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Rosa, die viel in der Klasse einfach nur für unmöglich halten, ist dies eigentlich nicht. Sie und ihre Familie sind nur sehr arm. Aber Armut verstehen die meisten Kinder nicht, sie kennen sie einfach nicht. Sie interessieren nur Äußerlichkeiten am anderen, an denen sie herummäkeln können. Und Armut hat noch eine andere Folge: Der Arme steht allein und ist ohne Unterstützer da. So geht es auch Rosa, die sich doch in der Schule mit viel Erfolg für gute Noten einsetzt. Als ihr auch noch ein Diebstahl angehängt wird, wird es eng für Rosa. Doch nun beweist Rosa, was in ihr steckt, und sie kann im gleichen Atemzug einer Mitschülerin helfen und eine gute Freundin gewinnen.-
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Seitenzahl: 110
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Marie Louise Fischer
SAGA Egmont
Ein unmögliches Mädchen
Ein unmögliches Mädchen (Band 1)
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)
represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)
Originally published 1974 by F. Schneider, Germany
All rights reserved
ISBN: 9788711719619
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.
lindhardtogringhof.dk
Lindhardt und Ringhof Forlag A/S, a part of Egmont
Frau Doktor Hiller gab Geschichtsunterricht.
Für die sechste Klasse des Städtischen Realgymnasiums war es die letzte Stunde. Trotzdem lauschten die meisten noch sehr aufmerksam. Die Lehrerin wußte so anschaulich über eine Siedlung der alten Römer zu erzählen, die ganz in der Nähe der Stadt ausgegraben worden war.
Nur die blonde, etwas pummelige Hortense konnte sich nicht konzentrieren. Immer wieder schweifte ihr Blick zum Fenster. Draußen fiel lautlos und in dicken weichen Flocken Schnee vom Himmel.
Das Läuten der Schulglocke riß sie aus ihren Träumen. „Endlich!“ rief sie und sprang auf.
„Typisch Hortense!“ fand Frau Doktor Hiller. „Ich glaube manchmal, du wachst erst auf, wenn die Schule zu Ende ist!“
Die Klasse lachte, und am lautesten lachte Rosa, die unmögliche Rosa. Sie lachte immer noch, überlaut und hemmungslos, als die anderen längst still geworden waren. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie merkte, daß niemand mehr mitlachte, und erschrocken klappte sie den Mund zu.
Frau Doktor Hiller blickte kopfschüttelnd zur letzten Bank, wo Rosa ganz allein saß. „Benehmen ist Glückssache“, meinte sie und wandte sich wieder an die Klasse: „Also dann …, bis morgen!“
Rosa riß die großen schwarzen Augen auf. „Was hab ich denn falsch gemacht?“ fragte sie.
Aber sie bekam keine Antwort. Frau Doktor Hiller verließ, ihre Bücher unter dem Arm, das Zimmer. Auch die Schülerinnen rafften ihre Siebensachen zusammen und machten sich, lärmend, schwätzend und kichernd auf den Heimweg.
Rosa fuhr sich mit der Hand durch das struppige Haar. „Ach, ihr könnt mich doch mal!“ sagte sie laut.
Doch auch damit errang sie keine Aufmerksamkeit.
Die anderen stürmten schon die Treppe hinunter, durch den Hof und auf die Straße. Allen voran Hortense, die sich im Laufen die Pelzmütze auf das lange, seidig glänzende Haar stülpte. „Es schneit, es schneit!“ rief sie.
Aber bald kam sie außer Atem und blieb hinter ihren Freundinnen zurück. Als kleiner Trupp, bei dem Hortense die Nachhut bildete, rannten sie um die Ecke und auf die Breite Straße, die ihrem Namen alle Ehre machte: sie war wirklich sehr breit, führte mitten durch die Stadt und wurde auf beiden Seiten von eleganten Geschäften, Restaurants und Cafés flankiert. Obwohl es erst Ende November war, sah man allenthalben schon prächtige Weihnachtsdekorationen.
„Ist das nicht ’ne Wucht?!“ rief Hortense. „Kinder, wie wär’s mit einem kleinen Schaufensterbummel?“
„Du hast Begriffe!“ Ilo warf sich eine rotblonde Locke aus der Stirn. „Meine Mutter würde mir was erzählen!“
„Ich muß auch nach Haus“, erklärte Angi.
Die Mädchen hatten die Bushaltestelle erreicht und blieben stehen,
„Ach, seid ihr fad!“ rief Hortense enttäuscht und fühlte entsetzt, daß ihr Tränen in die Augen stiegen.
„Nimm’s nicht persönlich!“ Bettina legte ihr die Arme um die Schulter. „Wir haben es eben nicht so gut wie du. Bei dir kräht kein Huhn und kein Hahn danach, wann du nach Hause kommst.“ Sie war ein schlankes, großes Mädchen und Hortenses beste Freundin; bis zum Sommer hatten die beiden noch in naher Nachbarschaft gewohnt.
„Als wenn das so schön wäre“, sagte Hortense.
„Na, anfangs hast du doch noch davon geschwärmt“, erinnerte Ilo sie.
„Und von eurer schönen Eigentumswohnung!“ fügte Angi herzlos hinzu.
„Hört auf, Hortense zu ärgern!“ nahm Bettina die Freundin in Schutz. „Wir haben sie ja auch alle anfangs beneidet, nicht wahr? Und ich wäre immer noch froh, wenn meine Mutter was anderes zu tun hätte, als dauernd hinter mir herzuräumen und auf mich zu schimpfen.“
Hortense lächelte dankbar, weil sie verstand, daß Bettina sie zu trösten versuchte. Sie strich sich, so unauffällig wie möglich, mit dem Handrücken die Tränen aus den Augenwinkeln.
„Da kommt der Bus!“ schrie Ilo.
Die Mädchen hatten jetzt keine Zeit mehr für eine Unterhaltung. Sie versuchten, sich dort hinzustellen, wo die Türen gleich aufgehen würden.
„Besuch uns doch mal!“ rief Bettina noch.
Dann hielt der Bus, und die Freundinnen drängten sich zwischen anderen Schulkindern und Hausfrauen mit schweren Einkaufstaschen hinein.
Hortense blieb allein zurück. Sie winkte noch und dann war es vorbei. Sie verstand plötzlich nicht mehr, warum sie sich so auf den Schulschluß gefreut hatte.
Früher, ja, da wäre es etwas anderes gewesen. Da wäre sie jetzt mit den anderen zusammen in das alte vertraute Stadtviertel gefahren. Aber seit ihre Eltern die elegante Eigentumswohnung im Vorort Haidhausen erworben hatten, kam sie nachmittags kaum noch mit den Freundinnen zusammen. Der Weg quer durch die Stadt war zu weit.
Niedergeschlagen trottete Hortense weiter bis zur Ecke. Sie überquerte dann die Fahrbahn. Sie mußte in die entgegengesetzte Richtung fahren wie die anderen.
Aber an der Haltestelle stand, o Schreck, die unmögliche Rosa. Das kam manchmal vor, weil sie den gleichen Weg zu haben schien. Aber Hortense kam außer der Schule nie mit ihr zusammen und wußte nicht, wo sie wirklich wohnte. Sie interessierte sich auch nicht dafür. Sie versuchte ihr nur stets nach besten Kräften auszuweichen, denn sie mochte sich nicht mit ihr unterhaken, ja, nicht einmal mit ihr zusammen gesehen werden.
Niemand aus der Klasse wollte etwas mit Rosa zu tun haben. Sie sprach ein schreckliches Deutsch, war meist sehr verschlossen, wurde aber, wenn sie mal aus sich herausging, gleich viel zu laut. Am meisten wurde ihr angekreidet, daß sie nie ganz sauber wirkte. Einige behaupteten sogar von ihr, daß sie stänke. Ob das stimmte, wußte Hortense nicht. Sie bemühte sich immer, Rosa soweit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Wenn sie schon mit ihr im gleichen Bus fahren mußte, dann achtete sie immer darauf, auf die andere Plattform zu kommen, das ganze Abteil als Pufferzone zwischen sich und Rosa.
Auch heute hatte sie das vor.
Rosa stand, ihre abgewetzte Leinentasche, die aussah, als hätte sie sie auf einer Lumpenhalde gefunden, zwischen die Füße geklemmt, und las im Geschichtsbuch. Wie immer trug sie eine verblichene grün-graue amerikanische Uniformjacke, einen sogenannten Parka. Nun gibt es Typen, an denen so ein Parka ganz lässig wirkt. Rosa jedoch sah höchst merkwürdig darin aus. Der Parka war für einen erwachsenen Mann geschneidert, sie aber war ein spindeldürres zwölfjähriges Mädchen, und die Uniformjacke war für sie so lang wie ein Mantel und so weit, daß sie dreimal hineingepaßt hätte.
Hortense hoffte, in einem Bogen unbemerkt an ihr vorbeizukommen.
Da hob sie zufällig den Kopf und entdeckte sie. „Fährste mit?“ fragte die mit einem freundlichen Grinsen.
„Oh, nein, nein, ich … ich muß noch was besorgen“, behauptete Hortense und ging rasch weiter.
„Na, denn nicht“, sagte Rosa und steckte ihre Nase wieder in das Buch, „wer nich will, hat schon gehabt.“
Erst nach etwa dreißig Metern wagte Hortense sich noch einmal umzudrehen. Gerade kam der Bus an, und Rosa stieg ein. Nun hätte Hortense ja unbesorgt zurückgehen und auf den nächsten warten können. Aber es wurde ihr klar, daß sie eigentlich immer noch keine Lust hatte, nach Hause zu fahren. Was sollte sie denn mutterseelenallein in der leeren Wohnung. Lieber wollte sie etwas unternehmen, auch wenn die Freundinnen sie im Stich gelassen hatten. Rasch ging sie weiter, die Augen auf die weihnachtlich dekorierten Schaufenster gerichtet.
Nach wenigen Minuten erreichte sie die Fußgängerzone. Hier lag das Kaufhaus Holdermann. Im ersten Zwischenstock gab es eine Caféteria, in der man gut und billig essen konnte. Hortense kam zu dem Entschluß, sich dort eine Flasche Cola und zwei Berliner Pfannkuchen, auch Krapfen genannt, zu gönnen. Sie hatte einen guten Appetit und würde das Essen, das ihr die Mutter vorbereitet hatte, mit Leichtigkeit zusätzlich vertilgen können.
Durch die weit geöffneten Türen betrat sie das Erdgeschoß des Kaufhauses. Drinnen war, wie immer, viel los. Aus den Lautsprechern erklang einschmeichelnde Musik. Ein Mann im weißen Kittel pries eine patentierte Kartoffelschälmaschine an. Hortense blieb eine Weile stehen und hörte ihm zu.
Danach wühlte sie in einem Haufen Pullis zu herabgesetzten Preisen, von denen ihr keiner gefiel. Sie schlenderte durch die Kosmetikabteilung, aber als sie einen Taschenspiegel berührte, war gleich eine Verkäuferin zur Stelle.
„Ach nein“, sagte Hortense rasch, „ich wollte ihn mir nur mal ansehen.“ Sie machte, daß sie davonkam und ärgerte sich ein wenig über das Mißtrauen der jungen Frau.
Erst am Stand mit Modeschmuck blieb sie wieder stehen. Sie betrachtete die glitzernden Armbänder, Broschen, Anstecknadeln und Ringe. Ein breiter Armreif, weiß und rot emailliert, stach ihr sofort ins Auge.
Mit einem vorsichtigen Blick vergewisserte sie sich, daß niemand auf sie achtete. Dann packte sie blitzschnell zu und ließ den Armreif in der Tasche ihres Anoraks verschwinden. Betont langsam ging sie weiter und gab sich Mühe, ein gleichmütiges Gesicht zu machen, während ihr das Herz bis zum Hals klopfte.
Sie war ganz sicher, daß niemand sie bemerkt hatte, aber die Nerven, im Kaufhaus Holdermann noch etwas zu verzehren, hatte sie denn doch nicht. Ruhig, aber zielstrebig, ging sie dem Ausgang zu und atmete auf, als sie wieder in der frischen Luft stand. Den schweren Armreif hielt sie in der Tasche fest umklammert.
Ihr Herz ging wieder in den gewohnten, gleichmäßigen Takt über. Das Schlimmste war überstanden, aber auch die irre abenteuerliche Erregung war vorbei.
Was blieb, war nur das Armband, und sie wußte gar nicht recht, was sie damit anfangen sollte. Sie hatte schon ein paar solcher Sachen in einer Schachtel auf dem Schrank in ihrem Zimmer versteckt. Manchmal schaute sie sie an, aber das war nicht halb so aufregend wie das Klauen selber, nicht einmal dann, wenn sie sich einredete, daß ihre Mutter sie eines Tages dabei erwischen würde.
Tatsächlich war das ziemlich unwahrscheinlich, denn die Mutter schnüffelte nicht in ihren Sachen herum. Vielleicht konnte sie ihr den Armreif zu Weihnachten schenken? Das wollte sie sich später überlegen. Jetzt erst einmal wollte sie ihn nach Hause und in Sicherheit bringen.
In den nächsten Tagen schneite es weiter. Aber in der Innenstadt und auch im Vorort Haidhausen, wo Hortense wohnte, wurde der Schnee rasch von vielen Füßen zusammengetrampelt und von Autos und Bussen auf der Fahrbahn in einen häßlichen braun-grauen Matsch verwandelt, den die Räummaschinen zu kleinen Wällen aufschütteten.
Hortense bekam Sehnsucht nach richtigem Winter. Allein in der leeren Wohnung war es ihr zu langweilig, und zum Lernen hatte sie keine Lust. So zog sie ihren roten Anorak an, setzte die Pelzmütze auf, steckte Schlüssel und Geldbörse ein, verließ das Haus und lief zur Bushaltestelle. Doch heute fuhr sie nicht in die Stadt, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Das hatte sie noch nie getan, aber sie wußte, an der Endstation begann das Land.
Während der Fahrt gab es nicht viel zu sehen; die Straßen wurden von gleichförmigen modernen Neubauten und von Baustellen gesäumt. Dann endlich zeigte sich eine richtige Schneelandschaft: Schrebergärten mit kleinen Holzhütten darin, die aussahen, als würden sie unter der Last des Schnees gleich zusammenbrechen. Auch die Latten und Pfosten der Zäune hatten lustige weiße Kappen.
Als der Bus an der Endhaltestelle hielt, begann es zu schneien. Reine, weiße, sehr große Flocken sanken langsam vom Himmel und legten sich zart und still auf die Schneedecke.
Vergnügt stieg Hortense aus, überquerte die Straße und bog in einen ziemlich breiten Weg ein. Es roch nach Schnee und Winterfrische. Die Hände in den Taschen ihres Anoraks, stapfte sie voran. Den Kopf hatte sie weit zurück in den Nacken gelegt und versuchte, mit offenem Mund Schneeflocken zu schnappen.
Der Schneefall dauerte nicht lange; er hörte so plötzlich auf wie er eingesetzt hatte. Ein Berg tauchte vor Hortense auf – nein, es war kein richtiger Berg, aber immerhin doch ein ganz ansehnlicher Hügel, auf dem Kinder auf Skiern und mit Schlitten herumkletterten und von oben hinunterrutschten.
Jetzt ärgerte sich Hortense, daß sie nicht daran gedacht hatte, die eigenen Skier mitzunehmen. Sie blieb am Fuß des Hügels stehen, guckte den anderen zu und überlegte, ob sie nicht eines der Mädchen bitten könnte, sie mitrodeln zu lassen.
Aber dann erkannte sie Rosa, die unmögliche Rosa, und sofort wandte sie sich ab und marschierte weiter.
Inständig hoffte sie, daß die Mitschülerin sie nicht erkannt haben möge. Rosa war zu allem fähig. Sie konnte auf sie zustürzen und sich bei ihr einhängen als wären sie die allerbesten Freundinnen. Sie konnte sie aber genausogut vor den anderen aufziehen und lächerlich machen. Hortense traute ihr sogar zu, daß sie ein paar Spielkameraden aufhetzte, sie zu fangen, mit Schnee zu waschen oder sie womöglich mit dem Kopf in den Schnee zu stecken.
Hortense zog die Schultern hoch und wäre am liebsten losgerannt. Es kostete sie Anstrengung, unbekümmert zu tun. Wenn Rosa sie gesehen hatte, so durfte sie auf keinen Fall etwas von ihrer Angst merken. Das hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht.
Erst nach ein paar Minuten, als nichts geschah, niemand ihr nachkam oder ihr zurief, fand Hortense ihr seelisches Gleichgewicht wieder. Sie kam an einen kleinen Teich – eigentlich war es wohl nur ein Baggerloch –, der zugefroren war.