nationalstaaten und ihren Kolonien bestanden.13 Die Kolonien wurden in dieser Zeit auch nicht mehr von privaten Kapitalgesellschaften, sondern von den europäischen Regierungen beherrscht. Ihr Ziel bestand jedoch weiterhin in einem ökonomischen Profit. Der Profit wurde vom Staat für die zahlreichen Kriege und von der Wirtschaft als Kapital verwendet, das nach und nach in die einheimische Produktion investiert wurde.14

Die Frühphase des weltweiten Kolonialismus der Europäer war geprägt von Raub – insbesondere von Edelmetallen in Amerika, von Sklaven in Afrika und von Waren in Asien. Im 18. Jahrhundert ging der Kolonialismus zur Plantagenwirtschaft über, vor allem durch Zwangs- und Sklavenarbeit.15 Der Raub wich der landwirtschaftlichen Produktion, deren Erträge vor allem in Europa, aber zunehmend auch im Rest der Welt verkauft wurden. Erst dann entwickelte sich in England die Industrialisierung.16 Die aus den Kolonien abgeführten Güter, von Edelmetallen über Waren bis zu landwirtschaftlichen Produkten, bildeten eine Grundlage der industriellen Revolution.17

Wichtig für die Industrialisierung Englands war auch die Funktion der Kolonien als Absatzmärkte.18 Die Industriezweige, die in den Kolonien bereits existierten, wurden zerstört, die Entwicklung neuer Industrien wurde verboten.19 So mussten die Bewohner die Produkte kaufen, die in England hergestellt wurden. Das bekannteste Beispiel ist die indische Textilindustrie, deren Qualität zeitgenössischen europäischen Quellen zufolge den englischen Textilien weit überlegen war.20 Die Engländer, deren Industrialisierung langfristig auf der Produktion von Textilien basierte, zerstörten die indischen Produktionsanlagen, um ihre eigenen Textilien in ihrer indischen Kolonie verkaufen zu können.21

Die wichtigste Folge des Kolonialismus bestand in der Herstellung einer integrierten, ungleichen Weltordnung. Außerdem hat er außereuropäische Bevölkerungen stark dezimiert, einige sogar ausgelöscht. Insgesamt kamen mindestens 50, eher aber 262 Millionen Menschen durch den Kolonialismus ums Leben.22 Dabei ist zu bedenken, dass die Weltbevölkerung 1500 rund 500 Millionen und 1800 etwa eine Milliarde zählte. Darüber hinaus trug der Kolonialismus zur Industrialisierung Europas bei. Ferner hat er einen großen Anteil gehabt, die europäischen Staaten in kapitalistische Nationalstaaten zu verwandeln, indem die Kolonialgesellschaften privates Kapital und staatliche Organisation miteinander verbanden. Dadurch entstand die noch heute zentrale Verzahnung von Staat und Kapital. „Wann immer das Interesse an einer Kolonie von Handel und Räuberei zur planvollen Ausbeutung ihrer Ressourcen überging, musste der koloniale Staat durch Infrastrukturprojekte (Eisenbahnen, Kanäle, Straßen, Telegraphennetze), durch Landerschließungsprogramme, durch Zoll- und Währungspolitik oder durch städtebauliche Initiativen privaten Geschäftsinteressen den Weg bahnen.“23

Der Kolonialismus gehört insofern der Vergangenheit an, als die Welt nicht mehr von Europa beherrscht wird. Allerdings ist er immer noch aktuell, da die Struktur der heutigen Welt ein Erbe des Kolonialismus ist. Die heute armen Länder sind allesamt ehemalige Kolonien, die während der Kolonialzeit ausgeplündert, versklavt und gesellschaftlich verwüstet worden sind. Die ehemaligen Kolonialherrscher hingegen gehören auch heute noch zu den reichen und mächtigen Ländern. Nur wenige der einstigen Kolonien haben einen Aufstieg geschafft, beispielsweise die USA, Australien, Neuseeland und die asiatischen Tiger; China war nur teilweise kolonialisiert. Darüber hinaus sind die ehemaligen Kolonien bis heute sprachlich, kulturell und politisch mit ihren ehemaligen Herrschern verbunden. Schließlich wurden ihnen der Kapitalismus und die politische Organisation des Nationalstaats aufgezwungen.

2.3Der Nationalstaat

In die Zeit der Entfaltung des Kolonialismus fällt die Entwicklung des Nationalstaats. Bis zum Dreißigjährigen Krieg, der 1648 endete, waren die europäischen Staaten gleichsam Besitztümer von Monarchen. Der Staatsapparat der englischen Königin ElizabethElizabeth I. von England umfasste vor Beginn des Krieges nur wenige hundert Personen und war weitgehend mit ihrem Hof identisch.1 Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurde Europa territorial aufgeteilt, und die Staaten entwickelten sich zu Nationalstaaten mit einer unpersönlichen, umfassenden Bürokratie und einer rechtlich geregelten Herrschaft. Diese Organisationsform wurde mit dem Kolonialismus auf den Rest der Welt übertragen.

Der Nationalstaat ist keine Privatangelegenheit der Monarchen mehr. Erstens ist der Herrscher ein Vertreter der Gesamtheit, also ein Repräsentant und kein persönlicher Machthaber. Zweitens hat der Nationalstaat ein rechtliches Rahmengerüst. Drittens hat er eine territoriale Grenze. Viertens verfügt er über ein Staatsvolk, das seit dem Dreißigjährigen Krieg zunehmend nationalistisch gedacht wurde, also mit einer einheitlichen Geschichte, Kultur und Sprache. In Wirklichkeit gab es zum Ende des Krieges keine Staaten dieser Art, sondern die Herrscher formten die Staaten in diese Richtung um. Die späteren Demokratien, beispielsweise die USA und Frankreich, schlossen daran an.

Bis zum Kolonialismus waren fast alle globalen Zentren expandierende Stadtstaaten gewesen, beispielsweise Babylon, das Industal, Athen, Rom, Venedig und Genua. Aber erst England war keineswegs mehr ein Hof mit umgebendem Territorium, sondern London wurde im 17. Jahrhundert die Hauptstadt eines nationalen Territoriums mit einem einheitlichen Binnenmarkt.2 Die anderen Staaten der Welt erreichten dieses Maß an Integration erst später. Im Weltmaßstab wurde der Nationalstaat sogar erst im 20. Jahrhundert die allgemeine politische Organisationsform.3

Der westliche, institutionalisierte Kapitalismus war von Anfang an ein globales Projekt, das von national organisierten Kapitalistengruppen im Verbund mit ihrem Staatsapparat vorangetrieben wurde. Der Staat diente den Kapitalisten als Beschützer, die Kapitalisten dienten dem Staat als Finanziers. Die Staaten und ihre Politik wurden national organisiert. Sie waren eng mit dem Kolonialismus und dem Kapitalismus verknüpft. Der europäische Nationalstaat sollte „seinen“ Kapitalisten überall auf der Welt profitable Möglichkeiten eröffnen und gleichzeitig im Innern die Arbeit organisieren und die Bevölkerung befrieden. Er stellte die Infrastruktur, bildete die Bevölkerung aus, kontrollierte sie und federte die Auswirkungen des Kapitalismus ab. Im Ausland trat er für die Interessen der auf seinem Staatsgebiet angesiedelten Kapitalisten ein.4

Diese Aufgaben sind bis heute die zentralen des Staatsapparates geblieben. Bis heute werden dazu gegebenenfalls Gewaltmittel eingesetzt. Wie die früheren Kolonialherren von Venedig über Spanien bis England befinden sich die heutigen Staaten, die Anspruch auf die Weltherrschaft oder eine regionale Vormachtstellung erheben, in einem mehr oder weniger konstanten Kriegszustand, um überall günstige Bedingungen für die mit ihrem Nationalstaat verbundenen Kapitalisten durchzusetzen und die anderen Staaten sowie ihre Kapitalisten nach Möglichkeit zu beherrschen.

2.4Enteignung

Vorbedingung für die geografische Verschiebung des Kapitalismus von Oberitalien nach England war die osmanische Eroberung von Konstantinopel. Daraufhin verlagerte sich der europäische Handel vom Mittelmeer an die Atlantikküsten. Portugal, Spanien und die Niederlande profitierten davon und begannen den Handel mit Piraterie und Kolonialisierung zu verbinden. Dieses Projekt wurde mit dem englischen Sieg über die Armada 1588 von England übernommen. Das nordwestliche Europa, vor allem England, beherrschte zunehmend die Welt.1

Über die nationalstaatliche Organisation hinaus war eine weitere Voraussetzung, die England für die Entwicklung des Kapitalismus prädestinierte, die weitgehende Verwandlung des Landes in Privateigentum. Sie begann damit, dass König Heinrich VIII.Heinrich VIII. von England von England sich scheiden lassen wollte und daher die englische Kirche vom Katholizismus abspaltete, der ihm die Scheidung unmöglich machte. Er ließ seine Ehe 1532 annulieren, heiratete seine neue Liebe Anne BoleynBoleyn, Anne und erklärte sich zum Oberhaupt der englischen Kirche. Der Besitz der katholischen Kirche ging damit in seine Kontrolle über. Viele der riesigen Ländereien der Kirche verkaufte Heinrich VIII., einen Teil verschenkte er an Günstlinge und einen geringen Teil behielt er.2 Die Kaufleute und Adligen, die Geld übrighatten, kauften das Land. Da nicht viele Menschen in der Lage waren, genügend Geld für einen Landkauf aufzubringen, kam es zu einer starken Konzentration des Grundbesitzes. Diese Konzentration nahm noch weiter zu, als im 18. Jahrhundert auch das Gemeindeland in Privateigentum verwandelt wurde.3 Eine kleine Gruppe von Hochadligen eignete sich das Land an. Noch heute sind alte adlige Familien die größten Landbesitzer Englands, darunter auch das Königshaus.4

Die Privatisierung des Grundbesitzes führte dazu, dass sich die Menschen nicht mehr selbst ernähren konnten, sondern Lohnarbeit suchen und ihre Lebensmittel kaufen mussten. Allerdings gab es im 16. Jahrhundert noch keine Arbeit für sie außerhalb der feudalen Knechtschaft. Eine Industrie entwickelte sich erst Jahrhunderte später. Es kam zu einer Verelendung der vom Land vertriebenen Bevölkerung und es war der Beginn der Auswanderung in die Kolonien. Die Ausdehnung der europäischen Kolonialgebiete gewährleistete einen stetigen Abfluss „überschüssiger“ Menschen aus Europa. Eine große Zahl armer und landloser Gruppen wanderte bis ins 20. Jahrhundert in die Kolonien aus. Die Wanderbewegungen hielten auch nach der Unabhängigkeit der Kolonien an. Erst mit der Entstehung einer Dienstleistungsökonomie und mit der Entwicklung des Sozialstaats gelang es, die eigentumslosen Bevölkerungsmassen in den europäischen Nationalstaaten zu halten. Die Industrialisierung trug – entgegen den allgemeinen Behauptungen – nicht viel dazu bei. Die größten Wellen der Auswanderung fanden während der Blütezeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert statt. Gleichzeitig wurde in England ein Arbeitszwang erlassen, um die Armen in das System zu integrieren.5

Die Industrialisierung diente ebenso wenig wie der Kolonialismus zur Verbesserung des Lebens der breiten Masse. Zweck der Fabriken war es auch nicht, den enteigneten Menschen Arbeit zu geben, sondern sie sollten Profit erwirtschaften. Nur wo das durch die Ausbeutung von Arbeitskräften möglich war, erhielten Menschen Arbeit. Die staatlich organisierten Gesellschaften von Mesopotamien und Ägypten bis zu dem indischen Reich der Moguln und dem Habsburger Reich schufen persönliche Abhängigkeitsverhältnisse und Knechtschaft bis hin zur Sklaverei. Auf diese Weise schränkten sie die Freiheit der Menschen stärker ein, als das im Kapitalismus der Fall ist. Wo keine Zwangsverhältnisse bestanden, konnten die Menschen sich jedoch meist selbst ernähren und waren nicht darauf angewiesen, Arbeit zu finden. Die Notwendigkeit, Arbeit zu finden, erwuchs aus der Enteignung und der Befreiung der Menschen aus feudalen Verhältnissen.

Die Folgen der Enteignung können wir noch heute täglich am eigenen Leib spüren. Warum müssen wir eine Arbeitsstelle suchen, warum sind wir von unserem Arbeitgeber abhängig, warum müssen wir das verdiente Geld für den Lebensunterhalt ausgeben? Die Enteignung beantwortet diese Fragen. Bis zum Beginn des westlichen Kapitalismus war Land nur in kurzen Perioden und in begrenzten Gebieten Privateigentum. Fast die gesamte Geschichte hindurch konnten die Menschen sich irgendwo Land suchen, das sie für ihren Lebensunterhalt bearbeiteten. Sie mussten weder für Miete noch für Lebensmittel bezahlen, sondern Land, Haus, die meisten Gegenstände des täglichen Bedarfs und Nahrungsmittel gehörten praktisch ihnen. Sie mussten keine Arbeit suchen und wurden auch nicht dazu gezwungen.

Eine zentrale Maßnahme aller Kolonialherren und der späteren Entwicklungspolitik war es daher, das Land in den eroberten Gebieten in Privateigentum zu verwandeln. Das führte einerseits zur Konzentration des Grundbesitzes und andererseits zur Erzeugung völlig machtloser Arbeitskräfte. In El Salvador beispielsweise gehörte das Land traditionell den Dorfgemeinschaften. Daher wurde 1881 auf Druck der USA ein Gesetz erlassen, das Privateigentum an Land zur einzig rechtlichen Form des Besitzes erklärte. Damit war das Land der Dorfgemeinschaften fortan herrenlos. Kaffeeunternehmen eigneten sich das Land an, vertrieben die Indigenen und stellten sie später teilweise als Landarbeiter an. El Salvador wurde in der Folge von einer Oligarchie von 14 Familien beherrscht, die wiederum eng mit den USA kooperierte.6 Ähnliches geschah in jedem kolonialen und postkolonialen Staat der Welt.

2.5Staatsfinanzen

Die spezifische Konfiguration des Kapitalismus entstand durch die zunehmende Abhängigkeit der Monarchen vom Kapital, das die Kriege finanzierte. In früheren Monarchien monopolisierte der Herrscher selbst das Vermögen. Wo er, wie in Norditalien während der Renaissance, auf Kreditgeber angewiesen war, übten entweder diese selbst die Funktion des Monarchen aus oder wurden letztlich von der Zentralmacht unterworfen und in die Schranken gewiesen. Die Medicis in Florenz waren zuerst Bankiers, stiegen dann zu einer Dynastie auf und wurden am Ende vom Papst unterworfen.1 Im späteren Kapitalismus wurden die Staaten hingegen vom Finanzkapital abhängig, das die Staatsschulden verwaltete.

Die vorherrschende Meinung lautet, dass die Herrschaft des Finanzkapitals eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte gewesen sei. Tatsächlich waren die Händler immer die treibende Kraft des Kapitalismus, vom Kolonialismus bis zur Welthandelsorganisation. Und hinter den Händlern stand stets das Finanzkapital, weil die Händler ihre Investitionen selten vollständig aus eigener Tasche bezahlen können. Über die Kredite kontrollierte das Finanzkapital die Handelsunternehmen und über die Staatsschulden die Regierungen.2 Das Verhältnis zwischen ihnen veränderte sich allerdings ständig, da neue Instrumente, Organisationsformen und Prozesse entwickelt werden.

Im 16. Jahrhundert wurden die Wechsel, die auf Papier notierten Handelskredite, zunehmend an Dritte abgegeben, also gehandelt. Der Kreditnehmer verkaufte das Stück Papier, auf dem die Kreditsumme vermerkt war, weiter und konnte dabei einen Profit einstreichen, beispielsweise wenn er es in einer anderen Währung verkaufte, deren Wert im Verhältnis zur Ursprungswährung stieg, oder indem er Zinsen verlangte. Der Käufer konnte mit dem Papier das Gleiche machen. Das klingt wie ein Schneeballsystem, tatsächlich aber mussten die Parteien davon ausgehen, dass der ursprüngliche Kredit am Ende zurückgezahlt wurde. Dennoch wurde teilweise reine Finanzspekulation betrieben, ohne dass der Kredit in den Handel investiert wurde, genau wie an den heutigen Börsen.3

Eine besondere Form des Kredits entstand mit den Staatsschulden. Wegen der vielen Kriege im Ausland, wegen des Bürgerkriegs im Inland und wegen der Ausweitung des Kolonialismus häufte der englische Staat im 17. Jahrhundert beträchtliche Schulden an. Der Krieg gegen Frankreich allein verdoppelte die englischen Staatsschulden.4 Auch die Kosten der Kolonialkriege, die England zwischen dem späten 16. Jahrhundert und Mitte des 20. Jahrhunderts überall auf dem Erdball gleichsam kontinuierlich führte, waren enorm. Das Geheimnis dieser Schulden besteht darin, dass sie nie wirklich zurückgezahlt werden, sondern einen ständigen Zinsfluss vom Staat an die Kapitalisten begründen.

Dieser Prozess begann 1694, als im Anschluss an die englische Revolution die Bank of England als Aktiengesellschaft geschaffen wurde.5 Sie verwandelte die Staatsschulden in Anleihen und verkaufte diese. Die Quittungen waren die „Bank of England Notes“, die zu den ältesten Banknoten zählen. Die Besitzer dieser Noten erhielten vom Staat Zinsen über eine festgelegte Laufzeit. Am Ende der Laufzeit sollten die Banknoten (oder Anleihepapiere) vom Staat zum Nennwert zurückgekauft werden. Dadurch machten die Kapitaleigner einen Gewinn, der bei hohen Zinsen und einer langen Laufzeit die Investition sogar verdoppeln konnte. Der Staat bezahlte die Schulden am Ende der Laufzeit jedoch selten, sondern finanzierte die Rückzahlung durch den Verkauf neuer Anleihen, die wiederum einen Zinsfluss an die Kapitaleigner schufen.

Im 18. Jahrhundert entwickelte sich die Staatsanleihe zum Grundstein des Kapitals, insbesondere des Finanzkapitals.6 In Europa sind die Rothschilds, die vermutlich bis heute reichste Familie der Welt, das Paradebeispiel für Wohlstand durch die Verwaltung von Staatsschulden. Robert MorrisMorris, Robert, William BinghamBingham, William, Stephen GirardGirard, Stephen und John Jakob AstorAstor, John Jakob sind bekannte Vertreter für die Spekulation mit Staatsanleihen in den USA, wo die Entwicklung von Alexander HamiltonHamilton, Alexander und William DuerDuer, William vorangetrieben wurde, die allesamt britischer Herkunft waren, hohe politische Ämter innehatten und Anleihen über die Bank of the United States organisierten.

Das Prinzip der Staatsanleihe ist noch heute von großer Bedeutung. Die Staatsschulden bewirken einen ständigen Zinsfluss an die Eigentümer der Anleihen, also an die Kapitalisten. Die Zinsen werden bezahlt durch die Steuern, also höchstens zur Hälfte von den wenigen Reichen und zur anderen Hälfte von der großen Masse der Bevölkerung. Allerdings erhalten die Reichen am Ende ihre eigenen Steuern und die Steuern der Masse in Form der Zinszahlungen auf die Anleihen, während die Armen keinen Anteil an den Zinsflüssen haben. Darüber hinaus verfällt die Kreditsumme normalerweise nicht, sondern bildet gleichsam den Kapitalsockel der Investoren.

Der Staat hätte die Macht, Geld ohne Rückgriff auf Schulden zu drucken oder die gemachten Schulden einfach zu streichen. Das wurde tatsächlich im Anschluss an große Kriege und Umwälzungen immer wieder vorgeschlagen und teilweise auch durchgeführt. Meist aber wird diese Lösung durch Finanzminister und andere hohe Regierungsmitglieder verhindert, die entweder als Privatpersonen selbst Staatsanleihen besitzen oder vom Großkapital beeinflusst werden. Dafür ist Finanzminister Alexander HamiltonHamilton, Alexander in der Gründungsphase der USA ein Paradebeispiel.7

2.6Technologie und Industrie

Die wissenschaftliche Ausbeutung der Wirtschaft ist ein weiteres Kennzeichen des Kapitalismus, das sich parallel zu dem Kolonialismus, der Enteignung und der Entwicklung des Nationalstaats herausbildete. Die Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaft wurden zunächst von Handwerkern wie Galileo GalileiGalilei, Galileo und Johannes KeplerKepler, Johannes gelegt.1 Sie deuteten das Universum als einen Mechanismus, der mathematisch berechnet und technologisch verwertet werden kann. Die Anwendung dieser neuen Naturwissenschaft wurde sodann in England und Frankreich vom niederen Adel vorangetrieben, der mit dem Apparat des Nationalstaats verknüpft war.2 Erst die Möglichkeit, die wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer Massenproduktion anzuwenden, führte zur industriellen Revolution. Diese Möglichkeit ergab sich aus der Verbindung frei verfügbarer Arbeitskraft mit großen Märkten.

Der Kapitalismus durchdrang die gesamte Gesellschaft nicht vor der Ausbeutung formal freier Lohnarbeit.3 Mit dem Kolonialismus wurde der Kapitalismus zum Prinzip nicht nur der Kaufmannskaste, sondern der herrschenden Klasse. Der größte Teil der Gesellschaft aber lebte weiterhin in feudalen, subsistentiellen und anderen Strukturen. Auch wenn sich der Kapitalismus durch die Kolonialisierung über den ganzen Erdball ausbreitete, blieben alte gesellschaftliche Strukturen sowohl in Europa als auch in den Kolonien größtenteils bestehen. Der Kapitalismus benötigte die Menschen nicht, und daher lebten die Menschen außerhalb kapitalistischer Strukturen. Geld wurde durch Ausbeutung von Rohstoffen und Sklaven, Handel sowie Finanzgeschäfte gemacht. Erst die Entwicklung der Industrie erzeugte einen Bedarf an Arbeit. Da freie Arbeiter letztlich billiger waren als Sklaven, sie selbst alle Risiken und die Last der Versorgung trugen, und ihnen bei Bedarf gekündigt werden konnte, löste Lohnarbeit die Sklaverei weitgehend ab.4