Die Kirschen in des Mörders Garten - Inka Stein - E-Book

Die Kirschen in des Mörders Garten E-Book

Inka Stein

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  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Eine sympathische Heldin auf Mörderjagd in der Schrebergartenidylle. Als Marie ihrer Tante zusagt, ihr im Schrebergarten zu helfen, ahnt sie nicht, worauf sie sich einlässt: Im Kleingartenverein »Am Pappelwäldchen« steht die Welt kopf, denn am nahen Rheinufer wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden. Und statt Gartenglück erleben die Laubenpieper auch noch, wie die Barschaft des Vereins plötzlich spurlos verschwindet. Als Marie bald darauf selbst des Mordes beschuldigt wird, macht sie sich auf die Suche nach dem wahren Täter – und muss dabei tiefer graben, als ihr lieb ist.

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Seitenzahl: 455

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Inka Stein ist im Schrebergarten ihrer Großeltern aufgewachsen. Sie liebt Bücher, Kunst und englische Gärten. Ihr eigener Garten dagegen ist eher als naturnah zu bezeichnen. Sie lebt und arbeitet seit vielen Jahren in Düsseldorf. »Die Kirschen in des Mörders Garten« ist ihr erstes Buch.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer unter Verwendung der Bildmotive shutterstock.com/Olga Nikiforova, shutterstock.com/San Sigal

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-005-1

Ein Schrebergarten Krimi

Originalausgabe

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Die Autorin dankt dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW für das Künstlerstipendium.

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Bettina Querfurth, Frankfurt am Main.

Dumme rennen, Kluge warten,Weise gehen in den Garten.

März

Zerbrach ein falscher Zweig, und nieder fielenDie rankenden Trophäen und sie selbstIns weinende Gewässer.

William Shakespeare, »Hamlet«

1

Weit wie ein Meer lag der Rhein unter mir. Das Wasser floss schnell stromabwärts und schien noch an Fahrt aufzunehmen. Wie viel Treibgut der Fluss mitgerissen hatte. Ein Campingstuhl tauchte aus der Strömung auf, drehte sich und verschwand im nächsten Strudel. Dahinter schaukelte eine Mülltonne in Richtung Rotterdam.

Die Luft roch frisch, fast salzig. Hier oben auf der Brücke kam der Wind von vorn. Mühsam kämpfte ich mich auf meinem Rad vorwärts, wich Glasscherben und tiefen Pfützen aus. Bei jeder unvorhergesehenen Bewegung schepperten die Stahlteile, die ich eilig in den Fahrradkorb geladen hatte. Die Wolken vor mir über Oberkassel sahen so aus, als würde es sofort losregnen wollen. Als ob der Rhein nicht schon breit genug wäre. Durch die Unwetter mit Starkregen in den letzten Tagen hatte er gewaltig zugelegt. Noch war das Hochwasser nicht rekordverdächtig, aber die Kasematten links hinter mir waren bereits überschwemmt und die Altstadt-Fluttore geschlossen. Die Gangways der leeren Restaurantschiffe führten nicht mehr ans Ufer, sie steckten tief im Wasser.

Auf der Oberkasseler Seite schaute immerhin noch ein Stück Land heraus. Die Pappeln, die den Weg am Rheindeich bis zum Garten meiner Tante Linde säumten, standen noch im Trockenen. Sogar die Luft war feucht. Nebelschwaden flogen mir entgegen, streiften mich bei der Abfahrt von der Brücke und strichen mir fast zärtlich übers Haar, als ich die Rampe hinunterfuhr. Ein Erlkönig am Rhein? Die hohen Bäume im sogenannten Pappelwäldchen, die im Sommer die Rheinwiesen beschatteten und nun weiß umweht dunkel aus dem Wasser aufragten, wirkten wie gespenstische Riesen.

Wie immer nahm ich die Abkürzung und bog rechts auf den Deich ab, fuhr nicht über den Kaiser-Friedrich-Ring. Die Aussicht war trotz oder gerade wegen des Nebels schon spektakulär: Normalerweise lagen zwischen Deich und Wasserlinie mehr als hundert Meter Wiese, heute konnte ich nur noch eine winzig kleine Böschung von vielleicht einem halben Meter ausmachen.

Ich bremste und schaute über die riesige Wasserfläche, die sich vor mir ausbreitete. Nebelfetzen hingen vereinzelt darüber. In der Mitte, wo es tiefer wurde, bildeten sich kleine Strudel. In Ufernähe, wo der Fluss einen Abzweig durch die Bäume gebildet hatte, dümpelten Äste und Müll.

Es war kaum jemand unterwegs an diesem Samstagmorgen. Kalendarisch war zwar in wenigen Tagen Frühlingsanfang, aber es fühlte sich immer noch an wie Winter. Nicht weit von mir stand mitten auf dem Weg ein Teenager mit einem Jack-Russell-Terrier. Das Mädchen machte seelenruhig Hochwasser-Selfies vor wechselndem Hintergrund. Ihre unglaublich langen pinkfarbenen Fingernägel hinderten sie nicht daran, unfassbar schnell auf ihrem Smartphone herumzutippen.

Ich stieg ab und schob mein Rad das letzte Stück, es war nicht mehr weit bis zum Kleingartenverein. Das Schieben war mühsam, die sperrigen Stahlteile schlugen bei jeder Bodenwelle klirrend aneinander und drohten aus dem Korb zu rutschen.

Der kleine schwarz-weiße Terrier zerrte an der Leine und kläffte und zog und bellte, wollte zum Wasser hin. Die Besitzerin ließ sich nicht weiter stören, sie drehte sich zu den Pappeln, zupfte die blonden Haare unter der rosa Wollmütze zurecht und hob das Handy. Kein Wunder, ein schmaler Sonnenstrahl brach durch die Wolken, reflektierte die neblige Umgebung und schien in ihr Gesicht.

Ich war auf Höhe des Hundes angekommen und schaute auf das Treibgut, das sich hinter einem kleinen Vorsprung angesammelt hatte. Stöcke und Äste in verschiedenen Größen und Dicken, Plastikmüll, Stroh, Überreste eines Vogelnests, das Skelett eines Tannenbaums, ein Schuh, ein geblümtes Stück Stoff, ein Mantel …

Ich blieb erstarrt stehen. Das konnte nicht sein!

Ich schob das Fahrrad die zwei Schritte zum Ufer. Soweit ich es von hier aus sehen konnte, steckte in dem Schuh ein Fuß. Das geblümte Tuch lag wie ein Schleier um die Person und bewegte sich plötzlich mit der Strömung, als ob es mir zuwinken wollte.

Einen Moment schloss ich die Augen in der Hoffnung, dass ich mich getäuscht hatte. Dann holte ich tief Luft und sah noch einmal hin. Das war nicht Erlkönigs Tochter, auch keine Ophelia, sondern nach Gestalt und Bekleidung offensichtlich eine normale jüngere Frau, die da im Wasser trieb. Und das wahrscheinlich schon eine Weile.

Mir wurde schlecht. Ich griff den Fahrradlenker fester, um nicht umzufallen, sah zu dem Mädchen hin. Wie konnte sie nur …?

»Nicht anfassen!«, rief das Mädchen. »Die ist tot. Schon länger«, sagte sie einsilbig.

Ich starrte sie irritiert an. Nichts lag mir ferner, als eine Wasserleiche anzufassen.

»Polizei ist schon unterwegs«, erklärte mir das Mädchen.

»Hast du sie gefunden?«

»Nee, ich nicht, so ’ne alte Frau aus den Gärten vorn.« Sie wies vage nach Nordwesten und machte mit ihren Selfies weiter. »Hat gesagt, ich soll hierbleiben und warten, bis die Polizei kommt. Dauert hoffentlich nicht mehr lange. Mir ist kalt.«

Das konnte nur meine Tante Linde gewesen sein, die mir im Austausch für ein wenig Gartenarbeit einen Standort für eine größere Stahlskulptur angeboten hatte. Damit hatte sie mir einen Herzenswunsch erfüllt, denn ich war Bildhauerin, genauer gesagt: Stahlbildhauerin. Und je größer die Stahlskulptur, desto besser. In meinem Künstlerolymp saßen Richard Serra, Eduardo Chillida und Günther Uecker Seite an Seite mit Alexander Calder und Robert Rauschenberg. Die Faszination für Objektkunst und Pop-Art teilte ich mit Linde, die vor ihrer Pensionierung Kunstlehrerin gewesen war. Linde hatte natürlich gewusst, dass ich so ein Angebot niemals ablehnen würde. Seit Jahren hatte ich von einem größeren Objekt geträumt, bei dem ich machen konnte, was ich wollte.

Allein beim Gedanken an meine Arbeit heute Vormittag kribbelte es mir in den Fingern, gefolgt von einem Rausch an Begeisterung, Euphorie und kreativer Energie. Lindes verwilderter Kleingarten war zudem wirklich perfekt für meine Ideen: Stahl und Natur sollten sich verbinden, sich auseinandersetzen und aneinander abarbeiten. Das Objekt würde durch den Ort verändert, und der Ort veränderte sich durch das Objekt, ganz langsam, im Lauf der Zeit.

Nicht so wie jetzt hier. Aus dem pittoresken Rheindeich im Nebel mit dem idyllischen Kleingartenverein war plötzlich ein Tatort geworden – oder zumindest ein Fundort. Mit einer sehr realen Leiche. Mir gruselte bei jedem Blick aufs Wasser.

»Tja dann …« Ich wandte mich schon zum Gehen.

Aber das Mädchen hatte es sich offensichtlich anders überlegt und wurde plötzlich freundlicher. »Können Sie nicht noch ’n bisschen bei mir bleiben? Ich will hier echt nicht allein sein.« Ihre Stimme klang nun eher piepsig. Verlegen zog sie ein ums andere Mal an der Leine und rief: »Twilight, sitz!«, wohl mehr, um sich selbst zu beruhigen.

Ich konnte definitiv nicht weg. Hatte ich denn nicht schon genug Baustellen in meinem Leben?

Matthias, die Kinder, die Schlosserei, Lindes Garten, meine Kunst … All das ratterte mir durch den Kopf, als wir, während die Sonne die letzten Nebelschwaden über dem Pappelwäldchen auflöste, bei der Unbekannten eine Art bizarre Totenwache hielten, nur unterbrochen von Gekläff und Rufen wie »Twilight, bleib hier!« oder »Twilight, nein!«.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten wir schließlich mehrere Martinshörner auf der Brücke näher kommen. Nach der nebligen Ruhe herrschte plötzlich Chaos am Rheindeich. Ein ganzes Polizeiaufgebot plus Rettungswagen kam auf uns zugefahren. Vom Wasser aus steuerte uns ein Polizeiboot an, während am gegenüberliegenden Rheinufer ebenfalls Feuerwehrwagen hielten.

Hinter mir stoppte ein Motorrad. Der Polizist stieg ab und bedeutete uns knapp, uns zur Verfügung zu halten und nicht wegzugehen. Er hielt sich wirklich nicht mit Höflichkeitsfloskeln auf, sondern zog direkt Sperrband um die Szene. Er sah sehr jung aus, und ich überlegte, ob er wirklich schon diese schwere Maschine fahren durfte. Ich wäre nur zu gern endlich weitergegangen, denn mir wurde nach wie vor schwummerig, wenn mein Blick am Polizeimotorrad vorbei auf die Frau im Wasser fiel. Und ich musste mein Rad festhalten, damit die Stahlteile im Korb nicht Übergewicht bekamen, während ich versuchte, nicht in Richtung Rhein zu schauen.

»Ist das Ihrs? Können Sie das vielleicht ein bisschen weiter rüberschieben?« Der junge Polizist wies abschätzig in Richtung Straße.

»Marie! Mein Gott, da bist du ja!« Linde kam auf mich zugestürzt und fiel mir um den Hals. Das Rad schwankte bedenklich, während ich versuchte, es auszubalancieren. »Hast du denn …?«, fragte sie atemlos – um sich dann selbst zu unterbrechen: »Ach, ist das schön!« Sie sah verzückt auf ein gebogenes Stahlblech, das oben aus dem Korb ragte.

Ich schob das Rad einen Baum weiter, damit sich der Rettungswagen über den schmalen Weg zwängen konnte.

Man musste über meine Tante nicht viel sagen, um zu wissen, dass sie mit Leib und Seele Künstlerin war. Eine halb fertige Skulptur von mir und sie vergaß, dass das Hochwasser keine zwanzig Meter von ihrem Kleingarten entfernt eine Leiche angeschwemmt hatte.

»Die da«, erzählte das Teenagermädchen mit Hund dem Motorradpolizisten und zeigte auf Linde. »Die hat die Leiche gefunden. Ich bin dann stehen geblieben, weil sie gesagt hat, ich soll hier warten und nichts anfassen, bis sie wiederkommt. Aber ich hab dann mal lieber Sie angerufen …«

Das sah Linde ähnlich. Nach vierzig Jahren als Kunstlehrerin an einer Realschule konnte sie Fremden gegenüber die Aura eines Feldwebels aussenden. Wer sie besser kannte, wusste, dass das alles nur Fassade war. Linde hatte zwar ihre Prinzipien, aber auch ein großes Herz. Und ihrer kummervollen Miene sah ich an, dass sie der Leichenfund mehr mitnahm, als sie sich vielleicht selbst zugestehen wollte.

Mittlerweile war der schmale Weg um uns herum voller Menschen. Es hatten sich ein paar Gaffer angesammelt, und weiteres Blaulicht flackerte über den Deich. Auch aus den anliegenden Kleingärten kamen Leute. Das Polizeiaufgebot wurde nach und nach größer, und von der gegenüberliegenden Rheinseite näherte sich ein weiteres Boot der Feuerwehr Düsseldorf. Während sich der Rettungsdienst mit der Person im Wasser beschäftigte, hielten Polizeibeamte das Publikum an Land in Schach.

Wir standen am Rand des ganzen Geschehens und mussten mit ansehen, wie schließlich ein Mitarbeiter des Rettungsdiensts die Frau hinter einem aufgespannten Tuch umdrehte. Vermutlich war jeglicher Wiederbelebungsversuch gescheitert, denn der junge Motorradpolizist wurde schlagartig sehr bleich im Gesicht, schloss die Augen und ging ziemlich schnell so weit wie möglich weg. Er suchte anscheinend Zuflucht bei seinen Kollegen. Einer von ihnen, in Zivil, schaute herüber und steuerte dann geradewegs auf uns zu, obwohl ein anderer, ebenfalls ohne Uniform, ihn sichtlich zurückhalten wollte.

Zu spät, er stand schon vor mir und richtete das Wort direkt an mich.

»Sie sind hier Zeugin?« Er wirkte nicht wie ein Polizist, eher wie ein nicht mehr ganz so junger Fußballprofi mit einem trainiert smarten Blick, einem sportlichen Gang und zurückgegelten schwarzen Haaren.

»Äh …« Mir blieb das Wort im Hals stecken, als in meiner unmittelbaren Nähe die Leiche vorbeigetragen wurde. Ich wandte mich so weit weg wie möglich ab und sagte ihm nur: »Ist Zufall, ich wollte …«

»Ihr Name?«

»Marie Busch, und wer sind Sie?«

Der Mann wedelte wichtig mit seinem Polizeiausweis und gab mir seine Karte. »Melden Sie sich auf jeden Fall bei mir. Ich brauche Sie als Zeugin.«

Er hieß Koray Levent, war vom LKA und sah mich herausfordernd an. Aber ich hatte schließlich andere Sorgen. Angestrengt stopfte ich die Karte in meine Jackentasche. Als ich aufsah, stand der Polizist schon wieder bei seinen Kollegen und gestikulierte wild in meine Richtung, so als würde er etwas klarstellen wollen. Ich beobachtete noch, wie er schließlich sichtlich aufgebracht in ein Auto stieg und wegfuhr. Was für ein Auftritt.

Linde war auch nicht mehr bei mir. Ich sah mich auf dem Deich um, konnte sie aber nicht finden. Wo war sie hingegangen? Ich fühlte mich plötzlich sehr allein und wäre gern einfach woanders gewesen.

Neben mir nahm eine Polizistin die Personalien des Handy-Mädchens auf und wandte sich dann an mich.

Während ich mechanisch meine Kontaktdaten herunterbetete, bemerkte ich, wie die Sanitäter die zugedeckte Leiche auf einer Trage zu ihrem Rettungswagen schafften. Das geblümte Tuch, eben noch wie ein Schleier im Wasser, wehte nun feucht und lappig im Wind.

Trotzdem, ein schönes Tuch, dachte ich. Ein Farbklecks im grauen Spätwinter, es war hellblau mit aufgestickten kleinen weißen Blüten und hellgrünen Ranken, roten Mohnblüten, dunkelblauen Veilchen oder Vergissmeinnicht, mehr Details konnte ich nicht erkennen. Es kam mir aber irgendwie bekannt vor. Unpassenderweise fiel mir ein, dass mein Hochzeitskleid vor neunzehn Jahren ziemlich ähnlich ausgesehen hatte.

Schnell schob ich diesen Gedanken weit von mir weg, denn an den Zustand meiner Ehe wollte ich im Augenblick nicht auch noch denken. Da sah ich Linde aus einem Polizei-Van steigen. Vermutlich hatte sie dort eben ihre Zeugenaussage zu Protokoll gegeben. Sie winkte mir zu und wies in Richtung ihres Kleingartens.

2

Ich schnappte mir mein Fahrrad und drängelte mich mühsam zwischen den vielen Leuten auf und neben dem Deich durch, bis ich bei Linde ankam, die vor der Kleingartenanlage auf mich wartete. Einen offiziellen Eingang gab es gar nicht, auch keinen Zaun ums Gelände, das war das Besondere an dem Verein am Pappelwäldchen. Jeder konnte rein- und durchgehen, was Vor- und Nachteile hatte. Die Hundebesitzer, die den Weg zu den Rheinwiesen abkürzen wollten, vor allem bei schlechtem Wetter, waren heute immerhin weggeblieben, weil das Hochwasser die Hundewiese unpassierbar gemacht hatte.

Wir bogen in den schmalen Schotterweg ein. An der Ecke zum Deich lag schon der erste Garten, der durch seine akribischen Heckenpflanzungen auffiel. Hier konnte man nicht reingucken, selbst wenn man wollte. Das wurde vom Verein geduldet, weil alle Verständnis dafür hatten, dass man bei den zahllosen Spaziergängern auf dem Deich seine Privatsphäre brauchte, auch wenn die Satzung eigentlich eine Heckenhöhe von nur einem Meter vierzig vorschrieb. Tom, der Besitzer dieses Gartens, war froh darüber, denn er war nicht der Typ Mensch, der ständig mit den neugierigen Nachbarn den neuesten Klatsch austauschen mochte.

Wir kamen an den nächsten beiden Gärten vorbei. In dem einen war nur selten jemand zu sehen, der zweite war ständiger Aufenthaltsort von Ulla und Rolf, sozusagen das Freiluftwohnzimmer des Rentnerpaars, guten Freunden von meiner Tante. Leider hatte Rolf vor Kurzem einen Schlaganfall erlitten und saß seitdem im Rollstuhl.

Schräg gegenüber auf der rechten Seite, nicht weit vom Deich weg, befand sich Lindes Garten. Im Frühsommer, wenn die Busch- und Ramblerrosen blühten, konnten Spaziergänger den Rosenbogen am Eingang schon vom Rheindeich aus rosarot leuchten sehen. Jetzt, im nebligen März, war die Welt nicht mehr als grün-grau.

Sie hatte das Tor für mich weit aufgeschoben und mit einem Sack Blumenerde festgehalten. Um das Rad auf seinem Stammplatz rechts am Zaun neben dem Tor zu parken, musste ich höllisch aufpassen und mich zwischen den kreuz und quer über den Weg austreibenden Krokussen durchschlängeln. Blumen durften bei Linde eben fast alles, und es war nicht viel Platz. Schweigend ging Linde vor mir den geraden Plattenweg entlang, der vom Tor zur Laube führte.

Vorsichtig hob ich meine Stahlteile aus dem Korb und trug sie an der Laube vorbei in den hinteren Teil des Gartens, wo meine Skulptur aufgestellt werden sollte. Auf der kleinen Betonfläche, die ich vor zwei Wochen gegossen hatte, legte ich das Metall ab und streckte mich. Wie lange hatte ich das schwere Rad halten müssen? Wahrscheinlich fast eine Stunde. Gut, dass ich heute keine wichtigen Termine mehr hatte.

Ich drehte mich um und ging zurück zu Lindes Laube. Erst jetzt, ohne mein schweres Gepäck, hatte ich Augen für das, was sich im Garten schon getan hatte. Viel zartes Grün zeigte, wie sehr sich trotz Nebel und Hochwasser doch der Frühling ankündigte.

Ich atmete auf. So karg und freudlos das Rheinufer mir erschienen war, so schrecklich das alles war, so viel Wärme strahlte Lindes Garten aus. Dieser Ort war ein blühendes Idyll. Und das, obwohl es erst Mitte März war. Am Gartenzaun hatten unzählige leuchtend blaue Krokusse ihre Blütenkelche geöffnet. Auf der anderen Seite des Zaunes, im Nachbargarten, blühte es weiter und im angrenzenden Garten ebenfalls.

Düsseldorfs »Blaues Band am Rhein« war weithin bekannt. Das riesige von der Stadtverwaltung angepflanzte Krokusbeet reichte rechtsrheinisch von der Messe durch den Rheinpark bis fast zur Altstadt, und die Touristen kamen in Scharen. Ganze Volkshochschul-Fotokurse verteilten sich im frühlingsfeuchten Gras und fotografierten die blaue Woge in der grünen Wiese. Ganz zu schweigen von den Bloggern, die sich instagramtauglich und aufwendig gestylt in die Blütenpracht setzten und sich selbst oder gegenseitig ablichteten. Das wollte man auf der linken Rheinseite beim Pappelwäldchen e. V. natürlich nicht so stehen lassen. Vor drei Jahren war deshalb in einer Gemeinschaftsaktion des Vereins ein großer Schwung Krokuszwiebeln gesetzt worden. Das blaue Band des Pappelwäldchens begann am Vereinsheim, mäanderte an der Hecke entlang, ehe es ein paar Haken an diversen Gartenlauben vorbei schlug und schließlich drei Gärten hinter Lindes knapp vor dem Rheindeich endete.

Die Krokusse waren aber nicht das Einzige, was bei Linde schon zu bewundern war. Selbstverständlich blühten in ihrem Beet vor dem Küchenfenster der Laube weiße und rosafarbene Buschwindröschen zusammen mit den gelben Winterlingen. Die Buschwindröschen waren sozusagen Ehrensache, weil meine Tante genau wie ich mit Nachnamen Busch hieß und ihr Taufname Rosalinde war – nur durfte sie niemand so nennen. Die meisten sagten Linde, das gefiel ihr besser. Wer aber Rosalinde Busch hieß und einen Garten hatte, bekam ständig Buschrosen und Buschwindröschen geschenkt, damit hatte sie sich schon lange abgefunden.

In einem weiteren Beet blühten kleine Bellis in kräftigerem Rosa und blaue Traubenhyazinthen. Der Forsythienstrauch mitten auf der Wiese war auch schon voller kleiner gelber Knospen. Ein bisschen Sonne noch, dann würden die gelben Forsythien mit den pinkfarbenen Fäden des Zaubernussbaums und den Winterlingen um die Wette leuchten.

In den Gemüsebeeten war noch nicht viel los, ein paar Grünkohlstauden aus dem letzten Winter ließen noch müde die Köpfe hängen, aber Lindes Blumengarten war ein Farbenmeer, fast das gesamte Jahr über. Ich staunte in jeder Gartensaison aufs Neue, wie sie es hinbekam, dass es nicht wild und bunt, sondern harmonisch aussah, und ich war entschlossen, von ihr zu lernen. Lindes kleines Paradies sollte so bleiben, wie es war, auch wenn sie selbst älter wurde.

Im März war samstagmorgens in der Kleingartenanlage nur wenig los, das Polizeiaufgebot hatte aber jede Menge neugierige Anwohner und Hundebesitzer an den Rheindeich getrieben. Die Gärten waren zwar nicht wie ausgestorben, aber man hörte auch noch nicht das für den Frühling typische Klappern, Hacken und Mähen. Das Wasser im Verein war zu diesem Wochenende nach der langen Winterpause angestellt worden – am Jahresanfang das Startsignal für die Kleingärtner, obwohl es immer mal Streit über den richtigen Zeitpunkt gab.

Von weiter hinten in den Gärten vernahm ich monotone Hammerschläge, als ob jemand ein Ikea-Regal zusammenbaute und nun die Sperrholzplatte auf der Rückseite befestigen wollte. Ich sah Linde, die an der Laube auf mich wartete, fragend an. »Was ist denn da los? Zieht irgendwo jemand neu ein?«

»Das sind doch die Kinder von Frauke und Hendrik, die gehen nachher auf diese Demo und basteln ihre Protestschilder. Find ich gut. Für die Zukunft und so.«

Es war mir klar, von wem Linde sprach, und sofern es für das Klima und gegen Großkapitalismus ging, war ich absolut dafür. Bloß dass die beiden vierzehn- und fünfzehnjährigen Mädchen … Auf einmal schob sich das Bild der im Wasser treibenden Leiche vor mein inneres Auge. Und ich dachte an das berühmte englische Gemälde von Ophelia, Hamlets Geliebter, die ins Wasser gegangen war.

Die hämmernden Mädchen holten mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Die beiden nahmen nicht nur lieb an den Fridays-for-Future-Demos teil, sondern hatten sich, wie mir Linde erzählt hatte, vor einer Weile außerdem der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion angeschlossen – in aller Radikalität und mit jugendlich überbordendem Enthusiasmus. Sie hatten schon wegen Blockaden Nächte in Polizeigewahrsam verbracht und betrachteten den Schulbesuch prinzipiell als nebensächlich. Die Eltern – beide Lehrer – sprach man besser gar nicht erst darauf an.

Lindes Laube, das kleine Steinhäuschen, war keinesfalls Geräteschuppen, sondern vor allem ihr Atelier. Noch war ihr großer, schwerer Holztisch nah an das Häuschen herangeschoben, die passende Holzbank ohne Lehne stand darunter, und über beidem hing ein durchsichtiger Plastikschutz. An diesem Tisch mit den – natürlich lindgrün gestrichenen – gedrechselten Beinen und der schön gemaserten Ahornplatte hing ihr Herz. Er war Sinnbild ihres Sehnsuchtsorts in Südfrankreich und wurde peinlichst sauber gehalten, noch nie hatte ein Farbklecks ihn verunstaltet. Bald würden Vasen mit Gartenblumen darauf stehen, und auf der Bank würden bunte Kissen liegen. Ich freute mich schon auf die ersten warmen Gartentage.

Noch aber waren diese wichtigen Dinge winterfest verstaut. Sonnenschirm und Klappstühle versperrten den Gang zum Plumpsklo, die Korbstühle konnte man nicht stapeln, und entsprechend wenig Platz war im Winterhalbjahr in der Laube.

Nebenan im Verschlag bewahrte Tante Linde Spaten, Grabegabel und Hacken auf, innen befand sich das Reich der Farben. Während die Wände in ihrer kleinen Oberkasseler Wohnung nahezu mit Bildern bedeckt waren, so war in der Gartenlaube jeder verfügbare Raum mit Regalen versehen. Unzählige Materialien waren so hineingestopft, dass ich ständig Sorge hatte, sie würden herausfallen. Skizzen klebten wild durcheinander, wo gerade Platz gewesen war. Ausgedrückte Farbtuben lagen immer genau da, wo man sich hinsetzen wollte. Ein vertrauter Geruch nach Ölfarben hing in der Luft und war nicht wegzukriegen, soviel auch gelüftet wurde.

Schon beim Hereinkommen in das Gartenhäuschen war ich wie betört von den Ölbildern. Wo Platz war zwischen den Regalen, waren sie gehängt worden, sogar über dem alten Herd und im Gang zum Plumpsklo. Jede freie Fläche lebte, war voller Blumen, Blumen und noch mehr Blumen. Und aus allen Gemälden leuchtete Tante Lindes Lieblingsfarbe Orange.

Sie schob mich zu dem kleinen Tisch vor dem Sofa, der schon mit rotem Steingutgeschirr aus den Siebzigern eingedeckt war. In Lindes Laube schien die Zeit stehen geblieben zu sein, aber auf eine gute Art. Es war ein ewiges Werden und Vergehen wie in der Natur, eine freundliche Unordnung.

Die Staffelei und der Teewagen mit ihren Malutensilien, den Farbtöpfen, der Pinselsammlung, Terpentinfläschchen mit Lappen, Farbverdünner, Schälchen zum Farbenmischen und, und, und hatten drinnen neben dem großen Fenster ihren Platz, wo Linde auch im Winter genug Licht zum Malen hatte. Auf dem vollkommen durchgesessenen Sessel, der schon seit Menschengedenken in der Laube stand und bereits von Lindes Eltern dorthin ausgemustert worden war, lagerte wie immer eine Reihe Leinwände.

»Na, was war denn das für ein hübscher junger Mann, dem du da nachgeschaut hast, Mariechen?«

»Linde!« Ich schob sie durch die Tür in die Laube. »Nur ein Polizist. Und so ganz jung war er auch nicht mehr, um die vierzig, würde ich sagen, mehr so mein Alter. Übrigens, selbst wenn ich meinen Mann nicht so oft sehe, weil er ständig für den Marathon trainiert, und die Jungs in Kanada herumreisen, habe ich doch eine Familie, für die ich Zeit haben möchte. Erzähl du doch lieber, warum du nicht selbst bei der Toten am Rheindeich gewartet hast, bis die Polizei gekommen ist. Warum hast du denn das Mädchen einfach am Rhein abgestellt und bist in deinen Garten gegangen?«

Linde nahm mich liebevoll am Arm. »Setz dich, ich mach uns einen Tee.«

Ihre knappe Anweisung verriet mir, dass Linde weiter ausholen würde mit ihrer Erzählung und dass da mehr war. Beim Teekochen konnte sie besonders gut nachdenken, das war schon immer so gewesen. Ich kannte das und wartete geduldig, bis sie bereit war zu reden.

Ich hatte Linde viel zu verdanken, obwohl die meisten sie für ein wenig verrückt hielten mit ihrer Siebziger-Jahre-Künstlerinnenexistenz. Sie hatte mich immer – egal worum es ging – unterstützt, auch finanziell, und deswegen tat ich ihr auch jeden Gefallen. Fast jeden.

Sie war nun schon bald siebzig, eher klein, immer noch schlank, und das Haar war immer noch rot gefärbt. Aus der lässigen Hochsteckfrisur fiel von Zeit zu Zeit eine widerspenstige Strähne heraus, auch mal zwei oder drei. Linde trug nie praktische Kleidung, sondern meistens einen ihrer geliebten Siebziger-Jahre-Künstlerkaftane. Heute in leuchtendem Blau. Und wie immer hatte sie rot lackierte Fingernägel. Auch das war natürlich im Garten kein bisschen praktisch, aber wozu gab es Gartenhandschuhe? Linde besaß etliche Paare in vielen Farben.

Kochen war nicht unbedingt ihre große Leidenschaft, zumindest nicht im Garten. Da gehörte ihre Zeit allein dem Malen und den Blumen. Deshalb standen über dem Kühlschrank in einem kleinen Regal nur Salz, Pfeffer und Maggiwürze, ein paar zerknitterte Tüten mit Resten von Gelierzucker, denn auch Marmeladen und Kompotte wurden vor Ort in der Laube eingekocht, und ein paar bunte Packungen mit ihren Lieblingstees.

Als sie die Teetassen abgestellt und sich zu mir gesetzt hatte, sprudelte es geradezu aus ihr heraus. »Marie, ich weiß, wer das war.«

Ich musterte sie aufmerksam. Was mochte sie entdeckt haben, das mir nicht aufgefallen war?

»Das Mädchen. Im Wasser. Das ist Alina. Vom Jupp.«

»Was?« Ich merkte, wie mir die Farbe aus dem Gesicht wich. Gut, dass ich schon saß.

»Ihr Schal«, sagte Linde nur.

Schlagartig wurde mir klar, warum mir das Tuch der toten Frau vage bekannt vorgekommen war. An Jupp Horns Geburtstagsfeier im letzten Jahr hatte sie den hellblauen Seidenschal mit den eingestickten Blümchen den ganzen Nachmittag getragen.

»Meinst du wirklich?«

Im Kleingartenverein kannte jeder jeden, und das schon lange. Jupp Horn war gute zehn Jahre älter als Linde gewesen und im letzten Herbst plötzlich gestorben. Seit ich denken konnte, hatte er den Garten schräg gegenüber gehabt. Seine Frau lebte schon lange nicht mehr, ich konnte mich an sie gar nicht erinnern. Mit Jupps Kindern hatte ich nie viel zu tun gehabt, sie waren deutlich älter als ich, und der Sohn, Alinas Vater, war früh verstorben, Herzinfarkt, wenn ich mich richtig erinnerte. Die Enkelin Alina aber, sie hatte als Kind immer zum Malen zu Linde kommen dürfen. Und während meines Studiums war ich Alinas Babysitterin gewesen. Ich hatte ihr stundenlang vorgelesen, mit ihr Fahrradfahren geübt. Auch wenn ich sie schon eine Weile nicht mehr gesehen hatte, war sie früher viele Jahre wie eine kleine Schwester für mich gewesen, die ich nie gehabt hatte. Und nun sollte sie tot sein?

Das ging mir nahe. Alina hatte ihren Opa vergöttert und er sie. Jupps Tod hatte sie sehr mitgenommen, sie hatte sich mehr als einmal bei Linde ausgeheult. Und ausgerechnet Alina sollte jetzt tot im Rhein gelegen haben?

Alina war noch keine dreißig, beruflich ziemlich ambitioniert und hatte für ein paar Jahre nach Singapur ziehen wollen, wie ich von Linde gehört hatte. Daran war wohl auch die Beziehung zu ihrem Freund zerbrochen. Sosehr Alina an ihren Kindheitserinnerungen hing und so gern sie vielleicht eines Tages den Garten ihres Opas übernommen hätte, im Moment war sie beruflich sehr eingespannt und hätte dafür überhaupt keine Zeit gehabt. Linde hatte mir das in aller Ausführlichkeit geschildert, als es darum ging, wer den Garten bekommen sollte – schließlich war jetzt eine junge Familie eingezogen. Nein, ich konnte das nicht glauben. Aber wenn es doch wahr wäre?

Nachdenklich sah ich auf die ersten bunten Blümchen in der Vase auf dem Tisch und hatte sofort die Szene am Rhein vor Augen, die zarten Blüten auf dem nassen Seidentuch, den toten Frauenkörper. Dann dachte ich an Alina – und verbot mir den Gedanken schnell. Noch wusste doch kein Mensch, ob sie wirklich nicht mehr lebte. Bestimmt war das nur eine von Lindes Vermutungen. Aber sicher war ich mir auch nicht.

Mein Blick fiel auf ein halb fertiges Blumenbild von Linde. Vorwiegend Rot und Orange, aber auch Grün, verschiedene Blautöne gab es auch. Es war ziemlich bunt, aber wunderschön.

Vielleicht wäre es auch für mich schön, mal mit Farben zu arbeiten, überlegte ich. Meine Skulpturen waren normalerweise sehr groß und aus unbehandeltem Stahl geformt. Sie veränderten sich an der Luft, indem sie rosteten. In den letzten Jahren hatte ich vor allem aus Platzgründen angefangen, Miniaturen zu bauen. Zuerst nur als Modelle, dann auch als eigenständige Werke. Auch die hatten meist keine Farbigkeit, außer den Nuancen, die der Rost hervorbrachte. Aber Linde holte mit ihren bunten Blumen offenbar die Farben in mein Leben und in meine Kunst zurück.

Linde war beseelt von der Vorstellung, ich würde eines Tages ihren Garten übernehmen. Im Verein fand sowieso derzeit ein Generationswechsel statt. Die Alten, die Rentner, verstarben wie Jupp, zogen ins Pflegeheim oder gaben einfach nur den Garten auf. Neue, jüngere Leute übernahmen die Kleingärten. Und Linde wollte beides: Zukunft mit Veränderung und Kontinuität. Einen sanften Übergang, aber vor allem einen nach ihren Regeln.

»Und du bist dir sicher, dass es Alina war?«

»Ja.« Linde stemmte die Hände in die Hüften. »Was denkst du, warum ich vorhin schnell zur Laube zurückgegangen bin?« Sie zeigte auf die uralte Schlafcouch, auf der Bilder, Postkarten und Fotoalben verstreut lagen. Typisch Linde’sche Künstlerunordnung. Sie selbst fand dort nur so eben noch Platz. »Marie, ich hatte noch ein Foto von Alina in der Schublade. Ich hab es der Polizei gegeben. Darauf hat sie das Tuch gerade neu, das wir im Wasser …« Ein paar Tränen liefen ihr still die Wangen hinunter. »Sie hat es doch letztes Jahr vom Jupp zum Geburtstag bekommen, mit ihren Lieblingsblumen drauf. Und keine zwei Wochen später ist er dann gestorben. Aber den Geburtstag vom Jupp, eine Woche nach ihrem, den haben wir im Oktober ja noch hier im Garten gefeiert. Und da hab ich dieses Foto von den beiden gemacht.« Sie wischte sich energisch die Tränen weg. »Marie, wer tut so was?«

Ich hob die Schultern. »Ich weiß nicht, warum sie das gemacht hat. Sie muss sehr verzweifelt gewesen sein.«

»Wer?«

»Tja, Alina. Oder? Du bist doch sicher, dass sie das ist.«

»Bin ich. Aber nein, das war sie doch nicht selbst! Sie hätte nie … Nein, das hätte sie nie getan. Alina gibt nicht auf. Was hat die stundenlang mit dem Jupp dagesessen und ihm die Buchhaltung für die Vereinskasse in Ordnung gebracht. Der Jupp, der war doch zum Schluss nicht mehr so … na ja, nicht mehr so bei der Sache, der hat alles durcheinandergebracht. Und deswegen hat Alina ihm geholfen. Er wollte nicht, dass jemand merkt, dass er dement wird. Trotzdem haben’s die anderen im Verein doch gewusst. Aber kaum einer hat mitbekommen, dass er Hilfe hatte.« Linde grinste verschmitzt. Sie liebte ihre Gartengemeinde. Doch dann sah sie mich streng an. »Warum bist du überhaupt mit dem Rad gekommen und nicht mit dem Auto?«

Ich spürte, wie die Wut erneut in mir hochkochte, war aber dankbar für den Themenwechsel. »Weil Matthias heute in aller Herrgottsfrühe mit unserem Auto zum Marathontraining an den Niederrhein gefahren ist«, erklärte ich.

»Warum läuft er denn nicht bei euch am Rhein entlang?«

»Mein Reden, Linde.«

In der Tat hatten wir den Rhein quasi vor unserer Haustür, man konnte nach dreihundert Metern auf die Cecilienallee am Rheinufer abbiegen und dann geradeaus so weit laufen, wie man wollte. Stundenlang und länger, bis Duisburg, rüber nach Krefeld oder meinetwegen auch bis nach Rotterdam. Gestern war ich in dem Glauben eingeschlafen, dass ich die schweren Stahlteile mit dem Auto transportieren würde. Morgens aber waren nicht nur Matthias und seine Laufschuhe, sondern auch unser Auto verschwunden gewesen.

»Ach, der Tom von drüben«, Linde wedelte mit der Hand schräg nach links aus dem Fenster, »der ist auch so einer, der ständig Fahrrad fährt oder läuft. Natürlich nicht mit einem Hollandrad wie du, sondern so richtig mit einem teuren Rennrad.«

»Du magst ihn echt nicht, oder?«

»Nein, und ihm traue ich alles zu.« Sie sah mich entschlossen an.

»Was? Aber doch keinen Mord. Linde, ich bitte dich!«

»Ja, wem denn sonst?«

»Linde! Erstens kannst du nicht einfach jemanden beschuldigen, bloß weil Tom der Einzige hier im Verein ist, den du nicht leiden kannst –«

»Ach, da gibt’s schon noch mehr Leute …«

»Glaub ich unbesehen. Aber zweitens ist auch nicht gesagt, dass es – falls es Mord und kein Unfall war – jemand aus dem Verein gewesen sein muss. Alina kannte doch viele Leute. Aber das klärt die Polizei, die ist schließlich mit genug Personal draußen vor Ort.«

»Die tun doch sowieso nix. Beamtenvolk. Krämerseelen.« Linde war in Fahrt. Zwar war sie als Lehrerin auch verbeamtet gewesen, sah sich aber selbst gern als wildes Blumenkind der Siebziger. »Da müssen wir uns schon selbst drum kümmern. Ich höre mich um, und du redest noch mal mit deinem Polizisten von vorhin.«

»Klar.« Eigentlich war das gar nicht klar. Ich hatte genug anderes zu tun, und ich war sowieso der Ansicht, die Polizei sollte tun, was nötig war. Aber so war Linde zufrieden, konnte sich beruhigen, und wir widmeten uns dem Tee, ein paar sehr trockenen Keksen und besprachen dann, wie wir die Beete fürs Frühjahr vorbereiten wollten, wo wir Kompost aufbringen würden und was in der nächsten Zeit eingesät werden müsste.

Der Themenwechsel tat gut. Außerdem musste unbedingt der Rasen geharkt werden – vertikutiert, auf Fachgärtnerisch. Ich fand zwar, dass es eine sehr rabiate Variante der Rasenpflege war, aber Linde sagte immer, dass das den Rasen erst so richtig schön zum Wachsen bringe. Da wollte ich lieber nicht widersprechen.

Schließlich einigten wir uns darauf, dass das Vertikutieren mein mühsamer Job wurde, während sich Linde um das fachgerechte Zurückschneiden der Kletterpflanzen kümmerte. Für die Clematis war es zwar schon ein wenig spät, aber es war auch bisher für die Jahreszeit zu kühl gewesen. Auch den wuchernden Efeu wollte sie sich vornehmen. Ich würde mich nach der Rasenbearbeitung, sozusagen als Belohnung, endlich um meine Stahlbleche hinten im Garten kümmern, wo meine halb fertige Skulptur auf mich wartete.

Als ich vom Stuhl aufstand, hatte ich plötzlich weiche Knie. Hatte ich einen Schock? Sonst ging es mir aber gut, befand ich. Vielleicht brauchte ich einfach nur frische Luft. Ich stapfte zum Schuppen.

Aus den Gärten links und rechts war inzwischen nicht nur emsiges Werkeln zu hören, an den Zäunen standen Gärtnerinnen wie Gärtner zusammen und diskutierten. Manche waren erst später dazugekommen und ließen sich den grausigen Fund in allen erdenklichen Details schildern. Diejenigen, die recht früh da gewesen waren, überboten sich in Mutmaßungen über die Identität der toten Frau und des Mörders. An einen Unglücksfall glaubte offensichtlich niemand, wie ich den herüberwehenden Gesprächsfetzen entnehmen konnte. Das wäre wohl auch zu profan gewesen.

Linde als Zeugin der ersten Stunde war eine begehrte Gesprächspartnerin, die erst mal eine Runde durch die Gärten machte. Ihre Clematis würde sich noch eine Weile gedulden müssen.

Mir dagegen reichte es. Ich wollte mit aller Gewalt Abwechslung und hatte außerdem das Gefühl, schon lange genug untätig gewesen zu sein. Ich wollte jetzt etwas tun, wollte Arbeit und Bewegung. Deswegen war ich schließlich hergekommen.

Ich öffnete die Tür zum Geräteschuppen und stieß auf ein heilloses Durcheinander. Wer hatte hier zuletzt aufgeräumt? Es war sicher Jahre her … Und jeder lieh von jedem etwas aus, es wirkte im Kleingartenverein noch der Geist der Hippiezeit, die neudeutsch als echte Sharing Community durchgehen konnte. Nur das mit der Ordnung war sichtlich ein Problem. Immerhin wurde das meiste zurückgebracht, wie man sehen konnte. Andererseits, wer sollte in dieser Rumpelkammer den Überblick behalten? Kreuz und quer hineingestopft standen und lagen Harken und Grubber, ein echtes Dickicht aus hölzernen Stielen, garniert mit alten Gummistiefeln. Nur mein Stoffbeutel, den meine Kinder vor Ewigkeiten im Kindergarten für mich bemalt hatten, hing ordnungsgemäß an seinem Haken.

Ich fischte aus der hintersten Ecke den Vertikutierer, einen Rechen mit gefährlich gebogenen Zinken, und begann, das Gras zu bearbeiten. Ich zog und zupfte, drückte die Zacken mit viel mehr Kraft in den Boden, als nötig gewesen wäre. Es war noch ein bisschen zu früh im Jahr fürs Vertikutieren, aber so nah am Rhein gab es eben sehr viel Moos, und Linde fing gern zeitig an mit ihrem geliebten Rasen.

Quadratzentimeter für Quadratzentimeter ritzte ich die Grasnarbe an, um jedes Fitzelchen Moos und die Mulchreste zu entfernen. Millimetergenaue Arbeit beruhigte mich normalerweise. Aber die Bilder von der Toten im Wasser ließen mich nicht los. Immer wieder tauchte vor meinem inneren Auge das hellblaue Tuch mit den hübschen Blumen auf. Ophelia. Und wenn es wirklich Alina war?

Ich riss Moos und Grasbüschel aus, als ginge es um mein Leben.

»Na, übertreib es mal nicht.« Linde erschreckte mich beinahe zu Tode, als sie plötzlich neben mir auftauchte. »Mach lieber vorn ein bisschen weiter, hier sieht das doch schon gut aus, und für heute Abend ist Regen angesagt.«

Ich sah hoch. Nach einer guten halben Stunde war ich nicht sonderlich weit gekommen. Ein letztes Moospolster flog zur Seite. Wieder musste ich an Alina denken und hörte wie aus dem Off den kleinen Terrier kläffen.

Ich schleppte mich auf die andere Seite der Laube. Das Vertikutieren hatte mich Kraft gekostet, aber das letzte kleine Stückchen würde ich auch noch schaffen. Das Gras sollte Platz haben, gut durchatmen können und schön dicht werden, damit Linde ihren geliebten englischen Rasen bekam. Ihr Garten war zwar eher wild gehalten, lebte aber von Kontrasten. Und der Rasen musste so gepflegt wie möglich sein, fand sie. Gänseblümchen zum Beispiel, die ich persönlich schön fand, waren nicht gewollt, nur geduldet, da war sie streng.

Ich arbeitete mich langsam rechend und reißend zur vorderen Hecke hin. Die war als Nächstes dran, sie musste noch vor der Brutzeit der Singvögel geschnitten werden. Als ich unmittelbar davor angekommen war, machte ich eine kleine Pause, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen.

Und all das trockene Schnittgut, das noch vom letzten Mal drinhängt, kann dann auch entfernt werden, dachte ich.

Doch was war das? Am Fuß der Hecke lag etwas, das ich aus der Ferne für einen Stock gehalten hatte. Ich bückte mich, zog daran und erkannte eine Feile, nicht nur irgendeine, sondern mein Lieblingswerkzeug. Wie kam die dahin? Sharing Community in allen Ehren, aber mein Werkzeug war meine Privatsache. Und wer außer mir konnte denn hier in den Gärten eine Metallfeile gebrauchen?

Dieses alte Werkzeug mit dem verzierten Holzgriff nutzte ich, um die Bohrungen in den Stahlblechen zu bearbeiten, es war mir heilig. Ich hatte diese Feile schon lange. Als ich noch Studentin gewesen war, hatte ich sie von einer älteren Künstlerin geschenkt bekommen. Ich hing daran, trug sie aber natürlich nicht ständig bei mir. Normalerweise lag sie zusammen mit ein paar Werkzeugen für Metallarbeiten, einem kleinen Amboss und einer Feuerschale, alles Utensilien, die ich für meine Arbeiten an der Skulptur brauchte, gut verstaut in dem Stoffbeutel in Lindes Geräteschuppen hinter der Tür. Und darin hatte ich sie auch zuletzt gesehen, denn ich räumte meine Sachen weg, bevor ich ging.

Nun aber lag meine Feile vor mir unter der Hecke. Schmutzig war sie auch. Sehr, sehr merkwürdig.

Ich sah genauer hin. War das etwa … Blut auf der Klinge? Igitt! Wer nicht mit Werkzeug umgehen kann, sollte auch keines benutzen.

Wütend streifte ich sie im Gras ab, trocknete sie mit einem alten Lappen und brachte sie dahin zurück, wo sie hingehörte.

3

Als ich am nächsten Morgen in Lindes Garten kam, schaute ich zuallererst in den Schuppen. Diesmal war mein Werkzeug unangerührt geblieben. Alles lag und hing so da, wie ich es zurückgelassen hatte, auch die nach wie vor schmutzig aussehende Feile. Ich nahm mir vor, sie bei Gelegenheit gründlicher sauber zu machen.

Linde hatte sogar innen aufgeräumt, weil ich mich bei ihr über die Rumpelkammer im Geräteschuppen beschwert hatte. Es war so friedlich, als ob nichts geschehen wäre. Ob die tote Alina nun bei uns herumspukte? Auch wenn die Idylle hier so was nicht vorsah. Sie wäre wahrscheinlich ein sanfter Geist gewesen – oder wer weiß?

»Marie, warte, bevor du anfängst.« Linde kam atemlos in den Garten gestürmt. Sehr viel früher als sonst, ich hatte sie noch gar nicht erwartet.

Normalerweise begann sie ihren Gartentag mit einem Rundgang an den Beeten entlang, jedes Pflänzchen wurde eingehend betrachtet und sich an denen erfreut, die blühten oder neu gewachsen waren. Aber heute gab es Wichtigeres. Ich folgte ihr in die Laube.

»Hast du das gelesen? Sie behaupten, sie wissen’s noch nicht!« Sie sah mich verzweifelt an, schob mir die aktuelle Zeitung hin und tippte auf einen Artikel im Lokalteil. Es ging um die gestern gefundene Tote am Rheindeich.

Die Düsseldorfer Polizei hat eine Soko eingerichtet, konnte aber bis heute nicht die Identität der Unbekannten feststellen und bittet daher die Bevölkerung um Unterstützung: Die Frau ist circa 30 Jahre alt, etwa 1,75 Meter groß und 65 Kilogramm schwer. Sie hat lange dunkelblonde Haare und trug einen schwarzen Mantel, eine blaue Jeans mit schwarzem Gürtel sowie schwarze Stiefel in Größe 40, dazu einen langen hellblaugrundigen Schal mit aufgestickten Blumen in Rot- und Rosatönen. Hinweise auf die Identität der Frau nimmt die Polizei unter folgender Rufnummer entgegen …

»Aha, sieh an«, sagte ich. »Aber ist das nicht merkwürdig? Ich dachte immer, dass es mit der Identifizierung total schnell geht, wenn die Polizei gute ›sachdienliche Hinweise‹ hat wie das Foto von dir. Das kann doch nicht so kompliziert sein.«

»Ich hab es ihnen mehrmals gesagt. Und das Foto haben sie mitgenommen. Marie, mir geht das an die Nieren.«

Die Ereignisse brachten Linde sichtlich aus dem Gleichgewicht. Sie griff in das Regal neben dem schmalen Herd, um die Dose mit dem grünen Tee herunterzuholen – ihr Allheilmittel bei Ungemach jedweder Art. Sie musste sich ein bisschen recken. Dabei glitt ihr die Dose aus der Hand. Linde fasste nach – und riss zwei Bücher und ein schmales Holzkistchen mit, die krachend zu Boden fielen.

Die Teedose hatte sich geöffnet, und auch die Holzkiste war beim Aufprall aufgesprungen. Teeblätter verteilten sich im ganzen Raum, kamen schließlich sanft auf dem Sofa zum Liegen, auf dem Boden, auf dem Sessel – und diverse Münzen kullerten unter der Kommode und dem Sofa herum, bis sie schließlich kreiselnd zum Stillstand kamen.

»Neiiiin!«, rief Linde.

»So ein Mist!« Nach einer Schrecksekunde holte ich Kehrschaufel und Besen, hockte mich hin und fegte. »Linde, setz dich. Ich mach das schon.«

Ergeben ließ sich meine Tante in den abgewetzten Sessel sinken und streckte die Hand aus. »Gib mir mal die Kasse.«

»Was?« Verwirrt sah ich mich um.

»Die Vereinskasse.« Sie zeigte auf die Holzkiste vor mir am Boden.

Linde Buschs Vereinskasse war, diplomatisch ausgedrückt, oldschool: eine mit dunkelrotem Stoff ausgelegte Zigarrenkiste. So alt, dass sie schon nicht mehr nach Zigarre roch, sondern nach ungelüfteter Kleingartenlaube. Wahrscheinlich hatte sie das Ding so, wie es war, von ihrem Vorgänger, dem verstorbenen Kassenwart Jupp, übernommen und der wiederum von seinem Vorgänger. Die Buchhaltung notierte Linde in einem Schulheft. Handschriftlich in ihrer Lehrerinnenschrift. Neben der Kasse im Regal hatte wohl das Bundeskleingartengesetz in der Ausgabe von 2002 gestanden, das sich nun wie eine Loseblattsammlung über den Boden ausgebreitet hatte.

Ich reichte ihr das Kistchen. Linde sah hinein und schrak zurück. Dann zeigte sie mir den Inhalt: In der Kiste klebte einsam ein einzelner verknickter Zehn-Euro-Schein.

»Wo ist denn der Rest?«

»Hier, schön verteilt.« Ich hob zwei Ein-Euro-Stücke auf und gab sie ihr. »Warte, es kommt noch mehr.« Zwischen den Teeblättern klackerten weitere Münzen auf mein Kehrblech. »Und da unten, unter der Kommode …«

Linde beugte sich im Sessel vor und sammelte die Buchseiten auf, während ich mit dem Handbesen an der Fußleiste entlangangelte. Tatsächlich, noch zwei Münzen. Eine davon war allerdings ein Fünfzig-Pfennig-Stück, das offensichtlich schon länger da gelegen hatte.

Ich stand auf. »Uff.«

Linde sah mich kritisch an.

»Was? Ich bin auch keine zwanzig mehr.« Zwar mit Anfang vierzig nicht uralt, aber länger auf dem Boden zu hocken, fanden meine Knie auch nicht mehr ganz so lustig. Ich ließ mich auf das Sofa fallen und legte ihr die Münzen vom Boden und vom Kehrblech in die Hand. »So, zähl mal nach. Ist alles da?«

Viel konnte es nicht sein. In dieser Kiste lagerten schließlich nicht die monatlichen Beiträge, von denen einiges an die Stadt und die Stadtwerke weitergeleitet werden musste. Das lief inzwischen über ein Girokonto bei der Sparkasse, die Kontoauszüge waren fein säuberlich in einen abgestoßenen schmalen Ordner geheftet, der zwischen ein paar Fotoalben auf der Eckbank lag. Aber am Pappelwäldchen hatte man seit Menschengedenken zusätzlich eine Bargeldkasse, in die jeder Gartenbesitzer im Laufe jeder Gartensaison zehn Euro einzahlte, um bei runden Geburtstagen oder kleineren gemeinsamen Anschaffungen Geld parat zu haben. All das war weitgehend liebenswert und auch praktisch, problematisch fand ich höchstens, dass es Usus war, diese Zigarrenkiste voller Geldscheine in der Laube aufzubewahren.

»Ich bin doch neulich erst rumgegangen und hab gesammelt – und von letztem Jahr war auch noch was drin. Wie viel das war, weiß ich nicht, aber das müssten mindestens zweihundert Euro gewesen sein.«

Linde hob die Tischdecke, zog eine Schublade unter dem Tisch auf und holte ein abgestoßenes Heft heraus. Ihre Buchhaltung. Wie ein Zirkusdirektor schlug sie mit großer Geste das Heft auf und blätterte durch mehrere Seiten mit Zahlen und Häkchen in verschiedenen Kugelschreiberfarben. Fast auf jeder Seite waren Kassenzettel für Ausgaben angeheftet und Post-its eingeklebt worden.

Ich beugte mich vor und sah mit hinein.

Die letzte Ausgabe, das bewies ein bereits angegilbter Kassenbon vom Januar aus dem Schreibwarenladen auf der Luegallee, waren ein Euro achtzig für ein neues Kassenheft gewesen. Darunter eine lange Reihe von Namen, neben denen jeweils die Summe »10,–« stand. Etwa die Hälfte war schon abgehakt, etliche andere hatten offensichtlich noch nicht bezahlt, auch vom vergangenen Jahr fehlten von ein paar Leuten die Beiträge. Außerdem waren die Pächterwechsel notiert. Hier war was durchgestrichen, da was drübergekritzelt. An mehreren Seiten pappten gelbe Post-its mit Fragezeichen und kleinen Rechnungen. Definitiv nicht in Lindes Schrift. Je länger ich in das Heft schaute, desto weniger blickte ich durch.

Linde anscheinend auch nicht. »Das verstehe ich nicht. Wo ist das Geld geblieben? Und was sollen all diese Klebezettel? Die stören doch. Also, vom Jupp sind die nicht. Ich mach die jetzt raus.«

»Halt!« Zu spät. Drei Post-its lagen schon auf dem Tisch. »Warte doch. Wer hat sich denn sonst damit beschäftigt? Du und Jupp, oder?«

»Ja. Und Alina. Sie hat ihm doch geholfen.«

»Alina?« Schon wieder Alina? Was sollte das Chaos in der Buchhaltung mit ihr zu tun haben?

»Sie hat doch ihren Opa bis zu seinem Tod tatkräftig unterstützt, was die Kasse betraf.«

Hatte Jupp Horn denn so viel Mist gebaut? Er hatte das doch jahrelang gemacht. »Und sie hat offensichtlich nachgerechnet. Lass die Zettel bitte drin, ich schau mir das bei Gelegenheit mal an. Da scheint etwas nicht gestimmt zu haben.«

Ich blätterte das Heft durch. Hin und wieder hatte jemand radiert und darübergeschrieben, an anderer Stelle war etwas mit Kuli korrigiert. Aber unterm Strich stimmte es wohl. Das meiste war richtig addiert und subtrahiert worden, so kompliziert war es schließlich nicht. Was nicht stimmte, waren die Rechnungen auf den Klebezetteln. Aber eins fand ich wirklich mysteriös, denn es gab sanfte Bleistiftstriche über den Zettelrand hinaus hin zu einigen Zahlen im Heft. Kein Zweifel, dass sich jemand eingehender mit diesen Rechnungen beschäftigt hatte. In dieser Schrift, die weder Lindes war noch die von Jupp, stand auf der letzten beschrifteten Seite unten eine Summe: zweihundertvierzehn Euro dreißig.

»Wenn ich es richtig verstehe, Linde, sind vom letzten Jahr noch vierunddreißig Euro dreißig übrig gewesen. Dieses Jahr hast du achtzehnmal zehn Euro eingesammelt. Hundertachtzig plus vierunddreißig Euro dreißig sind zweihundertvierzehn Euro dreißig. Das müsstest du in der Kasse haben. Wie viel liegt denn noch rum?«

»Der Zehner und die zwei Euro dreißig.«

»Das kann ja nicht sein.«

Ich kniete mich noch mal hin und suchte den Fußboden der gesamten Laube ab, fand zwar staubige Pinsel und ein ausgeblichenes und zerknittertes Foto von mir mit meinen Kindern, aber das war’s.

Linde rückte das Sofa vor, hob Farbtöpfe an, schaute in der Kommode nach, in der Herdschublade, auf den Regalbrettern, in Büchern, unter Tellern. Nichts.

Irgendwann saß sie nur noch seufzend in ihrem Sessel und murmelte: »Mann, Mann, Mann. Was mach ich denn jetzt?«

Sie sah lange in die Kiste. Schüttelte sie. Hob den Stoff hoch. Zählte die Münzen. Es blieb bei zwölf Euro dreißig.

»Zweihundertzwei Euro fehlen. In Zehnern und Zwanzigern, das weiß ich noch. Die können doch nicht weg sein. Ich hab sie hier reingelegt. Und dann die Kasse an ihren Platz zurückgestellt. So ein Zwei-Euro-Stück, das geht schon mal verloren, kann sein. Oder hab ich damit im Januar das Heft bezahlt?«

»Meinst du nicht, die Scheine tauchen wieder auf? Das Haus verliert nix. Sagst du doch auch immer. Vielleicht warst du in Gedanken und hast sie woanders hingetan?«

»Nee. Ich bin doch nicht senil.« Sie stemmte die Hände in die Hüften.

»Hat auch keiner behauptet. Wann hast du das Geld denn zum letzten Mal gesehen?«

»Ach, ich hab nicht mehr da reingeguckt, seit ich das eingesammelt habe. Das war – lass mich überlegen – nicht gestern. Da war das ja mit Alina. Das muss dann eine oder zwei Wochen her sein. Einige waren ja noch im Urlaub, die sind aber wieder zurück, da wollte ich nämlich heute noch vorbeigehen.«

»Meinst du, bei dir ist vielleicht doch jemand eingebrochen?«

»Das hab ich neulich auch schon gedacht. Rund ums Schloss sind auch so komische Kratzer an meiner Tür.«

»Was? Und das sagst du jetzt erst? Seit wann? Warst du denn bei der Polizei und hast das gemeldet?«

»Nee, ist ja nichts geklaut worden. Dachte ich jedenfalls. Nachher kommt sowieso noch mal der nette Polizist, der uns schon einmal verhört hat, dem erzähl ich das dann.«

Ich nickte. »Linde, wer weiß eigentlich, dass du die Kiste in deiner Laube aufbewahrst?«

»Na, alle.«

»Wer ist ›alle‹?«

»Alle eben. Alle, die hier einen Garten haben. Das weiß jeder, und das ist schon immer so gewesen. Und bisher ist auch noch nie etwas weggekommen.«

Ich stand auf und zog Linde hoch. »Ich brauch dringend frische Luft. Lass uns nachher weiterüberlegen. Ich fang jetzt an, die Stahlkanten abzuschleifen, und du hast doch bestimmt auch noch etwas vor.«

Linde arbeitete an mehreren Gartenbaustellen gleichzeitig. Sie erledigte die üblichen Frühjahrsarbeiten, sie siebte den Kompost, arbeitete ihn ins Frühbeet ein und lockerte dabei den Boden, um dann das Frühgemüse auszusäen. Nicht dass sie große Mengen anbaute, aber ein paar Reihen Salate, Mangold, Bohnen, Möhren und – extra für mich – Rote Bete.

Zwar schien die Sonne, aber im Schatten hinter der Laube, wo ich meine Skulptur aufstellte, war es noch ziemlich frisch. Deshalb trug ich ein paar meiner kantigen, rohen Stahlteile in den vorderen, sonnigeren Teil des Gartens, wo es im Sonnenlicht schon angenehm warm und viel heller war. So konnte ich auch kleinste Unebenheiten am Metall besser erkennen.

Ich platzierte meine Stahlstreben auf einer Plane, damit beim Schleifen und Feilen keine Späne ins Erdreich gelangten. Die einzelnen Streben, die ich gestern an der Toten vorbei hierhergeschafft hatte, mussten millimetergenau passen, wenn ich sie miteinander und mit dem bereits stehenden Teil verbinden wollte.

»Hallo, so trifft man sich wieder!«

Ich drehte mich erschrocken um, auch Linde kam mit dreckigen Gartenhandschuhen und in Gummistiefeln vom Komposthaufen.

Am Gartenzaun stand, breit grinsend, der Fußballer alias Polizist, der mir gestern seine Karte in die Hand gedrückt hatte. Wo hatte ich die hingesteckt? Und seinen Namen hatte ich auch vergessen.

Er öffnete das Gartentürchen und kam auf uns zu. Eingeladen hatten wir ihn zwar nicht ausdrücklich, aber das fand er wohl gar nicht notwendig. Es gab ja Menschen, die sich überall willkommen fühlten.

»Levent, LKA. Sie haben also auch einen Schrebergarten am Rheindeich? Interessant.«

»Äh, ja? Beziehungsweise nein«, stotterte ich, »der Garten gehört meiner Tante.« Ich zeigte auf Linde, die neben mir stand.

»Sind Sie dann nur ab und an zu Besuch, oder halten Sie sich öfter hier auf?«

Mann, war der neugierig. »Geht es um die tote Frau von gestern?«, fragte ich zurück.

»Ich habe ein paar Fragen an Sie.« Levent deutete mit dem Finger auf mich.

Linde verstand den Hinweis, schob mich in Richtung Laube und widmete sich aufs Neue dem Kompostsieben. Mister LKA folgte mir auf den Fersen.

»Also, Frau Busch, warum sind Sie gestern am Rheinufer gewesen? Und das zu dem Zeitpunkt, als eine Wasserleiche angeschwemmt wurde?«

Ich war ein wenig konsterniert, so offensiv Fragen gestellt zu bekommen. Der Ton macht die Musik, sagte ich immer, und seinen ganz speziell fand ich schon sehr aufdringlich. Wieso fiel mir in diesem Moment keine geeignete Erwiderung, sondern nur eine flaue Rechtfertigung ein?

»Purer Zufall. Ich war auf dem Weg zu meiner Tante. Ich helfe ihr mit dem Garten und baue an einer Skulptur, die hinten neben ihrer Laube stehen wird.« Ich zeigte auf die Stahlteile am Boden, dann auf das Betonbett.

Levent sah mich interessiert an. »Ist das legal? Eine Skulptur?«

»Ich bin Künstlerin.«

Er betrachtete mich kritisch. »Leben Sie davon?«

»Zum Geldverdienen mache ich Kunsthandwerk in der Schlosserei. Verzierte Feuerschalen, designte Spaliere, Feuerschutzgitter für Kamine, so was halt.«

»Also Brotjob und nebenbei Kunst.« Er spazierte durch den Garten und sah sich ungeniert um.

Das ging mir etwas auf die Nerven, ich wollte weiterkommen. »Wenn Sie sich wirklich dafür interessieren: Ein Gartennachbar hat eine meiner größeren Skulpturen bei sich aufgestellt.«

Er blieb abrupt stehen. »Welcher?«

»Der am Ende des Weges, von hier aus gesehen vor dem Deich. Er heißt Tom, sein Nachname fällt mir im Augenblick nicht ein …«

»Ziegler?«

»Ja. Kennen Sie den?«

»Ja. Aber er kennt mich nicht – und das ist gut so.« Levent dachte kurz nach, ehe er weiterfragte. »Ob ich mir die wohl mal ansehen kann? Ihre Skulptur?«

Ich verstand nicht, worum es ihm ging, und wäre ihn nur zu gern und schnellstmöglich losgeworden. »Bestimmt«, sagte ich leicht unhöflich. »Dahinten, letztes Gartentor auf der rechten Seite. Törchen aufmachen, ›Hallo‹ rufen.«

»Könnten Sie nicht mitkommen?« Er warf mir einen Dackelblick zu, der wohl unwiderstehlich wirken sollte. »Ich würde mich gern mit Herrn Ziegler unterhalten, möchte ihn aber ungern wissen lassen, dass ich vom LKA bin. Ehrlich gesagt, finde ich ihn noch spannender als Ihre Skulptur. Tut mir leid. Würden Sie mir trotzdem helfen? Sie könnten mich als Freund vorstellen, der sich für Ihre Kunstwerke interessiert.«

»Herr, äh, Levent –«

»Koray.«

»Was?«

»Ich heiße Koray. Wenn wir befreundet sind, duzen wir uns, okay? Was wolltest du sagen?«

Ich seufzte. »Hab ich vergessen. Ach so: Warum soll ich eigentlich in diesem Theaterstück mitspielen?«

»Du bist gerade hier. Und du bist doch ein netter Mensch, und du kannst schlecht Nein sagen.« Er lächelte verschmitzt und strahlte mich an.