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Ein naseweises Kätzchen auf der Suche nach dem Glück
Die Katze des Dalai Lama ist zurück! Neugierig wie eh und je und immer noch sehr von sich selbst überzeugt, lauscht sie gespannt den Ausführungen Seiner Heiligkeit, wenn sich Ratsuchende und Staatsoberhäupter die Klosterklinke in die Hand geben. Dass so etwas auf Dauer nicht ohne Folgen bleiben kann, ist klar. So stürzt sich das Kätzchen in das große Abenteuer, um endlich die vier Geheimnisse des Glücks zu entschlüsseln – und lässt sich dabei weder von streunenden Straßenkatern noch von einer eingewachsenen Kralle aufhalten …
Auf wunderbar leichte und vergnügliche Art vermittelt uns die Katze des Dalai Lama die Essenz buddhistischer Weisheit. Eine bezaubernde Lektüre für alle Menschen, die auf der Suche nach Glück, Sinn und Erfüllung sind.
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Seitenzahl: 293
David Michie
Die Katze des Dalai Lama und
die vier
Geheimnisse
des Glücks
Roman
Aus dem Englischen übersetzt
von Kurt Lang
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Dalai Lama’s Cat and The Four Paws of Spiritual Success« im Verlag Conch Books, an imprint of Mosaic Reputation Management, Ltd.
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Lotos Verlag
Lotos ist ein Verlag der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.
ISBN 978-3-641-26338-6V002
Copyright © 2019 by Mosaic Reputation Management (Pty) Ltd
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Lotos Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Annegret Scholz
Alle Rechte sind vorbehalten.
Einbandgestaltung: Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von © Lucie K / Shutterstock; © Arijeet Bannerjee / Getty Images; © phatthanit_r / Getty Images; © klerik78 / Getty Images
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
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Widmung
Mit herzlichem Dank an meine geschätzten Gurus: Les Sheehy, ein außergewöhnlicher Quell der Inspiration und Weisheit;
Geshe Acharya Thubten Loden, unerreichter Meister und Verkörperung des Dharma;
Zasep Tulku Rinpoche, edler Vajra Acharya und Yogi.
Guru ist Buddha, Guru ist Dharma, Guru ist Sangha,
Guru ist die Ursache allen Glücks.
Ich verneige mich vor allen Gurus, suche bei ihnen Zuflucht und bringe ihnen Opfer dar.
Möge durch dieses Buch die Inspiration, die ich von meinen Gurus erhalten habe,
Herz und Geist unzähliger Lebewesen erfüllen.
Auf dass alle Geschöpfe Glück und die wahren Ursachen des Glücks erfahren.
Auf dass alle Lebewesen frei von Leid und den wahren Ursachen des Leids sein mögen.
Auf dass alle Geschöpfe Glück ohne Leid erfahren – die große Freude und Befreiung des Nirwana.
Auf dass alle Geschöpfe in Ruhe und Frieden leben können, dass ihr Geist frei sei von Last und Zorn und frei von Gleichgültigkeit.
Prolog
Liebe Leser, gehört die Neugier auch zu euren Wesenszügen? Angenommen, ihr schleicht an einer Nische vorbei, vor der ein Vorhang hängt. Drängt es euch nicht instinktiv danach, den Stoff beiseitezuschieben – oder vielmehr, darunter hindurchzukriechen – und nachzusehen, was sich dahinter verbirgt?
Wenn ihr eine wohlvertraute Straße entlanggeht und an einer Tür vorbeikommt, die seit Jahr und Tag verschlossen war, heute aber einen Spalt weit offen steht – würdet ihr nicht innehalten und interessiert hineinschauen? Oder wenigstens aus den Augenwinkeln einen Blick hineinwerfen? Was, wenn sich hinter dieser Tür ein geheimnisvoller Flur befindet, der in einen verwunschenen Innenhof oder womöglich einen von Lampenlicht erhellten, mit allen möglichen Kuriositäten vollgestellten Raum führt? Wärt ihr nicht versucht, ihn zu betreten?
Keine Sorge, ich erwarte von euch keine Antwort auf diese Fragen. Ich kenne sie bereits. Das nämlich haben wir gemeinsam, ihr und ich. Der profane Alltag kann uns nicht zufriedenstellen – solche Leser seid ihr nicht, und ich bin auch keine solche Katze! Wir verfügen über aufgeweckte Geister, nicht wahr? Wir stellen Fragen. Entdecken neue Dinge. Wenn wir einen leeren Pappkarton mitten im Raum stehen sehen, sind wir die Ersten, die hineinspringen.
All das meine ich nicht ausschließlich wörtlich, wie ihr euch wahrscheinlich schon gedacht habt. Und das ist ein weiterer Punkt, den wir gemeinsam haben, ihr und ich: Auch wenn wir äußerst tiefschürfenden Dingen auf den Grund gehen, wollen wir dabei unseren Spaß haben. Warum immer nur auf einer Ebene kommunizieren, wenn wir doch die Fähigkeit besitzen, uns mehrdeutig auszudrücken? Das wäre doch sterbenslangweilig.
Von allen Themen, die unsere Neugier erregen, bringt eines unseren Schwanz so richtig zum Zucken und die Schnurrhaare zum Zittern – ich spreche selbstverständlich von unserer letztendlichen Bestimmung: tiefster Glückseligkeit. Was ist unser Schicksal, liebe Leser, und wie können wir es in diesem Leben und dem, das danach folgt, beeinflussen? Ist die Natur unseres Geistes tatsächlich strahlend, grenzenlos und von heiterer Gelassenheit? Und wenn ja, wie können wir diese außergewöhnliche Realität erfahren?
Antworten auf diese Fragen kann eine Katze wie ich an verschiedenen Orten finden, so zum Beispiel an einem meiner absoluten Lieblingsplätze und gleichzeitig einem Hort großer Weisheit: dem Himalaja-Buchcafé, das sich gleich in der Nähe des Namgyal-Klosters befindet, wo ich mit Seiner Heiligkeit wohne. In den Regalen der an das Café angeschlossenen Buchhandlung findet sich ein wahrer Schatz an spiritueller und esoterischer Lektüre, darunter auch Weltbestseller mit Titeln wie: Die sechs Gesetze des Dies, Die sieben Prinzipien des Das oder Die Acht Regeln des Sonstwas.
Ich muss sie nur ansehen, schon bin ich reif für ein Nickerchen. Ich will mir gar nicht vorstellen, was es für ein Aufwand wäre, diese ernsten Bücher durchzuackern und sich womöglich auch noch alles zu Herzen zu nehmen, was drinsteht – von der Umsetzung der vielen Gesetze, Prinzipien und Regeln im alltäglichen Leben ganz zu schweigen. Ob es wirklich Menschen gibt, die alles, was sie tun, mit einer mentalen Checkliste abgleichen, die ihrerseits mit jedem neuen Ratgeber, der die Bestsellerlisten stürmt, länger und länger wird?
Das alles kommt mir sehr kompliziert vor. Unnötig kompliziert. Immerhin sitze ich jeden Tag auf der Fensterbank und lausche den Weisheiten, die Seine Heiligkeit unzähligen Besuchern offenbart. Der Dalai Lama ist niemals kompliziert. Seine Besucher verlassen sein Büro nicht mit einem Lebensrezept, auf dem ihnen sechs von diesen Regeln und sieben von jenen verordnet wurden wie bunte Pillen, die täglich einzunehmen sind. Im Gegenteil – der Dalai Lama pflegt für gewöhnlich sehr einfache Ratschläge zu geben. Wie eine berühmte Katze einmal gesagt hat (und das könnte durchaus ich gewesen sein): Einfachheit ist die höchste Form der Raffinesse.
Wenn man also auf der Suche nach Erleuchtung ist, kann man sich den Weg zu den Neuerscheinungen im Himalaja-Buchcafé sparen. Darum entschied auch ich mich dafür, zu Hause zu bleiben, und streckte mich auf der sonnenbeschienenen Fensterbank im ersten Stock aus, von wo man einen exzellenten Blick auf das Kommen und Gehen im Innenhof des Namgyal-Klosters hat – der ideale Aussichtspunkt, um so viel wie möglich mit so wenig Aufwand wie möglich zu beobachten.
Schon seit Jahren sitze ich an dieser Stelle und verfolge den Wandel der Jahreszeiten vor dem Fenster, während ich den Gesprächen seiner Heiligkeit im Raum hinter mir lausche. Und ebenso erhalte ich seit Jahren Komplimente für meine bezaubernden saphirblauen Augen, mein entzückendes kohlschwarzes Gesicht, mein üppiges, cremefarbenes Fell und meinen herrlich flauschigen grauen Schwanz.
Ich war noch ein winziges Kätzchen, als mich der Dalai Lama vor dem beinahe sicheren Tod rettete. Alles in den Privatgemächern Seiner Heiligkeit war neu und aufregend. In jenen frühen Tagen gab ich mich noch mit dem ersten Stock zufrieden – ein ausreichend großes Revier für so ein kleines, wenn auch neugieriges Wesen. Seither sind sieben Jahre vergangen, und inzwischen kenne ich nicht nur jeden Winkel in den Gemächern Seiner Heiligkeit und dem Namgyal-Kloster, sondern bin auch mit den interessanteren Orten der näheren Umgebung bestens vertraut.
Vor Kurzem ereilte mich – ungefragt – die Erkenntnis, dass mir auch die Gespräche, die um mich herum stattfinden, sattsam bekannt sind. Früher begegnete ich jedem Prinzen, Präsidenten und Popstar, der zu Besuch vorbeikam, mit derselben Neugier wie den Fragen, die sie auf dem Herzen hatten. Sie waren mir so neu und unbekannt wie die Gemächer des Dalai Lama, als ich noch ein ganz kleines Kätzchen war.
Sieben Jahre später weiß ich, dass jede Frage, die sie Seiner Heiligkeit stellen, nur eine Variation der immer gleichen Themen ist.
Doch dabei ist es weiß Gott nicht so, dass mich die Antworten des Dalai Lama auf diese Fragen langweilen. Im Gegenteil: Je vertrauter ich mit ihnen bin, desto tiefer berühren sie mein Herz. Jedes Mal, wenn Seine Heiligkeit mit seiner unverwechselbaren tiefen Stimme den Wert der liebenden Güte erklärt, spüre ich, wie mich genau diese Tugend erfüllt – als könne er sie in mir zum Vorschein bringen, indem er einfach nur darüber spricht. Wenn er den Kopf zurückwirft und lacht – und das tut er oft –, dann werden alle Anwesenden, ich eingeschlossen, unweigerlich von dieser Freude angesteckt. Und wenn er den Weg zur Erfüllung und zum inneren Frieden erklärt, überkommt mich ein so tiefes Wohlbehagen, dass ich es am liebsten mit allen Lebewesen, die Fell, Federn oder Flossen oder auch gar nichts davon besitzen, teilen möchte – auf dass wir alle unsere wahre Natur als greifbare, alles durchdringende Gewissheit erkennen.
Und noch etwas ist mir klar geworden: Der Grund, aus dem so viele Menschen den Dalai Lama aufsuchen, liegt nicht unbedingt in seinen Worten allein, sondern auch in der Art und Weise, wie sie sich in seiner Gegenwart fühlen. Worte und Erkenntnisse sind wichtig, um zu verstehen, weshalb der Dalai Lama so ist, wie er ist. Sie lehren uns, wie wir in uns dieselben Tugenden kultivieren können, die wir an ihm so bewundern. Noch lange nachdem seine Besucher auch das letzte Wort Seiner Heiligkeit vergessen haben, erinnern sie sich daran, wie er ihr Herz berührt hat. Und dafür lieben sie ihn.
Wenn sich eine Audienz dem Ende nähert, kommt es des Öfteren vor, dass der Besucher den Dalai Lama fragt, welches Buch er lesen solle, um den tibetischen Buddhismus besser zu verstehen. Dann bekommt er meistens ein einschlägiges Werk ausgehändigt – zum Beispiel Shantidevas Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattva. Oder der Dalai Lama empfiehlt ein anderes Buch oder bittet einen seiner Assistenten, den Gast auf dem Weg nach draußen mit weiterführenden Informationen zu versorgen.
Es würde mich durchaus interessieren, ob seine Gäste diese Bücher auch tatsächlich lesen. Mir kommt es oft so vor, als wäre die Frage nach einem geeigneten Buch eher die Bitte um ein Souvenir. Ein Andenken, damit die außergewöhnliche Flamme nicht verlischt, die durch seine Gegenwart entzündet wurde.
Eines Tages gegen siebzehn Uhr betraten Oliver und Tenzin, die beiden Assistenten Seiner Heiligkeit, das Büro zur abendlichen Besprechung. Bei dieser Gelegenheit pflegte Oliver – ein Engländer, der als Übersetzer Seiner Heiligkeit tätig war – zur allgemeinen Freude grünen Tee zu servieren. Tenzin, der nicht nur ein vollendeter Diplomat war, sondern auch als Assistent seiner Heiligkeit in spirituellen Angelegenheiten fungierte, saß seinem Chef gegenüber neben Oliver auf einem Sofa. Ich fläzte mich auf einem Sessel neben Seiner Heiligkeit.
»Unser amerikanischer Gast hat das Buch erhalten, das Ihr ihm empfohlen habt«, berichtete Tenzin. Früher am Nachmittag war ein bekannter Talkshow-Moderator zu Besuch gewesen.
Der Dalai Lama dachte einen Augenblick lang nach, dann zuckte er mit den Schultern. »Ein sehr nützliches Buch. Vielleicht liest er es ja. Obwohl, für ihn ist es nicht unbedingt ideal.«
Oliver und Tenzin wechselten einen vielsagenden Blick. Im Lauf der Jahre hatten sie schon oft darüber diskutiert, welches Buch sie den Besuchern empfehlen sollten.
Oliver beugte sich vor. »Was wäre denn ein ideales Buch, Eure Heiligkeit?«, fragte er. Als Westler sprach Oliver seine Gedanken oft etwas direkter und unverblümter aus als die anderen aus der engsten Umgebung des Dalai Lama.
Seine Heiligkeit nickte und dachte nach. »Es muss alle Schlüsselelemente des spirituellen Pfades beinhalten«, sagte er schließlich und beschrieb mit beiden Händen einen Kreis. Dann listete er besagte Elemente auf, mit denen ich natürlich längst vertraut war. Ich zählte mit. Es waren vier.
»Also eine Einführung?«, fragte Oliver.
Seine Heiligkeit hob mahnend die rechte Hand. »Aber zu einfach sollte sie nicht sein.« Er sah Oliver mit einem schelmischen Funkeln in den Augen an. »In den Sechzigern hielten wir Tibeter euch Westler noch für Barbaren. Nun ja, ganz so schlimm seid ihr offenbar doch nicht.«
Alle kicherten. Als die Lamas zum ersten Mal den Himalaja verließen und nach Europa, in die USA und nach Australien gingen, hatten sie nicht damit gerechnet, dass sich die ihrer Meinung nach hoffnungslos materialistischen Westler überhaupt für die Feinheiten der Geistesschulung, geschweige denn für die wahre Natur ihres Bewusstseins interessierten. Doch zu ihrer Verblüffung hatten sie sich geirrt.
»Anspruchsvoll und nicht vereinfachend also?«, fragte Oliver.
»Und …«, fuhr seine Heiligkeit fort, »mit einer Erklärung der eher mystischen Dinge.«
»Orakel, meint Ihr?«, fragte Oliver grinsend. »Telepathie?«
Ich drehte den Kopf, um besser zuhören zu können.
Der Dalai Lama nickte lachend.
»Astralreisen und so weiter?« Oliver ließ nicht locker.
Mir fiel auf, dass sich Tenzin nicht am Gespräch beteiligte. Obwohl er nach wie vor neben seinem Assistentenkollegen saß, war es, als wäre er mit dem Hintergrund verschmolzen, als hätte er sich völlig aus der Konversation zurückgezogen.
Seine Heiligkeit sah Oliver in die Augen. »Jetzt hast du schon so viele Bücher für mich übersetzt, vielleicht magst du zur Abwechslung ja mal eines schreiben?«
Und da begriff ich, weshalb Tenzin so schweigsam war.
Oliver hustete. Sein blasses Gesicht färbte sich rosarot. »Eure Heiligkeit!«, krächzte er.
»Mit den wichtigsten Themen bist du vertraut.«
»Ja, aber …« Oliver bekam einen weiteren Hustenanfall. Höchst ungewöhnlich, dass es diesem Mann – er war immerhin Übersetzer, der auch die differenziertesten und kompliziertesten Themen in Worte kleiden konnte – die Sprache verschlug.
Während Oliver noch keuchend um Atem rang, warf der Dalai Lama Tenzin einen verschmitzten Blick zu. »Und du könntest dir einen Titel ausdenken. Etwas …«, er suchte nach dem Wort.
»Griffiges?«, schlug Tenzin vor.
»Genau. Wie die Bücher am Flughafen.«
Da der Dalai Lama ständig auf Reisen war, kannte er die Buchläden an den Flughäfen selbstverständlich sehr gut. Seine Heiligkeit sah zu mir herüber und schien – nicht zum ersten Mal – meine Gedanken zu lesen. »Die sechs Regeln des Soundso!« Er umfasste die Lehne seines Stuhles und kicherte.
Sobald sich Oliver von seinem Hustenanfall erholt hatte, begriff er, dass sie sich über ihn lustig machten. Gewissermaßen. Zumindest teilweise. Also überlegte er sich seine nächsten Worte sehr genau. »Das ideale Buch müsste die wichtigsten Themen des tibetischen Buddhismus erklären. Das, was den Leuten magisch daran vorkommt – wie die Wiedergeburt und so weiter. Aber das reicht nicht.«
Der Dalai Lama hob die Augenbrauen.
»Die Menschen interessieren sich nicht nur für Eure Weisheit, sie wollen auch das Gefühl haben, in Eurer Gegenwart zu sein. Irgendwie müssen wir Eure Präsenz vermitteln.«
Sofort wusste ich, worauf Oliver hinauswollte. Clever. »Ich weiß nicht, ob ich der Richtige dafür bin«, sagte er.
Seine Heiligkeit dachte einen Augenblick darüber nach. »Aber wer dann?«, fragte er.
So langsam wurde es Zeit fürs Abendessen. Ich streckte alle viere von mir, wobei mich ein behagliches Zittern durchfuhr.
Ich muss gestehen, dass mein Timing ebenso ungeschickt war wie Olivers Argumentation subtil. Die drei Männer lachten. »Da haben wir ja unsere Freiwillige«, kicherte der Dalai Lama.
Oliver deutete auf meine ausgestreckten Beine. »Auf vier Pfoten zum spirituellen Glück!« Alle kicherten.
»Die vier Geheimnisse des Glücks«, schlug Tenzin vor. »Damit hätten wir auch einen griffigen Titel.«
»Gar nicht schlecht«, bemerkte Seine Heiligkeit. »Immerhin heißt es ja, dass der Pfad des tibetischen Buddhismus aus vier verschiedenen Elementen besteht. Vier Praktiken, die wir nach Kräften anwenden sollen.« Er deutete auf einen wunderschönen Wandbehang, auf dem der Buddha Shakyamuni dargestellt war. »Jedes Mal, wenn wir das Abbild eines erleuchteten Wesens sehen, werden wir an diese vier Elemente erinnert.« Oliver und Tenzin nickten weise.
Ich warf ebenfalls einen Blick auf das Bild, das uns angeblich an die vier Elemente erinnerte. Ach ja? Wirklich?
Am späten Abend saß ich manierlich mit untergeschlagenen Pfoten auf dem Bett. Der Dalai Lama meditierte neben mir. Dies war eine meiner Lieblingstageszeiten. Der Raum wurde vom sanften Schein einer einzigen Lampe erhellt. Das mächtige und doch sachte Mitgefühl Seiner Heiligkeit erfüllte nicht nur den Raum, sondern auch das Namgyal-Kloster, ganze Länder und sogar Existenzebenen weit darüber hinaus. Sobald sich der Fokus seiner Meditation der liebenden Güte zuwandte, fing ich an zu schnurren und hörte erst auf, als er die Sitzung beendet hatte.
Er streckte die Hand aus und streichelte mich. »Ganz genau, meine kleine Schneelöwin.« Nur der Dalai Lama sprach mich mit diesem ganz besonderen Kosenamen an. In Tibet symbolisieren Schneelöwen Furchtlosigkeit, Kraft und Fröhlichkeit. »Du bist auf meiner Wellenlänge.«
Ich schnurrte noch lauter.
»Du hast mir Tausende von Stunden lang zugehört.« Er kraulte mein Gesicht mit seinen Fingernägeln – genau so, wie ich es mochte. »Du kennst die Weisheiten, die wir mit anderen teilen sollten.« Er beugte sich vor. »Und am wichtigsten ist: Du weißt, wie man liebende Güte vermittelt«, flüsterte er in mein Ohr.
Mein Schnurren erhob sich zu einem Crescendo, und ich wandte den Kopf und sah ihm direkt in die Augen – ein Privileg, das wir Katzen nur selten einem Menschen gewähren.
»Wenn du es fertigbringst, dass sich andere genauso fühlen« – er berührte sein Herz – »wie wunderbar!«
Und so kam es, liebe Leser, dass ihr jetzt dieses Buch in den Händen haltet: aus dem Wunsch heraus, euch nicht nur die tiefe Weisheit des Dalai Lama näherzubringen, sondern auch ein Gefühl für seine Energie und seine Präsenz.
Aber – wenn ich euch schon gleich am Anfang ein Geheimnis anvertrauen darf – das allumfassende Wohlbefinden, das die Menschen so oft in der Gegenwart Seiner Heiligkeit verspüren, geht gar nicht von ihm aus. Er macht es nur möglich, er ist, wenn man so will, ein Vermittler. Er ist so reinen Herzens und so frei von jeglichem Ego, dass die Menschen in seiner Gegenwart ihre ureigene, innerste Natur, die höchste und beste Version ihrer selbst erkennen können.
Wenn ihr euch jetzt fragt, wie die Präsenz eines erleuchteten Wesens, eines Bodhisattvas, durch ein Buch vermittelt werden soll, das von einer durchaus mit Fehlern behafteten und komplizierten – wenngleich auch wunderschön anzusehenden – Katze geschrieben wurde, dann will ich eines klarstellen: Meine Aufgabe ist es lediglich, einen Spiegel für euch bereitzustellen. Einen ganz besonderen Spiegel, der euch weder die Form eurer Nase noch den Schwung eurer Augenbrauen zeigt, sondern einen viel tieferen Blick darauf gewährt, wer oder was ihr seid. Einen Spiegel, der die wohlvertraute Oberfläche eurer Alltagspersönlichkeit durchdringt und euch die Wahrheit des Bewusstseins dahinter erkennen lässt.
Dieses Spiegelbild mag euch womöglich unbekannt sein. Es mag euch sogar überraschen. Seht genau hin – habt keine Angst. Ihr werdet erkennen, dass eure eigene wahre Natur frei von den Makeln und Schönheitsfehlern ist, die eure Sicht vorübergehend trüben. Durch Selbstkritik konzentriert man sich irgendwann so sehr auf die eigenen Schwächen, dass man keine Hoffnung mehr hat, die eigenen Makel loszuwerden; doch die simple Wahrheit lautet, dass alles, was euren Geist heimsucht, vergänglich ist. Flüchtig. Euer Bewusstsein kann ebenso wenig wie Wasser dauerhaft verschmutzt werden.
Wie ihr auf den folgenden Seiten erfahren werdet, lautet die tröstliche Wahrheit, dass die beständigen Eigenschaften eures Geistes womöglich nicht die sind, die ihr dafür haltet. In Wahrheit ist euer Bewusstsein grenzenlos und strahlend. Jeder Gedanke kann darin aufsteigen, verweilen und wieder vergehen. Sobald ihr tief genug eintaucht, um die manchmal stürmische Oberfläche eures Geistes hinter euch zu lassen, erreicht ihr einen wahren Ozean der Ruhe.
Liebe Leser, wenn euch diese Worte so außergewöhnlich vorkommen wie das prächtige Fell, das ich trage, möchte ich dem noch eine letzte Beobachtung hinzufügen: Im Grunde genommen seid ihr Wesen, deren unverfälschte Natur nichts anderes als reine, höchste Liebe und reines, höchstes Mitgefühl ist. Genau wie meine auch!
Erstes Kapitel
Ich traute meinen Augen kaum! Bei der Tür zu Mr. Patels Laden vor den Toren des Namgyal-Klosters saß der schönste getigerte Kater von ganz Dharamsala.
War er es wirklich? Mambo, der Vater meiner Kätzchen? Jenes prächtige, muskulöse Tier, das kurzzeitig in mein Leben getreten war, als ich noch eine junge, leicht zu beeindruckende Katzendame gewesen war, nur um genauso mysteriös wieder daraus zu verschwinden?
Ich beschleunigte meinen Schritt, was mit einiger Anstrengung verbunden war. Die Straße vor dem Himalaja-Buchcafé, in dem ich den Nachmittag verbracht hatte, war ziemlich steil und ich nicht mehr die Jüngste. Meine Hinterbeine schmerzten stärker als je zuvor.
Seit man mich als kleines Kätzchen auf das harte Straßenpflaster hat fallen lassen, habe ich schwache Hinterbeine, die mir seit jeher einen taumelnden Gang verleihen und in denen ich seit Neuestem auch ein unangenehmes Brennen verspürte.
Ich verbiss mir den Schmerz und eilte, so schnell ich konnte, auf das Tor zu. Zwischen den ein und aus gehenden Mönchen, den vielen Ständen, an denen alle möglichen Waren feilgeboten wurden, und dem Getümmel im Allgemeinen konnte man eine Katze schnell aus den Augen verlieren. Insbesondere eine, die durch ihr Fell so gut getarnt war wie mein getigerter Kater.
Ich lief noch schneller, huschte hinter den Ständen vorbei auf Mr. Patels Laden zu, der der letzte in der Reihe war. Dort angekommen, spähte ich auf der Suche nach diesem unverhofften Gast durch die vielen hin und her laufenden Beine und flatternden Saris.
Doch er war wie vom Erdboden verschluckt. Auch auf einem Baumstamm in der Nähe, auf den er früher mit Vorliebe geklettert war, fand sich keine Spur von ihm. Ich hielt inne, sah mich um und fragte mich, wo ich noch nach ihm suchen sollte.
Da hörte ich plötzlich hinter einer kaum einen Meter von mir entfernten Mülltonne ein tiefes, bedrohliches Knurren. Sofort stellten sich mir die Nackenhaare auf. Ich wirbelte so schnell herum, dass ich beinahe das Gleichgewicht verloren hätte, und sah mich einem getigerten, grimmigen Kater gegenüber, bei dem es sich ganz gewiss nicht um Mambo handelte. Sein wutverzerrtes Gesicht und das gesträubte Fell signalisierten pure Aggression.
Ich fletschte die Zähne. Er fauchte eine weitere, markerschütternde Drohung und sprang los. Nun war er nur noch Zentimeter von mir entfernt. Nahe genug für einen Prankenhieb. Meine Instinkte gewannen die Oberhand. Ich hob die rechte Tatze und fauchte zurück. Die Leute vor Mr. Patels Laden drehten sich zu uns um, beunruhigte Rufe wurden laut.
Der Eindringling, der sich in meinem Revier breitmachen wollte, starrte mich mit unverhohlenem Hass an. Er war jung und geschmeidig und zweifellos der Meinung, mich in einem Kampf jederzeit besiegen zu können.
Aber ich wich nicht zurück. Man hatte mich schon in der Vergangenheit bedroht, und ich hatte gelernt, nicht bei dem ersten Anzeichen von Gefahr die Flucht zu ergreifen. Mein Widerstand reizte ihn nur noch mehr. Rasend vor Wut fuhr er seine langen Krallen aus und zielte damit auf meinen Kopf.
Schreie erklangen, dann folgte ein lautes Klappern! Ich spürte kalte Nässe. Menschliche Beine schoben sich zwischen mich und den Kater. Jemand hatte einen mit Wasser gefüllten Topf nach uns geworfen. Kurz darauf hob mich jemand auf, trug mich durch das Tor des Klosters und setzte mich im Innenhof ab. Ich blickte mich nach dem Kater um, der gerade sehr unsanft verscheucht wurde.
Es hat auch seine Vorteile, weit und breit als Katze des Dalai Lama bekannt zu sein.
Mit so viel Haltung und Würde, wie es mein durchnässtes Fell und meine zerrütteten Nerven zuließen, durchquerte ich den Innenhof und kehrte in meine Gemächer zurück. Der Schmerz in allen vier Pfoten war nun so stark, dass ich glaubte, auf heißen Kohlen zu laufen.
Ich umrundete das Gebäude und schlüpfte durch meinen Privateingang – ein Fenster im Erdgeschoss, das allein meinetwegen offen stand. Anschließend säuberte ich mich gründlich. Anscheinend hatte jemand in dem Wasser, mit dem man uns übergossen hatte, seinen Mittagsreis gekocht. Es klebte vor Stärke und schmeckte widerlich. Ich hob die Pfote zum Gesicht und ertastete eine wunde Stelle, wo die Kralle des Eindringlings mich gestreift hatte. Zum Glück hatte mich mein dickes Fell vor schlimmeren Verletzungen bewahrt.
Ein paar Minuten später machte ich mich auf den Weg nach oben in die Gemächer, die ich mit Seiner Heiligkeit teilte und die normalerweise mit Wärme und Freundlichkeit erfüllt waren. Doch heute lagen die Räume im Halbdunkel, alles war still: Der Dalai Lama war auf Reisen und würde erst in mehreren Tagen zurückkehren.
Als sich an diesem Abend die Dämmerung über den Innenhof des Namgyal senkte, saß ich auf der Fensterbank, blickte zu dem grünen Licht hinüber, das über Mr. Patels Laden brannte, und suhlte mich in Selbstmitleid.
Mit der Rückkehr Seiner Heiligkeit mehrere Tage später ging auch das Leben wieder seinen gewohnten regen Gang. Der Dalai Lama traf spät am Vormittag ein und hatte kaum Zeit, mich zu begrüßen, da trat auch schon Oliver in sein Büro, um die Gäste anzukündigen, die in weniger als einer Stunde zum Mittagessen erscheinen würden.
Das Thema, das bei dieser Zusammenkunft besprochen werden sollte, lautete »Dharma im digitalen Zeitalter«. Faszinierend – wenn man denn keine dringenderen Sorgen hatte. Und die hatte ich allerdings.
Zuerst einmal hatte ich mich noch nicht vollständig von jener unangenehmen Begegnung mit dem getigerten Kater erholt – ich war noch nie von einem Artgenossen bedroht worden. Das Namgyal-Kloster ist mehr oder weniger katzenfrei und daher, solange ich denken kann, mein Revier. Dass eine andere Katze auftauchte und es mir streitig machte, war eine höchst unwillkommene Entwicklung.
Ein weitaus drängenderes Problem allerdings stellten die stechenden Schmerzen dar, sie sich bei jedem Schritt einstellten. Wie ein schlechtes Omen hatten sie genau dann eingesetzt, als der Kater auf mich losgegangen war, und sie wurden mit jedem Tag schlimmer. Der Weg zum Himalaja-Buchcafé wurde so beschwerlich und jeder Schritt so schmerzhaft, dass ich es mir tatsächlich zweimal überlegte, ob die schmackhafte Sole meunière – eines meiner Leibgerichte – die Tortur wert war. Allein die Treppe zu meinen Gemächern hinauf- oder hinabzusteigen war eine qualvolle Übung.
Dabei war ich mir sicher, dass mit der Rückkehr des Dalai Lama alles besser werden würde – allerdings ohne konkrete Vorstellung, wie genau das vonstattengehen sollte. Auf jeden Fall musste ich etwas Zeit mit dem Dalai Lama verbringen, um mich zu erholen. Nur wir beide, gemeinsam.
Zur Mittagszeit herrschte im Speisesaal die für solche Anlässe übliche Stimmung. Wie immer, wenn der Dalai Lama Gäste empfing, ließen sich diese verlässlich von seiner Leichtherzigkeit und Spontaneität anstecken. Er schaffte es stets, das Beste in seinen Mitmenschen zum Vorschein zu bringen. Und so tauschten Social-Media-Gurus, Vertreter der kontemplativen Neurowissenschaften, Lamas und Psychologen munter Ideen aus und genossen das köstliche Mahl, das in der Küche im Erdgeschoss von zwei Frauen zubereitet worden war, die inzwischen selbst so etwas wie eine Institution im Haushalt des Dalai Lama geworden waren: Mrs. Trinci, die legendäre, überaus mitteilsame und temperamentvolle Köchin Seiner Heiligkeit für besondere Anlässe, und ihre wunderschöne Tochter Serena.
Vom Dalai Lama abgesehen war Mrs. Trinci seit meiner Ankunft im Namgyal mein größter Fan. Die zu überschwänglichen Gesten neigende Italienerin hatte mich mit Leckerbissen vollgestopft und mich als die Schönste Kreatur auf Erden bezeichnet. Ein Titel, dem im Laufe der Zeit noch viele weitere folgen sollten – wenngleich auch nicht alle so schmeichelhaft waren.
Nach einem Herzanfall hatte Mrs. Trinci auf Anraten ihres Arztes Meditationsunterricht beim Dalai Lama persönlich genommen, was sie zu einer ausgeglicheneren und etwas weniger impulsiven Person gemacht hatte – ohne dass ihre Großherzigkeit darunter gelitten hätte. Nach der Rückkehr ihrer Tochter Serena, die mehrere Jahre in einigen der führenden Restaurants Europas tätig gewesen war, hatte sie sich dazu überreden lassen, den Posten als Chefköchin des Dalai Lama zumindest teilweise abzugeben. Wie hätte ich ahnen können, dass mich – sobald ich einmal Teil von Serenas Welt geworden war – die größten Überraschungen meines Lebens erwarteten?
Vom ersten Augenblick an hatte mich die elegante, anmutige Serena mit den langen, dunklen Haaren mit ihrer Energie und Güte verzaubert. Sie half nicht nur ihrer Mutter bei der Bewirtung der VIP-Gäste des Dalai Lama, sondern war neben Franc, dem eigentlichen Inhaber, Teilhaberin des Himalaja-Buchcafés. Wir waren sofort gute Freunde geworden, und von verschiedenen Beobachtungsposten auf Bücherregalen, in Nischen und hinter Torpfosten aus war ich Zeuge der sich langsam anbahnenden Romanze zwischen ihr und einem stattlichen und hochintelligenten indischen Geschäftsmann geworden, den sie im Yogaunterricht kennengelernt hatte – und der uns aufgrund seiner Bescheidenheit lange verheimlicht hatte, dass er eigentlich der Maharadscha von Himachal Pradesh war.
Sid – die Kurzform von Siddharta – hatte für Serena und sich eine geräumige, auf einem Hügel gelegene Villa im Kolonialstil renovieren lassen, die bequemerweise nur einen kurzen Spaziergang von meinem Fensterbrett im Namgyal-Kloster entfernt lag.
Im Lauf der Zeit hatte sich herausgestellt, dass es zwischen mir, Sid und seiner siebzehn Jahre alten Tochter Zahra eine starke Verbindung gab. Ihre Mutter, Sids erste Frau, war vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Zahra besuchte ein Internat und kam nur in den Ferien nach Hause, doch ich war seit unserer ersten Begegnung regelrecht vernarrt in sie und verbrachte viel Zeit mit ihr.
Wie immer, wenn der Dalai Lama zum Mittagessen lud, kam auch ich nicht zu kurz. Dawa, der Oberkellner, brachte mir einen Unterteller ans Fensterbrett – heute gab es ein Schmorgericht mit einer köstlichen, dicken Soße, die ich mit so lautstarkem Genuss verzehrte, dass sich mehrere hochrangige Manager aus dem Silicon Valley amüsiert zu mir umdrehten. Auch der Dalai Lama warf mir während des Essens mehrere Blicke zu, allerdings mit einem besorgten Gesichtsausdruck. Obwohl wir seit seiner Rückkehr kaum Zeit miteinander verbracht hatten, schien er zu spüren, dass es mit mir nicht zum Besten stand.
Ich beendete meine Mahlzeit, putzte mir das Gesicht – selbst eine so einfache Tätigkeit gestaltete sich mit meinen schmerzenden Pfoten nicht gerade einfach – und wartete ab, bis das Treffen zu Ende war. Jetzt, wo mein Bauch mit Mrs. Trincis köstlichem Essen gefüllt war, fühlte ich mich zumindest ein bisschen besser.
Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, allein mit dem Dalai Lama zu sein.
Endlich verabschiedeten sich die Gäste und ließen sich von Tenzin und Oliver aus dem Raum führen. Seine Heiligkeit hatte Dawa aufgetragen, den Köchinnen sein Kompliment auszurichten und sie – wie es bereits schöne Tradition war – nach oben zu bitten, damit er sich persönlich bei ihnen bedanken konnte. Kaum waren die Gäste fort, kehrte Dawa mit einer Nachricht zurück.
»Mrs. Trinci ist bereits nach Hause gegangen, Eure Heiligkeit«, sagte er.
»Und Serena?«
»Sie sagt, sie hätte nur ihrer Mutter geholfen und daher auch kein Lob verdient. Außerdem wart Ihr lange Zeit weg, meint sie, und habt sicher viel zu tun.«
Der Dalai Lama nickte. Es war nicht das erste Mal, dass sein Angebot, sich zu bedanken, zurückgewiesen worden war – wenn auch auf sehr diplomatische Art. Seine Heiligkeit saß eine Weile lang nachdenklich da – hatte er etwas bemerkt, was mir entgangen war? –, dann sah er mir in die Augen. »Wir sollten nach ihr sehen, meinst du nicht, kleine Schneelöwin?«, sagte er und stand auf.
Er ging zur Tür. Ich sprang trotz der unausweichlich schmerzhaften Landung vom Fensterbrett. Dann durchquerten wir unsere Gemächer und den Flur, der am Assistentenbüro vorbeiführte. Ich bemühte mich um einen einigermaßen normalen Gang, obwohl jeder Schritt die reinste Folter war. Insbesondere die Hinterbeine schmerzten beim Gehen stärker als je zuvor.
Wir gingen die Treppe und den kurzen Flur zur Küche hinunter. Seine Heiligkeit blieb im Türrahmen stehen und beobachtete Serena, die die Vorräte in den Schränken anhand einer Liste auf Vollständigkeit prüfte, alles aufschrieb, was noch besorgt werden musste, und anschließend den Kühlschrank inspizierte. Das heutige Mittagessen war zwar vorüber, doch in drei Tagen hatte sich der Aga Khan zu einer Privataudienz angemeldet, wofür es noch so einige Vorbereitungen zu treffen galt. Serena war so konzentriert bei der Arbeit, dass sie erst nach einer geraumen Weile aufblickte und bemerkte, dass sie nicht allein war.
»Oh! Eure Heiligkeit!« Sie legte die Hände vor dem Herzen zusammen und errötete.
»Meine liebe Serena!« Der Dalai Lama ging zu ihr und umarmte sie herzlich. Sie senkte den Blick und bemerkte mich zu seinen Füßen.
»Und die kleine Rinpoche ist auch dabei«, sagte sie, als sie sich wieder voneinander gelöst hatten.
»Das Essen war vorzüglich!« Der Dalai Lama musterte sie aufmerksam.
»Vielen Dank.«
»Besonders der Hauptgang.«
»Vegetarisches Stroganoff. Die Soße ist das Geheimnis.«
Sie hatte das lange Haar unter die Kochmütze gesteckt und trug kein Make-up, wodurch sie ganz anders aussah als die Serena, die im Himalaja-Buchcafé die Gäste begrüßte oder von ihrem Büro über dem Café aus ihren Gewürzversand leitete. Aber mehr noch: Ihre Miene wirkte heute seltsam verkniffen, und Kummer verdunkelte ihre Augen.
»Ich bin niemals zu beschäftigt, um dich zu empfangen«, sagte der Dalai Lama. »Aber vielleicht bist du ja zu beschäftigt, um mich zu empfangen?« In seiner Miene mischten sich Schalk und Besorgnis.
Seine Heiligkeit kannte Serena schon von Kindesbeinen an. Mrs. Trinci war früh Witwe geworden und hatte sie mit in die Palastküche nehmen müssen. Dort hatte Serena Hausaufgaben gemacht, während Mrs. Trinci kochte. Damals – lange vor meiner Zeit – war Serena dem Dalai Lama so nahe gewesen, dass er so etwas wie eine Vaterrolle eingenommen hatte.
Auch wenn sie über zehn Jahre in Europa verbracht hatte und ihren eigenen Weg gegangen war: Als sie nach Dharamsala zurückkehrte, war die Verbindung zu Seiner Heiligkeit so stark wie eh und je gewesen. Es war, als gehörten sie zu einer Familie. Er kannte sie genau – und das war auch der Grund, weshalb sie den Blick abwenden musste.
»Verzeiht, Eure Heiligkeit«, sagte sie. »Ich wollte Euch nicht beleidigen.«
Er zuckte mit den Schultern. Darum ging es nicht.
Sie warf erst einen Blick auf die Liste und dann auf die Schränke. »Aber ich bin tatsächlich sehr beschäftigt«, gab sie zu.
»Weil der Aga Khan zum Essen kommt?«, fragte der Dalai Lama.
»Aber nein. Damit hat es nichts zu tun.« Sie ließ betont geschäftig den Blick in der Küche umherschweifen, damit sie bloß nicht ihn ansehen musste. Dann biss sie sich auf die Lippen. »Es geht ums Geschäft«, gab sie schließlich widerstrebend zu.
»Viel zu tun?«, fragte Seine Heiligkeit teilnahmsvoll.
»Im Gegenteil.« Sie sah ihn vielsagend an. »Wie Ihr wisst, konnten wir uns am Anfang vor Kunden kaum retten. Wir haben uns in den ersten drei Jahren jedes Jahr verdoppelt. Aber jetzt ist das Ende der Fahnenstange erreicht.«
Die Idee mit den Gewürzmischungen war entstanden, da so viele Touristen nach den Rezepten für die köstlichen Soßen und Marinaden gefragt hatten, die die Mahlzeiten im Himalaja-Buchcafé so unwiderstehlich machten. Serena hatte sich mit den beiden Köchen des Cafés, den nepalesischen Brüdern Jigme und Ngawang Dragpa, beraten. Gemeinsam hatten sie einen Versandhandel auf die Beine gestellt und schickten nun abgepackte Gewürzmischungen per Post in alle Welt. Sid hatte mit seinen Beziehungen dafür gesorgt, dass sie die nötigen Zutaten von den Gewürzhändlern der Region zum Großhandelspreis einkaufen konnten. Das Geschäft hatte sich prächtig entwickelt.
Geschicktes Marketing und ein effizienter Lieferservice hatten dafür gesorgt, dass die Gewürzmischungen des Himalaja-Buchcafés bald in aller Herren Länder unterwegs waren. Als sich Sid und Serena vor zwei Jahren das Jawort gaben, beschlossen sie, mit den Profiten aus dem Gewürzmischungshandel Jugendliche aus der Gegend bei ihrer Ausbildung und der Suche nach einem Arbeitsplatz zu unterstützen.
»Also machst du dir Sorgen um die Jugendlichen?«, fragte der Dalai Lama.
»Es sind so viele!« Serena hob die Stimme. »Und sie sind alle auf uns angewiesen. Wir sind ihre letzte Chance!«
Mit einem Mal war sie so temperamentvoll wie Mrs. Trinci persönlich – eine Verwandlung, die ich bisher nur selten miterlebt hatte.
»Und die Verkäufe …«
»Sind eingebrochen!«, klagte sie eindringlich. »Wir sind wieder da, wo wir vor zwölf Monaten waren. Ach was – vor achtzehn!« Sie konnte nicht länger stillstehen, daher durchquerte sie unnötigerweise die Küche, um ihre Handtasche zu holen. Sie pfefferte die Tasche neben ihre Einkaufsliste.
»Dass das Geschäft so schlecht geht, hat nicht nur einen Grund, sondern viele.« Ihre dunklen Augen funkelten. »Es wird allgemein weniger gekauft, und wir haben starke Konkurrenz. In manchen Ländern sind die Auflagen so streng, dass wir überhaupt nichts verkaufen dürfen. Erst letzte Woche sind in Australien neue Biosicherheitsvorschriften in Kraft getreten. Wir haben alle unsere Kunden dort verloren.« Sie warf resigniert die Hände in die Luft. »Auf einen Schlag!«