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Der Schäferjunge Barral überlebt in der Provence des 12. Jahrhunderts als Einziger das Massaker eines maurischen Heeres und beginnt daraufhin als Ritter einen einmaligen Aufstieg: Er bringt es zum Grafen, zum Herzog, gar zum Freund des Kaisers und gewinnt nicht zuletzt die Liebe der schönen Markgrafentochter Judith. Wolf von Niebelschütz katapultiert seine Leser in die Welt des Mittelalters und erweckt in beispielloser Meisterschaft die Kriege, Seuchen, Ritterturniere, Minnedienste und Hexenprozesse dieser Epoche zu neuem Leben.
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Seitenzahl: 891
INHALT
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ÜBER DEN AUTOR
Wolf von Niebelschütz, 1913 in Berlin geboren, entstammt einer schlesisch-böhmischen Adelsfamilie. Nach dem Abitur an einer Eliteschule studierte er Geschichte und Kunstgeschichte in Wien und München. Aufgewachsen in Magdeburg blieb er der Stadt immer verbunden, arbeitete zeitweise als Redakteur bei der Magdeburgischen Zeitung und bei der Rheinisch-Westfälischen Zeitung, wurde jedoch 1937 wegen »politischer Unzuverlässigkeit« entlassen. Während des Zweiten Weltkriegs war Niebelschütz in Frankreich stationiert. Nach Kriegsende kehrte er zurück nach Deutschland und betätigte sich als Schriftsteller und Journalist. 1952 erhielt er den »Immermann-Preis« der Stadt Düsseldorf. Niebelschütz starb 1960 mit nur 47 Jahren in Düsseldorf.
ÜBER DAS BUCH
Ein opulenter Mittelalterroman um den Schäferjungen Barral, der trotz Intrigen und komplizierten Beziehungsgeflechten zum Herrscher der Provinz wird – von einzigartiger Vielfalt und Sprachwucht.
In der Provence des 12. Jahrhunderts überlebt der Schäferjunge Barral als Einziger das Massaker eines moslemischen Heeres in seinem Heimatdorf. Von da an nimmt er den Kampf mit allem auf, was ihm und seinen Zielen im Weg steht, und erhält nach und nach mehr Einfluss. Er bringt es zum Grafen, zum Herzog, gar zum Freund des Kaisers und gewinnt nicht zuletzt die Liebe der schönen Markgrafentochter Judith. Doch je weiter er aufsteigt, desto schwieriger wird es, sich selbst und seinen Idealen treu zu bleiben. Die Kinder der Finsternis ist ein Kaleidoskop des provenzalischen Lebens im Mittelalter mit seinen Kriegen und Seuchen, Inquisitionsprozessen, Turnieren, Hungersnöten und seiner jähzornigen Lebensfreude. Wolf von Niebelschütz’ großer Mittelalterroman avancierte zum Kultbuch ganzer Generationen und ist längst ein Klassiker der deutschen Literatur.
»Noch kein Mittelalter-Bestseller war in der Lage, seine Leser derart trunken diese wilde Zeit erleben zu lassen; Turnier und Minnedienst, Inquisition und Hungersnot.«
Peter Pisa, Kurier
»Solche Bücher entstehen auf der Welt nur alle Jahrzehnte einmal.«
Hans Wollschläger
INHALTSVERZEICHNIS
Ein Naturereignis · 1115
Die Furt
Ghissi
Ortaffa
Der schwarze Satan
Herausforderung
Die Herren
Judith
Der apostolische Legat
Das Treffen im Gebirge · 1116
Dschondis
Der Vicedom
Wölfin und Löwe · 1117
Liebeskrieg · 1119
Die Messe im Tec · 1120
Mandelblüte
Eva im Weinberg · 1123
Dom Vito · 1128
Maitagorry · 1130
Schwierige Freundschaften · 1131
Der Donnerschlag · 1133
Farrancolin
Walos Hände · 1135
Asmodi und die drei Erzbischöfe · 1136
Fastrada · 1137
Dreizehn Freier · 1139
Folgen der Kreuznahme · 1144
Die Erscheinung im Flammenmantel · 1150
Kirchenfrevel · 1152
Kardinal Fugardi · 1154
Im Vorhof der Hölle · 1156
Petri Gnadenmittel · 1157
Pappelblüte
Roana
Lombardischer Schnee · 1159
Fatima · 1163
Judiths Töchter · 1164
Die Teilung der Wasser · 1167
Das Licht · 1170
EIN NATUREREIGNIS
Es lag ein Bischof tot in einer Mur am Zederngebirge fünf Stunden schon unter strömenden Wolkenbrüchen. Die Mur war hinabgemalmt mit ihm und seinem Karren und seinen Maultieren und seiner Geliebten, unter ihm fort, über ihn hin, als schmettere das Erdreich ihn in den Schlund der Hölle, kurz vor Anbruch der Nacht.
Fünf Stunden donnerten die Gießbäche, Felsen und Schuttlawinen; die Bergflanke bebte. Fünf Stunden kauerte die Geliebte neben dem Gehaßten, unverletzt, naß bis zur Haut, frierend, obwohl es warm war. Fünf Stunden schrien und keilten hufoben die Mulis und rüttelten durch das verknäulte Geschirr den Wagenkasten, der ohne Räder hintüber auf dem Steinmeer saß, bedeckt von grauenvoller Dunkelheit.
In der sechsten hob sich die Regenbank, der Mond jagte hinter finsteren Schleiern und bestrahlte im Winkel den weich lehnenden Leichnam, dessen Blicke erglitzerten, loschen, glitzerten. Sein höhnisch zudringliches Schillern steigerte die Angst der Verlassenen. Aus Angst, er sei nur betäubt gewesen, wagte sie nicht, ihm die Lider zu schließen; aus Angst vor den Muren wagte sie keine Flucht. Zwanzig Klafter tiefer gischtete der Wildfluß, Ziel aller Wächten und Tobel. Wohin flüchten? zu wem? Niemandem konnte sie begegnen, der nicht Böses vorhatte, niemand in der Mauretanischen Mark öffnete nachts ein Haus, die Nächte waren von Raubkatzen durchschlichen. Nicht einmal wehren konnte sie sich: Dom Firmians Schwertgurt, beim Fallen hinausgeschleudert, ruhte unter Klötzen begraben am Grunde der Schlüfte. Auch beten konnte sie nicht mehr, hatte der Bischof doch alles Fromme in ihr zunichte gemacht.
Unheimliche Geräusche spielten mit ihren aufgepeitschten Sinnen: vor dem Rumpeln und Schroten der Wasser im Tal das Gurgeln zum Tal; Hall und Nachhall von Steinschlägen; das Knarren im fernen Hochwald, Windesgesause; Fauchen; Geflatter; knackendes Astwerk; am unheimlichsten das Zwitschern und Seufzen des Geriesels in der Kleidung des Toten, der zu stöhnen schien. »Dom Firmian? lebt Ihr?« Ihre Hand schreckte zurück. Kalt und starr nickte der Herr von Trianna. Was da stöhnte, stöhnte unter dem Fahrzeug, dessen Längsbaum die Kruppe eines der Maulesel zerwirkte. Das zweite Tier, in der Qual des Verendens, erwachte zu schauriger Klage, die den Luchs anlocken würde. Ein großer Vogel strich ein. Wo er die Schwingen faltete, ragten aus den Felsmassen die bespornten Beine des Bereiters. Sie bekreuzigte sich. Der Geier faßte Stand und hackte.
Durch das Knappen des Schnabels hindurch horchte sie, mürbe vor Grausen, auf ein schleifendes Schurren, auf das immer nähere Schleifen und Schurren und Trappeln den Saumpfad entlang. Ein paarmal stockte es, trommelte gedämpft weiter; jetzt war es über ihr; es verhielt. Am Hang trabten wolfsartige Schatten, bellten auf und schnürten in das Düster zurück. Wenn es Schakale waren oder ludernde Hunde, genügte der Bischof zum Fraße; einem Wolfsrudel genügte er nicht, Wölfe rissen nur dampfendes Fleisch. Sie duckte. Streunten sie schon auf der Schweißfährte?
Statt des Rudels wuchs aus dem Berg etwas schwarz gespenstisch Flappendes, wuchs riesenhaft, stand eine Weile, schaute umher wie mit einem Gesicht, das viel zu klein war, legte die Geisterhand vor den Streif Stirn, und fiel zusammen; das Trappeln begann wieder; dann verstummte alles; der Geier entflog. Und dennoch waren sie in ihrer Lautlosigkeit da, gierige Schemen. Abermals wuchs das Gespenst in den Silberdunst. Sie rührte sich nicht. Abermals zuckten die Hufe der Kreatur. Sogleich drehte der Unhold; das Grauschwarze wurde schmal, glitt, beutelte sich und enthüllte im Sinken seinen Kern: Schultern, Arme und Rumpf eines nackten Mannes zwischen Mond und Erde. Ein Mensch! Ein Mensch in der Nacht war immer ein Mörder. »Herr mein Gott, erbarmt Euch, schützt mich, heilige Mutter Maria, ich bin noch so jung.« Sie preßte die Handwurzel in die Zähne, denn er kam.
Seine Hüfte blitzte von Messern; Schenkel und Fuß schimmerten in der Luft. Ein gigantischer Schritt, und er schwebte voran; ein zweiter, und er stieg durch das Geröll talwärts; beim fünften sah sie, daß er auf Stelzen daherfuhr; mit dem achten sprang er geschmeidig zu Boden, stach die Tiere ab, trat an den Wagen, das Fangmesser gezückt, tastete nach Dom Firmians Halswirbel, neigte das Ohr, um den Atem zu prüfen, und blickte, indem er horchte, der Lebendigen, die sich tot stellte, in das Mark. Nun hob er den mächtigen Rücken, seidig von Haut, und streckte ihn waagrecht. Ihre Lungen schmerzten. Ein mißtrauisches Knabenlächeln begleitete das Emporstreifen der Dolchhand an ihrer Schulter. Die Berührung durchflammte sie, während er pantherhaft jäh die Linke um ihre im Schoß verkrampften Hände schlug, deren Finger der Schreck spreizte; wild atmend, fühlte sie seine Gewalt errichtet. Noch tat er ihr nichts. Sie rang um Luft. Rätselhaft wurde das Lächeln. Als er sie losließ, löste sie sich und schmiegte den Nacken zitternd in seinen Griff. Da überlief ein Leuchten den ganzen goldbraunen Körper, er drückte ihren Kopf nieder, stieß den Bischof hinaus, schnitt ihr das Kleid vom Rückgrat und ging zu ihr ein, ohne Wort.
Ohne Wort lud er sie über die Schultern, trug sie, den Messergurt in der Hand, wie ein Lamm zur Bergweide empor, die voll Herden war, und warf sie aufs Lager. Ohne Wort, im Rausche der Zeugung, schöne, leise und schlanke Tiere, verlangten sie einander, Geflechte der Zärtlichkeit, immer aufs Neue, bis aus den Lustgewittern die schwarze Windstille der Schwermut brach.
Der Morgen graute; bald färbte purpurnes Blau den Rücken des Schweigsamen in den Knien der Schweigsamen, deren Augen, offen im Himmel, den Wandel des Purpurs zu Hyazinthen-Azur und Flamingoflaum spiegelten. Verloren liebkoste sie seinen Kopf, während ihr festes Gemüt gegen leidenschaftliche Wünsche kämpfte. Oben vor dem Frühgewölk floß in fächelnder Brise die Erinnerung des Ausdrucks, mit dem der Schäfer sie nahm in der Mondnacht. Er atmete auf ihr, ein durchsonnter Fels, und war doch schon fort, ein Mann der Unrast. Sie wappnete ihr Herz. Von der Sippe befohlen um der Sippe willen, hatte sie, eine Farrancolin, den Bischof erduldet, in Schande trotz ihres Opfers, niemandem mehr zu verheiraten, und konnte nach Farrancolin nicht zurück. Farrancolin hieß Nonne im Kloster oder Steinigung wegen Buhlschaft. Kein Kirchenfürst schützte sie mehr vor der Kirche; keiner, er sei denn Fürst der Kirche, durfte sich erlauben, was Dom Firmian, ein streitbarer Dreißiger, Monate hindurch sich erlaubte: sie mitzuführen wie im Kriege den Knappen, wie im Pontifikaldienst den Ornatkoffer. Der Ornatkoffer war nun frei; frei war sie, mußte sich kleiden. Jenseits der Grenze kannte man sie nicht; wohl kannte man Bischöfe vorkanonischen Alters und herbergte sie, wenn sie nach Rom pilgerten. Dorthin wollte sie. Und wer etwa forschte, aus welchem Grunde der geistliche Herr in Pontifikalien statt in Reisetracht wallfahrtete, der ehrte wohl ein geistliches Schweigegelöbnis.
Von Dom Firmian, trotz wachsender Helligkeit, war kaum noch etwas zu unterscheiden. Die Geier hockten auf dem Kadaver. Ameisen und Käfer wimmelten durch die aufgepflügten Aasbänke. Für einen Moment barg sie das Gesicht an der Brust des Hirten, der sie begütigte, wie es der Seelenhirt nie getan hatte. Sie verscheuchten die Leichenvögel und holten den Koffer unversehrt aus dem Wagenfach. Weitab von der Walstatt öffneten sie ihn. Ein Hemd fand sich nicht; so glitt der Chorrock tiefrot leuchtend an der weißen Haut bis zu den Füßen und schlug sich im Staube auf. Mit dem Cingulum band der Schäfer ihn hoch und streifte die Alba, durchbrochene Stickarbeit, darüber, kreuzte die Stola, hängte das Pluviale um ihre Schultern, nahm die Wollschere, ihr die Locken zu stutzen, setzte Bischofskäppchen und Mitra darauf und reichte den Krummstab, sorgfältig zusammengesteckt. Sie zögerte. »Ist das Kirchenfrevel?« – »Gewiß.« – »Mein Haar in Eurem Gürtel. Das bleibt Euch von mir.« – »Warum willst du nur fort?« – Sie legte den Finger auf die Lippen, als sei sie schon unterwegs. »Weil Euer Stern meinen Unstern nicht mag; er brächte Euch Unglück. Was mißfällt Euch?« – »Ich glaube dir deinen Bischof nicht. Steig vorauf zur Wiese.« Schaudernd raubte er, was noch fehlte: von Dom Firmians Finger den Ring, vom Nacken das Brustkreuz.
Sie sprachen nichts mehr. Keiner wußte des anderen Namen, keiner begehrte ihn. Keiner rührte an das, was sein würde, wenn der Bischof gebar. Sie lächelten beide, jung, unsicher und mutig. Nun war sie es, die ihm den Mantel reichte, den grauschwarzen Filz ihres nächtlichen Erschreckens. Er faßte hinein, sie teilten das Brot, das Salz, Feigen und Münzen. Dann fing er ein Milchschaf, je zwei Läufe in jeder Faust, und hielt ihr das Euter vor den Mund; sie trank, ihre Augen waren fröhlich. Als sie plötzlich voll Tränen standen, kehrte sie sich um, Stab und Mitra funkelten, und ging davon in die Fremde, nach Osten, den lombardischen Schneebergen entgegen.
Der Schäfer ging südwärts, hoch über Herden und Hunden, in langen Gesängen des Jubels. Als der Tag zu glühen begann, sah er unter sich mit ihren Inseln und Kiesbänken, schwimmenden Baumkronen und toten Buchtwassern die weißgrau schäumende Gallamassa. An der wanderte er dahin wie seit Jahren stets, auf der uralten Schaftrift oben am Hang, der Furt von Ongor entgegen. Immer wieder, beim Beobachten des Weges, schob er die Hand in die knisternden Goldflechten der Herztasche. Unter dem Schilfhut hervor hefteten sich seine lavendelfarbenen Augen auf die jenseitigen Hügel, wo er, zwischen erfrorenen Mandel- und Ölbaumwäldern mit silbrig rosigen Blättern, die Ruinen von Ghissi suchte. Dorthin wollte er. Dort lag, was ihn umtrieb: eine vergrabene, blutige Monstranz, Inbild seines abergläubischen Glaubens, der aus Erde und Himmel gemischt war.
DIE FURT
Mauretanische Mark hieß das kaiserliche Grenzland nach seinen morddurstigen Nachbarn am Meer, den Mauren, Mohren oder Sarazenen; bei seinen Bewohnern hieß es Kelgurien. Kelgurien bestand aus sechs Grafschaften unter dem Markgrafen Dom Rodero, der in Cormons residierte, aus acht Bistümern unter einem Erzbischof Patriarchen in Cormons, aus befestigten Abteien, umtürmten Städten und mauergepanzerten Dörfern auf Felshorsten, aus Karst, Hitze, Armut und Angst. Gegen Sonnenaufgang in das Eis der Gebirge gefaltet, gegen Untergang flach am Tec-Strom endend und mit dem Königreich Franken durch eine einzige Brücke, die von Rodi, verbunden, wurde es in der Quere zerschnitten durch die tückische Gallamassa, an der es Brücken nicht gab, nur Furten. Zu Füßen des Zederngebirges waren es zwei: eine bei Lormarin zwischen Trianna und Cormons, eine bei Ongor, siebzehn Meilen oberhalb ihrer Mündung in den Tec; hier führten die burgundische Heerstraße und die Heerstraße aus dem Reich, die eine am Tec entlang von Sartena über Lorda, die andere aus den Alpen über Sedisteron, Farrancolin und Trianna kommend, durchs Wasser nach Süden, in die Grafschaft Ortaffa, von der das Schicksal Kelguriens abhing; Ortaffa wieder hing von der Furt ab, die Furt vom Wetter.
In jenen Apriltagen des Jahres 1115 blickte Kelgurien gebannt in den Himmel hinauf und flehte in Bittprozessionen ohne Zahl, er möge die Wolken abziehen, den Schlammfresser nicht bringen, die Kare trocknen, die Furt nicht überschwemmen, die Kelgurische Nachtigall hindurchlassen. Nicht nur der Hirt, alle, Kind, Weib und Greis, Herren und Knechte, Ritter und Jude, horchten mit dem Entzücken der Verhungernden auf das Mahlen und Knirschen und Ächzen hinter den Horizonten, Musik der Kaufmannswagen, die, bis unter die Planen gefüllt, auf ungefügen Scheibenrädern ihre Last heranbrachten von fernher – Salz, Hirse, Bohnen und Korn; Salz, Roheisen, Leder und Waffen; Salz, Feuerstein, Zunder und Tuche; Salz, Salz und Salz. Salz war ihre Nachtigall. Salz war das Kostbarste, was da herbeischwankte auf monatelanger Reise: weder Vieh noch Mensch konnte leben, weder Mensch noch Vieh sterben ohne Salz. Man brauchte es für das Fleisch der Herden, wenn man sie schlachten mußte auf den Fliehburgen, brauchte es für die eigenen Gefallenen, salzte sie ein in den Türmen und bestattete sie nach überstandener Gefahr unverwest zur Erde; Burgen hatten nur Stein.
Die Furt, bis zu zwei Meilen breit, ein Gewirr von Flußläufen, die nach jeder Schneeschmelze im Toben der Flut ihr Bett veränderten, bot den Anblick eines Heerlagers. Der Graf, kaiserlicher Richter über Leben und Tod, war in ihr, hüben wie drüben hingen Diebe am Galgen, Berittene wogten, an den Ufern stauten sich Fahrzeuge – nördlich die vollen, südlich die leeren. Auf den Inseln wälzten Trauben von Handlangern bruststarke Felstrümmer, mit denen sie die Fahrspur erhöhten. Der Jude, weithin sichtbar im gelben Hut, rang die Hände und bat den Grafen, noch zu warten. »Worauf denn? Auf die Schneeschmelze?« Kriegsknechte zu Hunderten, priesterlich eingesegnet, schwärmten stromab als dreifache Sperrkette ins Wasser, das sie hüfthoch umschäumte. »Anfahren der erste!« Von der Hauptinsel hinunter schwankte die Fracht; mittstroms brach sie kreischend über das Rad, die Plane zerriß unter dem Druck der Säcke, sie schwammen davon; die Posten fingen sie, schulterten die Last und begannen ihren Weg zu den Mauthäusern. Scharfe Augen bewachten jeden einzelnen Packen, bis er, vom Mautner verzollt, in den Leerkarren festgezurrt, nach Ortaffa knirschte, nach Rodi, nach Franken, mancher gar in die kronunmittelbare Meerstadt Mirsalon, deren Handels-Privilegien sich nicht auf die Christenheit beschränkten.
Drüben im Mittagsglast, der Mautner beobachtete es zwischen zwei Säcken, belebte sich der Auslauf des Zederngebirges; eine Herde stieg zu Tal. Das wunderte ihn, es war nicht die Zeit für Herden; überdies wußte er, daß der Schäferkönig sich nie in die Furt teilte, schon gar nicht mit Wagen, deren schwieriger Durchgang die Tiere verstörte. Es schien ein einzelner Hirt zu sein; wie wollte der durch so reißendes Wasser? Nun, vielleicht ging er nach Lorda; der dortige Bischof liebte es, seine Auwiesen zu düngen.
Auch am Nordufer wunderte man sich. Zu Haufen standen die Fuhrleute beisammen, teils vor dem Wirtshaus, um zu schwatzen, teils vor der Kapelle, um die Absolution zu erhalten; nie wagte man sich in die Furt ohne Beichte; schwimmen zwar konnten sie alle, aber schon mancher war trotzdem ertrunken. Die Herden lagerten in einem Kiefernwäldchen; der Hirt verließ sie. »Gut gezogen die Hunde. Äh, der Pfaffe macht Mittag. Hochwürden, können wir nicht noch beichten?« – »Liebe Söhne, der Tag ist lang, ihr dürftet bis morgen mindestens hier sein.« – Der Hirt, ein Töpfchen Öl in der Hand, kam aus dem Wirtshaus. »Hochwürden, kann ich noch beichten?« – »Heute kaum, morgen vielleicht, es sind fünfzehn vor dir.« Er segnete mit flüchtiger Ungeduld, bestieg den Esel und trabte ins ferne Ongor.
»Das ist ja«, sagte ein Fuhrmann, »der Seelenstier mit der Seelenkuh. Stellt euch vor, die Bauern haben ihm ein Mädchen gewählt, damit ihre Weiber verschont werden.« – »Wie die Herrlichkeit, so die Geistlichkeit. Dafür beschlief der Baron eine Braut.« – »Auf Bitten des hochzeitenden Paares immerhin, es ist sein Recht, das edle Blut breitet sich aus, und dem Ort werden die Zehnten erlassen. Was erläßt der Pfaff? Unsere Sünden. Und die seinen.« – »Das meinst du. In Ortaffa ist ein Pfaffe gesteinigt worden mitsamt seiner Buhlschaft. Mein Bischof hat es gebilligt. Ei, was eine Sammlung Waffen!«
Im Schatten des Daches, der Herde gegenüber, saß der Hirt auf dem Wollfilz, breitete seine Dolche, sein Krummschwert, seine Gerätschaften aus und begann sie zu putzen. Die Fuhrleute umringten ihn; man erzählte sich vielerlei Neuigkeit. »Das Neueste ist: die Häuser Cormons und Ortaffa haben sich geeinigt – ein Vertrag mit achtundzwanzig Siegeln! Ortaffa! da geht der Böse um: alle Söhne, alle Töchter gestorben; und in Cormons geht der Gute um: alle fünf Söhne auf einen Tag ins Kloster; ich habe sie gekannt – blühende, edle Menschen! Was bleibt? In Ortaffa ein Kegel von der spanischen Hexe, vorvorehelich, Dom Otho. Wird adoptiert. In Cormons ein Sohn ersten Bettes der Markgräfin, ehelich, Dom Carl. Wird adoptiert. Und von des Herrn Rodero Blut ein schönes, junges, armes Wesen, Judith heißt sie. Ein Wesen aus dem Märchen. Man kauft es aus dem Verlöbnis aus und prügelt es dem ortaffanischen Kebssohn ins Brautbett, dem Alchimisten, er ist in der Furt.« – »Der Graf auch?« – »Graf auch. Sind ja seine Waren. Der handelt jüdischer als der Jud.« – »Wie darf Er so von Seinem Herrn sprechen?« – »Ich bin bischöflich.« – »Dann will ich dir einmal etwas über deinen Bischof sagen. Dein Bischof von Rodi, wenn er ein Kerl wäre, hätte die Hexe Barbosa, wenn sie Hexe wäre, in der Hand zerquetscht, statt von ihr Stiftungen zu nehmen! Austreiben den Teufel! auspeitschen!« – »Ich«, rief der Gegner, »peitsche dir eins!«
»Friedlich«, sagte der Hirt, stand auf und trennte sie, indem seine Arme sie links und rechts an die Hauswand schoben. – »Ein Mensch wie Goliath«, bemerkte der Ortaffaner. – Der Bischöfliche streckte die Hand hin. »Wer ist stärker?« Er wußte es, als er unten saß. – Der Hirt setzte sich wieder. »Was tut der Mohr?«
»Er scheint ruhig, sonst würde der Jude nicht fahren. Nach sechsundzwanzig Schlachten ist es ruhig. So schnell kann auch der Mohr nicht Kinder machen, wie sie umgebracht werden. Schaurig sieht es aus am Mohrengebirge: die Wälder abgebrannt bis auf die Stümpfe, die Felsen fußtief durchsickert von Blut; Ruinen, Skelette, verrostete Brustpanzer, Ratten. Da wird einem der Hals zum Kloß. Ich kam aus Mirsalon. Die christlichen Hafensäcke scheren sich einen Dreck um Kaiser und Reich; die zahlen ihren Tribut an den Mohren und lassen uns hier die Gurgeln durchschneiden; Prà hält es ebenso, christliche Republik! Franken hält es ebenso: leben in Saus und Braus. Unserm Markgrafen aber befiehlt der Kaiser, er soll den Emir von Dschondis ins Meer werfen. Und dem Emir befiehlt der Sultan, er soll Ortaffa schleifen. Fünf steinerne Festungen im Schilfmeer schleifen! Könnte ers nur! dann wären die Scharen des Propheten hinter Mirsalons Rücken am Tec, Rodi und Lorda muselmanisch und der Handel der lieben Christenheit am Ende.«
»Und nie kommt ein Kaiser«, sagte der Älteste. »Nie in meinen dreißig Fuhrjahren ist ein Kaiser gekommen, sich das anzusehen, was er da verlangt. Der sitzt jenseits der Alpen.« – »Und nie kommt ein Sultan, der sitzt jenseits des Meeres.« – »Und nie kommt ein Papst, vergiß den nicht; der verlangt das Gleiche.« – »Papst?« – »Er meint den Bischof von Rom.« – »Ah, den flotten Jüngling, der sich Heiliger Vater nennt?« – »Fragt sich, wer ihn so nennt. Von den hiesigen Bischöfen jedenfalls keiner, das sind kräftige Ritter, die ihren Mann stehen im Krieg, in der Liebe und vor dem Weinfaß. Denk an den in Trianna, an den in Frouscastel. Es dreht sich halt um den Peterspfennig, den will Rom abschöpfen von den Kirchenzehnten.« – »Peterspfennig? es dreht sich um Herrschaft! Das Heiraten hat er ihnen verboten, er selbst hurt auch nur, Simonie hat er verboten, weiß der Schinder was das ist, aber wenn er den Kaiser in den Bann tut, wie ers getan hat, dann machen sie alle mit, auch der Kardinal von Cormons, der hochfromme, Gott schütze uns. Wahr und wahrhaftig: der Kaiser ist im Bann, ist nach Haus geritten.« – »Das nutzt ihm wenig. Seine Großen, verlaß dich drauf, sind schneller. Kein Wolf reißt einen Wolf, keine Krähe hackt der andern die Augen aus. Fürst frißt Fürst. Ob wir noch lange kaiserlich sind?«
Der Hirt putzte sein sarazenisches Krummschwert und dachte an die Leichenvögel auf dem bischöflichen Kadaver in der Mur; an das Ergebenheitszittern der Schönen, ihre Liebeswollust, ihre betränten glücklichen Augen beim Abschied. Das alles dürfte Absolution erhalten, der Ornatfrevel auch, als Leibes Notdurft. Aber immer wieder kam er an die Erscheinung seiner toten Mutter. Manchmal erschien sie ihm, nie ohne Anlaß; immer war Sinn und Befehl dabei; jeden Befehl hatte er befolgt, keine ihrer Erscheinungen erzählt. Ihm war sie das Heilige. Konnte er beichten, daß sie gestern im Lager der Hirten nicht nur sich selbst, sondern die Monstranz offenbarte? Ein untergründiger Schauer sagte ihm, sein Leben werde verwirkt sein, sobald die Monstranz in ihrer Erde von Ghissi das Licht des Himmels erblicke. Konnte er den Raub eines Altargerätes beichten, ohne es herzugeben? Und ob absolviert oder nicht: er mußte noch heute, noch jetzt über die Gallamassa. Konnte er beichten, weshalb es notwendig war, sie zwischen sich und den Schäferkönig zu bringen, der wie ein Graf über Leben und Tod herrschte? Was verstanden die Priester von den Mannbarkeitszaubern, Geisterbeschwörungen, Fackel- und Trommeltänzen, die unter dem einsamen Nachthimmel des Hochlandes das heidnische Beilager eröffneten? Unter Schäfern und Bauern gab es das Sakrament erst, wenn die Bräute trächtig wurden. Aber die Entsiegelung galt. Schwerer als das Bespringen wog das Verschmähen. Mitten im Tanz erschien ihm die Mutter, mitten im Rausch machte sie ihn nüchtern. Erwählter Eidam des Schäferkönigs und ungekrönter Nachfolger, stahl er sich fort, ein Beleidiger der Ehre, verfolgt von Blutrache, denn das Mädchen hatte sich zu töten.
Zwei der Fuhrleute wurden abgerufen; ein Wagen lag um in der Furt, sie sollten anfassen. »Das Wasser fällt. Wenn Er hinüber will mit der Herde: jetzt wäre es günstig. Wir begleiten Ihn gern.« – »Ich gehe nur eben beten.« Er betrat die Kapelle. Sie war leer. Ein verlassenes Waisenkind, flehte er um Vergebung der Sünden, es sei kein Geistlicher da, sie zu beichten. Ausführlich bekannte er, was ihn bedrückte, bat um Schutz vor den heidnischen Kräften des Wassers und legte für die Seele des Bischofs von Trianna eine Münze in den Opferstock. Im Portal nahm er den Mantel ab, verschnürte ihn mit den Stelzen zum Bündel, ließ mit dem Reste des Öles Rücken und Schultern salben, Minze dareinreiben, die von den Stechmücken verabscheut wurde, salbte Arme und Beine gegen die Hitze über dem Fluß, rief den Hunden, die Helfer zu beschnobern, gab die Kette des Leittieres ab und ging voran in die Kieswüste, voran durch die Wasserarme, die sein Fuß prüfte, voran über Sandbreiten. Auf der Hauptinsel küßte er den Steigbügel des Herrn, den die Satteldecke als Herrn kenntlich machte: ob er, wenn die Handlanger die Fahrspur kurz freimachen könnten, seine Herden durch den Strom bringen dürfe. Der Herr peitschte einen Wasserbüffel, der ins Knie gebrochen war. Die Fuhrleute schüttelten den Kopf: »Nicht so!« riefen sie, »nicht so!« Der Hirt nahm das Tier beim Halfter, es erhob sich. »Scher dich hinüber!« sagte der Herr. – »Das war Dom Otho«, verriet man.
Hier strömte die Gallamassa schnell, glatt und schmutzig, da sie zuvor in gekrümmten Schleifen das Ufer auswusch, in der Mitte so tief, daß die Schafe eine kleine Strecke schwimmen mußten; die Lämmer trug man; die Fuhrleute standen als Fangwehr. Von den Mauthäusern herab trabte eine Reiterschar ins Wasser, vorweg ein äußerst vornehm gebarteter Herr. »Teufel! der Graf! jetzt setzt es Schwefel!« – »Was sind das für Herden?« schrie der Graf, während die Herden beunruhigt in Gegentrab fielen, kümmerte sich aber gar nicht um die Antwort, so gereizt war er durch den Aufenthalt der Wagen. Erst der Mautner verlangte nähere Auskunft, warum, da die Winterherden seit einer Woche nach Norden weideten, der Weg umgekehrt werde. – »Sie gehören dem Herrn von Ghissi, der will sie bei sich grasen.« – »Vernünftig. Zwei Silbergroschen.« – »So viel?« Er zahlte mit einer mirsalonischen Achtelmark, schwerem Geld. Der gräfliche Münzbeamte wog das Stück, warf es in die Schmelze und gab in ortaffanischen Stübern heraus, deren Prägung den Gebarteten zeigte.
Dies Kleingeld vertranken die Fuhrleute mit dem Schäfer. In der Ecke der Wirtsstube, den gelben Spitzhut auf dem Kopf, saß der Jude. Seine Finger spielten an dem ganz von Pocken vernarbten Munde. Glühende Augen richteten sich aus dem Dämmer auf das Goldbraun des Hirtenkörpers. Der Hirt begegnete dem Blick, zwang ihn zu Boden und brach auf. Ihm war nicht wohl unter dem Schatten des Galgens.
Still und gespannt, entlang dem Strome zurück, nach einer Wegstunde die sanfte Hügelflanke empor, zog er dahin und dachte an die Folge, die das Wort haben könne, die Herden gehörten dem Herrn von Ghissi. Nachmittags erreichte er den verkrauteten, schräg in den Himmel gestemmten Felssturz, auf dem, zwischen mannshohen Disteln und Opuntien, nur noch die Kirche halb verfallen ragte, durchwanderte Ring um Ring die Fundamente der toten Stadt, sprach ein Gebet über der Stelle, wo die Gemordeten begraben lagen, und blickte oft hinter sich beim Davongehen, schloß die Augen und sah Ghissi, wie es gewesen, gestaffelt zu mehrfacher Krone, eine weiße Stadt in lauter rosa Mandelblüten. Er sah sie lodern unter finsterer Rauchwolke, seine Erinnerung hörte Prasseln, seine Haut fühlte das Sengen der Luft, es kamen ihm Tränen. Damals hatte er nicht geweint.
In der Talfalte gegen den cormontischen Heerweg fand er, ohne zu suchen, den gezeichneten Baum, stark geworden, lotrecht, die Äste dicht geschlossen anliegend. Der Schnitt in der Rinde war von sechs Jahren Wachstum auseinandergetrieben; das Wurzelwerk, vom Wetter unterspült, hing über den Weg, der gestern als Kar geschäumt haben mußte. Der Hirt erklomm die Böschung, nahm den Krummsäbel, den er quer zum Rücken trug, klopfte mit dem Griff die verfilzte Grasnarbe, bis er den hohlen Klang hörte, den zu hören er sein Leben gewagt hatte seit gestern, wickelte den Mantel um und legte sich, die Kette des Leittieres am Fußknöchel, im Schatten eines Feigenbusches zum Schlafen nieder. Heute noch würde er in die Wurzeln Erdreich einbringen, morgen früh aus Feldsteinen ein Halbrund gegen den Hohlpfad schichten.
GHISSI
Das Wort von den Herden beschäftigte den Mautner. Durchaus war es möglich, daß damals in irgendeiner Talfalte Herden überlebten: damals, als der Mohr, einzeln bei Nacht durch die Grenzwachen geschlüpft, mit vier Hundertschaften Reitern in vier entsetzlichen Sichelschneisen alles, was Atem besaß, abschlachtete, Weiber und Kinder noch auf den Altären zerstückte, die Städte anzündete und hinter dem Flammenvorhang brennender Felder einen ungeheuren Bogen aus Feuersäulen über Nord nach Ost schlug. Von Marradî her war Ortaffa hinterdreingesetzt durch den Qualm der Zypressenhecken, durch den Rauch der Wagen in der Furt, durch Blutseen, Kadaver und glosende Asche, von überall stießen die Heerhaufen zu ihnen, Markgraf, Grafen und Bischöfe, Kriegsknechte, bewaffnete Mönche, bis sie in den Schluchten und Myrtenheiden an der Draga Rache nahmen auf eine Weise, daß ihnen der Schaum aus den Helmen trat.
Niemals wieder war Dom Peregrin, Herr auf Ghissi, in Ghissi gewesen; wohl in Amlo und Galabo, die gleichfalls zerstört lagen. Ghissi mied er; vielleicht um jener goldhaarigen Graziella willen, die er beschlafen hatte nach dem Rechte der ersten Nacht und später mehrfach. Goldenes Haar gab es selten in der Gegend, selten den hohen Wuchs. Die Kelgurier waren schwarz und klein. Menschen wie Graziella stammten immer von Herren und wußten es nicht. Niemand fragte, es tuschelte niemand, der Herr forschte nicht. Und jetzt also wollte Dom Peregrin seine Herden bei sich grasen. Wollte er das, warum murrte er dann, was das für Herden seien? warum ritt er an dem Schäfer vorüber, ohne auf Antwort zu bestehen? Nun, man war seine Launen gewöhnt, seit Schmerzen hinter der Stirn ihn quälten. Es hieß, er lasse seine Speisen vorkosten und hänge vorm Trinken seinen Smaragd in den Wein, auch bei der Messe: Smaragde, in Gift gebracht, verfärbten sich, sagte man, und wem die harten, stechenden Augen Domna Barbosas vorübergingen, der zeichnete heimlich das Kreuz.
Der Mautner, ein alter Mann, kannte Herrn Peregrin noch als jungen Ritter, frisch aus Böhmen in die Schlacht geworfen und sogleich mit dem Reichslehen Ghissi belohnt, kannte auch Domna Barbosa schon, als sie noch nicht Domna, sondern unverheiratetes Fräulein war – eine flaumbärtige, schöne Aragonierin, die, als der Letzte des uralt angestammten Hauses fiel, das Weiberlehen Ortaffa erbte. Sie wirkte ruhig und leutselig, aber Wunderdinge wurden geraunt von ihrer Leidenschaft, Mannstollheit und Teufelskunst. Man raunte, sie gehe über Leichen. Fest stand, daß sie schwanger wurde, bevor man in fliegender Eile einen Gemahl für sie suchte. Der Graf, kaum belehnt, verblich zwei Monde nach der Hochzeit. Kaum in der Grube, wurde er Vater eines Knaben. Der Knabe Otho konnte die Ritterschaft nicht befehligen; die Aragonierin auch nicht; Herr nach Herr lehnte ab zu vogten. Endlich zog Dom Peregrin mit seiner tirolischen Gemahlin und einer Schar kleiner, reizender Kinder auf die gewaltige Zuchtburg.
Als Erste starb die Tirolerin; die Witwe Barbosa bot dem Vogt mit der Ehe Grafenamt, Landnutz und Wechselbalg. Seither führte Herr Peregrin im Wappen den Stern der Verkündigung Christi, den Kometen des Magiers Balthasar, eines der Heiligen Drei Könige, der das Haus Ortaffa stiftete. Sie zeugten Kinder. All diese Kinder, mitgebrachte wie nachgeborene, hatten zu sterben um Othos willen, die Grafschaft wußte es, nur wußte sie weder wann noch in welcher Reihenfolge, noch unter welchen Umständen, die dann stets recht natürlich aussahen, Seuche, Bluthusten, ein Genickbruch beim Turnier, ein Kindbettfieber. Gott aber schlug Domna Barbosa mit Totgeburt über Totgeburt, Beelzebub würgte die Frucht im Schoße, bevor eine Seele hineinfuhr. Prälaten gingen aus und ein, Dom Peregrins Lachen schwand in der Wollust frommen Duldens. Als der doppelte Stammbaum bis zum letzten Blättchen entlaubt war, adoptierte er den Stiefkegel, für den sich eine Heirat nicht fand; gelegentlich rief er ihn Kain statt Otho; und er selbst oder der Markgraf oder beide sorgten bei der Krone Aragon als dem Lehnsherrn, daß die Grafschaft, in ein Mannlehen verwandelt, auf Peregrin übertragen wurde; das war des Markgrafen Bedingung; von der rührten die Kopfschmerzen; klar wie das Licht der Sonne stand vor den Ortaffanern die Gewißheit, daß die Tage ihres Herrn gezählt seien. Sie liebten ihn nicht; aber sie fürchteten sich vor dem, was hinter der Stirn des nun anerkannten Erben hervorkommen werde, eines bleichhäutig gedunsenen, trotz Ritterschaft dumpf geduckten Grüblers, der im alchimistischen Turm seinen Pakt mit dem Satan geschlossen hatte und vielleicht wirklich vom Nöck stammte, der Wöchnerin untergeschoben.
Der Mautner ging in die Wirtsstube, einen Krug Wein zu trinken. Dort saß noch immer der Jude, den gelben Hut seines Makels neben sich, und winkte ihm mit den Augen. Es war kirchlich verboten bei Strafe der Exkommunikation, der Aufforderung zu folgen, außer für regierende Herren und für Unehrliche; so übernahm der Schenke den Mittlerdienst. Es handle sich um den Knaben im Leopardenschurz; wer der sei? Ein Hirt. Ja, das hätten die Fuhrleute ihm schon gesagt. Ob er nicht wisse, wohin der gehöre? Der Mautner erklärte grob, er verkaufe keine christlichen Lustknaben, stürzte den Wein hinter die Kehle und stand auf. Im Fenster erschien der Kopf des Grafen. »Kammerknecht! Komm heraus!« Der Jude entschritt würdevoll.
Nach einer Weile, der Mautner aß seinen Ziegenkäse und bespülte ihn mit weiterem Wein, wurde die Tür aufgestoßen. Alles sprang von den Bänken. Graf Peregrin trat ergrimmt an den Tisch. »Was trinkst du hier, statt zu mauten? Schenke! einen Krug!« Seine Miene glättete sich zu gewittriger Stille. Er zog den Ring vom Finger, ließ ihn in die blaß rosafarbene Tiefe und fragte, während er auf eine Veränderung des Smaragdes wartete, was das für ein Hirt gewesen sei? ob er ihn kenne? – Ja, er kenne ihn seit sechs Jahren, vor einer Woche erst sei er nach Norden gezogen mit den Winterherden. – »Gestohlen. Wie hoch hast du gemautet?« – »Zwei Silbergroschen.« – »Für achthundert Tiere? Die Grafschaft lebt von der Furt! Wohin ist er gegangen?« – »Nach Ghissi, gräfliche Gnaden.« – »Sagte er das?« – »Er sagte, es seien die Herden des Herrn von Ghissi, der wolle sie bei sich grasen.« – »Ghissi bin ich. Ich habe nichts von Grasen befohlen. Holt mir den Fähnleinführer. Heda, Schenke: was ist mit dem Wein?«
Der Schenke betrachtete entsetzt den Krug. – »Nun, was ist?« – »Nichts ist, gräfliche Gnaden.« – »Warum schaust du so ertappt?« – »Erbarmen, Ihr macht Euch einen Spaß.« – »Ich spaße nie. Trink du den Wein!« Der Schenke ergriff den Krug. »Gut so. Gib ihn her. Fähnleinführer, reit Er sofort nach Ghissi, such Er da einen jungen Hirten mit seiner Herde und nehm Er den fest. Der Hirt trägt unter dem Mantel einen Gurt mit Messern, also Vorsicht. Und lebend will ich ihn haben. Die Herden: lebend. Reit Er nach Marradî; nach Ghissi nur, wenn auch der Meier nichts von dem Schäfer weiß.«
Graf Peregrin, mißtrauisch am Weine nippend, wandte sich aufs Neue an den Mautner. »Seit sechs Jahren, sagst du? Wie alt schätzest du ihn? Achtzehn? Zwanzig?« – »Vierzehn.« – »Niemals. Er ist mannbar, sein Körper ein Gebirge.« – »Auf dem Lande, gräfliche Gnaden, heiraten wir mit Vierzehn, die Mädchen mit Zwölf. Sicherlich ist er mannbar, Tag und Nacht im Freien, sicherlich ist er kräftig, Tag um Tag werkend, aber Schultern und Brustkorb werden noch viel mehr in die Breite gehen.« – »Demnach ist er Acht gewesen, als Ghissi umkam?« – »Jawohl.« – »Aber«, überlegte der Graf, »wer weiß, ob er aus Ghissi stammt?« – »Das weiß man fürs Erste nicht. Obwohl er blond ist.« – »Was hat seine Haarfarbe mit Ghissi zu tun?« – »Es hat damals ein Kind das Gemetzel überlebt, und zwar ein blondes.« – »Ich höre.« – »Es stand ein Kind beim Begräbnis am Rande des Kirchhofes, die Hände hinterm Rücken, und sah zu, und ist dann fort gewesen, Eure Leute haben noch Tage nach ihm gesucht, er blieb aber verschollen.«
Dom Peregrin, einen ungewohnten Schimmer von Weichheit in den Augen, blickte durch den alten Mann hindurch, den er am Wams hielt. Der alte Mann ahnte, an wen der hohe Herr, nun auch schon über die Sechzig, dachte. Niemand in der Wirtsstube rührte sich. »Hinaus ihr alle«, murmelte der Graf; sie schlichen vor die Tür.
»Wenn dies mein Blut wäre …« fuhr er ebenso leise fort. »Was treibt ihn nach Ghissi? Wird schon jener Knabe sein. Es war ein Knabe bräunlich und schön, sagt die Heilige Schrift, von wem?« – »Von David.« – »Es war, sagt der Jude, ein Hirt wie David, bräunlich und schön, ein Erwählter des Herrn. Was versteht ihr Juden, habe ich ihn gefragt, unter einem Erwählten des Herrn? Gibt es die häufig? Nein, sagt er, einen einzigen außer diesem habe er getroffen sein Lebtag; wen, das verriet er nicht; sie seien geboren zu Großem. Sie brächten, sagt er, Glück über die Menschen, indem sie das Unglück auf sich zögen wie der Baum den Blitz; und wie das Wasser sickerten sie durch alle Mauern. Soll ich einen solchen aufhängen, weil er Herden stiehlt? Wer stiehlt, ist gewiß meines Blutes nicht. Was meinst du?«
»Gräfliche Gnaden«, sagte der Mautner, »Ihr zeichnet Euren Knecht aus durch Vertrauen; Ihr denkt an jene Graziella, die Ihr auszeichnetet durch Herablassung, vor fünfzehn Jahren, Anno Elfhundert. Ihr liebtet jene Graziella. Darf ich weitersprechen?« – »Sprich.« – »Ihr sprachet von Eurem Blute. Jener Schäfer ist nicht gewöhnlicher Artung, die Begegnung nicht gewöhnlich.« – »Du meinst, sie sei eine Herausforderung?« – »Vielleicht nicht das. Vielleicht ein Fingerzeig des Himmels.« – »Inwiefern?« – »Insofern Ihr alle Eure ehelichen Söhne verloret.«
»Schweig!« rief der Graf, »ich wünsche nicht an Tote erinnert zu werden!«, kehrte sich brüsk um und verließ die Schenke. »Dom Otho!« Man blies den Stiefsohn herbei, der aus dem Sattel glitt, die Hand des Vaters zu küssen. Dom Peregrin, eine steile Zornesfalte zwischen den Brauen, entzog sie ihm, befahl seine Falkner, sein Pferd, saß auf und verkündete, was bis Sonnenuntergang nicht über den Fluß sei, solle am Nordufer eine Wagenburg bilden, er reite jetzt heim, Herr Otho habe über Nacht an der Maut zu verbleiben. »Seht zu, was ihr in den zwei Stunden noch schafft.«
Von widerstreitenden Empfindungen zerrissen, ritt er gegen Ortaffa nach Süden, wendete hinter Marradî mitten in das Gefolge hinein, machte auch im Meierhof, als er kein Fähnlein sah, auf der Hinterhand kehrt, preschte die cormontische Heerstraße ostwärts, fiel in Trab zurück, dann in Schritt und horchte über die Höhen zur Gallamassa hinunter. Von jenseits eines Opuntiendickichts hörte er vielstimmiges Hundegekläff. Er sprengte an der Kaktuswand entlang und zurück, bis der verwachsene Durchlaß gefunden war, den er freihieb. Am Hang gegen Ghissi unter verdorrten Ölbäumen erblickte er in der Herde sogleich den Hirten, nackt bis auf Schilfhut und Gurt. Graf und Kavalkade verhielten im Hohlweg. Der Hirt regierte die Stelzen mit den Achseln; in jeder Hand ein Messer, zwischen den Zähnen ein Krummschwert, nach hinten von der stachligen Hecke gedeckt, nahm er seinen Weg von Baum zu Baum, umschwärmt von den Reitern, die ihn fangen sollten. Schneidig fuhren die Hunde den Pferden in den immer erneuerten und immer neu abgeschlagenen Angriff. Dom Peregrin lächelte.
Die Knechte bemerkten ihn nicht. Sie verhandelten, schimpften, drohten, legten entgegen ausdrücklichem Auftrag ihre Lanzen ein und trafen Anstalt, über die Tierrücken hinwegzusetzen. In diesem Augenblick blitzte ein Messer durch die Luft. Der Graf beobachtete. Ein Igel taumelte durchs Gras, den Dolch quer unter dem Rückgrat. »Sperber!« Der Vogel krallte sich in die Handschuhstulpe, schwankend, weil noch blind. »Kappe ab!« In die Richtung geschleudert, segelte er flach auf, stieß nieder, schlug das Wild und landete auf der Stulpe des Herrn. Des Herrn Kinnladen mahlten. Er prüfte den Dolch auf das Genaueste, steckte ihn ein und zog umständlich sein Schwert. Die verendete Beute aufspießend, befahl er zu blasen und ritt vor, indem er Waffe und Kadaver weit seitwärts in die Luft hielt. »Triff!« Die Hunde nahmen ihn an, beruhigten sich und kehrten zu dem Stelzhirten zurück. »Triff!« Der Hirt lächelte, wie zuvor der Herr, gehorchte auch der zweiten Aufforderung nicht, sondern schob Messer und Säbel in die Schlaufen des Schurzes, sprang von den Hölzern und kam, die trottende Herde hinter sich, den Steigbügel des kaiserlichen Blutrichters zu küssen.
Der Gebartete, umringt von grauwollenen Schafen, weißen Lämmern und maronenfarbigen, schwarz geflammten Ziegen, dafür getrennt von seinen Leuten, warf ihm den Igel vor die Füße. »Auf Wildfrevel steht Galgen!« rief er hart. »Entwaffnet ihn.« – Der Schäfer sah ihn voll an. »Das wäre Heimtücke, und ein Fleck auf der Ehre des Herrn Grafen.« Die Knechte zögerten. Dom Peregrin äußerte sich nicht. Vom Sattel herab betrachtete er das flüssige Gliederspiel des Gesuchten, der, ohne die Aufhebung des Befehls abzuwarten, den Rücken beugte, die Kette des Leittieres vom Knöchel nestelte und sich wieder aufrichtete.
»Sollte der Igel«, fragte Dom Peregrin, »meinen Knechten zeigen, was sie von dir zu gewärtigen hätten?« – »Ja, Herr.« – »Ins Gesicht?« – »Ja, Herr.« – »Das wäre am Rade gebüßt worden. Tu den Hut ab! Wie kommst du an solche Messer?« – »Ich schmiedete sie bei den Nomaden.« – »Und das Krummschwert?« – »Ich nahm es einem Mohren.« – »Ah, der erlaubte es?« – »Nein.« – »Wie also?!« – »Ich erwürgte ihn.« – Die Knechte pfiffen durch die Zähne. – »Zeig mir deine Hände. Nicht gebrandmarkt? Gib mir deine Hand. Gib sie. Nun? Drück zu. Drück.«
Im Sattel niedergezwungen, nutzte er die Bewegung, um abzusitzen. »Laßt mich allein«, befahl er. Und heftiger: »Ihr sollt mich allein lassen, der Mann ist gutartig.« Das Gefolge entfernte sich. »Komm näher«, sagte der Graf, während seine Hand in der Mähne des Falben spielte. Sie standen einander Auge in Auge gegenüber, der stählerne Panzer dicht an der Haut des Totgeglaubten. Des Hirten Blick irrte nicht ab, trübte sich nicht, nur hie und da ging das Lid nieder und schlug sich voll wieder auf. Dann nahm der Graf Abstand, faßte den Jungen am Kinn, drehte ihm den Kopf zur Seite, zur anderen, und nochmals zurück. »Du siehst deiner Mutter recht ähnlich«, sagte er. »Deinem Vater weniger. Er war ein tüchtiger Gastalde meiner schönen Stadt. Wie heißt du?« – »Ich weiß es nicht.« – »Du hast keinen Taufnamen?« – »Die Taufpaten sind tot.« – »Wurdest du gefirmelt?« – »In Trimarî.« – »Nun, und? auf welchen Namen?« – »Der Bischof hat im Kalender der Heiligen nachgeschaut.« – »Gut. Dann hast du doch einen Namen.« – »Ich vergaß ihn.« – »Aber die Hirten werden dich schließlich irgendwie angeredet haben!« – »Mon Dom.« – Der Graf lachte kurz. »Empfanden sie dich als Herrn. Und die Mutter?« – »Mom Barrâl.« – »Dachs? Du scheinst mir eher ein Marder!« – »Manchmal, wenn sie sehr traurig war«, ergänzte der Hirt, »Barralî.«
Bart und Lider des Grafen zuckten. Barral bemerkte es. Dies wieder bemerkte der Graf. »Setzen wir uns. Erzähle. Aber nichts weiter von der Mutter. Nichts davon, daß sie traurig war. Erzähle mir dein Leben, und warum du zurückkamest in die Trümmer, das Unkraut, die Ödnis.« – »Da ist nicht viel zu erzählen, Herr. Ich bin der Letzte von Ghissi, die Herden von Ghissi habe ich groß gemacht, nun will ich Ghissi bestellen.« – »Gehört es dir?« – »Der Herr, dem es gehörte, Herr, hat nichts getan. Die Brache kennt diesen Herrn nicht.« – »Deine Sprache ist kühn, mein Junge. In Kelgurien benötige ich keine Ackersleute, Brache habe ich genug, sondern Metzger. Was war mit dem Mohren, den du umbrachtest? war das damals beim Untergang von Ghissi?« – »Da drüben«, sagte Barral. »Aus der Pinienkrone bin ich auf ihn gesprungen, sein Pferd lahmte.« – »Hast du es eingefangen?« – »Ich verkaufte es gegen Schafe und Ziegen. Nur die Satteldecke behielt ich, für den Gürtel.«
Zäh floß das Gespräch, die Sonne ging hinunter. Immerhin erfuhr der Graf von dem Schweigsamen eine Menge des ihm Wissenswerten. Aus hundert kleinen Antworten setzte er sich die sechs Jahre zusammen, in denen ein Waisenkind, begabt mit Umsicht, Neugier und Mut, den steinigen Weg neben der Straße gegangen war, wobei es, während des Überwinterns der Herden in den Mündungen des Tec, sich Künste angeeignet hatte, die nicht einmal Ritter beherrschten: dieser Schäfer ritt; er ritt ohne Sattel und Zügel, was ihn die Pferdehirten der Sumpfhöfe lehrten; er focht; er pflügte, und zwar mit der eisernen Schaar, die Bauern blieben störrisch bei ihren Astgabeln; er schrieb, las und rechnete beim Pfaffen in Trimarî. »Woher nahmst du die Zeit?« – »Wir Schäfer haben Zeit.« – »Muß man das alles können als Schäfer?« – »Das und mehr.« – »Zum Beispiel?« – »Den Biß der Schlange ausglühen.« – »Rede.« – »Eine Wasserader im Erdreich finden und anschlagen.« – »Rede, rede.« – »Wir verstehen uns auf Kräuter und ihre Heilkraft.« – »Weiter.« – »Auf Wundverbände und Brüche; auf Verrenkungen; das ist wichtiger als Schreiben und Lesen.« – »Weiter?« – »Wir entbinden die Weiber und schneiden Verwachsungen der Mannsrute. Wir zähmen den Milan, wir sehen bei Nacht ohne Licht, und wenn wir so viel schwatzen wie ich, stößt man uns aus mit Schimpf.«
An der Furt loderten die Wachfeuer auf, man sah den Schein hinter den Hügeln. Ein Herr des Gefolges kam: »Herr Graf, es wird bald zu dämmrig für den Heimritt.« – »Such Er den Mantel des Hirten«, sagte Dom Peregrin. Der Herr entfernte sich feindselig. Barral gab die Kette des Leittieres dem Grafen, der sie verdutzt entgegennahm, und sprang in langem, flachem Lauf durch das schon betaute Gras, den Mantel zu holen.
Inzwischen hatte Dom Peregrin, an Graziella denkend, wieder den weichen Zug angenommen, der von Traum und Güte sprach, bei Barrals Rückkehr jedoch sofort verschwand. »Setz dich«, befahl er. »Nicht dort. Zu meinen Füßen, mir gegenüber. Du äußertest, ich habe für Ghissi nichts getan, seit es umgebracht wurde; das ist richtig, das hatte Gründe; ich kann nur ackern mit Leuten, die es tun; tote Leute ackern nicht mehr. An jenem Tage sind gut fünftausend Menschen in den Himmel oder zur Hölle gefahren, erschlagen, erwürgt, erstochen, in den Flammen erstickt und verbrannt, vier Städte dem Erdboden gleichgemacht, die Brunnen mit Leichen gefüllt. Dann kam der Frost, und die Bäume starben.« – »Die Ölbäume«, unterbrach Barral, »wären zu retten gewesen.« – »Weißt du nicht«, fragte Dom Peregrin, »daß man mich unaufgefordert nicht anzusprechen hat? Lerne deine Aufsässigkeit unterdrücken. Senke den Blick. Auch um Bäume zu beschneiden, brauche ich Menschen. Weil ich die Menschen zu den Bäumen nicht hatte, behauptest du nun, ich habe mein Recht verwirkt. Das ist ein Irrtum. Weder verfällt das Recht noch verfällt die Pflicht. Sogar von dieser Erde, die nicht mehr trägt, muß ich, weil sie mir verliehen wurde, meinen Zehnt an den Kaiser zahlen und meinen Zehnt an die Kirche. Nach dem Recht, gewöhne dich daran, ist diese Erde mein, der Igel mein, der Dachs, der Baum, die Frucht, der Mensch ohnehin, jede Stadt, jedes herrenlos gewordene Gut, das Pferd, das du raubtest, die Waffen, die du trägst, auch deine Schafe und Ziegen mein. All das gehört mir von Gnaden des Kaisers, gegen den zehnten Teil des Ertrages. Ich verleihe es weiter an meine Nachlehner, gegen den zehnten Teil des Ertrages, den sie daraus ziehen. Sie ziehen ihn aus dem, was ihre Pächter, ihre unfreien Meier, ihre leibeigenen Bauern schaffen. Der Bauer ist der Letzte und Ärmste und hat es am schwersten; nie kann irgend etwas aus ihm werden, er kommt nie weiter als das Geviert ihm erlaubt, das er ackert. Ghissi ist Baronat. Kein Bauer kann es bestellen, das könnte nur ein landsässiger Baron, der viel Geld, viele Pächter, viele Bauern besitzt. Dafür wird er dem Markgrafen heerespflichtig, das ist der Sinn des Lehnsrechtes; er muß Ritter sein und ein freier Mann. Frei ist man nicht von Geburt, sondern man wird gefreit, vor dem Heere.«
Er erhob sich. »Hirt bist du gewesen, Bauer wirst du nicht werden. Aufhängen will ich dich nicht, obwohl du gestohlen hast. Still, kein Wort! es ist so; auch wenn du dich im Rechte glaubtest. Mit dem höheren Rechte dessen, dem du gehörst, verzeihe ich dir die Unkenntnis des Gesetzes und nehme dich in ritterliche Zucht, denn ich brauche Fäuste, die ein Schwert führen, keinen Ölmüller.«
»Und meine Herden, meine Hunde?«
»Die lasse ich dir; suche dir einen anderen Hirten; den besoldest du aus dem Ertrag der Herden. Du wirst sie nach Marradî auf meinen Meierhof bringen, wo gesonderte Rechnung zu legen ist. Ich gebe in Marradî Bescheid, du findest dich auf Ortaffa ein. Versprich es mir in die Hand.«
Barrals Mißtrauen erwachte. »Ich soll Euch etwas versprechen, und Ihr versprecht mir Ghissi nicht?«
Dom Peregrin biß sich die Lippe. »Halte mir den Bügel«, befahl er frostig, saß auf, unvermittelt, ohne Gruß, wendete und sprengte von dannen. Der Falbe setzte über den Hohlweg, die nächste Senke verschlang ihn. Hinter den Opuntien löste sich das Gefolge, um hinterdreinzustieben. Bald waren sie im Abendgrau hinter dem steinbesäten Kamm gegen Marradî versunken. Barral blickte ihnen nach, bis er die Schnauze des Lieblingshundes gegen die Handfläche stoßen fühlte. Das hieß Schlafengehen. Schlafengehen hieß einen Pferch suchen.
Die Kirche von Ghissi war ein guter Pferch. Wie fast alle Kirchen Westkelguriens hatte sie klafterdicke Wände, winzige Fenster im Chor und auf der Längsseite gegen Süd, Türen nur in Süd und West, weil, wenn der Schlammfresser eisig von Norden durch das Stromtal des Tec tobte, jedes Fenster von ihm eingedrückt, jede Tür hinaus geblasen worden wäre, und das Hauptportal mit der Vorhalle, wo die Katechumenen standen – ungefirmelt durfte niemand hinein –, war nicht jenes an der Stirn des Schiffes wie in Rodi und Sedisteron, sondern zur Seite des Altars, unter der dunklen Blindkuppel, aus der die Glockenseile herabhingen einst: zerstört nun, die Wölbungen halb herabgebrochen, ihr Schutt überwachsen, Vogelnester und Spinnweben.
An den Eingängen schichtete er Steine auf gegen wildes Getier, kappte ein paar trockene Ölzweige, schnitt Späne von einem angekohlten Deckenbalken, holte aus dem Mantel Zunder und Feuerstein, schlug Funken und ließ die Flammen prasseln; den Igel weidete er aus, wälzte ihn in zusammengescharrtem Staube, den er mit Ziegenmilch feuchtete, briet ihn und freute sich seines jungen Lebens, mit sich selber ganz unbeschäftigt.
Das Glosen der Asche aber, während er einschlief, machte ihn doch träumen von damals: wie er, obwohl alles tot war, zögerte, als Nichtkonfirmierter die geweihte Schwelle zu übertreten, und wie er sich umschaute, ob niemand ihn sehe. Die Glieder noch zuckend von dem kurzen Mordkampf mit dem Mohren, die Zunge noch salzig von dem zermalmenden Biß in die Gurgel, die Augen verklebt von Schweiß, Erde, Gräsern und Rauch, war er durch die Blutlachen gewatet bis zu dem wespenhaft hochgekrümmten Rumpf des geköpften Dekans, der sich, als er ihn mit dem Fuß umdrehte, langsam ausstreckte und dem Letzten von Ghissi die Monstranz freigab.
ORTAFFA
Marrad, Fliehburg und fester Ort, lag wie Ghissi als Sturz in Hgelwellen, die sich weithin zur Gallamassa senkten, gegen Sdwinde geschtzt durch den bizarren Hahnenkamm eines vielfach gebuckelten, vielfach gestaffelten, schrundigen Felsgebirges, das Schulter Satans hie. Im Schatten des von Trmen und Zinnen starrenden Kastells streckte der Meierhof, auch er ein Kastell, seine Gebude vor, niedrig, die Dcher steingedeckt, die Torflgel eisenverkleidet, die Fenster gesichert mit tischgroen, armdicken Steinlden auf steinernen Zapfen. Inzwischen schien Friede eingekehrt. Alles stand offen, Schweine und Federvieh waren drauen, man hckselte Stroh vom Stadel, wendete Dung, Knoblauchdfte entwlkten den Kchen. Der Meier begrte Barral und schlug ihm vor, die Herde zu berantworten auf Treu und Glauben, er werde es eilig haben nach Ortaffa.
Barral sah ihn tiefsinnig an. Er beschaute das Wetter, den Hof, die Mnche im Priorat, im Kastell die Schmiede. Der Schmied vermittelte einen Notpferch, denn in der Meierei war kein Pferch verfgbar, wohl aber dland. Dies wird ein Feld, sagte der Meier. Dies wird ein Pferch, sagte Barral und begann ihn zu errichten, zunchst allein, weil ihm Hilfe geweigert wurde, dann mit den Kindern des Ortes, die ihn liebten, weil er Mrchen erzhlte, nach einer Woche mit Kriegsknechten. Er baute ihn auf aus toten sten, Steinen und Lehm; er schnitt, ihn zu decken, Schilf in den versumpften Altwassern der Furt Ongor; er baute ein Zhltor, das den Meier und die Frau nach zehn Tagen berzeugte, es seien wirklich achthundert und zweiundfnfzig Tiere, nicht gerechnet jene zwei, die er dem Prior schenkte, nachdem er gehrt hatte, man munkele, der Graf wolle Ghissi verklostern. Gegen diese zwei Tiere meielten die Mnche einen Betstock, den der Bischof der Pfarrer versprach es nach der Beichte bei nchster Visitation weihen wrde, so da auch ein Abt den Baum, zu dessen Fen der Heilige stehen sollte, nicht konnte schlagen lassen.
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