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Lass dir dein Kind von der Kinderdolmetscherin »übersetzen« – dann wird Erziehung zum Kinderspiel Die Zeit, die wir mit unseren Kindern verbringen, kann so schön, lebendig und inspirierend sein. Kommt die Erziehung ins Spiel, hat der Spaß schnell ein Ende. Die Diplom-Psychologin Claudia Schwarzlmüller bricht mit dem üblichen Ratgeber-Stil, indem sie ein Kind namens Alex seine Entwicklung vom Baby bis zum Schulkind durchleben lässt. Aus Alex´ Sicht erfährt man die Welt und bekommt so ganz ohne erhobenen Zeigefinger ein Gefühl für die Wahrnehmung eines Kindes. Dadurch wird Eltern ein umfassender Einblick in alle Entwicklungsbereiche wie Denken, Spielen, Beziehungen, Bewegung und Sprechen des jeweiligen Entwicklungsalters ihres Kindes eröffnet. Auf entspannte und auch unterhaltsame Weise wird hier das Verhalten des Kindes von einer Kinderdolmetscherin »übersetzt«. Zusätzlich erhalten Eltern mit dem seit Jahrzehnten weltweit bewährten Konzept der Leitungs- und Folgemomente einen Ansatz für die Erziehung, der leicht verständlich und konkret im Alltag umsetzbar ist.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 405
Claudia Schwarzlmüller
Was dein Kind fühlt, denkt und wie du damit umgehst
Schlaflose Nächte, dramatische Wutanfälle und viele gut gemeinte Ratschläge?
Willst Du Dein Kind wirklich verstehen? Ein Perspektivwechsel wirkt Wunder!
Die »Kinderdolmetscherin« Claudia Schwarzlmüller lädt dich ein, die Welt durch die Augen deines Kindes zu betrachten. Vom ersten Tag bis zum Schulbeginn gibt sie dir einen wertvollen Schlüssel an die Hand, das Verhalten deines Kindes zu deuten und es zu unterstützen, ohne dich dabei selbst unter Stress zu setzen.
Du erhältst einen umfassenden Einblick in alle Entwicklungsbereiche wie Denken, Spielen, Beziehungen, Bewegung und Sprache des jeweiligen Entwicklungsalters. Durch einfache und im Alltag problemlos umsetzbare Strategien zeigt dir die Kinderdolmetscherin, wie es gelingt, selbst schwierige Situationen gelassen zu bestehen und eine liebevolle und entspannte Bindung zu deinem Kind aufzubauen.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Claudia Schwarzlmüller (*1970) begleitet seit 20 Jahren als Diplom-Psychologin für Kinder und Jugendliche Familien und Pädagogen in ihrem Leben und ihrer Arbeit mit Kindern. Sie verfügt über jahrzehntelange Erfahrungen im Kinderbereich von Kinderpsychiatrie bis Kita und hat diverse Fort- und Weiterbildungen, unter anderem in Kommunikation und Videointeraktionsanalyse, absolviert. In den sozialen Medien besitzt die Kinderdolmetscherin mit ihren praxisorientierten Methoden das Vertrauen einer großen und stetig wachsenden Community.
Einleitung
Darf ich vorstellen: Alex
Aufbau des Buches
Die Grundlage: Leiten und Folgen
Interaktion statt Erziehung
Gute Interaktion braucht Wissen über Entwicklung
Gute Interaktion braucht Sicherheit im Umgang
Folgemomente: Du folgst deinem Kind
Leitungsmomente: Du leitest dein Kind
Work-Life-Balance für Kleinkinder
Zusammenfassung
Dein Baby
Die Entwicklung mit 0 bis 6 Monaten
Denken und Spielen
Gefühle und Beziehungen
Bewegung
Sprache
Stillen
Schlafen
Auf einen Blick: 0 bis 6 Monate
Die Entwicklung mit 6 bis 12 Monaten
Denken und Spielen
Gefühle und Beziehungen
Bewegung
Sprache
Schlafen
Auf einen Blick: 6 bis 12 Monate
Was für Eltern wichtig ist bei Babys
Leitungsmomente bei Babys
Folgemomente bei Babys
Dein Kleinkind
Die Entwicklung von 12 bis 18 Monaten
Denken und Spielen
Gefühle und Beziehungen
Bewegung
Sprache
Auf einen Blick: 12 bis 18 Monate
Die Entwicklung mit 18 bis 24 Monaten
Denken und Spielen
Gefühle und Beziehungen
Bewegung
Sprache
Auf einen Blick: 18 bis 24 Monate
Was für Eltern wichtig ist bei 1-Jährigen
Leitungsmomente bei 1-Jährigen
Folgemomente bei 1-Jährigen
Vom Kleinkind zum Kindergartenkind
Die Entwicklung mit 2 Jahren
Denken und Spielen
Gefühle und Beziehungen
Bewegung
Sprache
Auf einen Blick: 2 Jahre
Die Entwicklung mit 3 Jahren
Denken und Spielen
Gefühle und Beziehungen
Bewegung
Sprache
Auf einen Blick: 3 Jahre
Was für Eltern wichtig ist bei 2- bis 3-Jährigen
Leitungsmomente bei 2- bis 3-Jährigen
Folgemomente bei 2- bis 3-Jährigen
Vom Kindergartenkind zum Vorschulkind
Die Entwicklung mit 4 Jahren
Denken und Spielen
Gefühle und Beziehungen
Bewegung
Sprache
Auf einen Blick: 4 Jahre
Die Entwicklung mit 5 bis 6 Jahren
Denken und Spielen
Gefühle und Beziehungen
Bewegung
Sprache
Auf einen Blick: 5 bis 6 Jahre
Was für Eltern wichtig ist bei 4- bis 6-Jährigen
Leitungsmomente bei 4- bis 6-Jährigen
Folgemomente bei 4- bis 6-Jährigen
Worauf du dich freuen kannst
Mein Wunsch für die Zukunft
Dankbar sein
Literatur
Grundlage dieses Buches
Zum Weiterlesen
Neulich saß ich im Café. Eine Mutter kam herein mit ihrer ungefähr achtzehn Monate alten Tochter. Man sah der Mama ihren Wunsch an: Wenigstens kurz eine schöne Tasse Kaffee in gemütlicher Umgebung trinken und dabei etwas zur Ruhe kommen. Sie ließ sich erschöpft in einen der bequemen Sessel sinken.
Ihre Tochter dagegen machte einen ganz anderen Eindruck. Neugierig sah sie sich um und entdeckte die Details, die bunte Eiskarte an der Theke, die polierten Tischflächen, und sie lauschte gebannt dem lauten Zischen der Espressomaschine.
Sie betrachtete das Café mit ganz anderen Zielen: Was gab es hier Neues zu entdecken? Wie konnte sie diese Umgebung für ihre Entwicklung nutzen? Stillsitzen war für sie verlorene Entwicklungszeit – und im Gegensatz zu ihrer Mama konnte sie sich das in ihrem Alter echt noch nicht leisten. Sie hatte noch sehr viele Entwicklungsaufgaben vor sich, bevor es auch für sie sinnvoll sein könnte, ruhig im Café zu sitzen.
Die unterschiedlichen Sichtweisen von Erwachsenen und kleinen Kindern auf die Welt faszinieren mich schon mein Leben lang. Ich bin sehr dankbar dafür, dass ich – als auf Kinder spezialisierte Psychologin – schon seit Jahrzehnten viele Kinder und ihre Familien in verschiedenen Kontexten begleiten darf. Meine beiden wunderbaren Söhne sind groß: Die Mission Mama ist erfolgreich abgeschlossen. Nach vielen Jahren des Lernens und Beobachtens möchte ich als »Kinderdolmetscherin« das Verhalten von Kindern für die Erwachsenen übersetzen und so eine Brücke zum tieferen Verständnis und zu einem entspannteren Miteinander schaffen.
Deshalb habe ich einen Weg gewählt, der dieses Buch von vielen anderen Erziehungsbüchern unterscheidet. Ich beschreibe die Entwicklung aus der Sicht eines Kindes namens Alex, das wir von seinen ersten Lebenstagen bis zur Einschulung bei seinen alltäglichen Abenteuern begleiten. Alex macht dabei die ganz normalen Entwicklungsschritte und Probleme durch.
Du wirst dein Kind, dich und eure Familie hoffentlich in vielen Situationen wiedererkennen. Ich gebe dir alles Wichtige an die Hand, was du brauchst, um dein Kind besser zu verstehen und genau zu wissen, was du in dem jeweiligen Alter erwarten oder verlangen kannst – und was nicht.
Du erhältst einen Überblick über die Entwicklung von Denken und Spielen, Gefühlen und Beziehungen, Bewegung und Sprechen vom Baby bis zum Schulkind.
Ich hoffe, das wird dir dabei helfen, viele gute Momente mit deinem Kind zu erleben. Denn ein Kind in seiner Entwicklung zu begleiten, ist eigentlich ein eher spielerischer Prozess. Und vor allem keine Raketenwissenschaft.
Es ist viel leichter, als du denkst. Ich möchte neben dem Wissen über Kinder auch etwas Ordnung in das Chaos der vielen verschiedenen Erziehungsansätze bringen. Wusstest du, dass du dir in jeder Situation im Leben mit Kindern immer nur eine einzige Frage stellen musst? Und dann sofort weißt, was zu tun ist? Ich stelle dir hier die beiden Grundelemente der Erziehung vor, nach denen Eltern weltweit erfolgreich mit Kindern agieren – meist intuitiv, ohne es bewusst zu wissen. »Leiten« und »Folgen« heißen diese Zauberwörter, die dir das Leben so viel einfacher machen können.
Als »Kinderdolmetscherin« möchte ich
dir die Entwicklungsaufgaben deines Kindes in den verschiedenen Lebensaltern zeigen und so dein Kind für dich »übersetzen«.
viele Missverständnisse zwischen Eltern und Kindern aus dem Weg räumen, so dass du dein Kind auf einer tieferen Ebene verstehen lernst.
Orientierung im Erziehungsdschungel schaffen und dir mit dem Leiten und Folgen etwas Konkretes an die Hand geben.
dass du unabhängiger wirst von den vielen Ratschlägen von außen, und eine Grundlage hast, auf der du deine eigenen Entscheidungen treffen kannst. Denn deine Erziehung ist nichts Feststehendes, sondern etwas, was zwischen dir und deinem Kind immer wieder neu entsteht.
mit dir das Wunder der Entwicklung teilen, die dein Kind ganz von selbst durchläuft – und dass es dafür keine perfekten Eltern braucht.
dass du entspannter mit deinem Kind umgehen kannst und dir viel, viel weniger Stress machst.
Du musst so viel weniger tun, als du denkst. Versprochen!
Wer ist nun dieses Kind, das du in diesem Buch kennenlernen wirst? Alex ist das einzige Durchschnittskind der Welt, denn kein einziges Kind entspricht dem Durchschnitt. Wirklich keines. Darum ist alles, was du jetzt über Alex liest, als Richtwert zu verstehen und nicht als absolute Wahrheit über dein eigenes Kind. Du kannst den ganz normalen elterlichen Ich-fühle-mich-sofort-schlecht-wenn-es-bei-uns-anders-ist-Modus gerne weglassen, dann ist es bei deinem Kind eben anders, und das ist genauso gut.
Entwicklung ist extrem variantenreich. Einige Kinder entwickeln beispielsweise erst die Sprache, vernachlässigen dabei die Bewegung oder umgekehrt – aber dann ziehen sie plötzlich auch in dem anderen Bereich nach. Teilweise kann dein Kind in einem Entwicklungsbereich bis zu eineinhalb Jahre früher oder später dran sein und es ist immer noch total normal entwickelt. Einige Kinder zeigen ein besonders extremes Verhalten, andere wiederum gar nicht, oder es werden Entwicklungsschritte komplett übersprungen.
Außerdem wichtig: Schneller heißt nicht besser! Lass dein Kind seine Entwicklungsschritte gerne ganz in Ruhe vorbereiten und warte geduldig ab, ob sie irgendwann im Laufe des entsprechenden Lebensjahres auftreten.
Falls du umfassender informiert sein möchtest, dann lies gerne auch noch das Kapitel vor und nach dem Alter deines Kindes, dort können auch noch für dich relevante Informationen stehen. Denn es ist wie gesagt eigentlich nicht möglich, Entwicklung auf ein bestimmtes Alter festzulegen.
Doch zurück zu Alex: Alex steht für Alexandra oder Alexander und ist abwechselnd weiblich oder männlich. Es geht also im ersten Kapitel um ein männliches Kind, im zweiten ist Alex weiblich, dann wieder männlich und so weiter. Alex’ Erfahrungen und Geschichten in diesem Buch sind übrigens alle wirklich passiert, aber sie stammen von mehreren Kindern.
Nicht nur Alex ist durchschnittlich, auch Alex’ Eltern sind Durchschnittseltern. Sie sind ein ganz normales Paar, ich habe die beiden Jan und Julia genannt. Sie haben die üblichen Ängste und Schwierigkeiten, und vielleicht erkennst du dich in einigen wieder. Falls du in einer ganz anderen Paar-Konstellation leben solltest, gleichgeschlechtlich liebst, oder du alleinerziehend bist, hoffe ich, dass du das für dich dann bitte einfach »umdenkst«. Du bist ausdrücklich mitgemeint.
Als »Kinderdolmetscherin« habe ich mich bemüht, aus der Sicht von Alex’ Entwicklungsstand und Innenwelt zu schreiben. Eigentlich ist das ziemlich anmaßend, denn natürlich weiß niemand wirklich, was jemand anderes denkt oder fühlt.
Es geht bei den Beschreibungen ausdrücklich nicht um Verhaltensauffälligkeiten, sondern um die ganz normale Entwicklung. Ich habe mich um den aktuellen wissenschaftlichen Stand bemüht, kann aber Irrtümer natürlich nicht ausschließen. Ich habe mir aus dem riesigen Bereich der Entwicklungspsychologie die Themen herausgesucht, die mir für den praktischen Umgang und das Verständnis von Kindern wichtig erscheinen. Die Tipps setzt du natürlich auf eigene Verantwortung um, du bist der beste Experte oder die beste Expertin für dein eigenes Kind.
Das Buch kann auf keinen Fall zur Diagnostik von Kindern genutzt werden. Solltest du dir Sorgen um dein Kind machen, dann frage bitte deinen Kinderarzt und die entsprechenden Fachleute (dein Kinderarzt, die Fachkräfte in der Kita, oder das Jugendamt in deiner Nähe sollten wissen, wo du Beratung finden kannst).
Der Abschnitt »Leiten und Folgen« liefert die Grundlage zum Verständnis des Buches. Er ist entscheidend, weil alles darauf aufbaut. In den nachfolgenden Kapiteln werden die einzelnen Entwicklungsschritte eines Kindes in dem jeweiligen Alter beschrieben:
Zuerst wird Alex’ Entwicklungsstand in den verschiedenen Bereichen dargestellt. Wo steht Alex beim Denken und Spielen, bei Gefühlen und Beziehungen, in der Bewegung und beim Sprechen?
Es folgt eine kleine Zusammenfassung (»Auf einen Blick«).
Was ist für Eltern jetzt wichtig? Du erfährst, wie du das Leiten und Folgen (siehe nächstes Kapitel) in diesem Alter konkret umsetzen kannst. Wie kannst du dein Kind gut unterstützen?
Die »How to …« Kästen in den Kapiteln sind etwas tiefgehender. Sie sind gedacht für Eltern, die mehr wissen möchten, oder für Menschen, die beruflich mit Kindern arbeiten.
Darüber hinaus gibt es noch »Zwischenkapitel«, die Themen abdecken, die gleich für mehrere Jahre gelten.
Hast du wenig Zeit und möchtest schnell verstehen, welche Entwicklungsschritte dein Kind jetzt macht? Dann brauchst du erst mal nur zwei Kapitel dieses Buches zu lesen:
den Abschnitt über das »Leiten und Folgen« (Hier) als Grundlage, sowie
das jeweilige Kapitel, das dem Alter deines Kindes entspricht.
Der Teil »Was für Eltern jetzt wichtig ist« steht immer am Ende eines jeden Kapitels. Falls du also wissen möchtest, was du bei den 2-Jährigen konkret tun kannst, findest du das am Ende der 3-Jährigen. Die beiden Altersstufen sind in einem Kapitel vereint.
Zusätzlich findest du noch einige kapitelübergreifende Themen wie »Gefühle«, »Schlafen« oder »Autonomie«. Das musst du dir nicht jetzt merken, darauf weise ich in den jeweiligen Kapiteln noch einmal hin.
Vielleicht brauche ich noch ein bisschen Vertrauensvorschuss von dir, denn als Psychologin schaue ich auf die ganze Entwicklung deines Kindes. Während du vielleicht gerade dringend wissen möchtest, wie dein Kleinkind stillsitzen lernt, oder wie man den Schnuller abgewöhnt, erwähne ich das in dem jeweiligen Kapitel nur am Rande oder gar nicht. Warum?
Als Eltern lässt man sich verständlicherweise sehr oft von den sogenannten passageren, also den vorübergehenden Themen beeindrucken. Diese Probleme tauchen im Laufe der Entwicklung fast immer auf und verschwinden dann wieder folgenlos. Wenn dein Kind schon über ein Jahr alt ist, wirst du dich an die Probleme, die ihr hattet, als dein Kind sechs Monate alt war, nur noch mit Mühe erinnern können – sie sind einfach verschwunden. Du wirst viele dieser Entwicklungsthemen in Alex’ Geschichte kennenlernen.
Ich lege in diesem Buch den Schwerpunkt auf die dauerhaften, wichtigen Themen für dein Kind, die es auch noch im Erwachsenenalter braucht, und nicht so sehr auf die vorübergehenden. Wie du deinem vielleicht 2-jährigen Kind einen Schnuller abgewöhnst, beschäftigt dich nur eine kurze Zeit lang und dann nie wieder; darum erwähne ich das hier nicht. Aber dass dein Kind in diesem Alter die »Soft Skills«, also Fähigkeiten wie Empathie, Teamfähigkeit, Problemlösefähigkeit, Eigeninitiative gut aufbaut, das wird für sein oder ihr ganzes Leben entscheidend sein.
Ich beantworte hier also vielleicht auch Fragen, die du in dem jeweiligen Alter deines Kindes gar nicht stellen kannst – aber deren Antworten du wirklich kennen solltest.
Ich habe mich gegen das Gendern entschieden, um das Lesen nicht komplizierter zu machen. Alle diesbezüglichen Lösungen erschienen mir für dieses Buch, das sich bemüht, die Dinge zu vereinfachen, zu komplex. Es ist ausdrücklich jede und jeder mit gemeint, bitte inkludiere dich selbst.
Es gibt zwei Grundelemente der »Erziehung«, die weltweit immer gleich sind. Ich weiß, es gibt viele verschiedene Ratschläge, Konzepte und Meinungen zum Thema, deshalb möchte ich hier etwas Ordnung hineinbringen und dir erklären, was es mit diesen zwei Grundelementen auf sich hat.
Vorweg noch eine Anmerkung: Es ist sehr interessant, dass viele Eltern eine Interaktion mit ihren Kindern als etwas Schönes empfinden, besonders wenn gerade kein Ziel dahintersteht. Dann können wir uns auf diese oft vergessene Welt einlassen. Denn die positive Einstellung von Kindern, ihre Entdeckerfreude und Phantasie, bezaubern und inspirieren uns.
Sobald man diese Interaktion aber »Erziehung« nennt, fühlt es sich sofort anstrengender an. »Erziehung« ist in unseren Köpfen oft etwas Schwergängiges, ein Wort, das mit großer Verantwortung, mit Ängsten, Wünschen und Zielen verbunden ist.
»Erziehung« ist eigentlich auch eine Interaktion mit dem Kind auf einer täglichen Basis, nur der Spaßfaktor ist plötzlich weg. Wir sind fokussiert auf ein sehr fernes, nebulöses Ergebnis und verpassen vielleicht den Augenblick mit unseren Kindern.
Viele Konzepte von »Erziehung« halten dich – meiner Meinung nach – oft davon ab, das Zusammensein mit deinem Kind zu genießen und das Leben mit ihm von Augenblick zu Augenblick entspannt zu gestalten.
Konzepte geben einerseits Sicherheit, man hat das Gefühl, endlich zu wissen, was zu tun ist. Insofern ist es sehr verständlich, dass Eltern auf der Suche nach Konzepten für die Erziehung sind. Andererseits sorgen sie für sehr viel Stress: Man muss das Konzept erlernen und sich danach verhalten, und wenn es mal nicht klappt oder gar nicht zu einem passt, dann ist es eine weitere Quelle dafür, sich schlecht und gestresst zu fühlen.
Wie ist es denn aus Sicht des Kindes? Kinder reagieren sehr schlecht auf Konzepte und sehr gut auf echte Menschen. Das kann man auch nachvollziehen: Stell dir einfach vor, dein Partner würde dich nach einem Konzept behandeln, ich nenne es mal: Pukzuck. Dein Partner erzählt stolz in deiner Gegenwart, dass er ja nach Pukzuck mit dir arbeitet. Es liegen Bücher von Pukzuck im Haus, und wenn dein Partner einen Konflikt mit dir hat, beispielsweise möchte er, dass du öfter den Müll mit nach draußen nimmst, dann schlägt er in diesem Buch nach. Er schaut dich an, als wärst du ein sehr kompliziertes Problem, und versucht, die zehn Pukzuck-Prinzipien auf dich anzuwenden. Ihr habt eine Diskussion über das Müllhinausbringen, die dein Partner mit den sanften Worten beginnt: »Du, ich kann gut verstehen, dass Müll ein Problem für dich darstellt, das hat wohl mit deiner Kindheit zu tun, die war ja auch Müll, aber mich macht es betroffen, dass …«
Seine Stimme wird ganz anders, er versucht, etwas zu sein, was er gar nicht ist. Seine Sätze klingen nicht mehr nach ihm, und er interpretiert irgendetwas in dein Verhalten hinein, was zu dem Konzept passt, aber vielleicht gar nicht zu dir.
Wie würdest du dich fühlen? Vielleicht so, als wärst du ein Problem? Oder ein Projekt? Würdest du dir vielleicht wünschen, dass er dir einfach als Mensch gegenübertritt, so, wie er nun einmal ist, mit all seinen Ecken und Kanten? Und dass er damit auch dich als Mensch ernst nimmt und sich mit dir auseinandersetzt, ohne dass ein Konzept zwischen euch steht?
Vielleicht wünscht dein Kind sich das auch?
Aus dem Grund werde ich in diesem Buch sehr viel mehr von Interaktion als von Erziehung sprechen. Per Definition ist Interaktion das, was Erziehung in meinen Augen idealerweise sein sollte: ein sich gegenseitiges Beeinflussen, während man miteinander in echtem Kontakt ist.
Du brauchst meiner Meinung nach nur zwei Dinge: Als Erstes wäre da das Wissen über die Entwicklung deines Kindes. Was kann dein Kind in welchem Alter und was nicht?
Dein erwachsener Blick auf die Welt ist schon ein anderer, und diese Tatsache führt zu vielen Missverständnissen. Du kennst beispielsweise die Abläufe des Alltags bereits so genau, dass du sie nebenher erledigen kannst, dein Kind aber erlernt jeden Schritt erst im Laufe der Jahre.
Lass mich dir das am Beispiel Einkaufen gehen noch einmal bewusst machen. Einkaufen ist in deinem Gehirn nur noch in wenige bewusste Punkte unterteilt: Einkaufswagen holen, gezielt Einkäufe in den Wagen legen, zur Kasse gehen, anstellen, bezahlen, einpacken. Alle anderen Reize hast du gelernt wegzuschalten, um deine Aufgabe effektiv erledigen zu können. Erinnerst du dich an das letzte Lied, das im Supermarkt als Hintergrundmusik gespielt wurde? Sehr wahrscheinlich nur, wenn das Lied zufällig eine emotionale Bedeutung für dich hatte, denn dann lässt dein Gehirn die Information durch und du hörst das Lied bewusst. Generell bist du aber fokussiert auf die Erledigung der Aufgabe, und alles andere ist für dich »Ablenkung«.
Für dein Kind sieht das ganz anders aus, weil es hauptsächlich Details wahrnimmt und von seiner Gehirnreifung her noch nicht immer in der Lage ist, etwas auszublenden, um eine Aufgabe gezielt zu erledigen. Der Supermarkt ist ein spannendes Abenteuer mit einem rollenden Einkaufswagen, der zum Klettern einlädt. Es gibt sehr viele Farben und Neonlicht, verschiedene Gerüche, Wärme an der Brötchenecke und Kälte am Kühlregal, bunte, lockende Verpackungen, Musik, Lautsprecherdurchsagen, piepende Geräusche an der Kasse und viele andere Menschen, die es zu bestaunen gilt.
Wenn du nun gemeinsam mit deinem Kind durch den Supermarkt gehst, prallen beide Realitäten aufeinander. Dein Kind wird sehr angeregt durch die verschiedenen Reize und möchte dies und jenes. Du hingegen möchtest wahrscheinlich zügig deine Aufgabe erledigen. Erschwerend kommt hinzu, dass dein Kind oft keine festgelegte eigene Aufgabe hat, außer leise zu sein und möglichst nichts zu tun. Was kann dein Kind hier in welchem Alter tun? Wie kann das entspannter ablaufen?
Ich hoffe, dir mit diesem Buch einen Überblick darüber zu geben, was du in welchem Alter eigentlich von deinem Kind erwarten kannst. Denn dieses Wissen ist die Basis dafür, dass ihr als Team zusammenarbeiten könnt.
Als Zweites müsstest du dich sicherer fühlen bei der Frage, wie du mit deinem Kind umgehen kannst, denn Ängste und Unsicherheiten senken den Spaßfaktor ganz erheblich.
Im Umgang mit deinem Kind ergeben sich ständig Fragen: Mache ich alles richtig? Soll ich Grenzen setzen und konsequent sein, oder soll ich den Bedürfnissen folgen? Wann genau tue ich was? Auf diese Fragen gibt es sehr viele unterschiedliche Antworten. Es ist sinnvoll, nach Antworten zu suchen, die nicht von einer Meinung oder einem Konzept abhängen, ansonsten geht man in einer unübersichtlichen Flut von Ansätzen verloren.
Nach vielen Jahren praktischer Erfahrung habe ich festgestellt, dass man zur Beantwortung der Frage: »Wie sollte ich mit meinem Kind umgehen« am besten komplett die Ebene wechselt. Man schaut sich das Leben mit Kindern auf der Mikroebene an, zerlegt die Interaktion sozusagen in ihre »sozialen Atome«, um die Grundlagen zu sehen. Was passiert eigentlich an der Basis?
Was tun Erwachsene automatisch, wenn sie in gutem Kontakt mit Kindern sind? Was kannst du täglich auf der Straße oder an dir selbst beobachten? Nach jahrzehntelangen Video-Analysen von Interaktion konnte man kleine, sekundenlange Details herausarbeiten, die bei »erfolgreichem« Umgang mit Kindern immer zu beobachten sind. Diese Video-Methode nennt sich »Marte Meo« (aus dem Lateinischen abgeleitet und bedeutet: »Aus eigener Kraft«), Literatur dazu findest du im Anhang.
Es gibt an der Basis nur zwei verschiedene Momente im Leben mit Kindern; Marte Meo nutzt dafür die Begriffe Folgen und Leiten.
Diese beiden Momente hat sich wie gesagt niemand ausgedacht, sondern sie können weltweit beobachtet werden. Sie entsprechen dem natürlichen, intuitiven Verhalten von Menschen im Umgang mit ihren Babys und Kindern. Interaktion verläuft nach zwei immer gleichen Mustern. Lass uns diese beiden Momente einmal genauer anschauen:
Folgemomente heißen so, weil es hier dein Job ist, dem Kind zu folgen. Sie entstehen im Spiel und beim Entdecken. In Spielsituationen leitet dein Kind. Es lässt sich dabei von seinen Impulsen treiben und lernt, diese in Handlungen umzusetzen. Dieser geheimnisvolle Prozess wird durch Neugier und Entdeckerfreude angetrieben. Dein Kind ist plötzlich fasziniert von einer Sache und möchte sie näher erkunden. Es probiert aus, was es mit dieser Sache tun kann, und so entwickelt es im Laufe der Jahre immer komplexere Spielhandlungen. Hier hast du nur die Aufgabe, deinem Kind generell Möglichkeiten zum Entdecken zu schaffen und diesen Vorgang verbal oder durch deine bloße Anwesenheit zu begleiten. Du musst selbst nichts tun. Du folgst einfach den Bedürfnissen und Ideen deines Kindes, denn es kennt den Weg zu seiner Entwicklung besser als du. Es weiß intuitiv genau, welchen nächsten Schritt und welche »Übung« es für seine Gehirnentwicklung jetzt braucht. Geh einfach aus dem Weg, schau zu, begleite verbal und mach das, was dein Kind möchte.
Auch bei Gefühlen braucht dein Kind jemanden, der ihm folgt. Dazu kommen wir später noch genauer.
Dein Kleinkind, gerade 2 Jahre alt, sitzt auf dem Boden. Du sitzt in der Nähe und sortierst vielleicht gerade Socken. Dein Kind wollte dir eine Zeitlang begeistert helfen und hat auch einige Socken sortiert, aber nur für eine sehr kurze Zeit, denn so lange kann es sich in diesem Alter noch nicht konzentrieren. Es folgt jetzt seinem nächsten Impuls und nimmt sich einen roten Baustein aus der Spielzeugkiste. Du schaust hin, lächelst dein Kind vielleicht an und sagst freundlich: »Ja, ein roter Baustein.« Dein Kind setzt ihn vorsichtig auf einen anderen drauf. Du sagst: »Du setzt ihn auf den grünen Baustein.« Es nimmt einen weiteren Baustein, und du sagst freundlich: »Oh, ein blauer Baustein kommt oben drauf.« Fertig. Vielleicht machst du danach noch eine kleine Weile weiter, deinem Kind zu sagen, was genau es tut, oder, wenn es sich ins Spiel vertieft hat, sagst du vielleicht auch nichts mehr und bist einfach leise, aber präsent.
Was ist hier passiert?
Du hast deinem Kleinkind jetzt einige Momente lang gezeigt, dass du es wahrnimmst und dass es jemand ist, der gute Ideen hat. Das hört es an deiner Stimme und sieht es an deinem freundlichen Gesicht. Das motiviert dein Kind, mehr gute Ideen zu entwickeln. Du hast ihm freundlich und entspannt die »Entwicklungsrichtung« gezeigt, indem du benannt hast, was gut läuft. Das ist sehr viel klüger, als nichts zu den konstruktiven Spielhandlungen zu sagen und erst dann zu reagieren, wenn es etwas tut, was du nicht willst, wie beispielsweise den Baustein durch die Gegend zu schmeißen. Du hast liebevoll das verstärkt, was es tun soll, und nicht das, was es nicht tun soll. Sehr klug von dir, das macht alles so viel leichter. Und was für ein Geschenk für dein Kind, dass du ihm für seine Handlungen Aufmerksamkeit gibst, ohne dass es darum kämpfen muss.
Außerdem hast du nebenbei noch weitere Fähigkeiten gefördert, denn du hast deinem Kind Wörter gegeben für das, was es tut – das braucht es für sein Selbst-Bewusstsein und seine Sprachentwicklung. Es weiß jetzt, dass es jemand ist, der etwas bauen kann. Es hat in diesem kurzen Moment mehrmals das Wort »Baustein« gehört und einige Bezeichnungen für Farben, und zwar in dem perfekten Moment, in dem es sich sowieso darauf konzentriert hat und Informationen leicht aufnehmen kann.
Dein Kleinkind hatte einen gemeinsamen Moment mit dir, in dem du seinen Impulsen gefolgt bist. Du hast es als Mensch wahrgenommen. Wunderbar! Du hast jetzt mit diesen kurzen Folgemomenten Selbstwertgefühl, Eigeninitiative, Sprache, Kreativität und Bindung gefördert – und das alles in den paar Minuten, in denen du die Socken sortiert hast. Mehr möchte dein Kind gar nicht von dir. Ja, es ist wirklich so einfach.
Da dies ein natürliches Verhalten ist, wirst du vielleicht feststellen, dass du das mit deinem Kleinkind zwischendurch im Alltag automatisch machst. Das ist die gute Nachricht, du förderst dein Kind schon optimal und musst gar nicht mehr tun. Bei größeren Kindern läuft das etwas anders ab, dazu kommen wir noch.
Leitungsmomente entstehen in den Situationen, in denen es sowohl ein Ziel als auch eine Reihenfolge gibt. Du kennst die Schritte bis zum Ziel schon, dein Kind muss sie aber erst noch erlernen. Das sind Situationen wie Anziehen, Körperpflege, Kochen, Einkaufen, Hausarbeiten, also alles, was in einer bestimmten Reihenfolge erledigt werden muss, weil es sonst keinen Sinn ergäbe. Es ist meistens nicht möglich, erst die Schuhe und dann die Hose anzuziehen, das muss in der vorgegebenen Reihenfolge erledigt werden.
Das oben beschriebene Einkaufen ist ein Beispiel für eine Situation mit einem Ziel: Wir brauchen Lebensmittel und die müssen vom Supermarkt bis in unseren Kühlschrank kommen. Wie geht das? Hier gibt es einen klaren Ablauf und alle müssen mitmachen, damit es funktioniert. Erst bezahlen und dann Sachen in den Einkaufswagen legen funktioniert nicht – und wer schon einmal mit einem Kleinkind »Einkaufen« gespielt hat, weiß, dass es lange dauert, bis das Kind den Ablauf wirklich erlernt hat. Hier braucht das Kind deine Leitung, es braucht also Leitungsmomente. Es ist hierbei nicht die Frage, ob man autoritär, autoritativ, bedürfnisorientiert oder sonst wie vorgehen sollte, oder welche »Tricks« man anwenden könnte. Die Frage sollte stattdessen lauten: Was braucht dein Kind von dir, um gut mitarbeiten zu können?
Dein Kind nimmt, wie gesagt, die Details wahr und übersieht das große Ganze noch nicht. Beim Einkaufen gibt es für kleine Kinder viel zu viele Zwischenschritte, um das mit einer einzigen Anweisung wie »wir kaufen jetzt ein« bewältigen zu können.
Dein Job ist, die Situation verbal in kleine, mundgerechte Häppchen zu unterteilen, damit dein Kind gut mitmachen kann. Du sagst und zeigst als Vorbild, was in diesem Moment gerade zu tun ist. Du benennst immer nur den nächsten Schritt. Wenn dein Kind langsam größer wird, wirst du intuitiv die einzelnen Schritte größer machen, weil du merkst, dass es jetzt schon einen besseren Überblick hat.
Du bist also wie eine Reiseleitung, die als einzige das große Ganze im Blick hat und weiß, in welche Abschnitte man die Reise unterteilen muss und was zu tun ist, damit alle am Ziel ankommen. Dabei musst du deine Fahrgäste auch mal wieder in die richtige Spur bringen, aber hauptsächlich musst du ihnen Sicherheit und Orientierung geben, wann genau was passiert. Du strahlst als Reiseleitung Sicherheit aus, denn du hast die innere Haltung: »Ich kenne mich aus. Ich weiß, was hier zu tun ist. Ich kann schon einkaufen.«
Vielleicht bist du noch mehr als die Reiseleitung, zumindest in den ersten Jahren. Für dein Kind bist du bis zum Vorschulalter jemand, der alles weiß und kann. Du kannst die Puppe anziehen, kriegst jeden Schuh an den Fuß, kannst machen, dass dem Kind wieder warm wird und du kannst auf magische Weise harte gelbe Dinger aus einer Packung in leckere Nudeln verwandeln. Verhalte dich einfach wie jemand, der sich auskennt und das Leben deines Kindes im Griff hat. Frage in Leitungsmomenten nicht dein Kind, wie das jetzt hier laufen soll; es kann höchstens Kleinigkeiten bestimmen.
Nur dann kann dein Kind dir entspannt folgen – und muss nicht selbst irgendwann die Leitung übernehmen. Lass kein Vakuum beim Leiten entstehen, dein Kind muss es sonst selbst ausfüllen, und das ist für alle Beteiligten sehr anstrengend. Wenn jemand ohne Überblick leitet, wird es schwierig für alle.
Für alle Situationen mit einem Ziel gilt: Strahle Reiseleitungssicherheit aus, sage, was jetzt passieren wird, teile die Situation in viele kleine Schritte ein und begleite dann immer den nächsten Schritt.
Das geht in den ersten Jahren deines Kindes noch sehr viel über konkretes Tun und Vorbild-Sein; Sprache ist für ein sehr kleines Kind lediglich Beiwerk. Später kannst du es besser nur über Sprache leiten, aber dein Kind wird es dann auch nicht tun, ohne dass du es ihm vorgemacht hast. Du kannst von deinem Kind nicht etwas erwarten, was du selbst nicht tust. Dein Vorbild wirkt stärker als alles andere.
Also: In allen Situationen mit einem Ziel hast du die Leitung. Du musst nicht überlegen, wer hier jetzt leitet. Es ist festgelegt: Du hast hier als Einziger den kompletten Überblick über die Situation, also hast du den Hut auf. Es unterscheidet sich je nach Alter, wie du das mit dem Leiten machst, beispielsweise wie viel Mitbestimmung deines Kindes jetzt Sinn macht. Und natürlich bist du eine sehr kluge Leitung, die weiß, wie sie andere Menschen einbezieht und was sie von ihnen erwarten kann. Dazu kommen wir in den Kapiteln zur Entwicklung noch genauer.
Es wird Folgemomente und Leitungsmomente genannt, weil es oft nur kurze Momente sind, die einander abwechseln. Die meisten Situationen beinhalten beide Momente, haben aber einen eindeutigen Schwerpunkt auf entweder Leiten oder Folgen.
Normalerweise vermittle ich das in meinen Seminaren ganz konkret anhand von Videos, hier aber brauchen wir deine Vorstellungskraft: Stell dir vor, wie du ein Kleinkind anziehst. Wenn wir diese Situation (nach Marte Meo) in ihre »sozialen Atome« zerlegen, dann läuft das so:
Zunächst nimmst du freundlichen Kontakt zu deinem Kind auf, denn ohne guten Kontakt kannst du nicht leiten. Das machst du bei allen Menschen so. Du schaust sie zuerst an, du schaust ins Gesicht, schätzt die Situation ein, lächelst idealerweise.
Dann machst du einen klaren Anfang, die meisten Menschen nutzen dafür das Wort »so«. Du kannst gerne einmal in deinen Alltag schauen, wie oft du am Tag »so« sagst. Diese »So’s« sind klug von dir, damit teilst du das komplexe Leben für Kinder ganz intuitiv in kleine Stücke ein. »So« bedeutet für dein Kind, dass irgendetwas jetzt beginnt.
Daraufhin sagst du genau, was deine Hände tun. Schau einfach immer auf deine Hände und sag, was die gerade machen. Dann weißt du genau, welche Informationen dein Kind jetzt gerade von dir braucht. Du sagst vielleicht: »So, ich nehme den Schuh, gib mir mal den Fuß.« Das Kind streckt den Fuß aus (vielleicht dauert das einen Moment, denn es verarbeitet deine Anweisungen noch sehr langsam). Du ziehst den Schuh an und begleitest weiter sprachlich mit dem, was du gerade tust. Da die Aufmerksamkeitsspanne von Kleinkindern wirklich sehr kurz ist, entdeckt dein Kind dann vielleicht den glänzenden Reißverschluss und möchte ihn sich näher anschauen. Du merkst intuitiv, dass dies ein Folgemoment ist und sagst: »Oh ja, der glänzt so schön«, und gemeinsam schaut ihr euch für einige Sekunden den Reißverschluss an. Nach diesem (sehr kurzen) Folgemoment lenkst du die Aufmerksamkeit deines Kindes wieder auf die anstehende Aufgabe und sagst: »So, und jetzt kommt der andere Schuh. Schau, ich halte ihn dir hin. Fuß rein – prima!«
Jede kleine Aktion wird abgeschlossen durch eine kleine Bestätigung wie ein »gut«, »prima«, »fertig«, »okay« oder was auch immer dein Wort für einen Abschluss ist, vielleicht auch ein weiteres »so«. Fertig. So unterteilst du jede Leitungssituation in die kleinen Details, die dein Kind wahrnehmen und umsetzen kann.
Schau dir einmal selbst im Alltag zu: Wahrscheinlich tust du schon sehr viel davon automatisch und musst gar nicht darüber nachdenken, denn es geht hier um ganz natürliche Fähigkeiten. Mach es dir aber gerne noch einmal bewusst, denn im Stress gehen diese intuitiven Fähigkeiten manchmal verloren. Du musst die Struktur vermitteln, sonst wird dein Kind in den ersten Jahren immer wieder in dieser spannenden Welt mit all den Eindrücken verloren gehen. Du leitest diese kleine Welt, und damit erhält dein Kind Sicherheit und Orientierung.
Hatte dein Kind am Tag zu viele Leitungsmomente, dann braucht es dringend Freiraum und kann nicht mehr kooperieren. Solltest du dann noch einkaufen oder etwas anderes verlangen, klappt es meistens nicht besonders gut und kann in Wutanfällen oder Zusammenbrüchen enden. Dein Kind braucht jetzt dringend freie Spielmomente, es möchte in die Natur oder nach Hause, es möchte kuscheln, auftanken und eine Zeitlang nach den eigenen Bedürfnissen leben.
Gibt es hingegen zu viele Folgemomente und nur sehr selten Leitungsmomente, dann entsteht interessanterweise oft Unzufriedenheit bei deinem Kind. Für viele Eltern ist es sehr schwer zu verstehen, dass das Eingehen auf alle Wünsche des Kindes, mit großer Liebe und manchmal sogar Aufopferung, Unzufriedenheit zur Folge haben kann. Eltern nennen es dann oft »Undankbarkeit« und sind enttäuscht – aber eigentlich fehlen nur die Leitungsmomente.
Kinder brauchen Sicherheit und Orientierung. Du fehlst als Partner für den sozialen Tanz, wenn du deine Rolle in den Leitungsmomenten nicht übernimmst.
Dein Kind sucht nach dem Gleichgewicht zwischen Leitungsmomenten und Spielmomenten, so wie wir alle übrigens. In der Erwachsenenwelt könnte man das mit der »Work-Life-Balance« vergleichen. Diese Momente sind bei Kindern nur kürzer. Du kannst schon drei Stunden durchgehend arbeiten und danach eine Stunde Pause machen, obwohl: Eigentlich kannst auch du das nicht. Wenn du dich einmal selbst auf der Mikroebene beobachtest, dann wirst du feststellen, dass du nach jeder konzentrierten Phase kurz aus dem Fenster schaust, anderweitig abschweifst, oder gleich größere Spielmomente einbaust wie: »Ich hole mir jetzt mal ’nen Kaffee.«
Je jünger das Kind ist, desto weniger Leitungsmomente kann es durchgängig verkraften. Work-Life-Balance bei Kleinkindern bedeutet minuten- oder sogar sekundenweise zu kooperieren, aber dann braucht es immer wieder einen Folgemoment, in dem es sich in einer schönen Interaktion mit dir erholen kann.
Das ist schon das ganze Geheimnis. Schau genau hin und finde heraus, wie lange dein Kind sich gerade konzentrieren kann und wann es unbedingt wieder einen Folgemoment zur Erholung braucht.
Du braucht als Handwerkszeug für alle Interaktionen nur diese zwei Tools: das Wissen über den Entwicklungsstand und die Entscheidung, ob das hier jetzt gerade ein Folge- oder ein Leitungsmoment ist. Gibt es ein Ziel, dann ist deine Leitung nötig. In diesem Fall sagst du genau, was jetzt in kleinen Schritten passiert – und in dem anderen Fall genießt du einfach die Spielimpulse deines Kindes. So macht der soziale Tanz zwischen dir und deinem Kind Spaß, jeder leitet, jeder folgt.
Diese Basis ist wichtig, damit dein Kind sich gut entwickelt. Alle anderen Fragen werden weltweit sehr individuell gelöst, und du kannst es einfach so machen, wie es für dich und deine Familie passt. Essen, schlafen, welche Schule, wann Kita, welche Familienform, lernen, Hobbys – das entscheidest du gemeinsam mit deinem Kind. Es gibt hier keine Regeln und kein Richtig oder Falsch.
Es gibt an der Basis nur zwei verschiedene Momente im Leben mit Kindern: Leitungsmomente und Folgemomente. Du musst dich nicht ratlos fragen, was du tun sollst, es wird durch die Situation vorgegeben: In Leitungsmomenten leitest du, in Folgemomenten folgst du.
Leitungsmomente entstehen in allen Situationen mit einer bestimmten Reihenfolge und einem Ziel. Situationen wie Anziehen, Körperpflege, Einkaufen, Basteln (mit Fokus auf das Ergebnis), Kochen, Aufräumen, Hausarbeiten haben alle ein Ziel und eine Reihenfolge.
Frage dich: Habe ich gerade ein Ziel? Dann braucht dein Kind dich als Reiseleitung, Taktgeber und Coach. Hier ist nie die Frage, ob du leitest, sondern nur noch, wie du altersentsprechend leiten kannst. Du hast als Einziger den kompletten Überblick, also musst du die Leitung übernehmen.
In allen Leitungsmomenten strahlst du Reiseleiter-Sicherheit aus und zerlegst die Situation in ihre Details und zwar so, dass dein Kind dir folgen kann. Ganz konkret tust du in den einzelnen Momenten Folgendes:
Nimm zuerst freundlich Kontakt zu deinem Kind auf, schau es an.
Mache einen klaren Anfang, vielleicht mit dem Wort »so«.
Sage genau, was deine Hände tun oder was dein Kind tun soll.
Beende den Moment mit einem klaren, freundlichen Abschluss-Wort.
Folgemomente entstehen in den freien Situationen ohne Ziel, wenn dein Kind spielt oder etwas Neues entdeckt, zeitweise auch bei Gefühlen. In solchen Momenten folgst du deinem Kind, und du hältst deine eigenen Impulse zurück. Du bist lediglich dabei und wertschätzt durch liebevolle Präsenz, was es gerade tut, so dass es sich selbst frei entwickeln kann. Bei Kleinkindern gibst du dem Kind ab und zu Worte für das, was es gerade tut wie »oh, du nimmst den grünen Stein«.
Nach dem Kleinkind-Alter möchte dein Kind vielleicht, dass du eine Rolle in dem Spiel übernimmst. Sobald dich dein Kind dazu auffordert, kannst du das natürlich tun: Entscheidend ist dann, dass dein Kind beim Spielen die Leitung hat und seinem eigenen, geheimnisvollen Entwicklungsweg folgen kann. So hilfst du deinem Kind, entscheidende Fähigkeiten, sogenannte Soft-Skills, aufzubauen.
Die beiden Elemente Leiten und Folgen sind nicht isoliert voneinander, in beiden Situationen gibt es auch Momente des jeweils anderen. Interaktion ist wie ein sozialer Tanz mit dir und deinem Kind als gleichwertige Partner, bei dem mal du führst und mal dein Kind.
Bevor wir jetzt in die Entwicklungskapitel einsteigen, gibt es mit dem ersten »How to« noch eine kleine Erinnerung an das Glücklichsein mit Kindern. Die meisten Familien möchten genau das: einfach glücklich sein. Und obwohl das alle wollen, geht der Fokus darauf im Alltag oft verloren. Vielleicht magst du dir das ja zwischendurch immer mal wieder bewusst machen.
»Glück« ist ein großes Wort und, wenn wir Glück als ein Gefühl definieren, nicht durchgehend möglich. Wir tragen nun einmal alle möglichen Gefühle in uns, und das Glücksgefühl kommt und geht wie alle anderen Gefühle auch. Nennen wir es also »Glücksmomente« – vielleicht könnte das Ziel sein, Glücksmomente im Alltag wahrnehmen und sie sogar bewusst herstellen zu können. Wie bei einer Art innerer Medizin könnte man dann immer wieder im Alltag »Glück tanken«.
Falls du nach dieser Art Glück suchst, dem konkret erlebbaren Glück im Alltag – dabei kann dein Kind dir sehr gut helfen. Denn für diese Art Glück müssen wir wieder die Ebene wechseln. Es liegt in den Details, in den Sinnen, in der Wahrnehmung.
Niemand kann dich glücklich »machen«, auch dein Kind nicht. Diese innere Anstrengung, diese Entscheidung, die Offenheit dafür, diesen Fokus auf das Glücklichsein musst du schon selbst erledigen. Aber dein Kind ist ein großartiger Lehrer.
Wenn du nicht die ganze Zeit versuchst, dein Kind anzutreiben und es unbedingt an die Erwachsenenwelt mit festen Zeiten und Regeln und endlosen To-dos anzupassen, dann kann es dir Glück beibringen.
Schau deinem Kind zu, wie es die Welt wahrnimmt. Mit welcher Liebe, welchem Interesse es den wunderhübschen Käfer auf dem Blatt entdeckt. Wie begeistert es den Sand durch die Finger rieseln lässt oder einfach nur wahrnimmt und schaut und fühlt. Wie es eintaucht in eine sinnliche Welt und sich ganz dem Augenblick überlässt. Schau hin, fühle, lerne, hör genau zu.
Überlass dich dem Glücksgefühl, wenn du dein Kind im Arm hast, die Wärme spürst, die Verbindung, und vielleicht an seinem Kopf oder der Halsbeuge schnupperst. Der beste Geruch der Welt. Glück geht über sinnliche Erfahrungen.
Der Kopf steht dem Glück im Weg, er ist immer auf ein Ziel oder ein To-do fokussiert und will erst die ganze Welt aufgeräumt haben, bevor er sich etwas Glück erlaubt (Spoiler: auch dann nicht).
Dein Kind kann dich wirklich glücklich »machen«, wenn du dir helfen lässt, diese vergessene Welt wieder wahrzunehmen. Versuche, immer wieder nach solchen Momenten bewusst zu suchen, innerlich anzuhalten und sie wahrzunehmen. Wechsele die Ebene, schau auf Details wie dein Kind. Wenn du zu sehr im Kopf unterwegs bist, dann achte darauf, dass du wieder in deinem Körper ankommst. Nur da ist Glück möglich. Was siehst, riechst, hörst du, was nimmst du mit den Händen oder unter den Füßen wahr?
Schau auf dein Kind, es zeigt dir wie ein Seismograph für »Familienbeben« genau, was auf dieser Ebene gerade nicht stimmt. Wenn dein Kind sehr häufig angestrengt ist, schlecht gelaunt, quengelig, traurig, wütend, dann sind, neben den Grundbedürfnissen, zu wenig Glücksmomente ein häufiger Grund. Die Botschaft ist: »Mama, Papa, und alle anderen, wir nehmen hier gerade viel zu wenig Leben wahr.«
Das ist ein ganz zauberhafter Weg und Prozess, den dein Kind dir Stück für Stück wieder zeigen kann. Wenn du deinen Fokus darauf legst, dann kann Glück ein dauerhaftes Gefühl mit gelegentlichen Abweichungen werden. Es ist möglich, dass sich diese vielen einzelnen Momente in deinem Leben zu einer Art »Glücksteppich« verweben, auf dem du mit deiner Familie weich und sicher stehen kannst.
Alex’ Fragen an die Welt:
Wo ist mein kuschelig enges Wasserbett hin? Was kann ich riechen, schmecken, tasten, hören und sehen? Was sind das für Dinge in meiner Umgebung? Wie geht Greifen, sich Drehen und Krabbeln? Welche Leute gehören zu mir? Wer sorgt für mich und hat mich lieb?
Bitte vergleiche dein Kind nicht zu sehr mit dem Durchschnittskind Alex. Entwicklung verläuft nie durchschnittlich. Dein Kind ist wahrscheinlich in einem Bereich langsamer, woanders schneller, zeigt einiges gar nicht, anderes viel intensiver – das ist alles normal. Dein Kind ist einzigartig.
Auf dieser Welt anzukommen ist sehr anspruchsvoll, deshalb braucht Alex dafür Zeit. Seine Eltern haben einen Vorsprung, sie konnten sich die gesamte Schwangerschaft hindurch schon auf ihn vorbereiten, während er noch mit sehr basalen Dingen wie Organe ausbilden und Wachsen beschäftigt war. Die Vorbereitung hat bei Alex’ Eltern zu einer bestimmten Erwartungshaltung geführt: Nach dem Betrachten vieler Babyfotos waren sie auf ein wunderschönes, glattes und lächelndes Neugeborenes eingestellt. Als Alex dann auf der Welt ist, sieht er zerknautscht und mitgenommen aus, und in sich gekehrt ist er auch. Bis er wirklich auf andere Menschen reagieren kann, wird es noch Wochen und Monate dauern. Schon das erste echte Lächeln kann sich bis zu zwei Monaten Zeit lassen, ein harter Test für die verliebten Eltern. Schließlich wünschen sie sich positives Feedback – und dass Alex ihnen zeigt, was er möchte und wie sie ihn glücklich machen können. Aber leider kann ihr Baby ihnen das noch nicht sofort geben.
Alex kommt gerade aus einer Welt, in der alles in sanftes, rötliches Licht getaucht war, die Geräusche gedämpft und die Bewegungen schwerelos. Hunger oder einengende Kleidung gab es nicht und die Schwerkraft war kein Problem: Sein Leben war ein sanftes Schweben im Wasser. Gegen Ende der Schwangerschaft wurde der Platz zwar knapp, das hat bei Alex aber eher eine Vorliebe für Begrenzungen und Enge hervorgerufen. Der Übergang auf grelles Licht, ungefilterte Geräusche und den ständigen Kampf gegen die Schwerkraft sind neu für ihn. Er macht Erfahrungen mit Nässe, Kälte, Wärme und ungewohnter Kleidung auf der Haut.
Und was bitteschön ist das für ein Gefühl, das alle paar Stunden beißt und im Bauch zwickt? Es bringt Alex sogar zum Schreien! Seine Eltern nennen es »Hunger«, und manchmal muss er das eine kleine Weile aushalten, bis er Nahrung bekommt. Er muss sich jetzt selbst um die Nahrungsaufnahme kümmern und mit Kraftaufwand saugen. Auch der Weg der Nahrung durch den Körper mit all den begleitenden Körperempfindungen will erst einmal erfahren und verkraftet werden.
Eine der ersten Entwicklungsaufgaben für Alex ist es, seine Sinne zu organisieren. Er kann in den ersten Monaten schon gut hören, prima riechen, schmecken, tasten und fühlen, aber mit seinem Sehsinn ist das nicht so einfach. Mama und Papa sieht er zu Anfang als verschwommene Figuren, denn zu Beginn seines Lebens kann er nur auf etwa dreißig Zentimeter Abstand klar sehen. Das Gesicht seiner Mama sieht er nur scharf beim Stillen, oder wenn sie sich über ihn beugt. Das mit der Sehschärfe wird schnell besser, bleibt aber ein schwieriges Projekt. Erst in der Schulzeit wird Alex so scharf wie ein Erwachsener sehen können.
Alex hat generell eine Vorliebe für Gesichter und liebt es, wenn ihn jemand anspricht und anlächelt. Darauf selbst zu reagieren, stellt Alex allerdings noch vor Herausforderungen, denn Alex muss seine beiden Augen mühsam dazu bringen, auf dieselbe Stelle zu schauen. Manchmal können seine Eltern sehen, dass ein Auge etwas länger braucht und sich ruckartig bewegt, um sie anzuschauen. Das Erkennen von Farben funktioniert erst nach einigen Monaten. Alex unterscheidet in den ersten Wochen nur zwischen hell und dunkel, darum liebt er starke Farbkontraste, Lichtreflexe, glänzende Gegenstände, Schatten an der Wand und Schwarz-Weiß-Kontraste.
Sein Geruchssinn ist gut ausgeprägt, er reagiert sogar stärker auf Gerüche als die Erwachsenen. Am liebsten riecht er Mama oder Papa. Also falls seine Eltern keine Zeit zum Duschen haben, ist das für Alex gar kein Problem. Er ist eher irritiert von Parfums, Seife oder anderen künstlichen Gerüchen.
Temperaturveränderungen sind für Alex auch noch schwierig. Wenn er umgezogen wird, ist es für ihn ungefähr so wie für seine Eltern, wenn sie aus einem warmen Wohnzimmer nach draußen in eine verschneite Winterlandschaft treten.
Spannend wird es, wenn Alex’ Gehirn ungefähr im dritten Monat lernt, all die verschiedenen Wahrnehmungen zu verknüpfen: Eine Rassel macht nicht nur ein Geräusch, man sieht gleichzeitig ihre Form und kann spüren, wie sie sich anfühlt – und alle diese Dinge gehören zu der Rassel. So ein Ding setzt sich offenbar aus mehreren erfahrbaren Ebenen zusammen – sehr interessant. Mit drei Monaten wendet Alex den Kopf zur Rassel, sobald er sie hört.
Alex wird sein Gehirn hauptsächlich durch Spielen entwickeln. Er entdeckt während der ersten acht Wochen seine Hände, und damit beginnt für ihn ein neues Leben.
Zunächst sind alles Zufallshandlungen: Er liegt auf dem Rücken und strampelt mit Armen und Beinen, plötzlich kommt eine Hand in sein Blickfeld! Das findet er sehr erstaunlich, denn es kommt absolut unerwartet. Er zappelt weiter, die Hand verlässt sein Blickfeld und da er noch nicht weiß, dass Dinge, die er nicht sieht, trotzdem noch da sind, sucht er nicht nach der Hand. Er schaut weiter friedlich in die Gegend – bis die Hand wieder auftaucht! Bald stellt er fest, dass dieses seltsame Ding öfter erscheint.
Irgendwann berührt Alex bei diesem Gestrampel zufällig etwas, was sich dann bewegt. Nach ungefähr acht Wochen erkennt er, dass er das beeinflussen kann und versucht es ab da immer gezielter. Er erlernt die ersten Zusammenhänge von Ursache und Wirkung: Wenn ich gegen etwas stoße, passiert etwas.
Mit drei Monaten kann Alex seine Hände bewusst in der Mitte zusammenführen, vorher war es ihm noch ein Rätsel, was Hand-links mit Hand-rechts zu tun hatte. Er stellt fest, dass diese beiden Hände immer bei ihm sind und er damit Dinge festhalten kann.
Spätestens ab vier Monaten ersetzt der Mund für Alex die Augen – er führt einen Gegenstand zuerst zum Mund. Er befühlt ihn von allen Seiten mit Lippen und Zunge und macht sich so ein Bild von diesem Gegenstand in seinem Kopf. Er will auch wissen, wie er schmeckt, aber vor allem, wie er aussieht und nutzt dafür die sensiblen Mundorgane.
Schau dich gerne mal in dem Raum um, wo du gerade bist. Du weißt bei jeder Sache, die du anschaust, wie sie sich anfühlen würde, wenn du sie ableckst. Du kannst dir Form, Oberfläche, Temperatur und Geschmack genau vorstellen. Du hast als Baby wahrscheinlich nicht all diese Dinge mit dem Mund erkundet, aber du hast gelernt, Muster zu bilden und diese dann zu übertragen. Beispielsweise ist ein Türrahmen immer glatt und leicht kühl auf der Zunge und ein Regal, das aus ganz ähnlichem Material zu sein scheint, auch, da braucht man nicht an beiden zu lecken. Solche Erfahrungen macht Alex gerade, er erarbeitet sich mit Mund, Händen und Augen seine ganze Welt.
In den nächsten Monaten wird Alex seine Experimente ausweiten, bald erspürt er einen Gegenstand nicht mehr nur mit dem Mund, sondern untersucht ihn umfassender. Er fühlt, schüttelt ihn oder schmeißt ihn weg. So versteht er die Eigenschaften von Dingen. Er nutzt dazu jetzt alle Sinne, schüttelt beispielsweise eine Rassel, macht dann Pause und lauscht. Dann wiederholt er das – rasselt es dann wieder? Und auch noch mal?