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Ein Umzug ist immer etwas Aufregendes, ganz besonders dann, wenn man in eine fremde Stadt zieht. Petra ist mit ihren zwölf Jahren zwar schon einige Male umgezogen, da ihre Eltern Opernsänger sind, doch dieses Mal zieht sie mit ihrem Vater und der Haushälterin Babette ganz alleine um, denn ihre Mutter hat jede Menge Gastspiele in Südamerika auf dem Plan. Einziges Problem: Es gibt nur ein Gymnasium für Jungen! Doch Petra lässt sich davon nicht abhalten, schneidet sich kurzerhand die Haare ab und leiht sich die abgelegten Klamotten von ihrem Bruder Siegfried aus. Aus Petra wird Peter! Doch das Versteckspiel in der Schule und im Alltag birgt so einige heikle Situationen, und wenn Petra sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann kann sie nichts mehr stoppen. Wäre doch gelacht, wenn sie es nicht schaffen würde, in den Club der Jungen aufgenommen zu werden.-
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Seitenzahl: 183
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Die Klasse ist für Petra
Die Klasse ist für Petra
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr,(www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1962 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719763
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
lindhardtogringhof.dk
Lindhardt und Ringhof Forlag A/S, a part of Egmont
Ein Umzug ist immer etwas sehr Aufregendes, besonders, wenn die neue Wohnung in einer fremden Stadt liegt.
Petra Sartorius mit ihren zwölf Jahren hatte schon viele Umzüge erlebt, weil ihre beiden Eltern Opernsänger waren. Zugleich mit den Bühnen, an denen sie auftraten, wechselte die ganze Familie auch die Städte und die Wohnungen. Petra war schon daran gewöhnt, für sie bedeutete ein Umzug gar nichts Außergewöhnliches, aber diesmal war es doch besonders aufregend. Zum ersten Male war die Mutter nicht dabei. Sie hatte viele Gastspiele nach Südamerika abgeschlossen, und Siegfried, Petras älterer Bruder, war gleich aus den Ferien in ein Internat abgereist. So kam es, daß Petra zum ersten Male in ihrem Leben mit dem Vater ganz allein war, das heißt, beinahe ganz allein, denn natürlich hatte die alte Babette sie nicht im Stich gelassen. Sie gehörte schon in das Haus Sartorius, als Petra noch gar nicht auf der Welt war.
Petra mochte Babette fast so gern wie die Mutter, denn Babette hatte immer Zeit für sie. Als Petra noch ganz klein gewesen war, hatte die alte Babette ihr Puppenkleider genäht, sie getröstet, wenn sie mit einem Loch im Knie heimkam, und sie gepflegt, wenn sie fieberte. Mutter war ganz anders. Sie war sehr schön und sehr klug, und sie hatte so lange Fingernägel, daß sie gar nichts im Haushalt anpacken konnte, selbst wenn sie gewollt hätte. Immer sah sie so elegant aus wie aus einem Modeheft geschnitten, selbst wenn sie am frühen Morgen im Schlafrock zum Frühstück erschien. Man konnte es Mutter nie recht machen, jedenfalls Petra konnte es nicht.
„Ich begreife gar nicht, wie ich zu so einer Tochter komme“, sagte sie oft. Sie lachte natürlich dabei, aber Petra wußte trotzdem, daß ein bißchen Ernst dahinter steckte.
Mutter hatte sich ein anmutiges, hübsches Töchterchen gewünscht, das pfleglich mit seinen Kleidern umging, artig und wohlerzogen war, kurzum, ein Töchterchen, mit dem man sich sehen lassen konnte.
Das aber war Petra nicht. Sie war wild und unordentlich, brachte in jedes neue Kleid gleich am ersten Tag einen großen Flecken, wenn nicht gar einen Riß. Am liebsten lief sie in Hosen herum.
Und was sagte Vater? Wenn Petra nur an ihren schönen stattlichen Vater mit der tiefen warmen Stimme und dem braunen lockigen Haar dachte, wurde ihr das Herz heiß. Sie liebte ihren Vater über alles. Natürlich tadelte er sie auch oft genug, aber Petra wußte, daß er im Ernstfall immer zu ihr halten würde. Vater war ihr allerbester Freund.
Welches Pech, daß sie kein Junge geworden war! Siegfried hatte Glück gehabt. Er war ein Junge, aber er machte sich gar nichts daraus. Er war auch gar kein richtiger Junge, jedenfalls in Petras Augen nicht. Siegfried war eigenbrötlerisch und still, er las viel, musizierte für sich allein und hielt sich von seinen Altersgenossen fern. Aus seinen Anzügen wuchs er wohl heraus, aber sie waren dann meistens immer noch genausogut imstande wie am ersten Tag. Immer herrschte in seinem Zimmer peinlichste Ordnung, immer hielt die Mutter ihn Petra als Vorbild vor.
Nein, Petra war nicht traurig, daß Siegfried nicht mehr zu Hause war, und auch die Abwesenheit der Mutter war, bei Licht besehen, nicht allzu schlimm. Endlich hatte sie ihren Vater ganz für sich allein.
Aber vorläufig bekam sie nicht viel von ihm zu sehen. Die Proben im Opernhaus hatten schon begonnen, und solange die Wohnung noch nicht vollkommen eingerichtet war, kam der Vater nur zum Schlafen nach Hause.
„Ihr habt genug zu tun“, sagte er, „da will ich euch nicht auch noch Mühe mit dem Kochen machen!“
Petra und Babette hatten wahrhaftig genug zu tun. Als endlich die Möbel auf ihrem Platz standen und die Gardinen vor den Fenstern hingen, fing die eigentliche Arbeit erst an. Da mußten Koffer und Kisten geöffnet, Geschirr, Porzellan, Kleider, Bücher und Wäsche ausgepackt und alles an seinen Platz gestellt werden. Es war unheimlich, was bei so einem Umzug alles zum Vorschein kam, Dinge, die man längst vergessen hatte. Petra fand alte Kostüme der Mutter, die seit Jahren in der Mottenkiste geruht hatten, Puppen ohne Arme und ohne Köpfe, mit denen sie längst nicht mehr spielte, zerrissene Bilderbücher — alles hatte die gute Babette sorgfältig eingepackt.
Petra half mit Feuereifer. In normalen Zeiten war sie nicht einmal zu bewegen, ein Staubtuch in die Hand zu nehmen, aber bei einem Umzug war das alles ganz anders.
Voller Stolz führte sie den Vater, als er am Abend nach Hause kam, in sein neues Arbeitszimmer. Petra und Babette hatten den schönsten und größten Raum für den Vater ausgewählt, eine breite Glastür führte von seinem Zimmer aus in den Garten mit den schönen alten Bäumen, deren Blätter braun, golden und rot gegen den klaren Herbsthimmel leuchteten. Der Sessel und der Schreibtisch standen so, daß der Vater von seinem Platz aus gleich in den Garten schauen konnte. Hinter diesen Platz waren die Bücherregale so aufgestellt, daß er sich nur umzudrehen brauchte, um sich ein Buch auszuwählen.
Der große Flügel stand mitten im Raum. Der Messingfuß der Stehlampe war blitzblank geputzt, und auch die Aschenbecher funkelten fleckenlos. Selbst der große Perserteppich, den Petra hingebungsvoll mit einer Bürste und Essigwasser bearbeitet hatte, leuchtete wie seit langem nicht mehr.
„Fein“, sagte der Vater anerkennend und strich Petra durch das zersauste Haar.
„Mutter hat auch ein sehr schönes Zimmer gekriegt“, sagte Petra eifrig, „nicht ganz so groß — aber auch sehr schön. Das zweitschönste, sozusagen. Soll ich es dir zeigen?“
„Später mit Vergnügen. Aber jetzt würde es mich, ehrlich gestanden, mehr interessieren, ob ich etwas zu essen kriegen kann …“
„Natürlich kannst du das, Pappi! Babette hat was Feines gemacht … Apfelstrudel!“
„Na, denn los!“
Sie aßen alle zusammen in der Küche. Der Vater hatte sich zu Babettes Apfelstrudel eine Tasse Bohnenkaffee kochen lassen, Petra und Babette tranken Milch.
„Schmeckt es Ihnen, Herr Doktor?“ fragte Babette besorgt. „Wenn ich gewußt hätte, daß Sie heute abend zum Essen kommen würden …“
„Es schmeckt mir großartig. Nach dem ewigen Wirtshausessen sind eure knusprigen Apfelstrudel geradezu ein Gedicht!“
„Ab morgen kannst du wieder jeden Tag zum Essen kommen, Pappi! Nicht wahr, Babette?“ sagte Petra.
„Natürlich, Herr Doktor … jetzt sind wir aus dem Gröbsten heraus.“
„Freut mich zu hören. Vielleicht besteht dann auch die Möglichkeit, daß du dir das Haar schneiden und die Nägel in Ordnung bringen läßt, Petra, was?“
Petra strich sich unwillkürlich eine ihrer zerzausten blonden Locken aus der Stirn. „Klar, Pappi“, sagte sie, „ich hatte ohnehin vor, morgen einen Schönheitssalon aufzusuchen!“
Der Vater starrte sie an. Was!?“
Petra lachte wie ein Kobold.
„Ja, lach nur“, sagte der Vater, „da hast du mich wieder einmal ganz schön auf den Arm genommen … aber schaden würde dir ein Besuch beim Friseur ganz bestimmt nicht.“
„Schaden nicht … aber was soll es nutzen?“
„Wenn dich deine Mutter so sähe!“
„Ach, Mammi … sie sieht’s ja nicht, die ist doch jetzt, ich weiß nicht, wo!“
„Aber ich. Sie tritt heute abend in Buenos Aires auf!“
„Hat sie dir das geschrieben?“
„Klar …ich werde dir nachher ihren Brief vorlesen …“
„Und die Marken?“
„Bekommst du!“
„Prima. Es hat doch was für sich, wenn man eine Mutter hat, die in der Welt herumgondelt.“
„Wenn ich deiner Mutter schreiben würde, wie du hier herumläufst …“
„In langen Hosen, bitte! Das ist, lässig‘!“
„In einer Bluse, an der drei Knöpfe abgerissen sind“, sagte der Vater, „mit Händen … nein, zeig nur her, Verstecken gilt nicht!“ Er hatte ihre kleine Hand gepackt und hielt sie mit eisernem Griff. „Mit dreckigen Pfoten, Trauerrändern unter den Nägeln! Also weißt du, Petra, Umzug hin und her … die Hände hättest du dir ja schon vor dem Essen waschen können!“
„Vergessen“, sagte Petra rasch und war froh, als sie ihre Hand endlich zurückziehen konnte.
„Weißt du überhaupt, wie du aussiehst?“ fragte der Vater und sah sie prüfend an.
„Ich kann nichts dafür, daß ich keine Schönheit bin!“ sagte sie trotzig und stopfte sich einen großen Bissen Apfelstrudel in ihren Mund, der so breit war, daß Siegfried behauptet hatte, sie könnte den Spargel quer essen.
„Wie ein Junge!“ sagte der Vater.
„Au fein!“ schrie Petra mit vollem Mund.
„Wie ein Gassenjunge! Du darfst dich wirklich nicht beklagen, wenn deine Mutter nicht mit dir zufrieden ist.“
„Na, jetzt ist sie ja weg“, sagte Petra ungerührt.
„Aber sie kommt wieder. Wenn sie dich so verwahrlost vorfindet, dann können wir uns auf einiges gefaßt machen.“
„Hast du Angst vor Mammi?“ fragte Petra ernsthaft.
„Nein, aber ich wünschte, du hättest etwas mehr Angst vor mir.“
„Angst ist aber nichts Gutes“, sagte Petra und wischte sich mit dem Handrücken ihren Milchbart ab. „Nur Feiglinge haben Angst. Ich hab’ dich lieb.“
„Dann, bitte, mach mir die Freude und benimm dich wie ein anständiger Mensch. Wie ein Mädchen. Lauf nicht ’rum wie ein Hottentotte, wasch dir die Hände vor dem Essen, laß dir die Haare schneiden — das ist wohl das wenigste, was man von seiner Tochter verlangen kann.“
Plötzlich stiegen Petra die Tränen in die Augen. „Ach“, sagte sie kläglich.
„Habe ich dich gekränkt?“ fragte der Vater.
„Ja, das hast du. Da habe ich mir nun mit allem so viel Mühe gegeben, und du … und du … du hast bloß wieder was an mir auszusetzen. Man kann tun, was man will, immer bringe ich gute Zeugnisse mit nach Hause, nie bin ich krank, nie mach’ ich euch Sorgen, und bloß, weil ich nicht ’rumlaufen will wie eine Zierpuppe …“
„Also, Petra, nun mach aber mal einen Punkt. Niemand verlangt von dir, daß du wie eine Zierpuppe ’rumläufst. Was ich erwarte, ist einfach, daß du dich anständig anziehst und anständig wäschst. Hast du mich verstanden?“
„Ja, Pappi“, sagte Petra kleinlaut.
Babette ergriff ihre Partei. „Petra hat mir wirklich sehr tüchtig beim Umzug geholfen, Herr Doktor — alles, was recht ist. Und wenn jemanden die Schuld trifft, daß das Kind so unordentlich herumläuft …“
„Dann sind Sie es nicht, Babette! Versuchen Sie jetzt bloß nicht, Petra in Schutz zu nehmen. Ich kenne meine Tochter genausogut wie Sie. Ich weiß, daß sie sich in der Schule sehr viel Mühe gibt …“
„Hast du mich eigentlich angemeldet, Pappi?“ unterbrach Petra ihn.
„Wo?“
„Im Gymnasium natürlich.“
Der Vater faltete seine Serviette zusammen. „Gut, daß du mich daran erinnerst, Petra. Also, paß auf … mit dem Gymnasium wird es leider nichts …“
„Was!?“
„Starr mich nicht so an, es ist nicht meine Schuld. Hier in Narheim gibt es kein Mädchengymnasium …“
„Ich weiß doch, Pappi! Aber wir hatten doch besprochen …“
„Bitte, laß mich erst mal ausreden. Auf das hiesige Gymnasium gehen nur Jungens, dort werden Mädchen überhaupt nicht aufgenommen. Es wird uns also nichts anderes übrigbleiben …“
„Aber, Pappi, das geht doch gar nicht! Ich habe doch auf einem Gymnasium angefangen, da kann ich doch nicht einfach …“
„Der Mensch kann alles, wenn er muß. Ein Realgymnasium für Mädchen ist hier, und dort werden wir dich anmelden!“
„Ich will nicht auf ein Mädchenrealgymnasium gehen, ich … ich bin Gymnasiastin. Das ist ein himmelhoher Unterschied. Begreifst du das denn nicht, Pappi? Ich kann doch nicht einfach was ganz anderes lernen, nur weil es in diesem blöden Nest kein Gymnasium für Mädchen gibt!“
„Also erst einmal ist Narheim kein blödes Nest, sondern eine sehr kultivierte Stadt, und zweitens wird dir gar nichts anderes übrigbleiben, als auf das Realgymnasium für Mädchen zu gehen.“
„Hast du mit dem Direktor gesprochen?“
„Nein.“
„Siehst du! Wenn du mit ihm sprichst …“
„Petra! Ich habe dir gesagt, es geht nicht. Du kannst es mir schon glauben. Sie nehmen hier auf dem Gymnasium kein Mädchen auf. Das weiß ich mit absoluter Sicherheit. Es hat also gar keinen Zweck …“
„Das glaube ich nicht. Aber ich glaube, wenn man hingeht …“
„Also, bitte. Wenn du wieder einmal alles besser weißt … geh hin. Erkundige dich selber, melde dich an, du wirst ja sehen, was dabei herauskommt.“
„Und du … du kommst nicht mit mir?“
„Nein. Von mir aus mach deine Dummheiten, aber mach sie allein. Renn dir nur deinen Dickkopf ein. Wenn du gescheiter geworden bist, bin ich immer noch gerne bereit, dich in der Mädchenschule anzumelden!“
„Verdammt noch mal!“ sagte Petra laut und deutlich, aber sie sagte es lieber erst, als der Vater in sein Zimmer gegangen war.
Petra war wütend. Sie war so wütend, daß sie an diesem Abend, obwohl sie sehr müde war, einfach nicht einschlafen konnte. Daß sie in Narheim nicht auf das Gymnasium gehen konnte, war eine Katastrophe. Sie wollte doch unbedingt Griechisch lernen, erstens, weil der Vater es konnte, und zweitens — das war fast noch wichtiger —, weil Siegfried es nicht lernte. Sie hatte all ihren alten Freundinnen und Mitschülerinnen schon erzählt, daß sie auf eine Jungenschule kommen würde. Die würden schön feixen, wenn sie erfuhren, daß sie erst gar nicht aufgenommen worden war. So eine Blamage!
Am meisten aber war Petra wütend auf sich selber. Wenn der Vater sagte, es ging nicht, dann hatte er bestimmt recht. Warum hatte sie sich bloß so bockig angestellt? Hätte der Vater ihr eine geklebt, wäre ihr jetzt wahrscheinlich besser. Aber leider tat Vater so etwas nicht. „Renn dir nur deinen Dickschädel ein“, hatte er gesagt. Natürlich wußte er, daß sie allein ihre Aufnahme ins Gymnasium nie erreichen könnte. So eine Gemeinheit. Als wenn sie nicht mindestens so gut lernen würde wie jeder Junge! Und turnen konnte sie auch, das stand außer Frage.
Petra hätte vor Wut heulen mögen, aber sie war von all der Möbelruckerei und Auspackerei so müde, daß ihr die Augen zufielen, ehe sie es selber merkte.
Am nächsten Morgen erwachte sie voll guter Vorsätze. Sie stieg in die Badewanne, schrubbte sich von Kopf bis Fuß ab, gab Babette ihre lange Hose und die schmutzige Bluse zum Waschen, wählte einen mädchenhaften Rock und einen kleinen Pullover. Dann holte sie sich eine Nagelschere und schnitt ihre Nägel zurecht. Nachher war sie mit ihrem Werk zufrieden. Viel Staat konnte sie ja nicht damit machen, sie hatte die Nägel einfach so kurz wie möglich abgeschnitten, denn sie waren fast alle abgebrochen und eingerissen gewesen.
Sie räumte ihr Zimmerchen gründlich auf. Bei Licht besehen war es ja nur eine Kammer, aber Petra war vollkommen damit zufrieden. Ein Bett stand drin, ein Kleiderschrank, ein winzig kleiner Tisch und ein Stuhl, für mehr war nicht Platz. Dafür war diese Kammer ihr eigenes Reich, und sie konnte darin tun und lassen, was sie wollte. Rasch pikte sie noch mit Heftzwecken die Bilder von ihren Lieblingsschauspielern an die Wand. Sie war noch nicht ganz damit fertig, als Babette an die Tür klopfte.
„Herr Doktor geht zur Probe … du wolltest doch …“
„Ja! Ich komme!“
Der Vater stand schon in Hut und Mantel in der Garderobe, er sah fabelhaft aus, wie immer. Niemand konnte sich einen Schal so elegant um den Hals werfen wie er, fand Petra. Eigentlich war so ein Schal ja was Affiges, aber sie wußte, wie alle Opernsänger darauf achten, daß sie sich nur ja nicht erkälten, denn dann ist es für eine Weile vorbei mit dem Singen.
„Guten Morgen, Pappi“, sagte sie und reckte sich auf die Zehen, damit er ihr einen Kuß geben konnte. „Du siehst wieder mal toll aus!
„Dieses Kompliment kann ich dir heute morgen zurückgeben“, sagte der Vater lächelnd.
„Nimmst du mich mit?“
Der Vater runzelte die Stirn. „Auf die Probe?“
„I wo, zum Friseur!“
„Das ist wirklich ein glänzender Einfall …“
Der Vater holte seinen kleinen Wagen aus der Garage, Petra kletterte auf den Nebensitz, und dann ging es los. Petra kam sich ganz erwachsen vor, sie lehnte sich wie eine Dame in die Polster zurück, als der Wagen in die Innenstadt hineinbrauste.
„Also, Pappi, ich muß dir sagen … ich glaube, ich habe mich gestern abend sehr dumm benommen. Man muß sich schließlich mit den Tatsachen abfinden, nicht wahr? Und du kannst doch nichts dafür.“
„Nanu?“ sagte der Vater erstaunt und warf ihr einen Seitenblick zu. „Bist du krank?“
Unwillkürlich fuhr sich Petra mit der Hand an die Nasenspitze.
„Kalt!“ sagte sie vergnügt. „Anscheinend bin ich doch ganz in Ordnung!“
„Ich meine nur, weil du plötzlich so vernünftig bist.“
„Ich habe beschlossen, ein neues Leben zu beginnen“, sagte Petra ernsthaft.
Beim Theaterfriseur setzte Vater sie ab. Der Salon war gleich an der Ecke beim Theater, gegenüber dem Opern-Espresso.
„Soll ich dich hineinbringen?“ fragte der Vater.
„Nein, danke … vielen Dank, daß du mich mitgenommen hast!“
Petra stieg aus, lief um den Wagen herum und gab dem Vater noch einen Kuß. Sie freute sich, weil sie merkte, daß die Leute von den Tischen des Opern-Espressos, die bei dem schönen Wetter noch im Freien standen, zu ihnen hinsahen. Sie wußte, daß es in jeder Stadt eine Menge Mädchen gab, die für ihren Vater schwärmten, wie sie für Filmstars.
Der Friseur-Salon war elegant eingerichtet. Petra kam sich einen Augenblick in ihrem schon recht ausgewachsenen Rock und dem einfachen Pullover etwas schäbig vor. Aber sie warf den Kopf zurück und ging geradewegs auf die gläserne Theke zu, hinter der Parfümflaschen, Cremedosen und all die anderen Schönheitsmittel in Rosa, Hellblau und Schneeweiß leuchteten.
„Guten Tag“, sagte Petra, „ich möchte Haarschneiden und Waschen.“ Das Fräulein im weißen Kittel zog ihre rasierten Augenbrauen hoch und sah Petra an.
„Ich bin die Tochter von Paul Sartorius“, sagte Petra rasch, denn sie wußte aus Erfahrung, daß alle Leute dann sofort viel freundlicher zu ihr waren.
„Ach so! Bitte, Fräulein Sartorius, ich glaube, Herr Schimpfler ist gerade im Moment frei geworden!“ sagte das Fräulein auch prompt sehr liebenswürdig und führte Petra in eine Frisierkabine.
Herr Schimpfler war ein flinker Mann mit ölig schwarzem Haar und einem winzigen schwarzen Schnurrbart. Als Petra bis zum Halse in einem weißen Umhang eingepackt war, begann er mit unheimlicher Fixigkeit in ihrem blonden Lockenhaar herumzuschneiden. Nach fünf Minuten ließ er die Schere sinken. „Kurz genug?“
Petra schüttelte den Kopf. „Nein … bitte, noch kürzer.“
Wieder machte Herr Schimpfler sich ans Werk, in wahren Büschen fielen Petras blonde Locken zu Boden.
„So, das langt“, sagte er befriedigt und wollte die Schere fortlegen.
„Noch kürzer“, sagte Petra, „kürzer, am kürzesten!“
„Dazu würde ich aber nicht raten, Fräulein Sartorius, dann sehen Sie am Ende noch wie ein Junge aus.“
„Wie ein Junge?“ Eine Idee schoß blitzschnell durch Petras Kopf, sie starrte den Friseur ganz entgeistert an.
„Also dann … waschen und legen, nicht wahr?“
„Nein, bitte nicht!“ rief Petra. „Bitte, schneiden Sie noch mehr runter, machen Sie mir eine richtige Jungenfrisur, ja?“
„Sind Sie sicher, daß Ihr Herr Vater damit einverstanden sein wird?“
„Und ob! Bitte, schneiden Sie mir das Haar ganz kurz … und den Nacken ausrasieren, einen richtigen Jungenhaarschnitt, verstehen Sie?“
„Wie Sie wünschen … obwohl ich Ihnen sagen möchte, daß diese ganz kurzen Frisuren für Damen längst überholt sind!“
Petra hörte ihm gar nicht mehr zu. Sie war vollkommen damit beschäftigt, aus der großartigen Idee, die ihr so plötzlich gekommen war, einen richtigen Plan zu machen. Daß sie nicht früher daran gedacht hatte, natürlich — das war doch die Lösung! Alle sagten immer: „Du benimmst dich wie ein Junge! Du siehst aus wie ein Junge! Du hast Manieren wie ein Junge!“ — Warum sollte sie nicht versuchen, als Junge aufs Gymnasium zu gehen?
Eigentlich hatte sie nach dem Besuch beim Friseur noch auf ihren Vater warten wollen, vielleicht konnte sie ein bißchen zuhören bei der Probe und vielleicht hätte er sie wieder mit nach Hause genommen. Aber jetzt plötzlich hatte sie keine Zeit mehr dafür. Sie rannte mit großen Schritten nach Hause, und beinahe hätte sie sich dabei verirrt, denn sie kannte Narheim ja noch gar nicht. Aber dann war sie doch endlich in den ruhigen Villenstraßen am Rande der Stadt angekommen, sie wußte, daß hier irgendwo ihre neue Wohnung sein mußte. Sie entdeckte das Haus von der Rückseite her. Wahrscheinlich wäre sie daran vorübergelaufen, wenn Babette nicht auf der Terrasse gestanden und Kleider ausgebürstet hätte.
Petra nahm sich nicht die Zeit, um den Block herumzulaufen, sie kletterte über den Zaun, riß dabei die Rocknaht auf und rannte durch den Garten ins Haus. Babette war schon wieder in der Küche verschwunden, und das war ihr ganz lieb, denn sie wollte mit keinem Menschen sprechen, bevor sie nicht festgestellt hatte, ob sich ihr Plan verwirklichen ließ. Sie nahm die Schlüssel, die auf einem Haken in der Garderobe hingen, lief zur Wohnungstür hinaus und drei Treppen hoch auf den Speicher. Ganz im hintersten Winkel stand die Mottenkiste, in der sie mit Babette die alten Sachen von Siegfried eingeordnet hatte. Vor lauter Übereifer dauerte es eine Weile, bis sie das Schloß der Mottenkiste aufbekommen hatte.
Sie begann zu wühlen. Ein alter Anzug von Vater lag obenauf, sie schob ihn beiseite, wühlte tiefer, und endlich hatte sie gefunden, was sie suchte — Siegfrieds blauen Anzug. Sie zerrte ihn heraus, schlüpfte schnell aus Rock und Pullover, zog den Anzug über. Er paßte. Sie brauchte gar nicht in den Spiegel zu sehen, um zu wissen, daß er paßte. Er saß wie angegossen. Selbst die Hosenbeine, die für Siegfried seinerzeit etwas zu lang gewesen waren, saßen bei ihr genau richtig.
Petra wollte schon den Deckel der Mottenkiste wieder zuwerfen, da fiel ihr etwas anderes ein. Sie suchte all die alten Hosen, Jacken und Hemden von Siegfried heraus, warf sie auf einen großen Haufen. Sie fand ein weißes Hemd, zog die Jacke noch einmal aus und das Hemd an. Es war eine Spur zu klein, aber es fiel bestimmt niemandem auf.