Die Karte der Ostmark - C. Hinterlechner - E-Book

Die Karte der Ostmark E-Book

C. Hinterlechner

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Beschreibung

Ein beschissener Zufall, eine alte Karte und plötzlich steht man mitten in einer Versammlung von Nazis, die gerade ihren neuen Reichskanzler wählen. So viel Schokokuchen kann man sich gar nicht mit Bier hinunterspülen, um das zu verdauen. Denn wie zum Teufel gelangt man eigentlich von einem kleinen, beschaulichen Dörfchen in eine braune Verschwörung? Und was, wer oder wo bitte ist Black Horizon?

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C. Hinterlechner

 

Die Karte der Ostmark

 

Roman

 

Die Karte der Ostmark im Internet:

www.c-hinterlechner.at

 

1. Auflage (Hardcover), 2020

E-Book-Ausgabe, 2021

 

© 2020 Christian Hinterlechner

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.

 

Umschlaggestaltung: Christoph Stranger

Lektorat: Sandra Kendler & Stefan Stranger

Satz: Stefan Stranger

ISBN (Hardcover): 978-3-200-07347-0

Jede Sekunde, die vergeht,

bringt dich deinem Ende näher.

 

IFranz und die Karte

Eigentlich sollte man meinen, dass zu dem folgenden Thema schon alles gesagt und geschrieben wurde. Tausende Stunden an Dokumentationen, hunderte an Filmen und ebenso viele Bücher stehen zur Auswahl und man möchte meinen, dass trotz der vorhandenen Brisanz und der täglichen Präsenz endlich Ruhe einkehren könnte. Immer wieder aber gibt es etwas Neues und schier Unglaubliches zu erfahren und zu entdecken. Die unfassbaren Gräueltaten, welche die Nazis in ihrer kurzen Phase der Macht angerichtet haben, können hoffentlich nicht übertroffen werden. Sicher scheint nur, dass alle Geschichten und Geheimnisse, die sich um ihre Tätigkeiten ranken, niemals wirklich aufgedeckt werden können.

Meine Geschichte beginnt ganz harmlos. Es war ein kalter Wintertag und ich gondelte mit meinem kleinen Auto durch die Gegend, welches mir von der Institution, in der ich angestellt war, bereitgestellt wurde. Ich arbeitete als Krankenpfleger im mobilen Dienst und betreute die kranken und bedürftigen Menschen direkt bei ihnen zu Hause. Durch diesen Beruf war es mir nicht nur möglich die unterschiedlichsten Menschen zu treffen, sondern auch viele Geschichten und Schicksale kennenzulernen.

Einer dieser ganz besonderen Menschen war Franz. Franz lebte zusammen mit seiner Frau in einem alten, mittlerweile aufgelassenen Bauernhof in Lend, ein verdammt kleines Dorf in Österreich, genauer gesagt im Bundesland Salzburg. Bereits seit seiner Geburt war Franz auf diesem Hof und zusammen mit seiner Frau bewirtschaftete er seine Felder über 60 Jahre lang. Im Alter von 85 Jahren wurde er während der Stallarbeit von einer seiner Kühe verletzt. Er brach sich dabei acht Rippen und den Oberschenkelhals. Da die beiden keine Kinder hatten und seine Frau Erna den Hof allein nicht versorgen konnte, wurden während seines monatelangen Krankenhausaufenthaltes alle Tiere des Hofes verkauft und die Felder an den angrenzenden Bauern verpachtet.

Nach seiner Rückkehr zerbrach Franz an der vorherrschenden Situation und es machte sich relativ rasch eine fortschreitende Demenz bemerkbar. Durch die tägliche Arbeit am Hof hatte sich die Erkrankung noch etwas in den Hintergrund drängen lassen, obwohl Erna natürlich einige Situationen benennen konnte, in denen sie die Handlungen von Franz sehr fragwürdig fand. Zum Beispiel, als er die frisch gekochten Knödel in die Mikrowelle zum Wärmen stellte, obwohl diese vor Hitze rauchten. Oder, als er seine alte Wehrmachtsuniform aus dem Kasten holte, da ja der Herr Göring an diesem Tag zu Besuch kommen würde. Auf alle Fälle konnte Erna nicht lange mit der Situation umgehen und als Franz anfing sich in der Nacht einzunässen und immer unselbstständiger wurde, benötigte sie die Hilfe einer mobilen Krankenpflege.

Ich war gerne bei ihnen Zuhause, denn Franz selbst war ein sehr umgänglicher und freundlicher Mensch. Er begrüßte mich jedes Mal sehr überschwänglich und obwohl ich mich immer öfter neu vorstellen musste, war sein Wesen mir gegenüber immer fröhlich und ausgeglichen.

Je mehr die Demenz voranschritt, desto öfter verlor sich Franz in der Vergangenheit. Seine Zeit bei der Wehrmacht wurde immer wieder das zentrale Thema und es wiederholten sich Situationen, in welchen er sich in den Vierzigern des vorigen Jahrhunderts wähnte. Aufgrund meiner Glatze, die kurz nach meinem 23. Geburtstag innerhalb von sechs Monaten entstand, fragte er oft, ob ich schon lange bei den Nationalsozialisten tätig sei und warum ich mich noch nicht an der Front befände. Bis zu einem bestimmten Tag konnte ich ihn noch überzeugen, dass wir bereits in einem neuen Jahrtausend lebten und der schon Krieg lange hinter uns liegt. Doch es kam ein schicksalhafter Tag, an dem sich alles änderte.

Um die genauen Ereignisse besser erklären zu können, muss ich etwas weiter ausholen. Einige Jahre bevor ich in die Krankenpflege einstieg, arbeitete ich als Hilfsarbeiter in einer großen Fabrik. Einer meiner damaligen Arbeitskollegen war Albin, ein begeisterter Hobbyarchäologe, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, in seinem Heimatdorf ein kleines Museum zum Thema „Geschichte unserer Region“ einzurichten. Auf der Suche nach geeignetem Material und relevanten Gegenständen durchforstete er alte Bauwerke, Gebäude und Bergwerke. Immer wieder fragte er auch mich um Mithilfe und so fand ich mich an einem Samstagvormittag in einem großen alten Haus, früher Teil eines Bergbaubetriebes, wieder. Wir arbeiteten uns von Raum zu Raum und fanden vieles, das wirklich gut in sein Museum passte. Dutzende alte Karbidlampen, Spitzhacken und alle möglichen Ausrüstungsgegenstände, welche die Bergmänner von damals benötigten. In einem Raum fanden wir sogar eine kleine Ansammlung von Erzsteinen, die Einschlüsse von Gold, Kupfer oder Silber beinhalteten. Geschlagene acht Stunden benötigten wir, um alle gefundenen Gegenstände in seinen Transporter zu verfrachten. Zum Schluss meinte Albin, ich dürfte mir - als kleines Dankeschön - ein Objekt aussuchen und mit nach Hause nehmen.

Unschlüssig darüber, was ich mir schnappen sollte, öffnete ich eine Schublade, die wir noch nicht besichtigt hatten. Es war eine große, aber flache Lade und in ihr befand sich eine Landkarte. Etwas ungläubig blickte ich auf die Überschrift: „Karte der Ostmark“. Es handelte sich also um eine Landkarte aus der NS-Zeit und sie war in einem tadellosen Zustand. Ohne lange zu zögern packte ich die Karte ein, obwohl ich natürlich den Protest in Albins Augen bemerkte. Die Karte war eindeutig etwas Besonderes und hätte wahrscheinlich auch einen perfekten Platz in seinem Museum gefunden.

Als ich am Abend wieder zu Hause war, betrachtete ich die Karte genauer. Sie zeigte das gesamte Gebiet der damaligen Ostmark und hatte in der rechten oberen Ecke eine kleine Abbildung des Deutschen Reiches. Aufgrund der vorhandenen Grenzen datierte ich die Karte auf 1940 oder 1941, da zu diesem Zeitpunkt das Deutsche Reich den Höhepunkt seiner Ausdehnung noch nicht erreicht hatte.

Die Karte war mittels eindeutig nachträglich hinzugefügter Bleistiftstriche in verschiedene Raster aufgeteilt worden. Die Striche bildeten eine Art Koordinatensystem und die einzelnen Raster waren jeweils nummeriert. In einigen dieser Raster waren runde Kreise eingezeichnet und auch diese waren mit einer Nummer versehen. Auch meine eigene Heimatgemeinde war in einem der Raster zu erkennen und in ihr befanden sich drei weitere Kreismarkierungen. Da die Kreise aber zu groß angelegt waren, konnte man keine genauen Punkte ausmachen. Pro Kreis waren ungefähr zehn Quadratkilometer markiert und so schenkte ich ihnen vorerst keine allzu große Aufmerksamkeit. Ich verstaute die Karte unter meinem Bett, wo sie dann schnell in Vergessenheit geriet.

IIFranz 2.0

Es war extrem scheußliches Wetter, als ich wieder einmal die kleine Bergstraße Richtung Lend hochfuhr. Dicke nasse Schneeflocken ließen die Sicht auf wenige Meter schrumpfen und so kam ich, als ob es vorherbestimmt gewesen wäre, 200 Meter vor dem Haus von Franz auf der vom Schnee bedeckten Straße zu stehen. Fluchend begann ich Ketten an die Reifen meines Autos zu montieren und war dabei schon nach kürzester Zeit klatschnass. Ich hatte mir den Termin bei Franz ganz zum Schluss aufgehoben, da er trotz seiner fortschreitenden Demenz doch sehr umgänglich war. Somit winkte mir kurz vor Feierabend nur noch ein wenig Unterstützungsarbeit bei der Körperpflege und danach ein leckerer Kuchen mit Kaffee. Erna konnte verdammt gute Kuchen backen und sie war nicht ganz unschuldig an meinem kleinen Bäuchlein, das ich aber noch gut unter der Arbeitskleidung verstecken konnte.

Erna begrüßte mich direkt an der Türe und reichte mir ein Handtuch.

„Ich bin mir nicht sicher, ob du heute wieder wegkommst“, meinte sie und verschwand dann in der Küche.

Ich persönlich dachte nur an den Kuchen und nicht an den Schneefall, der jetzt immer intensiver wurde. Franz wartete bereits etwas ungeduldig im Badezimmer auf mich. Erna hatte, wie jeden Tag, neue Handtücher und Kleidung bereitgestellt. Der Ablauf der Betreuung hatte sich bei uns beiden schon gut eingespielt und so lief alles ab wie immer. Unterbrochen wurde dieser gewohnte Ablauf an diesem Tag nur von einem gewaltigen Wind, der Franz entkam, als er unter großer Anstrengung in der Dusche aufstand, um von mir seinen Hintern gewaschen zu bekommen. Geistesgegenwärtig sprang ich auf die Seite und konnte gerade noch verhindern, dass das Material, welches zusammen mit dem Wind aus dem Hintern fast explosionsartig hervorschoss, auch mich und nicht nur die halbe Dusche traf. Wir sahen uns nach diesem doch eher überraschenden Vorkommnis nur kurz in die Augen. Obwohl ich mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen konnte, blieb die Situation genauso ruhig wie vorher. Da sich Franz ja sowieso bereits in der extra für Senioren umgebauten Dusche befand, spülte ich die braunen Spritzer gleichzeitig von ihm und den Fliesen ab. Nachdem ich ihm noch beim Abtrocknen und Anziehen der neuen Kleider geholfen hatte, setzten wir uns zu Erna in die Küche. Wie von mir erhofft, gab es den besten Milchkaffee der Welt, natürlich mit viel Zucker und einen Kuchen, der im Mund förmlich mit meinen Geschmacksknospen verschmolz.

Franz selbst war an diesem Tag völlig in der Vergangenheit gefangen. Wiederholt fragte er mich, bei welcher Einheit der Wehrmacht ich sei und ob ich ihm einmal ein Stück Panzerschokolade mitnehmen könnte. Die sogenannte Panzerschokolade wurde während des Zweiten Weltkriegs von der deutschen Wehrmacht eingesetzt. Sie unterdrückte das Angstgefühl, war leistungssteigernd und erhöhte die Konzentration. Grundsätzlich sehr positive Eigenschaften für einen Soldaten, aber heutzutage weiß man, dass der Inhaltsstoff der Panzerschokolade, „Methamphetamin“, eine der gefährlichsten Drogen überhaupt ist. Heute bekannt als „Crystal Meth“, macht es innerhalb von kürzester Zeit abhängig und hinterlässt schwere physische und psychische Schäden.

Obwohl es nicht sehr professionell von mir war, versprach ich ihm, dass ich nächstes Mal eine Packung Schokolade mitbringen würde. Mein Hintergedanke war natürlich, dass er mein Versprechen aufgrund seiner Demenz sowieso wieder vergessen würde. Auch Erna war mir für meine kleine Flunkerei nicht böse. Im Gegenteil, Franz war nach solchen Gesprächen immer sehr entspannt und wirkte beruhigt. Unser gemütliches Zusammensitzen wurde an diesem Tag aber plötzlich unterbrochen. Die Sirene der Feuerwehr peitschte schrill durch die Luft und verkündete, dass etwas nicht stimmte. Wir waren aber nicht allzu überrascht, denn durch den starken Schneefall war es in den Bergen nicht ungewöhnlich, dass LKWs auf den verschneiten Straßen hängen blieben und die Hilfe der Feuerwehr benötigten. Aber auch andere Verkehrsunfälle standen bei solch einem Wetter an der Tagesordnung. Obwohl wir alle drei nichts Gröberes befürchteten, packte ich dennoch meine Sachen zusammen und verabschiedete mich von den beiden. Die Gefahr einer Straßensperre war gegeben und ich wollte unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause, wo mich schon Bier, Chips und mein neu gekauftes Computerspiel erwarteten.

Der Schneefall hatte jedoch in der Zwischenzeit ungeahnte Dimensionen angenommen. Die Sicht durch die Windschutzscheibe war gleich null und so tuckerte ich in Schrittgeschwindigkeit in Richtung Tal. Voller Konzentration starrte ich auf die weiß bedeckte Straße. Plötzlich blitzte es direkt vor mir blau auf. Aufgrund meiner geringen Geschwindigkeit blieb das Auto zum Glück sofort stehen, denn vor mir wimmelte es plötzlich von Feuerwehrleuten, die kreuz und quer umherliefen. Einer klopfte an meine Seitenscheibe und meinte kurz und trocken:

„Da geht heute nichts mehr, da ist eine Lawine vor uns. Die Straße ist mindestens fünf Meter hoch verschüttet. Um das wegzubringen, brauchen wir bis morgen Früh, wenn nicht länger.“

Ich ersparte mir irgendwelche überflüssigen Fragen. Zu gut kannte ich die Gegebenheiten unserer Gegend und die Feuerwehrleute waren absolute Experten, wenn es darum ging, mit diesen Problemen fertig zu werden. Deshalb wendete ich meinen Wagen und gurkte wieder retour den Berg hinauf. Erna erwartete mich schon, wieder mit einem Handtuch in der Hand.

„Hab‘s schon gehört, du kannst auf der Couch im Wohnzimmer schlafen.“

Dankbar für dieses Angebot kehrte ich in das Haus zurück. Erna hatte bereits im Wohnzimmer eine Decke und einige Polster bereitgestellt und auf dem Tisch stand wieder ein Kuchen, der einen gefühlten Quadratmeter groß war.

Draußen wurde es bereits dunkel und die beiden waren es gewohnt früh zu Bett zu gehen. Darum dauerte es nicht lange, bis ich allein im Wohnzimmer saß. Es gab keinen Fernseher und es herrschte eine beruhigende Stille. Nur das regelmäßige Ticken einer kleinen Wanduhr war zu hören. Frohen Mutes machte ich mich über das gewaltige Stück Kuchen her und ließ meine Augen durch den Raum schweifen. Sie blieben an einem Fach mit vielen Fotoalben hängen. Die Alben waren mit Jahreszahlen versehen, beginnend bei 1938 und endend bei 1980. Franz hatte mir schon viele Geschichten aus seinem Leben erzählt. Neugierig davon Bilder zu sehen, schnappte ich mir sofort das erste Album.

III1938 bis 1945

Grundsätzlich ist zu erwähnen, dass mich die gesamte Zeit rund um den Ersten und Zweiten Weltkrieg immer schon in ihren Bann gezogen hatte. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Serbien, die Schlacht von Verdun, die Machtergreifung der Nazis. All diese Themen strahlen eine große Faszination auf mich aus. Geschuldet wahrscheinlich der Tatsache, dass meine Großmutter sowie mein Vater mittendrin statt nur dabei waren. Mein Vater – er hatte mich erst nach seinem 50. Geburtstag gezeugt – erzählte mir immer die wildesten Geschichten über seine Zeit in der Hitlerjugend.

Vater wuchs in den 1930er-Jahren auf einem Bauernhof ganz in der Nähe von Lend auf. Er wurde, wie damals im Alpenraum üblich, von Bauersleuten aufgenommen, nachdem seine Eltern bei einem Lawinenabgang tödlich verunglückt waren. Deshalb wurde er bereits in jungen Jahren zur Hof- und Feldarbeit ausgebildet. Vater hatte Glück, denn er wurde im Gegensatz zu vielen anderen wie ein richtiges Familienmitglied behandelt. Er blieb auch Zeit seines Lebens immer mit dem Hof und der Ersatzfamilie tief verbunden.

Der Hof selbst lag an der Gemeindegrenze zwischen zwei Ortschaften und so war es dazu gekommen, dass Vater und die restlichen Kinder der Bauersleute irrtümlich bei beiden Gemeindeorganisationen der Hitlerjugend gemeldet waren. Damals war es ja Pflicht, dass die Kinder diese sogenannte HJ-Ausbildung durchliefen. Diese waren aber wenig an dieser strengen Erziehungsmaschinerie interessiert und schwänzten, so gut es ging, etliche Termine. Bei späterer Nachfrage der Betreuer, wo sie denn gewesen wären, behaupteten die Kinder, im Nachbarort gewesen zu sein. Da es damals noch keine Handys gab und auch Telefone am Land eher zur Mangelware gehörten, war die Überprüfung der Angaben schwierig und den Bengeln wurde Glauben geschenkt.

Als der Krieg dann ausbrach, wurden die HJ-Treffen immer weniger. Alle Ausbildner kämpften entweder als Soldaten im Krieg oder waren bereits gefallen. Außerdem wurden die Kinder (wegen des großen Mangels männlicher Arbeitskräfte) sowieso auf dem Hof zur Arbeit benötigt.

Eine von Vaters Lieblingsgeschichten handelte zu einem Zeitpunkt, an dem der Krieg für das Deutsche Reich bereits verloren war. Er und seine Freunde befanden sich gerade auf dem langen Heimweg von der Schule. Wie immer trödelten sie immens, da es am Wegesrand und im Wald vieles zu entdecken gab. Völlig abgelenkt durch ihre kleinen Abenteuer, überhörten sie die Warnsirene im Tal komplett. Plötzlich kam wie aus dem Nichts ein lautes Brummen hinter den Bergen hervor. Sie wussten genau, was dieses Geräusch bedeutete und blickten ängstlich zum Himmel. Es dauerte eine Weile, aber bald konnten sie einen gewaltigen Bomber zwischen den Gipfeln hervor fliegen sehen. Dieser war allein unterwegs und wahrscheinlich dürfte er sich verflogen haben, aber die große Fabrik im Ort darunter stellte ein überraschendes und gleichzeitig ausgezeichnetes Ziel für ihn dar. Die Kinder konnten beobachten, wie sich die Luken unterhalb der Maschine öffneten und sich eine Bombe Richtung Tal auf den Weg machte. Völlig überraschend flog die Bombe nicht geradlinig zu Boden, sondern sie bewegte sich aufgrund der Fliehkraft auch nach vorne und immer mehr in Richtung ihres eigenen Standorts.

Mein Vater beschrieb es immer so: „Wir konnten dieses verdammte Eisenmonster an uns vorbeifliegen sehen. In der HJ hatten wir bereits gelernt, was im Falle eines Bombenangriffes zu tun sei und deshalb schmissen wir uns in den nächsten Graben. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, aber dann war der Knall doch mehr als gewaltig. Große Steine und Dreckklumpen flogen über unsere Köpfe hinweg und die Detonation war so stark, dass es uns mindestens einen halben Meter vom Boden hob. Wir bewegten uns vor Schock und Angst keinen Millimeter. Erst als wir die lauten Schreie von unserem Freund Sepp hörten, wurden wir aus unserer Starre gerissen. Sepp schrie wie am Spieß und das war wegen seiner erlittenen Verletzungen auch kaum verwunderlich, obwohl man glauben möchte, dass man mit einer solchen Deformation gar nicht schreien konnte. Er hatte keine schützende Mulde gefunden und sich hinter einem dünnen Baum versteckt. Bei der Detonation der Bombe wurde er wahrscheinlich von einem Stein oder Metallstück getroffen und jetzt hing ein Teil seines Gesichtes in Fetzen herunter. Wir Kinder hatten zwar gelernt, wie man solch schwere Verletzungen versorgt, aber eine derart schlimme Entstellung in der Realität zu sehen, ließ uns vorerst nur völlig geschockt auf ihn starren. Erst ein weiterer grauenhafter Schrei von ihm rüttelte uns wach. Ich riss mir mein Hemd vom Körper. Zusammen mit dem Hemdstoff und einem Gürtel versuchten wir die Fleischfetzen zu fixieren und die Blutung zu stoppen. Überraschenderweise gelang uns das ganz gut. Danach schleppten wir ihn nach Hause. Dort wurde er dann sofort von den Frauen des Hofes versorgt. Sie hatten die Detonation natürlich auch mitbekommen und sie sahen bereits von Weitem, dass etwas nicht stimmte. Mit Alkohol wurde versucht, die Verletzung von Sepp zu desinfizieren und die Blutung mit einem heißen Eisenstab zu veröden. Nachdem dies halbwegs gelungen war, wurde die große Wunde mit Nähmaterial zusammengeflickt. Sepp fiel während der ganzen Prozedur mehrmals in Ohnmacht. Nachdem man ihm einige Male Schnaps aus einer großen Flasche einflößte, schlief er voller Erschöpfung ein. Danach durften wir nicht mehr zu ihm in die Stube. Erst einige Tage später kam er von selbst zu uns. Er sah grauenhaft aus, das Gesicht war dick geschwollen und die Wunde notdürftig mit Stofffetzen verbunden. Zwar verheilte alles mit der Zeit, aber er war danach nicht mehr er selbst. Als er dann in der Pubertät auch noch die Abneigung der jungen Mädchen aufgrund seines Aussehens zu spüren bekam, setzte er knapp nach seinem 16. Geburtstag seinem Leben mittels eines Strickes ein Ende.“

In Erinnerung an diese doch sehr drastische Geschichte saß ich also da und betrachtete die Bilder im ersten Album. Sie zeigten eigentlich größtenteils Soldaten der deutschen Wehrmacht und auf den meisten war auch Franz abgebildet. Wie immer, wenn ich Bilder von Nazisoldaten sah, konnte ich spüren wie nahe und präsent diese Zeit doch noch war und wie viele Menschen es immer noch gab, die aktiv in dieser schlimmen Zeit gelebt oder besser gesagt überlebt hatten.

Franz dürfte ziemlich gerne in der Wehrmacht gedient haben, denn auf vielen Fotos konnte man ihn stolz mit diversen Abzeichen an seiner Uniform posieren sehen. Auch die weiteren Fotobände waren voll von Abbildungen aus dem Soldatenalltag, aber sie zeigten ein verzerrtes Bild. Denn die Grauenhaftigkeit des Krieges und die Dunkelheit dieser Zeit waren nicht zu erkennen. Erst als ich zum letzten Album kam, veränderte sich diese Darstellung. Die Bilder waren nicht von der selben Person geschossen worden und auch die verwendete Kamera musste von deutlich besserer Qualität gewesen sein. Es waren eindeutig professionell erstellte Aufnahmen, die vor allem die Landschaft rund um Lend abbildeten. Sofort zu erkennen war auch, dass es sich bei den aufgenommenen Personen nicht mehr um einfache Wehrmachtssoldaten handelte. Bei näherer Betrachtung konnte ich eindeutig eine SS-Uniform identifizieren und als ich noch genauer hinsah, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ich konnte es kaum glauben, aber es war Heinrich Himmler, Reichsführer SS, einer der Hauptverantwortlichen für den Holocaust und einer der größten Naziverbrecher überhaupt. Was zum Geier machte er in diesem Fotoalbum? Auch die nächsten Fotos zeigten hohe SS-Männer und plötzlich traf mein Blick ein Bild, das etwas größer war als die anderen. Es dauerte eine Weile bis ich akzeptieren konnte, was ich sah. Heinrich Himmler, Hermann Göring und einige andere Nazigrößen saßen rund um einen Tisch und schienen heftig zu diskutieren.

Im Hintergrund sah man Franz stehen, der allem Anschein nach aufmerksam zuhörte. Doch nicht die Anwesenheit der genannten Personen machte mich sprachlos. Natürlich wusste ich, dass in den letzten Tagen des Krieges viele Generäle und Funktionäre der Nazis sich in dieser Gegend versteckt hatten, aber mich fesselte, was hinter Franz an der Wand hing. Es war eine Landkarte und sie hatte einen markanten Riss in der oberen rechten Ecke. Die Überschrift „Karte der Ostmark“ und der auffällige Riss waren mir nur zu gut bekannt. Es war dieselbe verdammte Karte, die gerade zu Hause unter meinem Bett verstaubte. Sofort fielen mir die eingezeichneten Kreise wieder ein und plötzlich explodierte es in meinem Kopf. Ich wusste, dass die Nazigrößen gegen Ende des Krieges in diese Gegend geflüchtet waren, um ihre Raubgüter in Sicherheit zu bringen. Sollten die Markierungen eventuelle Verstecke der geraubten Kunst und Goldschätze kennzeichnen? Mir wurde heiß und kalt gleichzeitig und ich musste aufstehen. Aufgeregt schnappe ich mir den restlichen Kuchen, der noch am Tisch stand und verschlang ihn in einem Stück.

Es dauerte einige Minuten, bis ich mich wieder gänzlich beruhigte. Auch bei wiederholtem Hinsehen konnte ich keine Unterschiede zwischen meiner Karte und der Karte am Bild feststellen. Es war tatsächlich dieselbe Karte und sie stand in eindeutiger Verbindung mit den größten Naziverbrechern der Geschichte. Ein schlurfendes Geräusch ließ mich hochschrecken, irgendjemand geisterte im Flur herum und als ich schon nachsehen wollte, stolperte plötzlich Franz ins Zimmer. Er blickte mit seinen glasigen Augen etwas verwirrt durch die Gegend. Es war offensichtlich, dass er nicht genau wusste, wo er war und geistesgegenwärtig kam mir eine verrückte Idee.

„Soldat, was machen Sie hier?“, herrschte ich ihn mit einem befehlsartigen Ton an.

Seine Reaktion darauf war einfach unglaublich. Der alte Körper reckte sich plötzlich mit einem gewaltigen Ruck in die Höhe und stand völlig stramm im Raum. Mit weit aufgerissen Augen streckte Franz die rechte Hand in die Höhe und schrie laut und entschlossen: „Heil Hitler! Ich habe heute Wachdienst, Herr General!“

Etwas verunsichert, wie es jetzt weitergehen sollte, legte ich mir eine der Decken über die Schulter und blieb etwas im Schatten, damit er mich nicht erkennen konnte.

„Kommen Sie her, ich brauche Informationen.“

Franz zeigte eine Schnelle und Dynamik in seiner Bewegung, die aufgrund seines Alters und seiner Erkrankungen fast schon unglaublich waren. Er marschierte direkt zu mir und blieb wie ein Pflock stehen.

„Soldat, kennen Sie dieses Bild?“

Ich hielt ihm die Fotografie mit der Karte dicht vor die Augen. Sein Blick war starr darauf gerichtet und man konnte die Konzentration in seinem Gesicht erkennen.

„Ja, Herr General, ich kenne dieses Bild.“

„Und die Karte? Kennen Sie diese Karte, die hier im Hintergrund ist?“

„Ja, Herr General, die Karte kenne ich.“

Ich wusste, dass ich jetzt vorsichtig sein musste und darum lenkte ich das seltsame Gespräch in eine andere Richtung.

„Sehr gut, Soldat! Wir sind sehr zufrieden mit Ihnen. Sie leisten gute Dienste für den Führer.“

Ein unheimlich befriedigender Ausdruck lag nun auf seinem Gesicht und ich spürte, dass er komplett in die Vergangenheit eingetaucht war.

„Soldat, wo haben Sie die Karte hingebracht?“, war meine nächste Frage, doch zu meiner Enttäuschung kam keine Antwort. Franz stand nur da und blickte mich mit starren Augen an. Als ich schon zu überlegen begann, wie ich die Situation wieder auflösen und ihn wieder in die Gegenwart zurückholen konnte, packte er mich fest am Arm.

"Kommen Sie, Herr General, kommen Sie! Ich habe die Sachen, wie befohlen, gut versteckt.“

Er zog mich mit einer unglaublichen Stärke und Schnelligkeit quer durch das Haus und wirkte hypnotisiert. Ich hatte zwar schon gesehen, welche Kräfte und Fähigkeiten man in solchen Zuständen entwickeln kann, aber trotzdem war es eine beängstigende Situation. Franz fühlte sich in diesem Moment wahrscheinlich wie ein knapp zwanzigjähriger Soldat und somit auch am Höhepunkt seiner körperlichen Stärke. Die Geschwindigkeit, mit der wir über die Kellerstiegen hinuntersprangen, war atemberaubend. Wir durchquerten einige Räume, welche von oben bis unten mit Ramsch zugemüllt waren und man konnte sehen, dass die beiden hier schon eine sehr lange Zeit wohnten. Vor einem großen Regal mit diversen Essensvorräten blieben wir stehen. Es war ein Raum mit einem sogenannten Erdboden. Kellerräume wurden früher so gebaut, weil man glaubte, dass dadurch eingelagerte Kartoffeln, Äpfel etc. frischer und haltbarer blieben, aber der Beweis dafür hinkte etwas. Franz schnappte sich einen Besen und begann damit die Erde in der hinteren Ecke des Raumes wegzufegen. Es dauerte nicht lange und man konnte ein Holzbrett erkennen. Ich wollte Franz nicht zumuten dieses Brett allein wegzuheben, darum bückte ich mich selbst und schob es beiseite. Unter dem Brett war ein Loch mit einer alten Munitionskiste. Als ich auch diese Kiste hochheben wollte, zischte Franz.

„Warten Sie, Herr General! Die Sicherung ist noch eingeschaltet.“

Er zog neben der Kiste an einer Schnur, die gut getarnt im Erdboden versteckt lag. Sie ging quer durch den Raum zu einer Box, die in einem der hintersten Vorratsregale stand. Ganz vorsichtig öffnete er sie und als ich den Inhalt sah, stockte mir der Atem. Die Box war gefüllt mit einigen bräunlichen Stangen, die stark an Dynamit erinnerten, sowie fünf Handgranaten. An einer dieser Granaten hing die besagte Schnur direkt am Auslöser. Nicht nur die Tatsache, dass hier uralte Munition vor uns lag, jetzt hantierte auch noch ein alter, dementer Mann damit herum. Während ich nur mehr auf eine Explosion und somit auf meinen Tod wartete, wickelte Franz die Schnur geschickt vom Auslöser und schloss die Box mit höchster Vorsicht wieder.

„Alles in Ordnung, Herr General! Jetzt ist es sicher.“

Langsam, aber trotzdem misstrauisch, hob ich die Kiste hoch und stellte sie auf die alte Werkbank rechts neben uns. Sie hatte kein Schloss oder sonst irgendeinen Verschluss, aber das wäre ja wegen der Granaten überflüssig gewesen. Vorsichtig, fast schon ehrfürchtig, öffnete ich den Deckel. Im ersten Moment konnte ich nur einen roten Stoff erkennen. Franz hob ihn aus der Kiste und er entpuppte sich als große, zusammengefaltete Hakenkreuzfahne. Darunter lagen mehrere Orden, die wohl Franz selbst gehörten. Außerdem ein alter Revolver und einige seltsame Kapseln, die mich erschaudern ließen. Ich vermutete, dass es sich hier um Zyankalikapseln handelte, ein beliebtes Selbstmordmittel der Nazis. Mein ganzes Interesse richtete sich aber auf drei Papierrollen, die eher unscheinbar im Eck der Kiste lagen. Da jederzeit damit zu rechnen war, dass Franz aus seiner – ich nenne sie mal „Demenz-Trance“ – aufwachte, schnappe ich mir die Rollen und wollte sie erst später allein begutachten.

„Ist das alles Soldat?“, war meine Frage an Franz und dieser nickte.

Ich wollte schnell wieder aus dem Keller raus, darum gab ich ihm den Befehl: „Sichern und abrücken!“ So verschwand die Kiste wieder unter der Erde.

Als er die Schnur an der Kiste wieder aufspannte blieb mir erneut fast das Herz stehen, aber der alte Mann wirkte um 60 Jahre jünger und all seine Bewegungen waren flüssig und gezielt. Zusammen stapften wir die Stiege hinauf und begaben uns zurück ins Wohnzimmer. Franz setzte sich auf den großen Ohrensessel und es erschien plötzlich wieder der alte, gebrechliche, demente Mann, den ich kannte. Innerhalb von Sekunden wurden seine Augen klein und bevor ich noch etwas sagen konnte, schlief er einfach ein. Völlig aufgelöst ließ ich mich auf die Couch fallen und starrte einige Minuten auf den schlafenden alten Mann.

Was zum Teufel war hier in der Vergangenheit genau passiert? Aufgrund meiner geschichtlichen Kenntnisse wusste ich, dass sich Größen der Nazis in der Gegend um Lend zum Ende des Krieges versteckt hatten. Man vermutete, dass hier viele Raubschätze und diverse andere geheime Dinge versteckt oder für den Weitertransport verladen wurden. Göring selbst war damals mit einem sogenannten „Panzerzug“ in das verwinkelte Salzachtal geflüchtet und hatte den Zug im nahegelegenen Eisenbahntunnel versteckt. Der Zug wurde nach der Kapitulation im 40 Minuten entfernten Saalfelden gefunden. Er war völlig leer.

Franz schlief nun tief und fest im Sessel, sein lautes Schnarchen ließ daran auch keinen Zweifel aufkommen. Ich fühlte mich unbeobachtet und somit entrollte ich das erste Papierstück auf dem Tisch. Es war eine auf Englisch geschriebene Urkunde und einige Stempel am Schriftstück erleichterten mir die Zuordnung. Es handelte sich um eine Grundstücksurkunde mit dem Namen „Black Horizon“ und zu erkennen war ein Gelände in den USA mit einer Größe von mehreren Quadratkilometern. Zusätzlich zeigte eine kleine Abbildung die ungefähre Lage. „Black Horizon“ war mir absolut kein Begriff, da aber auch Koordinaten angegeben waren, würde ich die Fläche später zu Hause am Computer finden. Die Unterschrift auf der Urkunde war unmöglich zu entziffern, aber ich wusste jetzt schon, dass es sich hier um einen kleinen Schatz handelte und vielleicht konnte ich auch die Unterschrift mithilfe des Internets einer Person zuordnen.

Das zweite Schriftstück war enttäuschend, es zeigte nur die genauen Grundstückgrenzen der anderen Urkunde.

Die dritte Schriftrolle hatte nur drei Zeilen, aber diese waren mehr als interessant. Eine Zeile konnte ich sofort als Koordinaten des Grundstückes in den USA zuordnen. Auch die restlichen zwei Notizen waren zwar eindeutig Koordinaten, aber es fehlten einige Angaben. Leider hatte mein Handy keinen Empfang, durch den Sturm war wohl eine der Verbindungen ausgefallen, aber ich würde versuchen, sie zu Hause am Computer zuzuordnen. Darum packte ich die Rollen in meinen Rucksack.

Die kleine Kuckucksuhr zeigte schon 11 Uhr als ich Franz sanft weckte und ihn ins Schlafzimmer führte. Er sagte kein Wort und wirkte weggetreten. Erna bemerkte nichts, als sich der alte Mann neben sie in das Bett legte und innerhalb von Sekunden wieder in einen tiefen Schlaf fiel. Auch ich legte mich zurück auf die Couch und trotz tausender Gedanken, die durch meinen Kopf schossen, schlief ich schnell ein und wachte erst wieder auf, als Erna mit einem leckeren Stück Kuchen und einem duftenden Kaffee vor mir stand.

IVDie Koordinaten und der Tod

Der Schneefall hatte in den frühen Morgenstunden nachgelassen und der Feuerwehr war es tatsächlich gelungen, die Straße wieder freizubekommen. Ich konnte es kaum erwarten, den heutigen Samstag mit dem Recherchieren zu verbringen, darum verbarrikadierte ich mich zu Hause und schnappte mir, zusammen mit dem eingepackten Kuchen von Erna, eine große Thermoskanne Kaffee und startete meinen Computer.

Ich holte die Karte unter meinem Bett hervor und untersuchte sie genauer. Sie zeigte fünf eingezeichnete Kreise: drei blaue, zwei rote und jeder hatte eine kleine Kennzeichnung. Als ich die Aufzeichnungen auf den Schriftstücken sah, kam mir eine Idee. Aufgrund der Schreibweise konnte ich erkennen, dass sowohl die Kreise auf der Karte als auch die Koordinaten auf dem Manuskript von ein und derselben Person geschrieben sein mussten. Führte man jetzt beide Teile zusammen, ergaben sie eine sinnvolle Koordinatenreihe und ich war mir sicher, dazu etwas im Internet zu finden. Es war also wichtig, dass man Karte und Manuskript besaß. Hatte man nur einen Teil, konnte man keine genauen Zielpunkte erkennen.

Eine kurze Überprüfung am Laptop zeigte mir, dass ich auf dem richtigen Weg war, denn als ich alle fünf Ringe mit den Teilen der Niederschriften verglich, konnte ich die beiden auf der Karte rot markierten Kreise sofort zuordnen.

Doch zu Beginn sah ich mir das Grundstück in den USA an. Da die Karte nur die damalige Ostmark und das Deutsche Reich zeigte, war das Gebiet natürlich nicht mit einem Kreis markiert. Es war auch der einzige Zielpunkt, dessen Koordinaten vollständig auf dem Schriftstück vorhanden waren. Anhand der vorliegenden Daten konnte ich es schnell im Internet ausfindig machen. Es handelte sich um ein Gebiet mitten in den USA mit einer Größe von etwa zwanzig Quadratkilometer. Als ich versuchte das Bild zu vergrößern, um zu sehen, was sich auf dem Grundstück befand, musste ich feststellen, dass es keine scharfen Aufnahmen davon gab. Je näher ich zoomte, desto verschwommener wurden die Aufnahmen und es war absolut unmöglich etwas zu erkennen. Auch weitere Versuche etwas Genaueres über das Gebiet zu erfahren, schlugen fehl und ich vermutete, dass es sich um militärisches Sperrgebiet handelte. Auf alle Fälle war die Sache sehr dubios und das feierte ich natürlich innerlich, denn ich war eindeutig etwas Geheimnisvollem auf der Spur. Gepackt von großer Neugierde, begutachtete ich sofort die Koordinaten der ersten roten Kreismarkierung auf der Karte. Sie brachten einen absoluten Volltreffer, denn sie markierten einen genauen Punkt in Berlin. Es war das Hotel Adler in der Niederkirchnerstraße und die Verbindung zu den Nazis war sofort hergestellt. In dieser Straße hatten einige wichtige Zentralen der Nationalsozialisten ihren Hauptsitz, so auch die gefürchtete SS, deren Chef Himmler ja auf dem Foto in dem Fotoalbum von Franz abgebildet war. Auch ein Bezug zum Hotel war schnell gefunden, denn Himmler hatte anscheinend während seiner Aufenthalte in Berlin einige Zeit in diesem Hotel gewohnt. Laut meiner Recherche im Internet war das Hotel immer noch in Betrieb, es hatte nur einige Namensänderungen hinter sich. Es war also ein absoluter Jackpot und ich sah mich schon in Kürze in diesem Hotel einchecken, um eventuell einen verborgenen Schatz zu finden.

Doch den absoluten sprichwörtlichen Vogel schossen die nächsten Koordinaten ab. Sie markierten einen Punkt, keine dreißig Kilometer von mir entfernt. Dieser Punkt befand sich im Tennengebirge im Salzburger Land, in der sogenannten Wengerau. Eigentlich konnte man am Computer nur einen Wald sehen, es war weit und breit nichts Besonderes zu erkennen, aber trotzdem klopfte mir mein Herz bis zum Hals. In weniger als zwanzig Minuten würde ich diesen Ort erreichen und eigentlich wollte ich auf der Stelle losfahren, um meine Suche zu beginnen. Es lag jedoch mindestens eineinhalb Meter Schnee in diesem Gebiet und bis Anfang des Frühlings war es schwierig zu erreichen. Trotzdem wollte ich mir bei Wetterbesserung meine Tourenski schnappen und nachsehen, was genau sich an diesem Punkt befand.

Bis tief in die Nacht recherchierte ich weiter, aber die vorhandenen Informationen waren eher dürftig und so konnte ich nichts Neues mehr über die gefundenen Orte erfahren. Aber trotzdem: Es wünscht sich wohl jeder Mensch, dass er einmal in seinem Leben in ein unglaubliches Abenteuer stolpert und so wie es aussah, war ich gerade mitten drinnen. Es gab eine unendlich lange Liste an Möglichkeiten, die infrage kamen. Ein Schatz, irgendwelche wichtigen Dokumente, eventuelle Fluchtorte oder sogar das legendäre Bernsteinzimmer waren mir in den Sinn gekommen. Auf alle Fälle war eines klar, ich würde alles daran setzen so viel wie möglich herauszufinden, denn vielleicht konnte es mich etwas aus meinem kleinen, tristen Leben herausholen.

Leider spielte das Wetter auch am nächsten Tag nicht mit. Den kompletten Sonntag verbrachte ich mit dem Lesen von Dokumenten und Berichten, die eventuell mit den Orten oder den Nazis in Verbindung stehen könnten. Jedoch fand ich keinen einzigen Hinweis, der sich irgendwie mit meinen gefundenen Informationen in Verbindung bringen lassen konnte. Die Zeit von Montag bis Donnerstag war wieder vom gewöhnlichen Arbeitsalltag geprägt und der machte mich so fertig, dass meine einzigen Ziele am Abend nur noch die Couch und dann das Bett waren. Erst der Freitag versprach Abwechslung, denn da stand wieder mein wöchentlicher Termin bei Franz an der Tagesordnung.

Vielleicht sollte man die folgenden Ereignisse dramatisch einleiten, aber dieser Freitag begann wie jeder normale Arbeitstag, wenn man meine Tätigkeiten überhaupt als normal bezeichnen konnte. Ich arbeitete meine verschiedenen Klienten fast roboterartig ab und erst als sich mein Wagen wieder die schmale Bergstraße in Richtung Franz bewegte, wurden mein Körper und Geist hellwach. Vielleicht konnte ich im Haus noch den einen oder anderen Hinweis finden. Es wirbelten in meinen Kopf viele Ideen herum, wie ich Franz weitere Informationen über die Karte entlocken konnte.

Oben angekommen, fiel mir sofort ein alter, schwarzer Mercedes mit Münchner Kennzeichen auf. Sein Lack war so perfekt poliert, dass das Auto in der Sonne wie frisch aus der Fabrik glänzte. Der Wagen stand nicht direkt vor dem Haus des alten Ehepaares darum kam ich zuerst nicht auf die Idee, dass sie einen Besucher haben könnten. Wie immer läutete ich nur kurz an der Klingel und betrat selbständig das Haus. Meistens hatte Erna bereits alles für die Pflege im Bad bereitgestellt und Franz wartete im Wohnzimmer, bis er von mir zum Duschen abgeholt wurde. Heute war es aber anders: Weder das Badezimmer war vorbereitet, noch traf ich Franz im Wohnzimmer an. Das kam mir sehr seltsam vor, denn normalerweise waren beide sehr verlässlich und wichen kaum von vertrauten Zeitplänen ab. Das Schlafzimmer der beiden war im ersten Stock des Gebäudes, darum war meine erste Idee, dass sie dort sein könnten. Ich stieg gerade die Stiege hinauf, als durch das Fenster ein Mann zu beobachten war, der vom Haus weg in Richtung des schwarzen Mercedes lief. Er schien es extrem eilig zu haben, denn kaum war er in das Auto gestiegen, brauste er schon davon. Ich hatte ihn weder im Haus gesehen noch irgendwelche Geräusche gehört. Es war mir also ein absolutes Rätsel, wo er überhaupt hergekommen war. Irritiert setzte ich meinen Weg fort, aber Franz und Erna waren auch im gesamten ersten Stock nicht aufzufinden. Auch mehrmaliges Rufen brachte kein Ergebnis und so führte mich meine Suche zurück ins Erdgeschoss. Erst jetzt bemerkte ich, dass die Kellertür geöffnet war. Das würde erklären, warum die beiden nicht auf meine Rufe antworteten. Wahrscheinlich werkten sie im Keller herum und hatten meine Ankunft nicht bemerkt.

„Hoffentlich ist ihnen das Fehlen der Schriftrollen nicht aufgefallen“, schoss es mir durch den Kopf und etwas nervös stieg ich die Stiegen in den Keller hinunter.

Aus dem Raum mit dem Erdboden drang Licht, ein leises Wimmern war zu hören. Langsam öffnete ich die Türe und der folgende Anblick raubte mir den Atem. Erna lag mitten in einer gewaltigen Blutlache am Boden. Dort, wo normalerweise ihr Gesicht war, klaffte ein gewaltiges Loch. Ungeachtet dessen, was passiert war, war mir aufgrund der Schwere der Verletzung sofort klar, dass sie nur tot sein konnte. Doch die Situation wurde immer schrecklicher, denn Franz stand völlig nackt neben ihr und starrte mir direkt ins Gesicht. Er hatte eine große Schnittwunde, die quer über seinen gesamten Bauch führte und mitten auf seiner Stirn hing sein Abzeichen des Schwarzen Kreuzes. Es war mit einem kleinen Nagel in seinen Kopf geschlagen worden. Franz wimmerte leicht und erst jetzt erkannte ich die kleine Schnur, die um seinen Hals gewickelt war. Meine Haare im Nackten stellten sich kerzengerade auf, als ich erkannte, dass sie immer noch mit der Kiste mit den Handgranaten und dem Dynamit verbunden war. Es war klar, dass wir uns in absoluter Lebensgefahr befanden und gerade als ich ihm zu Hilfe eilen wollte, um die Schnur abzunehmen, kippte Franz plötzlich nach vorne auf seine Knie. Die Schnur spannte sich und man hörte ein leises Klicken aus der Box.

Franz sah mich mit einem müden Blick an und sprach nur ein einziges Wort: „Lauf!“

Panisch stürzte ich die Stiege hinauf, doch bevor ich oben angelangt war, gab es einen riesigen Knall. Eine gewaltige Druckwelle erfasste mich und schleuderte mich die letzten Stufen hinauf, worauf ich mit voller Wucht gegen die Wand knallte. Kurz bevor ich mein Bewusstsein verlor, sah ich noch, wie sich das gesamte Gebäude in Bewegung setzte und große Teile über mir zusammenbrachen.

VRekonstruktion

Eines der schlimmsten Gefühle, die ich je hatte, war das Erwachen aus der Narkose nach meiner Blinddarmoperation. Diese absolute Leere, dieses Fehlen von Erinnerungen und der absolute Verlust des Bewusstseins hatten mir damals schon Angst gemacht. So stellte ich mir den Tod vor – das absolute Nichts. Ebenso fühlte es sich an, als ich nach der Explosion im Krankenhaus aufwachte. Es war 23:42, als sich meine Augen öffneten und der erste Blick genau die Wanduhr traf. Neben meinem Bett standen etliche piepsende Monitore und als Mann vom Fach war mir sofort bewusst, dass ich auf der Intensivstation eines Krankenhauses lag. Mein ganzer Körper schmerzte, aber eine kurze Selbstdiagnose ließ mich etwas aufatmen. Alles war noch da, wo es sein sollte und Gott sei Dank funktionstüchtig, auch wenn jede Bewegung einer kleinen Folter gleichkam. Überraschenderweise war mir auch völlig klar, warum ich hier im Krankenhaus lag. Jede einzelne Sekunde der Geschehnisse im Haus von Erna und Franz war mir jetzt wieder bewusst geworden und mit Schaudern sah ich das Gesicht des sterbenden Mannes vor mir.

Der erste Versuch aufzustehen, ging kläglich in die Hose und endete damit, dass eines der Geräte Alarm schlug. Sofort wuselte eine etwas ältere und furchtbar dicke Krankenschwester auf mich zu. Es war bewundernswert, wie galant sie ihren voluminösen Körper zwischen den verschiedensten Hindernissen hindurch manövrierte.

„Na, junger Mann? Wieder zurück in der Realität?“

Mehr als ein Grinsen schaffte ich noch nicht, aber das schien ihr zu reichen.

„Zwei Tage, mein Junge. Zwei Tage warst du ausgeschaltet, aber versäumt hast du nichts. Außer natürlich den furchtbaren Tod der armen Alten. Wie ist denn das geschehen? Du warst ja mitten drinnen, erzähl mal!“

Völlig überfordert über ihren Redeschwall kam nur ein Gestammel aus dem Mund.

„Ach, du bist ja noch völlig neben der Spur, Junge. Ich bring dir erst mal was zu essen.“

Und schon war sie wieder verschwunden. Zwei Tage hatte sie gesagt, also musste heute Sonntag oder vielleicht Montag sein. Bevor ich aber weiter darüber nachdenken konnte, kam eine weitere Schwester. Sie war deutlich ruhiger und sagte im ersten Moment nichts. Erst nach einer Weile, sie hatte in der Zwischenzeit meinen Blutdruck und Puls kontrolliert, fragte sie, wie es mir geht. Nachdem aus meinem Mund immer noch kurze und schmerzverzerrte Laute kamen, nickte sie nur und drückte auf eines der Geräte neben dem Bett.

Es dauerte nicht lange und plötzlich durchfloss mich ein Gefühl der absoluten Entspannung. Die Schmerzen ließen nach und ich fühlte mich wie auf Wolke Sieben schwebend. Alles war wie in Watte verpackt und als die dicke Schwester mit dem Essen kam, ließ ich mich mit einem breiten Grinsen bereitwillig füttern. Nach dem Essen überkam mich eine große Müdigkeit. Während die Schwester wie ein Wasserfall schwafelte, schlief ich irgendwie zufrieden ein.

Ein seltsamer Traum begleitete mich in dieser Nacht. Ein schwarzer Mercedes verfolgte mich quer durch die Turnhalle meiner alten Schule und bei jedem Versuch die Eingangstüre zu erreichen, stoppte mich eine rote Ampel und zwang mich erneut durch die Halle zu laufen. Ich wollte um Hilfe schreien, aber aus meinem Mund kam kein einziger Laut. Es war wie ein Labyrinth ohne Ausweg. Erst als das Schmerzmittel nachließ, wachte ich völlig durchgeschwitzt wieder auf.

Ich fühlte mich deutlich besser und grundsätzlich hatte sich mein Allgemeinzustand etwas stabilisiert. Die Maschinen, die am Vortag noch neben meinem Bett gestanden hatten, waren verschwunden. Überhaupt bemerkte ich schön langsam, dass sich das gesamte Zimmer verändert hatte. Augenscheinlich war ich auf eine ganz andere Station verlegt worden und ein suchender Blick durch das Zimmer zeigte, dass es sich wohl um ein Einzelzimmer handelte.

„Gott schütze die private Unfallversicherung!“, war mein erster Gedanke zur Lage und langsam versuchte ich mich aufzurichten. Zu meiner großen Überraschung hielten sich die Schmerzen in Grenzen und auch der Versuch komplett aufzustehen, war von Erfolg gekrönt. Gegenüber vom Bett war ein Waschbecken an der Wand angebracht, das hatte ich mir als Ziel festgelegt. Die ersten Schritte waren zwar etwas wackelig, aber es funktionierte. Langsam näherte sich das Waschbecken, als mich plötzlich ein grauenhafter Schmerz zwischen den Beinen durchfuhr. Die Art und Weise des Schmerzes lässt sich schwer beschreiben, aber es war einer der heftigsten, den ich je verspürt hatte. In der Absicht mein Gesicht im Spiegel zu sehen, hatte ich auf den am Bett fixierten Blasenkatheter vergessen. Nun spannte sich der Schlauch, der meinen Penis mit dem Kathetersack verband und ließ ein lautes „Fuck!!“ aus mir entweichen. Ich taumelte ein paar Schritte zurück und genoss den Moment, als der Schmerz endlich nachließ. Verärgert über meine eigene Dummheit, hängte ich den Sack an meinen Hosenbund und schlurfte endlich zum Waschbecken.

Der Blick in den Spiegel ergab zunächst ein Gesicht voller Schürfwunden und Kratzer. Ziemlich erschreckend war eine Naht, die sich quer über mein linkes Auge bis in die Mitte der Wange zog. Es war offensichtlich, dass ich nur um wenige Millimeter mein Augenlicht nicht verloren hatte. Die Naht war groß und es war mir sofort klar, dass diese Narbe nie ganz verschwinden würde. Ich musste an den Onkel aus dem Zeichentrickfilm „Der König der Löwen“ denken. „Scar“ oder „Scarface“ würden mich ab jetzt die Menschen nennen, schoss es mir durch den Kopf. Mit solchen, leicht abstrusen Gedanken kletterte ich wieder zurück ins Bett, war aber im Grunde heilfroh, dass ich am Leben war. Mit einer verwegenen Narbe im Gesicht konnte ich gut leben.

In den nächsten Tagen ging es mir schnell besser und somit streifte ich quer durch das Krankenhaus, um Zeitungen zu finden, die über die Explosion berichteten. Alle vermuteten, dass der alte Franz Weltkriegsmunition gehortet hatte und dass sich diese aufgrund des Alters, von selbst gezündet hatte. Auch meine Wenigkeit wurde mit einem grauenhaft alten Foto in den Berichten erwähnt. Sie schrieben, dass ich als Pfleger einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen wäre und so Unrecht hatten sie damit ja gar nicht.

Es dauerte etwas, bis sich der erste Besuch einstellte. Da mein Kontakt zur Familie schon vor geraumer Zeit erloschen war und alle meine sogenannten Freunde ausschließlich per Handy mit mir kommunizieren, war es die liebe Polizei, die mir den ersten Besuch abstattete. Ich hatte sie schon erwartet und lange darüber nachgedacht, was ich ihnen genau erzählen wollte. Aufgrund der Tatsache, dass ich hier eindeutig etwas Geheimnisvollem auf der Spur war und die ganze Sache vielleicht mein ganzes Leben verändern würde, gab es für mich nur eine Option. Auf die Frage, ob ich mich an etwas erinnern konnte, gab ich an, dass die Berichte in den Zeitungen stimmten.

„Nachdem ich das Haus betreten hatte, hörte ich Stimmen im Keller und auf dem Weg nach unten gab es die Explosion. Warum und wieso konnte ich mir beim besten Willen nicht erklären.“

Ich gab noch an, dass Franz öfters von seiner Zeit in der Wehrmacht erzählt hatte und lenkte somit alles auf die Theorie mit der selbstzündenden Munition. Die Polizisten selbst waren sehr freundlich und gaben mir auch noch einige kleine Details der aktuellen Ermittlungen bekannt. Man hatte von dem alten Ehepaar nur mehr Einzelteile gefunden. Ich wurde unter den Trümmern von der Feuerwehr gerettet und das gesamte Haus sei mittlerweile aufgrund der Einsturzgefahr komplett abgerissen worden. Nachdem sich mein Bericht auch für die Beamten sehr schlüssig angehört hatte, kamen keine weiteren Fragen mehr und sie wirkten beim Abschied zufrieden.

Auf den Besuch meiner Chefin hatte ich mich auch gut vorbereitet. In dem Wissen, dass ich einige Zeit für meine Nachforschungen benötigte, gab ich mich ihr gegenüber völlig geknickt und entsetzt über das Ableben des armen Ehepaares. Mein Ziel war es, den Eindruck einer posttraumatischen Belastungsstörung zu vermitteln und ich war dabei noch erfolgreicher als angenommen. Bevor ich überhaupt darum bitten musste, bot mir meine Chefin eine Auszeit von zwei Monaten bei einer Gehaltsfortzahlung von 70 % an. Bei Bedarf sollte ich einen Psychologen kontaktieren und einmal in der Woche wollte sie eine kurze Nachricht über meinen aktuellen Gesundheitszustand haben.

Innerlich ballte ich die Fäuste, aber äußerlich sah ich sie nur traurig an und bedankte mich für die Rücksicht und Unterstützung.

Am Abend rechnete ich dann alles zusammen. Mit dem verbleibenden Krankenstand hatte ich jetzt fast drei Monate Zeit, um mich um die gesamte Geschichte zu kümmern. Zusammen mit dem Geld, das ich von der Versicherung erhielt und meinen Ersparnissen stand auch ein oder zwei Reisen nichts im Weg. Es schien so, als wollte die Welt, dass ich dem Geheimnis der Nazis auf die Schliche komme.

VIIn der Wengerau

Zehn Tage nach der Explosion wurde ich, nachdem mich mein behandelnder Arzt noch einmal von oben bis unten durchgecheckt hatte, wieder entlassen. Meine Kopfverletzungen hatten keine gröberen Langzeitschäden verursacht, nur mit der Narbe im Gesicht würde ich wohl leben müssen. Im Moment sah sie noch monströs und frankensteinmäßig aus. Laut dem Arzt würde sie mit der Zeit zwar sichtbar bleiben, aber keine kosmetischen Nachteile bringen. Wir waren uns sogar beide einig, dass sie eventuell in puncto Frauen einen gewissen Verwegenheitsfaktor hatte und eine kleine Unterstützung beim Flirten sein konnte.

Zu Hause angekommen, ließ ich keine Zeit verstreichen. Noch hatte ich zwei Wochen Krankenstand abzusitzen, aber es war mir erlaubt zwischen zehn Uhr vormittags und vier Uhr nachmittags meine Wohnung zu verlassen. Bis auf Kopfschmerzen, die sich mehr oder weniger oft am Tag meldeten, war ich topfit und so plante ich meine nächsten Schritte, um endlich in dieser Geschichte weiterzukommen.

Der erste Weg führte selbstverständlich nach Lend, zum Haus von Erna und Franz. Völlig verdutzt stand ich dort, wo vor Kurzem noch ihr Haus gestanden hatte. Es war nichts mehr da, weder ein Schutthaufen noch ein Loch, nicht einmal der Gartenzaun war noch vorhanden. Das gesamte Gelände war aufgeräumt worden und eine Planierraupe hatte zusätzlich alles mit frischer Erde zugedeckt. Im Sommer würde Gras wachsen und wenn man es nicht wüsste, würde nichts an die frühere Anwesenheit eines Gebäudes erinnern. Ich war sehr verwundert mit welcher Geschwindigkeit und Präzision die Spuren entfernt wurden und mir kam der schwarze Mercedes in dem Sinn. Ich hatte so ein Gefühl, dass sich etwas Großes im Hintergrund abspielen musste und ehrlich gesagt war ich davon völlig elektrisiert und voller Gier auf Abenteuer.