Die Kinderklinik - Karl Eidem - E-Book

Die Kinderklinik E-Book

Karl Eidem

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Beschreibung

Spannung pur aus Schweden! Auf dem Weg zur Arbeit wird Kommissarin Hannah Kaufman an eine Stockholmer Kinderklinik gerufen: Maskierte haben sich im Krankenhaus verschanzt und drohen, ein Kind pro Stunde zu töten, sollten ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Hannah und ihre Kollegen finden sich inmitten einer dramatischen Situation und müssen schnell handeln, denn sie wissen, dass für die unschuldigen Kinder jede Minute zählt...-

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Jale Poljarevius, Karl Eidem

Die Kinderklinik

Übersetzt aus dem Schwedischen Alina Becker

Saga

Die Kinderklinik ÜbersetztAlina Becker

OriginalBarnsjukhuset

Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2019, 2021 Jale Poljarevius, Karl Eidem und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726741261

 

1. Ebook-Auflage, 2021

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

„This is the room, the start of it all,

No portrait so fine, only sheets on the wall,

I've seen the nights, filled with bloodsport and pain,

And the bodies obtained, the bodies obtained.“

 

Joy Division, „Day of the Lords“

INHALTSANGABE

Einleitung Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4 Kapitel 5 Kapitel 6 Kapitel 7 Kapitel 8 Kapitel 9 Kapitel 10 Kapitel 11 Kapitel 12 Kapitel 13 Kapitel 14 Kapitel 15 Kapitel 16 Kapitel 17 Kapitel 18 Kapitel 19 Kapitel 20 Kapitel 21 Kapitel 22 Kapitel 23 Abschluss Über Die KinderklinikAnmerkungen

Einleitung

Die zwei Schwestern

Die beiden Schwestern, die leise miteinander sprachen, wussten nicht, dass sie beobachtet wurden. An verschiedenen Stellen im Krankenhaus waren kleine Kameras angebracht worden, deren Aufnahmen direkt auf einen Laptop in einer ordentlichen Vorstadtwohnung südlich von Stockholm überspielt wurden. Ein junger Mann durchforstete rastlos die Bilderflut. Es war spät in der Nacht.

Die Schwestern hatten Nachtschicht. Wer im Nachtdienst arbeitete, hatte dafür in der Regel seine guten Gründe. Bei den meisten war es der finanzielle Aspekt. Man wurde besser bezahlt, wenn es draußen dunkel war und die meisten Leute schliefen. Für manche war diese Schicht aber auch ein unersetzliches Puzzleteil, durch das sich Familie und Eheleben mit dem Beruf verbinden ließen. Die nächtlichen Arbeitszeiten gestatteten es, zu Hause zu sein, wenn die Kinder von der Schule nach Hause kamen, und darüber hinaus möglichst viel Zeit mit dem Ehepartner zu verbringen. Oder möglichst wenig Zeit. Ismaila al Beda, die soeben in der Kinderklinik der Universität aus dem Fenster der Säuglingsstation schaute, hatte einen ungewöhnlichen aber nachvollziehbaren Grund. Dieser Grund hieß Shirin al Beda. Ihre anderthalb Jahre jüngere Schwester arbeitete auf Station 74, zwei Stockwerke tiefer im selben Gebäude in Stockholm-Södermalm. Dank ihrer übereinstimmenden Arbeitszeiten konnten sich die beiden Schwestern ein paar Mal pro Nacht treffen und sich bei einer Tasse Kaffee unterhalten. In der Zwischenzeit waren sie gedanklich miteinander verbunden. Auch wer nicht an Telepathie oder außersinnliche Wahrnehmung glaubte, kam nicht umhin, festzustellen, dass sich die beiden Schwestern ungewöhnlich nah standen, und dass sie oft die Anwesenheit der jeweils anderen spüren konnten, ohne sich im selben Raum aufzuhalten.

Vor dem Fenster raschelten die Bäume. Ein unsteter, düsterer Wind strich durch das Laub. Die beiden Straßenlaternen an der Tantogatan gaben kaum Licht, jetzt, um kurz nach drei, zur dunkelsten Zeit der Nacht. In ein paar Stunden würde das Sonnenlicht sich langsam aber kontinuierlich heranschleichen, von der Ostsee her über den Schärengarten und Nacka bis nach Södermalm, wie ein zaghafter Blitz die Dunkelheit verwässern und allmählich die Umrisse der Stadt sichtbar werden lassen. Ein Hochdruckgebiet hatte für anhaltend gutes Wetter und wundervolle, warme Frühlingstage gesorgt. Ismaila faltete die Dienstkleidung der Krankenschwestern zusammen und legte sie anschließend in das Regal mit der sauberen Kleidung im Lagerraum. Die Säuglingsstation war für Neugeborene bestimmt, die aufgrund gesundheitlicher Probleme das Krankenhaus noch nicht verlassen durften. Die Babys litten an Atembeschwerden, niedrigem Blutzucker, Neugeborenengelbsucht, Infektionen, Geburtstraumata oder Fehlbildungen. Außerdem wurde auf der Station eine Betreuung für extreme Frühchen angeboten, die in der dreiundzwanzigsten bis siebenundzwanzigsten Schwangerschaftswoche geboren wurden. Die Pflegezeit konnte somit von einigen Stunden bis hin zu mehreren Monaten andauern.

Ismaila trat wieder zurück auf den Gang und überflog die Anschläge auf dem Schwarzen Brett. Die Lampen an der Decke waren aus, und es dauerte eine Weile, bis sie die Mutter bemerkte, die ruhig auf einem Sofa saß und ihr Baby stillte. Sie nickte ihr zu, sagte aber nichts. Plötzlich piepte das Telefon in ihrer Tasche. Ismaila musste gar nicht hinsehen. Sie wusste, dass es Shirin war, die jetzt Zeit für ein Treffen hatte. Diskret verließ Ismaila die Station über das Treppenhaus. Die al Beda-Schwestern trafen sich, jede mit einer Tasse Kaffee in der Hand, wie gewohnt in dem leer stehenden Stockwerk zwischen ihren jeweiligen Stationen.

„Und, wie sieht’s aus?“

„Ist eine ruhige Nacht“, antwortete Shirin. „Nichts Besonderes. Die Kinder unten schlafen alle. Welcher Wochentag ist heute?“

„Es ist gerade Mittwoch geworden.“

Shirin nickte bekräftigend. „Wie ist es oben bei euch?“

„Auch ruhig, wie immer. Warst du heute Nacht in der Notaufnahme?“

Shirin schüttelte den Kopf. Nur in der Notaufnahme im Eingangsbereich konnten die Nächte eine dramatische und überraschende Wende nehmen. Manchmal gingen die Schwestern hinunter, um die Lage zu überprüfen, ein wenig mit den dortigen Krankenpflegerinnen zu plaudern und spontan auszuhelfen, wenn der Patientenandrang zu hoch wurde. Das kam allerdings eher selten vor, und meistens blieben die beiden auf ihren Stationen. Der Mann, der die Kameras installiert hatte, wusste das bereits. Er hatte ihre Interaktionen beobachtet und lauschte auch jetzt ihren leisen Stimmen in der Neutralität des Treppenhauses. Die Kameras waren eine Vorsichtsmaßnahme, um zu erfahren, ob sich in dieser Nacht etwas Bedeutsames, etwas Außergewöhnliches ereignete. Bisher sprach nichts dafür. Alles war wie immer, so, wie er es wollte. Er zoomte näher an die Schwestern heran, untersuchte das Bild und analysierte ihr Gespräch, konnte aber nichts erkennen, was mit den gewöhnlichen nächtlichen Mustern brach.

Die al Beda-Schwestern waren schwedische Staatsbürgerinnen, aber im palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon nördlich der israelischen Grenze geboren und aufgewachsen. Sie waren Mitte Vierzig und sprachen nahezu perfektes Schwedisch. Beide lebten in Södermalm unweit des Krankenhauses und waren verheiratet, Ismaila mit dem Schweden Sten und Shirin mit dem Niederländer Donny. Ihre Kinder waren ungefähr im selben Alter. Ein Jahr nach Shirins Geburt war die Familie nach den Massakern in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila geflohen. Über Kontakte ihres Vaters waren sie nach Schweden gekommen, hatten eine schwedische Schule besucht und gemeinsam in Stockholm die Ausbildung zur Krankenpflegerin absolviert. Ihre Gene, ihr Leben, oder vielleicht auch beides zusammen, hatten sie zu zwei unabhängigen, entschlossenen und tatkräftigen Frauen heranwachsen lassen, die vor nichts und niemandem zurückwichen. Als sie ihre Tassen geleert hatten, kehrten sie auf ihre Stationen zurück, ohne sich bewusst zu sein, dass sie gefilmt worden waren. Ismaila ging hinauf zur Säuglingsstation und Shirin hinunter auf Station 74. Mit ihren Kopftüchern stachen sie zwischen ihren Kolleginnen hervor, bei denen sie hohes Ansehen genossen. Noch ein paar Stunden, dann wurde es Zeit für die Übergabe an die Frühschicht und einen gemeinsamen Spaziergang durch den Tantolundenpark, heim zu ihren Mietwohnungen in der Hornsgatan nahe der Högalidskirche. Hätten sie einen Blick aus dem Fenster geworfen, wäre ihnen aufgefallen, dass der Parkplatz voller Schlangen war. Haufenweise Schlangen rund um das Krankenhaus. Fledermäuse kreuzten den Nachthimmel. Das Atmen tat weh.

Kapitel 1

Hannah Kaufmans Meer der Müdigkeit

Plötzlich ertönte ein Geräusch im Dunkeln. Es kam aus dem Nichts und wollte nicht mehr aufhören. Hannah Kaufman brauchte ein paar Sekunden, bis ihr klar wurde, dass es sich um den Alarm ihres Telefons handelte, der irgendwo im stockfinsteren Raum ertönte. Sie hörte genau hin, umhüllt von der Dunkelheit. Widerwillig schlug sie die Augen auf und versuchte, sich zu orientieren. Wo war bloß das verdammte Telefon? Wo hatte sie es am Abend zuvor hingelegt? Und war es wirklich schon Morgen? Kaum zu glauben. Hannah streckte den rechten Arm aus und stellte fest, dass ihr Mann Erik immer noch neben ihr im Bett lag. Sein helles Haar schaute unter der Decke hervor und Hannah hörte sein gleichmäßiges Atmen.

Jetzt, Anfang April, vor den bevorstehenden Hauptversammlungen, hatten sämtliche Wirtschaftsprüfer auf der Welt alle Hände voll zu tun. So war es auch bei BDF, der Agentur, für die Erik seit zwei Jahren arbeitete. Jeden Tag ging er früh aus dem Haus und kam erst spät in der Nacht zurück, selbst am Wochenende. „Im Mai wird es besser“, murmelte er jedes Mal. „Spätestens im Juni.“

Als Polizistin hatte Hannah selbst harte Arbeitszeiten, im Gegensatz zu ihrem Mann aber über das ganze Jahr hinweg und nicht nur während der Jahresberichtssaison. Polizistin und Wirtschaftsprüfer: Sie waren wirklich ein seltsames Paar. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, ließ Hannah den Blick durch den Raum wandern. Mit der linken Hand tastete sie über den Boden neben dem Bett und bekam schließlich ihr Telefon in die Finger. 05:15 zeigte der Bildschirm an. Hannah schaltete den Wecker aus und ließ sich mit einem Seufzer zurück in die Kissen sinken. Sie fühlte sich wie erschlagen vor Müdigkeit. Schließlich setzte sie sich schwerfällig auf die Bettkante und griff nach dem Kleiderhaufen auf dem Boden. Später würde Hannah erfolglos versuchen, sich zu erinnern, ob sie an diesem Morgen irgendeinen Verdacht gehegt hatte. Es war dunkel und still gewesen, aber inwiefern Hannah daraus etwas über das Kommende hätte ableiten können, konnte sie nicht sagen. Eigentlich hatten sich all ihre Gedanken um Kaffee gedreht, was sie im Nachhinein als unfassbar banal empfand.

 

Hannah Kaufmans monumentale Müdigkeit an diesem Morgen war nicht das Resultat einer langen Nachtschicht im mobilen Büro im hinteren Teil eines Polizeibusses. Sie hatte auch nichts mit zu vielen Gläsern Rotwein oder zu vielen Episoden einer neuen Netflixserie zu tun. Hannah litt unter Hashimoto, einem Ungleichgewicht der Hormonproduktion ihres Körpers, das auf eine Schilddrüsenunterfunktion zurückzuführen war. Daraus folgte eine ungewöhnlich niedrige Konzentration einiger körpereigener Stoffe und Proteine, die vor allem das Aktivitätsniveau, den Stoffwechsel und die Leistungsfähigkeit des Körpers regulierten. Erik schnarchte leicht. Er war nicht aufgewacht, als Hannah sich aufgesetzt hatte. Ihren Zustand bezeichnete er immer als „Meer der Müdigkeit“, aber was wusste er schon? Hannah hätte gut auf Wirtschaftsprüfer mit poetischen Anwandlungen verzichten können. Selbst Polizisten waren die besseren Dichter, und das wollte etwas heißen. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Hannah liebte Erik trotzdem. Und müde war sie wirklich, insofern hatte er recht. Todmüde sogar, was angesichts der Uhrzeit nicht weiter verwunderlich war.

Manchmal, wenn Hannah von der Arbeit nach Hause kam, konnte sie sich kaum noch bewegen. Wie im Nebel legte sie sich dann mit einer Decke über den Beinen auf das Sofa im Wohnzimmer, starrte an die Decke, schlummerte ein und schaffte es nicht einmal, sich etwas zu essen zu machen. Sie konnte sich keinen Zentimeter vom Fleck rühren. Irgendwie war es ihr über all die Jahre hinweg gelungen, ihren gesundheitlichen Zustand bei der Arbeit geheim zu halten. Sie hatte gelernt, den Mund zu halten und ihre Müdigkeit zu kontrollieren, solange ihre Kollegen in der Nähe waren. Umso erschöpfter war sie allerdings, wenn sie nach Hause kam. Inzwischen setzte Hannah ihre Hoffnung darauf, eines Tages schwanger zu werden, was, so hoffte sie, ihren Körper derart aufrütteln würde, dass er seine Hormonproduktion von selbst wieder ins Gleichgewicht brachte. Bestenfalls. Manchmal hoffte sie sogar allen Ernstes, dass ein physischer Schlag, ein richtiger Hieb auf die Schilddrüse, ihre Funktionsfähigkeit wiederherstellen würde. Sie brauchte keine Medizin, sondern einen Schock. Seit Jahren nahm sie täglich brav ihr Levaxin ein, hatte aber nicht das Gefühl, dass es ihr half. So sahen Hannahs Gedanken aus, während sie nachmittags wie betäubt dalag und an die Decke starrte, dankbar, dass ihr noch einige ruhige Stunden blieben, bis Erik nach Hause kam.

Diese Gedanken gingen ihr auch durch den Kopf, als sie sich im Badezimmerspiegel betrachtete und die Haare zu einem Zopf hochband. Alles sah aus wie immer, bis auf die ungewöhnlich dunklen Ringe unter den Augen. Eine lange, gerade Nase zwischen klaren, dunklen Augen, und ausgeprägte Wangenknochen, die ihrem Gesicht scharfe Konturen verliehen. Hannah Kaufman, Polizeikommissarin. Sie liebte ihren Beruf und hätte ihn gegen nichts eingetauscht. Diese Liebe war es auch, was sie wachhielt. Das, und der Wunsch nach einer Zukunft in dem kleinen Haus, den sie mit Erik teilte.

Hannah fielen die Stapel von Lebensmittelkartons vom Thai-Foodtruck und anderem Take-away-Essen sowie die ungespülten Gläser in der Küche ins Auge, als sie die Wohnung verließ. Das Auto stand im Carport vor ihrem eigentümlich grünen Reihenhaus. Erik würde wahrscheinlich auf Firmenkosten mit dem Taxi zur Arbeit fahren. Das durften sich die Angestellten erlauben, wenn sie vor halb sieben morgens in der Agentur eintrafen und nach halb elf abends Feierabend machten. Selbst die Kaffeekanne war ungewaschen und sah nicht gerade einladend aus. Hannah musste wohl oder übel warten, bis sie auf der Arbeit war. Eigentlich brauchte sie den Kaffee, um die unvermeidlichen Kopfschmerzen zu unterdrücken, aber es war auch nicht schlecht, einmal früh loszugehen. Andernfalls bestand die Gefahr, dass sie zu Hause hängen blieb und nicht in der Lage war, den nächsten wichtigen Schritt zu tun.

Hannahs Schicht begann um halb sieben. Sie sollte Maria Svensson, die zu Hannahs besten Freunden in der Einheit gehörte und über Nacht Streife gefahren war, ablösen. Eigentlich war Hannah schon zu spät dran. Sobald sie bei der Arbeit eintraf, würde sie sich einen Kaffee gönnen und den kommenden Tag planen. „Fasst einen Plan, er wird zunichte“, lautete ein altes jüdisches Sprichwort, und das beschrieb Hannahs Alltag fast perfekt. Nichts wurde so, wie sie es sich vorstellte.

Der erste Anruf

Hannah startete den blauen Volvo und fuhr los in Richtung Stadt, von ihrem Haus in Nacka zum Polizeirevier in Kungsholmen. Während ihr Arbeitstag immer näher rückte, suchte sie im Autoradio nach Radio Stockholm und rief dann Erik an, um ihn aufzuwecken. Der Anruf ging direkt an seine Mailbox. Knapp zwei Jahre waren sie und Erik jetzt verheiratet, und sie war noch immer nicht schwanger.

„Hallo, hier ist der Anschluss von Erik Kaufman, BDF. Leider kann ich Ihren Anruf gerade nicht annehmen, aber ...“

Nein, Hannah hatte wirklich keine Lust, ihrem eigenen Ehemann eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu hinterlassen. Aber ihr gefiel nach wie vor, dass er ihren Nachnamen angenommen hatte. „Kaufman“ war „Petterson“ einfach haushoch überlegen! 06:00 zeigte die Digitaluhr auf dem Armaturenbrett. Es war ungewöhnlich wenig Verkehr. Die Pendler aus Nacka waren gewieft und gaben ihr Bestes, den Stau in die Stadt zu vermeiden. Die Sonne schien bereits. Zu dieser Jahreszeit war Stockholm wunderschön. Hannah überlegte, welcher Wochentag war. Mittwoch. In Sickla bog sie direkt in den Tunnel auf dem Södra Länken ein, um nicht im Stau rund um den Verkehrsknotenpunkt Slussen zu landen. Das Verkehrschaos würde noch mindestens drei weitere Jahre anhalten, wahrscheinlich sogar länger. Hannah beschleunigte und überholte einige Fahrzeuge. Auf der Höhe von Gullmarsplan bekam sie einen Anruf von Maria. Das war ihr erstes Warnsignal.

Die gut gelaunte Stimme im Radio verstummte, als der Anruf einging. Hannah hörte schon bei den ersten Worten, dass ihre Kollegin besorgt war.

„Hannah, ich bin’s, Maria. Bist du auf dem Weg?“

„Ich bin schon bei Gullmarsplan, wieso? Und dir auch einen guten Morgen!“

„Sorry, ja, guten Morgen. Bei der RCL ist eine Meldung zu Schüssen in der Nähe des Südkrankenhauses eingegangen. Ich bin gerade dort angekommen. Hier ist irgendetwas im Gange.“ Die RCL war die regionale Leitstelle, die alle allgemeinen Meldungen über die Nummern 112 und 11414 annahm und an die jeweiligen Zuständigkeitsbereiche weiterleitete. Hannah richtete sich auf dem Fahrersitz auf und spürte, wie ihre Gesichtshaut spannte. Sie wurde schnell nervös und fühlte sich dann, als säße sie in einem Windkanal.

„Ein Schusswechsel, sagst du?“, fragte sie. „Wann und wo?“

„In der Nähe der Kinderabteilung des Universitätsklinikums. Der neue Standort hinter dem Haupteingang des SÖS, dieses protzige, große Gebäude. Ein paar Rentner haben unabhängig voneinander angerufen. Zuerst stand gar nicht fest, ob es sich um einen Schuss oder nur um ein lautes Geräusch gehandelt hat. Vielleicht eine zugeknallte Autotür. Ich weiß nicht genau.“

Die zunehmende Anzahl an Schießereien hatte dazu beigetragen, dass die meisten Bürger das Geräusch von abgefeuerten Schüssen deutlich von anderen Geräuschen unterscheiden konnten. Hannah hatte keine eigenen Kinder und war noch nie in der neuen Kinderklinik auf der Insel Södermalm gewesen. Aber sie hatte schon davon gehört, wusste, wo sie lag, und anstatt zuerst zur Dienststelle zu fahren, nahm sie die nächste passende Ausfahrt aus dem Tunnel.

„Ich bin schon auf dem Weg, Maria“, sagte sie. „Komme direkt zu euch.“ Ob sie Maria auf dem Revier oder anderswo ablöste, spielte keine Rolle.

„Wir haben schon mehrere Mannschaftswagen angefordert. Es ist noch nicht klar, was passiert ist, aber den Berichten zufolge muss es ordentlich geknallt haben. Vielleicht waren die Zeugen aber auch nur überempfindliche Rentner, die aus dem Schlaf gerissen wurden.“

„Hört sich trotzdem nicht gut an“, sagte Hannah, halb zu sich selbst und halb ins Telefon. „Überhaupt nicht.“

„Komm her, so schnell du kannst! Wir machen die Übergabe am Einsatzort“, sagte Maria und legte auf.

Am Kinderkrankenhaus der Universitätsklinik

Hannah trat aufs Gaspedal, während sich Radio Stockholm wieder zu Wort meldete. Nachdem sie die Skanstullsbrücke überquert hatte, bog sie verbotenerweise nach links in den Ringvägen ein und fuhr über eine rote Ampel. Ihr Navi sagte ihr, dass sie den Haupteingang des Krankenhauses links liegen lassen musste. Das neuerbaute Krankenhaus hatte einen eigenen Eingang vom Ringvägen aus. In der Ferne hörte sie bereits eine Sirene. Außer ihr waren also noch weitere Kollegen auf dem Weg. Anscheinend hatte es einen Großalarm gegeben, der den Medien allerdings entgangen zu sein schien. Die Radiomoderatoren schwätzten, als wäre nichts Ernstes passiert. Ein weiterer unbeschwerter Frühlingstag in der Großstadt. Gereizt schaltete Hannah das Radio aus. „Zum Teufel damit“, murmelte sie. „Was für ein Stuss.“ Sie bog links in die Tantogatan ein und bremste ab. Ein Polizeiauto parkte zweihundert Meter weiter vor dem Polizeibus des Einsatzleiters, in dem Maria vermutlich nach einer langen Nacht auf das Ende ihrer Schicht wartete. In Hannahs Rückspiegel tauchte ein weiterer Funkstreifenwagen auf. Hannah parkte hinter dem Bus, trat an das Einsatzfahrzeug heran und öffnete nach einem kurzen Klopfen die Tür. Maria Svensson saß am Computertisch. Das helle Haar fiel ihr über die Schultern. Sie hob den Blick vom Bildschirm und schaute zu Hannah.

„Danke, dass du so schnell gekommen bist.“

„Kein Ding. Irgendjemand kann mir meine Sachen herbringen. Was ist denn hier los?“

„Das wissen wir noch nicht. Irgendwas ist da im Gange.“ Sie nickte zum Hintereingang des Krankenhausgebäudes, der weiter hinten zu sehen war.

„Im Gange?“

„Sieht aus, als hätte jemand im Gebäude oder am Eingang Schüsse abgegeben, das ist noch nicht ganz klar. Wir waren zufällig in der Nähe, bei einem häuslichen Streit in Liljeholmen, als der Notruf kam. Ich weiß aber nicht mehr als du. Es fühlt sich alles so durcheinander an.“

Hannah nickte und Maria fuhr fort: „Ich würde den Einsatz gerne durchführen, aber ich bin völlig platt. Ich bin ungefähr seit gestern Abend zehn Uhr auf den Beinen, und es war eine unruhige Nacht. Ich bin alles andere als ausgeruht.“

„Jetzt bin ich dran, Maria. Ich übernehme ab hier.“

Hannah sah sich im Bus um. Die Computer waren eingeschaltet und die Lautsprecher knisterten, aber im Moment war es noch recht still. Die Ruhe vor dem Sturm?

„Kaffee gibt es nicht, oder?“, fragte sie.

„Tut mir leid, wir sind direkt hierhergekommen.“

Hannah nickte. Der Kaffee konnte warten. Sie musste zunächst den Einsatzort sichern und Kontakt mit den Kollegen in der Polizeidienststelle aufnehmen. Sie stieg aus dem Auto und ging zum Funkstreifenwagen.

„Was ist los?“, fragte der Polizist hinter dem Lenkrad. Er kam Hannah vage bekannt vor, schien sie im Gegenzug aber sofort zu erkennen. Hannah war bekannt unter den Stockholmer Polizisten. Nach einigen Jahren als externe Einsatzleiterin war sie vor kurzem zur regionalen Einsatzleiterin und Kommissarin befördert worden.

Nach der Polizeihochschule war sie zuerst fünf Jahre lang in Norrmalm Streife gefahren. Dort hatte sie viel Erfahrung im Einsatz gewonnen, oft zusammen mit Maria Svensson. Dort stach sie vor allem mit ihrem exotischen Äußeren hervor. Mandelförmige, dunkle Augen und lange, dunkle Haare, die sie allerdings aufgrund der Sicherheitsbestimmungen nur selten offen ließ, da sie sich gleich wie ein Mantel um ihre Schultern wickelten.

„Wir wissen leider auch nicht mehr als Sie“, antwortete sie ihrem Kollegen. „Vielleicht hat sich dort oben ein Schuss gelöst. Wir haben auch erst vor zwanzig Minuten die Meldung von der RLC bekommen.“

Sie zeigte in Richtung des Kinderkrankenhauses, das etwa zweihundertfünfzig Meter entfernt zu ihrer Linken lag. Das Gebäude war imposant, ein großer, würfelförmiger Körper aus Glas und Stahl. Hannah schätzte, dass die Fassade etwa sechzig Meter in der Länge und fünfzehn Meter in der Höhe maß. Aber das war nur die Verpackung. Die wichtigste Frage war doch, was im Inneren unter der beeindruckenden, ordentlichen Oberfläche vor sich ging. Hannah schwante nichts Gutes.

Maria winkte ihr zu und machte sich aus dem Staub. Jetzt trug Hannah die Verantwortung.

 

Von ihrem Standort aus hatten sie freie Sicht auf die Einfahrt des Krankenhauses und das, was, wie Hannah vermutete, der Eingang der Notaufnahme war. Der Kindernotaufnahme. Hier wurden nicht nur allgemein Menschen behandelt, sondern Kinder. Hannah überlegte, an welcher Stelle die Polizei vordringen konnte, falls es nötig war. Der Vorteil ihres gegenwärtigen Standortes war die freie Sicht auf das Krankenhaus. Dadurch würden sie den Überblick behalten können, wenn es zu einem Einsatz kommen sollte. Der Nachteil war, dass alles so beengt war. Direkt hinter ihnen verlief die Einzäunung der Bahngleise. Der Zinkensdamms-Sportplatz lag nur ein paar Hundert Meter entfernt hinter einem Hügel. Von jeder größeren Fläche aus würden sie das Krankenhaus nicht sehen können. Hannah musste wieder an Kaffee denken. Was hätte sie jetzt für eine Tasse gegeben! Dann schlich sich Erik in ihr Bewusstsein, und sie fragte sich, ob er mittlerweile aufgewacht war.

„Wir bleiben hier, bis wir mehr Informationen haben“, sagte sie zu dem Polizisten. „Ich möchte niemanden in die Schusslinie schicken, bevor wir nicht wissen, was dort drinnen vor sich geht.“ Sie bemerkte zwei dunkle Kastenwagen, die fahrlässig neben dem Eingang der Notfallambulanz parkten.

„Würden Sie damit anfangen, das Gelände abzusperren?“

Die Polizisten leisteten ihren Worten augenblicklich Folge, sprangen aus dem Wagen und begannen, das gestreifte Absperrband abzurollen. Immer mehr Autos näherten sich dem Gelände. Aus Richtung des Ringvägen war die Tantogatan bereits abgesperrt. Hannah ging davon aus, dass auch der Ringvägen gesperrt werden musste, vielleicht sogar der Schienenverkehr. Die Gleise lagen vom Krankenhaus aus gesehen in direkter Schusslinie. Genau in diesem Moment raste ein Zug in südlicher Richtung aus dem Tunnel. Bis jetzt hatte Hannah mehr oder weniger automatisch funktioniert. Jeder Tag brachte seine Herausforderungen mit sich, jeder Morgen seine Unsicherheiten. Während die Absperrung Gestalt annahm, dachte Hannah das erste Mal darüber nach, was an diesem Mittwoch noch passieren könnte. Sie dachte an Maria, die jetzt auf dem Heimweg war, um sich hinzulegen. Ein Schusswechsel in der Nähe eines Kinderkrankenhauses? Was auch immer passiert war, es konnte sich kaum um etwas Gutes handeln. Sie brauchten dringend genauere Informationen. Wie viele Leute hielten sich im Gebäude auf? Und wer? Sie mussten mit dem Krankenhausmanager sprechen, mit Architekten und vielleicht sogar mit Fachleuten, die sich mit dem Belüftungssystem auskannten. Sie mussten möglichst schnell frühere Geiselnahmen und damit verbundene Befreiungsaktionen analysieren.

Aber zuerst musste sie herausfinden, was hinter der Glas- und Stahlfassade des Kinderkrankenhauses vor sich ging.

Der Regionspolizeileiter

Johan Ulfsson, der Leiter der Stockholmer Regionalpolizei, saß in seinem Auto, als er die Nachricht erhielt. So früh am Morgen war Stockholm noch nicht wirklich wach. Selbst die Cafés schliefen noch. Wie Hannah fuhr Ulfsson einen Volvo. Auf dem Bildschirm seines Smartphones, das in einer Halterung am Armaturenbrett steckte, leuchtete eine wichtige Mitteilung auf. Er bremste ab und versuchte, sie zu lesen, während er in Richtung Polizeirevier in der Nähe des Kronobergsparks über die Handverkagatan fuhr.

„Schusswechsel in der Kinderabteilung des Universitätsklinikums. Notruf per SMS durch einen Arzt in der Notaufnahme. Schwerbewaffnete, maskierte Männer sind in das Gebäude eingedrungen und scheinen sich dort zu verbarrikadieren.“

„Zum Teufel!“, fluchte der Regionspolizeileiter und trat aufs Gaspedal. Er war ein großer Mann mit kahl geschorenem Kopf, der aussah, als hätte er sein Auto auch schultern und zu Fuß zum Revier rennen können, wenn ihm die Wartezeiten im Stau zu lang wurden. Sein Spitzname unter den Kollegen war ‚der Sheriff‘. Hinter vorgehaltener Hand nannte man ihn auch ‚Shrek‘, in Anlehnung an seinen kräftigen Körperbau. Er parkte auf seinem festen Stellplatz in der Garage und rannte dann zum Aufzug. „Was zur Hölle ist heute los?“, murmelte er auf dem Weg nach oben. „Das ist doch verdammt noch mal nur ein normaler Aprilmittwoch!“

Als er aus dem Fahrstuhl trat, schaute er direkt in besorgte Gesichter. „Es gibt einen neuen Stand, Chef“, sagte einer seiner Mitarbeiter, kaum dass Ulfsson einen Fuß in die Abteilung gesetzt hatte. „Es sieht überhaupt nicht gut aus.“

„Am Südkrankenhaus?“

Der Kollege nickte.

„Ist schon jemand vor Ort?“, fragte Ulfsson. „Wie sieht es mit Hubschraubern aus? Beobachtet jemand das Gebäude aus der Luft?“

„Hannah Kaufman ist direkt zum Tatort gefahren und richtet eine Kräftesammelstelle ein. Außerdem sind mehrere Einsatzfahrzeuge vor Ort. Sie haben bereits damit begonnen, das Gelände abzusperren.“

„Rufen Sie sie bitte schnell für mich an!“

Der Mitarbeiter gehorchte umgehend. Hannah hielt gerade das Telefon in der Hand, als der Anruf von Johan kam. Erik hatte sie während einer Pause zwischen all seinen Ordnern, Akten und Kunden zurückgerufen, und sie hatte ihn nur kurz darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie sehr beschäftigt war. Die Schweigepflicht erlaubte ihr nicht, Informationen über ihre Arbeit weiterzugeben, selbst, wenn es sich bei dem anderen um ihren Ehemann handelte. Als der Anruf von Sheriff Ulfsson einging, warf sie Erik mitten im Satz aus der Leitung. Man musste Prioritäten setzen. Und in diesem Fall waren die Prioritäten klar. Johan erzählte ihr von der SMS aus dem Krankenhaus und begann dann, sie auszufragen.

„Können Sie etwas erkennen, Hannah?“

„Nicht viel“, antwortete sie. „Neben der Einfahrt für die Krankenwagen an der Rückseite des Gebäudes stehen zwei schwarze Vans.“ Die Fahrzeug-Identifizierungsnummern waren auf die große Entfernung nicht zu entziffern, und da Hannah wusste, dass der Sheriff danach fragen würde, kam sie ihm zuvor. „Die Identifizierungsnummern kann ich von hier aus nicht lesen. Ansonsten ist alles ruhig. Bis jetzt.“

„Geben Sie mir einen Lagebericht.“

„Bis jetzt haben wir noch keinen Eindruck von der Gesamtsituation, aber ich würde gerne eine Kräftesammelstelle an der Kreuzung Tantogatan-Jägargatan einrichten. Von dort führt ein Hang hinauf zum Einsatzort. Ich ziehe auch in Erwägung, den Schienenverkehr zu stoppen. Die Gleise liegen genau in der Schusslinie.“

Einer der Polizisten in Johan Ulfssons Nähe klopfte ihm auf die Schulter. Hannah bemerkte die Störung selbst durch den Hörer. Johan verstummte plötzlich.

„Das kam gerade über die 11414 herein“, sagte der Polizist entschuldigend. „Das sollten Sie lesen, Johan. Sofort. Es ist dringend.“

Johan unterdrückte den Drang, ihn kurz abzufertigen, und entschied sich stattdessen dafür, die Nachricht zu lesen.

„Warten Sie einen Moment!“, forderte er Hannah auf. „Legen Sie noch nicht auf. Da kommt noch mehr rein.“

Die Mitteilung wurde auf einen der großen Bildschirme im Raum projiziert. In einer Sekunde würde Hannah sie ebenfalls im Polizeibus lesen können.

„Das Terrorkommando ’Schwarze Flagge‘ hat das Kinderkrankenhaus der Universitätsklinik in Södermalm und alle, die dort vor Ort sind, in seiner Gewalt. Wir verlangen, dass die 39 Personen von der beigefügten Liste aus der Haft entlassen werden. Alle Gefangenen sollen sich am Flughafen Arlanda versammeln. Von dort aus wird ein vollgetanktes Flugzeug der SAS diese 39 Freigelassenen und 9 weitere Personen aus dem Kinderkrankenhaus nach Doha, Katar, ausfliegen. In Kürze werden wir ein Kind pro Stunde hinrichten, bis die schwedische Regierung unseren Forderungen nachkommt.“

„Verdammte Scheiße“, sagte Johan geradewegs ins Telefon.

„Bitte?“, sagte Hannah, die die Nachricht noch nicht gesehen hatte. „Was ist passiert?“

„Hannah, das ist eine Katastrophe. Ich leite Ihnen die Nachricht der RLC weiter. Jetzt geht es richtig los.“

„Worum geht es, Johan?“

„Es sind Terroristen. Was auch immer Sie tun, halten Sie Abstand zum Gebäude! Stellen Sie umgehend ein Einsatzkommando zusammen. Ihnen obliegt die Einsatzleitung vor Ort.“

Hannah schluckte, sagte aber nichts. Johan fuhr fort: „Ich muss hier an der Basis alles anleiern. Wir haben hier einen ‚besonderen Ernstfall‘ und mobilisieren weitere Einsatztruppen. Sowohl die Nationalen Einsatzkräfte als auch den Nachrichtendienst. Vielleicht auch den Bombenschutz? Sie können sich vor Ort mit Ihnen in Verbindung setzen.“ Besonderer Ernstfall bedeutete vorerst nur, dass der Einsatz nicht allein mit den üblichen Ressourcen gehandhabt werden konnte. Der Sheriff drückte Hannah weg und konzentrierte sich sofort auf die nächsten Schritte. Ihm kam die Idee, sich selbst zum Anführer des Krisenstabs zu ernennen, der hier vom Revier aus die Einsatzkräfte vor Ort unterstützen musste, zu deren Leiterin er Hannah Kaufman bereits ernannt hatte. Aber als er sich umsah, bemerkte er, dass Alex Kempe, einer seiner besten Mitarbeiter, bereits mit vollem Einsatz bei der Sache war. Alex war klein und nicht sehr kräftig gebaut, und er trug einen altmodischen Haarschnitt, der weder Haargel noch Wachs benötigte. Die Haare schienen einfach so auf seinem Kopf zu kleben. Als Dienstältester war es an diesem gottverdammten Mittwoch Johans Aufgabe, die externen Kontakte zu übernehmen, einschließlich der Gespräche mit dem Justizminister, der Reichspolizeichefin und vielleicht sogar dem Ministerpräsidenten. Er tat gut daran, jemanden zu ernennen, der sich hundertprozentig auf den Einsatz selbst konzentrieren und Hannah die strategische und taktische Unterstützung bieten konnte, die sie und ihre Mitarbeiter in den nächsten Stunden brauchen würden. Schnell trat er auf Alex zu und klopfte ihm auf die Schulter. Der Kollege drehte sich sofort um, und der Sheriff sah die Verwunderung in seinem Blick. Er war fähig genug und würde an dieser Aufgabe wachsen. Aber die Zeit wurde knapp.

„Johan?“, murmelte Alex. „Was gibt’s?“

„Alex, ich ernenne Sie hier und jetzt zum Leiter des Krisenstabs. Hier liegt ein ‚besonderer Ernstfall‘ vor, und wer weiß, wohin sich die Scheiße noch entwickelt. Machen Sie sich sofort an die Arbeit! Was hat es zum Beispiel mit der ‚Schwarzen Flagge‘ auf sich? Wie treten wir mit ihnen in Kontakt? Wie sieht es im Inneren des Krankenhauses aus? Und so weiter. Ich kontaktiere in der Zwischenzeit den Nachrichtendienst und die Reichspolizeichefin. Denken Sie daran, sich laufend mit Hannah Kaufman abzustimmen! Ich habe sie bereits mit der Einsatzleitung vor Ort betraut.“

Johan machte sich auf den Weg zu seinem Büro. „Und finden Sie die Identifizierungsnummern der Wagen heraus, Alex!“, rief er dabei über die Schulter, während Alex sich fragte, warum ausgerechnet erausgewählt worden war. Hatte er einfach zur falschen Zeit in der Nähe des Sheriffs gestanden? Was wäre gewesen, wenn er genau an diesem Morgen im Stau stecken geblieben wäre? Er schluckte, seufzte schwer und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Ihm fehlte das nötige Selbstvertrauen, um solche einen großen Einsatz zu leiten, aber jetzt, da er damit beauftragt worden war, musste er das Beste daraus machen. Daran bestand kein Zweifel. Bevor er mit der Koordinierung der nächsten Maßnahmen begann, rief er kurz bei seiner Frau zu Hause an. Mit seinem Anruf weckte er sie auf.

„Was ist los, Alex?“, fragte sie gereizt. „Weißt du, wie spät es ist?“ Stina Kempe betrieb eine Eckkneipe in Aspudden und ging nie vor zwei Uhr nachts ins Bett. Alex erklärte mit knappen Worten, was los war. „Ja dann, okay“, murmelte Stina, wünschte ihm viel Glück und legte auf. Jetzt wurde es ernst.

Einsatzleiterin an der Sammelstelle

Inzwischen war es zwanzig vor sieben. Hannah saß im Polizeibus, las die Mitteilung der Terroristen und versuchte, die Informationen zu verarbeiten. Geiseln. Terrorkommando. Das würde ein langer Tag werden. Ihre ersten Befürchtungen hatten sich bereits bewahrheitet, und das noch vor dem ersten Kaffee. In ihrem Beruf war kein Tag wie der andere, und es sah so aus, als würde sich der, der vor ihr lag, zu einem ganz fürchterlichen Exemplar entwickeln. Besser wurde er jedenfalls nicht. Hannah wusste nicht viel über Geiseldramen und Befreiungsaktionen. Manchmal gab es die Situation, dass ein Familienmitglied bei häuslichen Streitigkeiten in der Wohnung festgehalten wurde, und die Polizei einschreiten und damit drohen musste, die betreffende Person herauszuholen. Hannah hatte so etwas ein paar Mal durchgemacht, und es war ihr immer unangenehm. Mit dieser Art von Terrorismus war sie allerdings noch nie in Berührung gekommen, und sie befürchtete, dass sie einige rasche Entscheidungen würde treffen müssen.

Im Augenwinkel sah sie, wie die Polizei damit fortfuhr, die Straßensperren aufzubauen, und sowohl Fußgänger als auch Fahrzeuge vorbeileitete. Manche, die auf dem Weg zum Krankenhaus waren, zeigten Verärgerung. Einige verliehen ihrem Unmut über den misslungenen Start in den Tag laut Ausdruck. Nach und nach trafen immer mehr Einsatzfahrzeuge ein. Die Kinderklinik lag oben auf einem Hügel, im Hintergrund erhob sich der Bau des größeren Krankenhauses. Hannah fiel ein, dass sie sämtliche Krankenwagen zu den anderen Krankenhäusern umleiten musste. Im Geiste machte sie sich eine Notiz.

„Kinderklinik“, dachte sie. Die Zeilen aus der Nachricht der Terroristen hallten in ihren Gedanken wider. Plötzlich kam ihr das Gebäude auf der Anhöhe wie eine uneinnehmbare Festung aus „Game of Thrones“, „Der Herr der Ringe“ oder irgendeinem anderen mythologischen Spektakel vor. Wie ein verfluchtes, hartes Schloss aus Eis, von Schlangen umzingelt, die ständig auf der Hut vor Eindringlingen waren. Was war die ‚Schwarze Flagge‘? Das klang wie der IS, nach Fanatikern, die riesige, schwarze Fahnen schwenkten, wo auch immer sie auftauchten. Aber was bedeutete es jetzt in dieser Situation? Und dann war da noch die letzte Zeile der Nachricht, kaum lesbar, unfassbar: „In Kürze werden wir ein Kind pro Stunde hinrichten“. Hoffentlich war das nur eine leere Drohung, die Aufmerksamkeit erregen und die verlangte Freilassung der Gefangenen beschleunigen sollte. Hannah hatte keine Ahnung, wie die Polizeileitung darauf reagieren würde, und ob es überhaupt im Kompetenzbereich ihrer Vorgesetzten lag, darüber zu entscheiden.

Hannah schaute wieder zum Gebäude hinauf. Wer wusste, welche Schrecken sich im Inneren ereigneten. Es ging um Leben und Tod – und sie spielte eine Hauptrolle in dem ganzen Drama! Johan Ulfsson, der kahlköpfige Sheriff Shrek höchstpersönlich, hatte sie zur Einsatzleiterin ernannt. Sie atmete ein paar Mal tief durch. Es wurde Zeit, die Müdigkeit abzuschütteln und sich voll und ganz auf die Befreiung des Kinderkrankenhauses zu konzentrieren. Auf die Befreiung von … ja, was eigentlich? Vom IS? Vom personifizierten Bösen? Hannah erschauderte. Dann begann sie, die nächsten Schritte zu planen.

Kapitel 2

Angriff im Morgengrauen

Um Viertel vor sechs, fünfundfünfzig Minuten bevor Hannah am Einsatzort eintraf, bogen zwei schwarze Lieferwagen vom Ringvägen in die Tantogatan ein. Dann schwenkten sie ein weiteres Mal nach links in die Jägargatan und kamen erst direkt bei der Krankenwageneinfahrt zum Kinderkrankenhaus des Universitätsklinikums zum Stehen. Das „Parken verboten“-Schild ignorierten sie. Neun Personen stiegen aus den Vans, vier aus dem einen, fünf aus dem anderen. Sie hatten es nicht eilig, sondern konzentrierten sich darauf, ihre großen schwarzen Taschen, die an Hockeytaschen erinnerten, auf dem Boden abzusetzen. Außer ihnen war keine Menschenseele zu sehen. Für die meisten Stockholmer hatte der Tag noch nicht begonnen.

Aslan Bassajew, der Anführer der Gruppe, behielt die Umgebung im Auge. Er war klein, glattrasiert und machte einen allgemein gepflegten Eindruck. Hinter seiner scheinbaren Ruhe verbarg sich ein hohes Maß an Nervosität und Konzentration. Es würde ein schöner Tag werden – sein großer Tag! Viel stand auf dem Spiel. Alles. Entlang der Jägargatan parkten wie gewohnt Autos, aber der Wendebereich vor der Einfahrt für die Krankenwagen war leer – genau, wie Aslan es brauchte. Der Haupteingang des Krankenhauses befand sich auf der anderen Seite des Gebäudes und war von ihrem Standort aus nicht zu sehen. Weiter entfernt, auf halbem Weg zum Wasser, standen die Hochhäuser der Tantogatan mit ihren charakteristisch halbrunden Formen. Nach all den Nächten im Krankenhaus kannte er sie mittlerweile allzu gut. Ein Zug aus dem Süden passierte das Krankenhaus, und trotz der Entfernung spürten die Männer den Fahrtwind. Irgendwo zwitscherte ein Vogel. Aus den riesigen Taschen nahm jeder von ihnen ein AK-47 der Marke Zavasta, Modell M-70 oder M-92, und hängte es sich über die Schulter. Niemand sagte auch nur ein Wort, jede Bewegung war einstudiert. Auf ein Zeichen von Aslan hin zogen sie sich schwarze Sturmhauben über und betraten das Gebäude über die Krankenwageneinfahrt. Damit begann der Angriff im Morgengrauen wirklich. Das Spiel war vorbei, jetzt wurde es ernst. Aslan biss die Zähne zusammen und ließ sein bisheriges Leben hinter sich.

Nachdem die Gruppe die beiden leeren Krankenwagen passiert hatte, die hinter dem Tor parkten, erreichten sie den Warteraum der Notaufnahme, die direkt an die Krankenwageneinfahrt angrenzte. Schnell und leise durchquerten die Männer die mit Linoleum ausgelegten Korridore. Wie erwartet begegneten sie den ersten Personen im Wartezimmer. Ein paar Kinder saßen mit ihren Eltern auf den blauen Sofas. In einem Aquarium schwammen Fische. Eine Ecke des Raumes wurde von einer derzeit verwaisten Rutsche eingenommen. Personal war nicht zu sehen. Die Zeiger der infantilen Uhr an der Wand standen auf fünf nach sechs. Als die maskierte Gruppe mit ihren geschulterten automatischen Waffen den Raum betrat, schauten die Eltern überrascht auf.

„Bleibt sitzen und haltet still!“, sagte einer der Terroristen ruhig. „Und gebt die Handys her!“ Sie schauten in verschlafene Mienen. „Null-Eins und Null-Zwei bleiben hier, der Rest kommt planmäßig mit mir mit!“, sagte der Mann an der Spitze der Gruppe. Während er sich mit den anderen Terroristen auf den Weg machte, blieben die beiden ausgewählten Männer in der Notaufnahme zurück. Einer sammelte die Handys in einem roten Plastikeimer ein. Der andere versiegelte die Türen nach draußen zur Krankenwageneinfahrt mit Sprengstoff. Wie Plastikkuchen aus explosivem Teig wurden die Sprengkörper auf Türen und Glas geklebt, geformt und aktiviert. Alles lief methodisch und mechanisch ab.

„Wenn ihr versucht, eine der Türen zu öffnen, fliegt hier alles in die Luft“, sagte die Person, die die Telefone einsammelte in beiläufigem Plauderton. „Bleibt einfach still sitzen und tut genau das, was wir sagen!“ Offensichtlich folgten die Terroristen einem detaillierten Plan, in dem jeder Schritt, jede Aktion und jedes Wort im Voraus geplant war.

Plötzlich erschien eine Krankenschwester im Wartezimmer. Eva Simson hatte noch zwei Stunden Nachtschicht in der Notaufnahme vor sich und war müde. Ihre Dienstkleidung kratzte und sie sehnte sich nach ihrem Zuhause in Tumba. Ihre strähnigen dunklen Haare schrien förmlich nach einer Wäsche. Eigentlich war Eva ins Wartezimmer gekommen, um den nächsten Patienten in den Behandlungsraum zu rufen, Uno Jacobsson, einen fünfjährigen Jungen aus Årsta, der eine Stunde zuvor mit Magenschmerzen in der Notaufnahme eingetroffen war. Um fünf vor halb fünf war der Anruf der besorgten Eltern bei der 1177 eingegangen, und nach einem kurzen Gespräch hatte man die Familie in die Notaufnahme der Kinderklinik verwiesen. Eine Telefondiagnose reichte nicht aus, um ein Problem mit dem Blinddarm auszuschließen. Der Junge hatte wirklich starke Bauchschmerzen, etwas Fieber und lag gekrümmt in seinem Bett. Aber kaum, dass seine Eltern mit ihm im Krankenhaus ankamen, schlief er auf dem Sofa im Wartezimmer ein und war nicht wieder aufzuwecken. Uno hatte kurzes blondes Haar, Sommersprossen und schlief noch immer wie ein Stein mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen, die Beine im Schoß seiner Mutter, als Eva den Raum betrat. Zuerst sah sie den maskierten Terroristen, dann den Jungen.

„Uno Jacobsson“, sagte sie leise und mehr an die Mutter gerichtet. „Sie können jetzt mit Uno ins Sprechzimmer, dann sehen wir weiter.“ Kurze Pause. „Und wer sind Sie?“, fragte sie dann an den Terroristen mit dem Eimer voller Smartphones gewandt. „Verschwinden Sie! Sie haben hier nichts verloren.“

„Setz dich hin und halt die Klappe“, antwortete der Terrorist. „Du bist eine unserer Geiseln hier im Krankenhaus. Gib dein Telefon her!“

„Ich sage jetzt dem Wachpersonal Bescheid“, erwiderte Eva trotzig und ging schnellen Schrittes Richtung Ausgang. „Sie haben kein Recht, hier zu sein“, rief sie über die Schulter zurück. Der Terrorist zog eine Pistole aus der Tasche, brachte eilig einen Schalldämpfer an und schoss ihr dann in den Rücken. Sie sank gleich zu Boden, ohne eine Chance, sich noch irgendwie auffangen zu können. Um sie herum bildete sich eine Blutlache. Alle, die den Mord beobachtet hatten, gaben ein einstimmiges Keuchen von sich.

„Dann bleib eben da liegen, wenn es dir lieber ist“, sagte ihr Mörder verächtlich in Richtung des leblosen Körpers. „Aber rück erst dein Telefon raus!“ Er wandte sich an die anderen im Wartezimmer: „Irgendjemand hier, der die gleiche Behandlung will? Sagt einfach Bescheid!“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, durchwühlte er die Taschen der Krankenschwester, holte ihr Handy heraus und warf es zu den anderen in den roten Eimer. Sie begehrte nicht mehr auf, lag völlig still. Der Terrorist, der in der Zwischenzeit die Krankenwageneinfahrt mit Sprengstoff präpariert hatte, kam zurück ins Wartezimmer und begutachtete die Situation.

„Draußen ist alles fertig. Gab es ein Problem, Null-Eins?“

„Nein, nichts passiert.“

Der ältere Terrorist, der von seinen Kumpanen „Null-Eins“ und von anderen in seinem engeren Umfeld „der Schnitter“ genannt wurde, wandte sich an die Eltern. „Ihr bleibt fürs Erste mit den Kindern hier. Vielleicht bringen wir euch später an einen anderen Ort im Gebäude.“ Er klang ruhig und sachlich und hielt die Waffe still. „Gibt es hier in der Notaufnahme noch mehr Personal?“

Niemand antwortete ihm.

„Bring mir den Rest des Personals her. Ich will alle an einem Ort haben“, sagte er zu seinem Kollegen. „Ich warte hier.“

Abgesehen von der Notaufnahme befand sich im Eingangsbereich noch die kleine zur Notaufnahme gehörende Station. Auf dieser Station 64 gab es acht Pflegeplätze, hauptsächlich für Kinder und Jugendliche mit Atembeschwerden, Krampfanfällen, Blinddarmentzündung, Gehirnerschütterung und verschiedenen Arten von Infektionen. Außerdem verfügte die Station über einige Intensivpflegeplätze für die Betreuung schwerkranker Kinder, für die spezielle medizinische Geräte benötigt wurden. Mehrere Behandlungsräume innerhalb der Notaufnahme sollten das Wartezimmer entlasten, das neben den wartenden Kindern manchmal stark von den begleitenden Eltern, Verwandten oder Taxifahrern anderer Art frequentiert war, die einen kurzen Gang auf die Toilette, eine Tasse Kaffee oder einfach nur eine kurze Pause brauchten.

„Was wollen Sie von uns?“, fragte Anna Jacobsson, Unos Mutter, während sie versuchte, ihre Panik zu unterdrücken. Noch nie hatte sie derartige Brutalität erlebt, und dabei hatte sie gar nicht alles mit angesehen. Dennoch stand sie unter ihrer kontrollierten Fassade unter Schock. „Unser Junge ist krank“, erklärte sie flehend. Ihr Mann, Johan, nickte. „Er braucht eine Behandlung, vielleicht sogar eine Operation. Das hier ist eine Kinderklinik. So etwas können Sie doch nicht machen!“

„Tja, wir haben doch schon einiges gemacht“, erwiderte „der Schnitter“ nonchalant. „Nicht wahr?“

Einer der Väter im Wartezimmer erhob sich drohend. Null-Eins schaute ihn gereizt an. „Hinsetzen, habe ich gesagt! Sonst wars das für dich.“ Er zog die Pistole mit dem Schalldämpfer aus der Tasche und wog sie in der Hand. Eingeschüchtert und verängstigt setzte sich der Mann sofort wieder hin. Johan Jacobsson blieb neben dem Sofa stehen. Null-Eins warf einen kurzen Blick über die Schulter. In diesem Moment kehrte sein Kollege aus dem Personalraum zurück und trieb mit vorgehaltener Waffe ein paar Ärzte und Krankenschwestern vor sich her. Alle wirkten aufgewühlt. Einige von ihnen hielten Kinder an den Händen, die gerade in den Behandlungsräumen gewesen waren.

„Was zur Hölle wollen Sie eigentlich?“, fluchte einer der Ärzte. „Was glauben Sie, was Sie hier tun?“

„Dieser Mistkerl hat es geschafft, eine Nachricht zu verschicken“, sagte Null-Zwei und deutete auf den Arzt. „Sollen wir ihn umlegen?“ Der Mediziner war in den Dreißigern, trug eine Chinohose und einen weißen Arztkittel über einem karierten Hemd. Plötzlich blieb die ganze Gruppe stehen und keuchte beim Anblick der leblosen Krankenschwester am Boden auf. Der aufgebrachte Notarzt beugte sich vor, um ihren Puls zu messen. „Eva“, stieß er keuchend aus, „sag doch was!“

„Lass es sein, du Idiot von einem Kittelträger!“, sagte der Terrorist und richtete seine Waffe auf ihn. „Setz dich da hin! Wir meinen es ernst.“ Er deutete mit der Waffe zum hinteren Bereich des Wartezimmers mit der verlassenen Rutsche. Die Angestellten schauten einander an, dann in Richtung der Eltern und Kinder. Ob die Terroristen auf Drogen waren? Ihr Verhalten und ihre Art zu reden hatte etwas Überspanntes, als wären sie high.

„Was wollen Sie eigentlich?“, wiederholte Anna Jacobsson. Die Terroristen zu beschäftigen war offenbar ihre Methode, die Angst zu unterdrücken. Sie konnte gar nicht alles aufnehmen, was um sie herum geschah. „Wissen Sie eigentlich, was Sie hier tun? Das ist strafbar. Ist Ihnen klar, dass Sie dafür im Gefängnis landen werden? Sie haben einen Menschen getötet!“

„Oder ihr landet in der Hölle!“, rief der Arzt und ging plötzlich auf den Mann mit der Wollmütze los, der ihm am nächsten stand. Er hatte sich diskret durch die Gruppe der Klinikangestellten bewegt, um die Entfernung zum Attentäter zu verringern. Mit aller Kraft warf er sich nach vorn, um den Terroristen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Null-Zwei hatte jedoch bereits bemerkt, was der Arzt plante, und schlug mit der Waffe zu, sodass auch er zu Boden ging. Sie hatten klare Anweisungen von Aslan, so lange wie möglich mit dem Schießen zu warten. Fürs Erste brauchten sie Zeit, um das gesamte Gebäude sorgfältig zu versiegeln, bevor die Polizei auftauchte. Eine Frau schrie auf. Für einen kurzen Moment schien sich eine Möglichkeit für die Geiseln aufgetan zu haben, die beiden Terroristen anzugreifen. Die Spannung im Raum war fast greifbar. Aber dann war der Moment vorbei, die Situation entspannte sich, und mit gesenkten Köpfen gingen Eltern und Mitarbeiter hinüber in den hinteren Teil des Raumes. Die Gelegenheit war verstrichen, Aggressivität war Resignation gewichen. Der Arzt und die Krankenschwester blieben einige Meter voneinander entfernt ausgestreckt auf dem Boden liegen, nur verbunden durch eine Blutlache. Null-Zwei zog ein Telefon aus der Tasche, rief Aslan an und sprach ein paar kurze Sätze in einer fremden Sprache. Dann wandte er sich an die Gruppe aus Krankenhausmitarbeitern, Eltern und Kindern, die sich jetzt in einer Ecke gesammelt hatten.

„So, jetzt hört mal zu, ihr eingeschnappten Scheißschweden! Wenn wir irgendjemanden erwischen, der ein Handy vor uns versteckt und versucht, Polizei, Verwandte oder wen auch immer zu kontaktieren, dem jagen wir sofort eine Kugel in den Kopf. Ohne zu zögern.“

„Ihr seid verrückt“, sagte eine der Krankenschwestern. „Was auch immer ihr plant – das wird kein gutes Ende nehmen.“

„Warten wir es ab“, antwortete Null-Eins. „Wir haben noch nicht einmal angefangen.“

An der Rezeption

Zeitgleich mit dem Intermezzo in der Notaufnahme hatte der Rest der bewaffneten Terrorgruppe den Angriff im Morgengrauen fortgesetzt und war immer weiter ins Innere des Gebäudes eingedrungen. Ein fensterloser Gang führte durch eine Reihe von Türen direkt von der Notaufnahme zum großen Haupteingang der Klinik. Hinter den gläsernen Drehtüren, die ins Gebäude hineinführten, befanden sich eine Cafeteria, ein paar kleine Läden, die noch nicht geöffnet hatten, und ein kleiner Informationsschalter. Zwei unbewaffnete Sicherheitskräfte saßen an einem der Tische, tranken lauwarmen Kaffee und plauderten. Ein Lastwagenfahrer las im Aftonbladet. In dem Lobby-ähnlichen Saal befanden sich insgesamt zehn bis fünfzehn Personen. Alle schauten auf, als die Maskierten mit erhobenen Waffen schnell und effektiv in den Raum eindrangen. Aslan ergriff mit lauter Stimme das Wort.

„Wenn ihr still sitzen bleibt und die Klappe haltet, passiert euch nichts.“ Er sprach Schwedisch mit leichtem Akzent. „Bewegt euch nicht vom Fleck und wagt es nicht, eure Telefone zu benutzen! Nehmt sie langsam aus der Tasche, damit wir sie sehen können. Dann legt sie auf den Boden. Wenn ihr es wagt, sie zu benutzen, schießen wir!“ Einer der Terroristen ging mit seiner Tasche zu den Drehtüren, hielt sie an und begann sogleich, methodisch Sprengladungen anzubringen. Offensichtlich tat er das nicht zum ersten Mal.

„Was machen Sie da?“, fragte die junge Frau, die bis vor zwei Minuten hinter der Theke gesessen und gedöst hatte. „Lassen Sie das! Die Leute müssen doch rein und raus kommen. Das hier ist ein Krankenhaus. Ein Kinderkrankenhaus. Kein Spielplatz.“

„Wissen wir“, sagte der Terrorist und fuhr mit seiner Arbeit fort. „Das ist ein Kinderkrankenhaus. Hältst du mich für dumm oder was?“

Erschrocken schaute die Frau ihn an und blieb an Ort und Stelle. Die Besucher nahmen ihre Handys und legten sie auf den Boden. Die Sicherheitskräfte saßen regungslos da. Aus der Küche war ein Klappern zu hören, und dann trat ein Mann mit Kochmütze und einem großen Tablett mit belegten Brötchen heraus. Als er die Terroristen erblickte, versuchte er, sich wieder durch die Tür zu verdrücken und diskret in der Küche zu verschwinden.

„Hiergeblieben!“, rief einer der Terroristen. „Oder wir schießen. Setz dich hier hin, wo wir dich sehen können! Mein Kollege geht jetzt herum und sammelt eure Telefone ein. Wer seins nicht herausrückt, wird erschossen. Alles klar soweit?“

Die Horde Menschen, eine Mischung aus Personal, das nicht zum Pflegeteam gehörte, und mehr oder weniger zufälligen Besuchern, kramte weiter in Taschen und Rucksäcken herum. Reinigungskräfte, die ihre Arbeitskleidung noch nicht angezogen hatten, Hausmeister, Wäschereipersonal, ein weiterer Koch, ein Taxifahrer und ein paar in Decken gewickelte EU-Migranten, die Wärme und Schutz vor der kühlen Morgendämmerung suchten, folgten allen Befehlen. Diese Klinik gehörte zu den neueren Krankenhäusern der Stadt, ein ambitionierter Betrieb, mit hervorragendem Image, was Professionalität und zuvorkommende Behandlungen betraf. Wie in der angrenzenden Notaufnahme waren die zukünftigen Geiseln hier im Eingangsbereich in erster Linie überrascht. Was ging hier vor sich? Während die Telefone eingesammelt und in einen Eimer geworfen wurden, beendete der Sprengstoffexperte seine Arbeit an den Eingangstüren. Sie drehten sich nicht mehr, sondern standen vollkommen still. So war das Erdgeschoss der Kinderklinik abgeriegelt, mit Ausnahme einiger Notausgänge, die sich die Terroristen bald ebenfalls vornehmen sollten. Jetzt erinnerte in der Eingangshalle nichts mehr an den offenen, willkommen heißenden Raum, den die Architekten sorgfältig geplant hatten. Die Luft fühlte sich an wie Eiweiß, zäh und klebrig. Alle saßen reglos da, als hätte man sie auf den einst so schönen Boden genagelt.