Unreife Herzen - Marie Louise Fischer - E-Book

Unreife Herzen E-Book

Marie Louise Fischer

4,7

Beschreibung

Gina ist siebzehn. Zu jung für die Ehe? Dieser Ansicht ist sie nicht, denn sie hat den Mann ihrer Träume gefunden, den attraktiven Rechtsanwalt Thomas. Sie ist überglücklich, als ihr Vater ihr die Einwilligung zur Ehe mit ihm gibt. Doch bereits auf der Hochzeitsreise nach Rom muss sie sich fragen, wie gut sie ihren Mann eigentlich kennt. Denn dort taucht plötzlich seine frühere Geliebte, die schöne und selbstbewusste Vivian, auf. Ist sie wirklich nur ein Teil seiner Vergangenheit? Aber damit nicht genug: Thomas Mutter erweist sich als ausgemachte Egoistin, die auf niemand Rücksicht nimmt. Es gibt also genug Herausforderungen, mit denen Gina fertigwerden muss. Hat sie die nötige Reife dafür?Marie Louise Fischer wurde 1922 in Düsseldorf geboren. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Lektorin bei der Prag-Film. Da sie die Goldene Stadt nicht rechtzeitig verlassen konnte, wurde sie 1945 interniert und musste über eineinhalb Jahre Zwangsarbeit leisten. Mit dem Kriminalroman "Zerfetzte Segel" hatte sie 1951 ihren ersten großen Erfolg. Von da an entwickelte sich Marie Louise Fischer zu einer überaus erfolgreichen Unterhaltungs- und Jugendschriftstellerin. Ihre über 100 Romane und Krimis und ihre mehr als 50 Kinder- und Jugendbücher wurden in 23 Sprachen übersetzt und erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von über 70 Millionen Exemplaren. 82-jährig verstarb die beliebte Schriftstellerin am 2. April 2005 in Prien am Chiemsee.-

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Marie Louise Fischer

Unreife Herzen

SAGA Egmont

Unreife Herzen

Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og RInghof A/S

Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, (www.marielouisefischer.de)represented by AVA international GmbH, Germany (www.ava-international.de)

Originally published 1977 by Heyne Verlag, Germany

All rights reserved

ISBN: 9788711719206

1. Ebook-Auflage, 2017

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Die Orgel rauschte auf mit einer Bachschen Fuge, als Gina, siebzehn Jahre, geleitet von ihrem Vater, dem Tierarzt Dr. Lowitzer, die wunderschöne Barockkirche auf der »Wies« betrat.

Gina hob die Augen, um sie gleich darauf wieder, geblendet von all dem Glanz, zu senken — der riesige ovale Kirchenraum schien geradezu im Licht zu schwimmen. Die Symphonie der Farben, der überirdische Strom von Tönen, das überwältigende Glücksgefühl in ihrem Herzen überfiel die junge Braut wie ein Schwindel. Sie mußte sich am Arm ihres Vaters festklammern, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Dies alles war so traumhaft schön, so ganz und gar unwirklich — und doch war es Wahrheit! Sie, Gina Lowitzer, vor wenigen Wochen noch Unterprimanerin, ein Mädchen unter vielen, hatte es erreicht: sie war die Braut des Mannes geworden, den sie liebte.

Mit gesenkten Augen, feierlich Schritt für Schritt, ging Gina am Arm ihres Vaters auf den prächtigen Hochaltar zu. Tausend Gedanken und Gefühle durchzuckten in diesem einmaligen, unwiederbringlichen Augenblick ihren Kopf und ihr Herz; doch alle wiesen sie nur auf ein Ziel hin: auf Thomas, Rechtsanwalt Dr. Thomas Miller, der in dieser Stunde ihr Ehemann werden würde.

Gina hatte die Nacht zuvor kaum geschlafen, noch auf der Fahrt zum Standesamt hatte sie nicht gewagt, ihrem Glück ganz zu vertrauen, bis zum letzten Moment hatte sie immer noch gefürchtet, daß etwas dazwischen kommen würde, obwohl sie tapfer versucht hatte, ihre Ängste wegzulachen.

Aber das Glück war so übermächtig, so innig herbeigesehnt, so leidenschaftlich erkämpft, daß sie es einfach nicht ganz zu fassen wagte. Sie wußte selber nicht, was sie eigentlich fürchtete, oder doch: daß Thomas es sich in der letzten Minute anders überlegt haben könnte, daß ihr Vater die Erlaubnis zurücknahm, daß irgendeine fremde feindliche Macht sich zwischen sie drängen und für immer auseinanderreißen könnte.

Doch jetzt war alles vorbei, jetzt endlich endlich hatte sie es geschafft!

Gina atmete tief und hob die Augen — ihr Blick fiel auf die beiden hohen Säulen rechts und links des Tabernakels in festlich aufleuchtendem Rot, die goldenen Kapitäle, den blauseidenen Baldachin über dem Lamm Gottes und auf die verspielte Anmut der barocken Engelkinder, die überall waren, lächelnd, unbeschwert, voll seliger himmlischer Freude.

Mit einem Atemzug, der wie ein Seufzer klang, glitt ihr Blick herab und zur Seite — sie sah Hanna und Ute, ihre Schulfreundinnen und Brautjungfern, reizend anzusehen in ihren zartrosa Kleidchen, die sie selber ausgesucht hatten, und die sich doch nicht im entferntesten mit ihrem eigenen herrlichen Brautkleid vergleichen ließen, einem Traum aus weißer Brüsseler Spitze. Sie sah ihren Bruder Wolfgang im schwarzen, schon ein wenig ausgewachsenen Anzug, ein törichtes Grinsen um den knabenhaften Mund, hinter dem er Verlegenheit mit Rührung zu verbergen suchte. Sie sah ihre Mutter, deren Gesicht leicht verzerrt war, als ob sie gleich anfangen wollte zu weinen, und dann sah sie ihn — Thomas, den Bräutigam, der, geleitet von seinem Sozius Dr. Jahn, von der anderen Seite des Langschiffs her auf sie zukam, um sich mit ihr vor dem Altar zu treffen.

Gina scheute sich, ihn voll anzusehen, beobachtete ihn nur verstohlen unter ihren langen, sanft gebogenen Wimpern heraus — sein männliches, jetzt vor lauter Feierlichkeit fast ausdrucksloses Gesicht, die braunen schön geschnittenen Augen, das schwarze, dicht an den Kopf gebürstete Haar.

Thomas, jubelte es in ihr, oh, Thomas!

Am liebsten hätte sie sich, als er jetzt dicht vor ihr stand, in seine Arme geworfen, hätte seine hohen Backenknochen, seine schmale Stirn mit zärtlichen Händen berührt — ihre Augen trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, und sie spürte mit leisem Erschauern, daß in seinem Blick dieselbe Liebe lag wie in ihrem Herzen.

Gleichzeitig machten beide die kleine Wendung zum Altar hin, knieten nebeneinander auf dem samtbezogenen Schemel nieder.

Noch durchdröhnten die Klänge der Bachschen Fuge die wundervolle spätbarocke Wallfahrtskirche des Baumeisters Dominikus Zimmermann, drangen mit lebendiger Kraft in alle Herzen.

Gina preßte die Hände gegeneinander. — Lieber Gott, betete sie, ich danke dir, ich danke dir, ich danke dir! Daß du Thomas und mich zusammengeführt hast, daß du mir seine Liebe geschenkt hast, daß ich seine Frau werden darf! Beschütze uns, beschütze ihn und mich, segne unsere Ehe!

Mit einem mächtigen Akkord verebbten die Orgelklänge, die Hochzeitszeremonie begann. Die junge starke Stimme des Traupfarrers hallte durch die Kirche, die Ministranten antworteten im Wechselgespräch. Gina war viel zu aufgeregt, um irgend etwas von dieser feierlichen und ausgewogenen Zeremonie tatsächlich bewußt in sich aufzunehmen.

Erst als Thomas, der Mann an ihrer Seite, aufgerufen wurde, kehrte ihr fieberhaft erregter Geist in die Wirklichkeit zurück.

»Thomas, ich frage dich«, sagte der Pfarrer, »hast du vor Gott dein Gewissen geprüft und bist du frei und ungezwungen hierher gekommen, mit dieser deiner Braut die Ehe einzugehen?«

»Ja!« Die Stimme des Bräutigams klang klar und fest.

»Bist du gewillt, deine künftige Gattin zu lieben, zu ehren und ihr die Treue zu halten, bis der Tod euch scheidet?«

»Ja.«

»Bist du bereit, die Kinder, die Gott euch schenken will, aus seiner Hand anzunehmen und zu erziehen, wie es Pflicht eines christlichen Vaters ist?«

»Ja.«

Jetzt kam der Augenblick, dem Gina seit Minuten entgegengezittert hatte. Der Priester wandte sich ihr zu.

»Regina, ich frage auch dich: Hast du vor Gott dein Gewissen geprüft und bist du frei und ungezwungen hierher gekommen, um mit diesem deinem Bräutigam die Ehe einzugehen?«

Gina fand vor Aufregung kaum Atem. Ihr »Ja« kam heiser, kaum hörbar heraus. Sie hätte sich gerne geräuspert, aber sie wagte es nicht.

»Bist du gewillt, deinen künftigen Gatten zu lieben, zu ehren und ihm die Treue zu halten, bis der Tod euch scheidet?«

»Ja!« Diesmal gelang es ihr schon besser.

»Bist du bereit, die Kinder, die euch Gott schenken will, aus seiner Hand anzunehmen und zu erziehen, wie es Pflicht einer christlichen Mutter ist?«

»Ja.«

»Da ihr also beide zu einer wahren christlichen Ehe entschlossen seid, so stecket einander den Ring der Treue an und sprechet mir nach: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes: Trag diesen Ring als Zeichen deiner Treue!«

Gina sah auf Thomas Millers schmale, sensible Hände, die ihr den flachen Goldreif über den Finger streiften, wagte ein ganz kleines, schüchternes Lächeln zu ihm, das ihm entging, da er damit beschäftigt war, alles richtig und ohne Fehler zu machen. Sie betrachtete ihre Hand, die jetzt plötzlich verändert schien, erwachsen, die Hand einer Frau, besann sich gerade noch rechtzeitig, daß sie jetzt an der Reihe war, ihm seinen Ring überzustreifen.

»Nun schließt den Bund der heiligen Ehe«, forderte der Priester sie auf. »Reichet einander die rechte Hand!«

Ginas Hand legte sich in die ihres Mannes, als ob sie in seinem Griff Schutz und Geborgenheit suchte. Der Priester umschlang ihre vereinigten Hände mit seiner Stola.

»Und sprecht mir nach«, ertönte die Stimme des Priesters: »Vor Gottes Angesicht nehme ich dich, Regina, zu meiner Ehefrau!«

Ginas Stimme klang ganz klar und leicht, als sie die Worte des Pfarrers nachsprach: »Vor Gottes Angesicht nehme ich dich, Thomas, zu meinem Ehemann!«

Ihr Herz erbebte, als der Traupfarrer die uralte Confirmatio sprach: »Im Namen der Kirche bestätige ich den Bund, den ihr geschlossen, und segne ihn: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«

Wie von weit her hörte sie das Schluchzen ihrer Mutter, als er sich an die Gemeinde wandte und mit kraftvoller Stimme rief: »Euch aber, die ihr hier gegenwärtig seid, nehme ich zu Zeugen dieses heiligen Bundes: Was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen!«

Nachher kamen die Küsse, die Glückwünsche, die Tränen der Mutter und der Tanten, die bemüht witzigen Bemerkungen der Freundinnen — Gina, die dies alles schon zum zweiten Mal an diesem Tag über sich ergehen lassen mußte, hatte keinen anderen Wunsch, als endlich mit Thomas allein zu sein.

Aber es war noch lange nicht so weit.

In dem großen Gasthof, zweihundert Meter von der »Wies« entfernt, war das Hochzeitsessen gerichtet. Die kleine Gesellschaft schlenderte hinüber, Gina fast auf Zehenspitzen, ängstlich darauf bedacht, ihre weißen Seidenpumps nicht zu beschmutzen. Der vorhin noch leuchtend blaue Oktoberhimmel hatte begonnen, sich bedrohlich zu verdüstern. Gina blickte erschrocken hoch, als sie einen Tropfen auf ihrer Nase spürte.

Aber auch die anderen hatten es schon bemerkt.

»Regen am Hochzeitstag bedeutet Tränen!« rief Ute, fast frohlockend.

»Unsinn!« widersprach Onkel Ludwig, ein Bruder von Dr. Lowitzer lachend. »Das ist der Segen des Himmels!«

Für Gina war der Regen weder ein gutes, noch ein böses Vorzeichen. Ihr war es nur wichtig, ihr kostbares Kleid in Sicherheit zu bringen, und unwillkürlich fiel sie in einen Laufschritt. Wie auf ein Kommando setzten auch die anderen sich in Trab, atemlos, mit zerzaustem Haar und leuchtenden Augen erreichte man die Türe zum Gasthof.

Gina warf noch einen Blick zurück auf die wunderbare Kirche, in der ihr Glück besiegelt worden war — hell und harmonisch hob sie sich gegen die herbstlich bunten Wälder und den dunklen Himmel ab.

Nur eine Sekunde dauerte diese letzte stille Einkehr, dann wurde sie von dem Strom der Gesellschaft mit in das langgestreckte Extrazimmer geschoben, in dem die Hochzeitstafel gedeckt war. Dabei geschah es, daß sie von Thomas getrennt wurde. Wolfi, ihr Bruder, war plötzlich an ihrer Seite.

»Gina«, flüsterte er, »ich muß dich unbedingt sprechen …«

»Jetzt?«

»Ja. Komm mit nach draußen. Bis die sich alle gesetzt haben, vergeht massenhaft Zeit!«

Gina zögerte. Aber als sie sah, daß Thomas in ein Gespräch mit ihrem Vater vertieft war, entschloß sie sich, Wolfi zu folgen.

»Warte draußen!« raunte sie ihm zu, dann lief sie zu Vater und Ehemann, sagte: »Ich bin gleich wieder da … ich will mich nur ein bißchen frisch machen!« Dann zog sie sich, so unauffällig wie möglich, zurück.

Wolfi stand in der hintersten Ecke des dunklen, ein wenig zugigen Flurs. Gina ging rasch auf ihn zu.

»Also … was ist?« fragte sie ungeduldig.

»Kannst du dir das nicht denken?«

»Keine Ahnung!«

»Das hätte ich mir denken können«, sagte er bitter, das frische Jungengesicht trotzig verdüstert.

»Willst du mir Rätsel aufgeben? Also, dazu habe ich jetzt wirklich weder Zeit noch Lust!«

»Du hast es sehr eilig, wieder zu Thomas zu kommen, wie?«

Gina spürte die Eifersucht des jüngeren Bruders, aus der seine Liebe sprach. Sie zwang sich zur Freundlichkeit. »Komm, komm«, sagte sie, »sei nicht gleich wieder eingeschnappt. Was willst du also?«

»Dich an dein Versprechen erinnern!«

Gina mußte nachdenken. Sie wußte im Augenblick tatsächlich nicht, was Wolfi von ihr wollte.

»Tu doch nicht so, als wenn du alles vergessen hättest!« sagte er wild. »Hundertmal hast du mir gesagt: wenn ich erst mal verheiratet bin, werde ich dir helfen, daß du dein Moped bekommst!«

»Ach so! Davon redest du!«

»Ja, genau. Also was ist … krieg ich es nun oder nicht?«

Sie holte tief Atem. »Hör mal, Wolfi, mir scheint, du bist total verrückt geworden! Damit kommst du mir ausgerechnet jetzt?!«

»Wann denn Sonst? Heute abend gehst du auf die Hochzeitsreise … und wer weiß, wann ich dich dann überhaupt noch sehe!«

»In vierzehn Tagen sind wir zurück. Von München aus werde ich sofort anrufen, und ich verspreche dir, ich werde mit Vater reden …«

»Versprechen! Versprechen! Das ist alles, was du kannst! Tu doch endlich auch mal etwas. Oder sind wir dir jetzt, wo du verheiratet bist, auf einmal alle gleichgültig geworden?«

»Hör mal, jetzt will ich dir mal etwas sagen … du hast einen ausgewachsenen Vogel!« Gina wandte sich von Wolfi ab und ging auf den großen Flurspiegel zu.

Er kam hinter ihr her, packte sie beim Handgelenk. »Du mußt mit Vater reden, noch heute! Du mußt es einfach, Gina!«

Sie sah ihn über die Schulter weg an. »Warum tust du es nicht selbst. Verrückt genug dazu wärst du ja!«

»Ich will mein Recht … weiter nichts als mein Recht!«

»Au, du tust mir ja weh!« rief Gina empört.

»He, was ist denn hier los?« Hanna, die eine der Brautjungfern, war aus dem Hochzeitszimmer gekommen und trat zu den Geschwistern. »Alle warten drinnen auf dich, Gina!«

Wolfi ließ Gina los, zog sich brummend zurück.

»Ich komm ja schon!« Gina betrachtete ihr Bild, das der dämmrige Spiegel bleich und ganz unwirklich wieder gab. Sie hob beide Arme, steckte eine ihrer widerspenstigen blonden Locken unter den kleinen, kokett abstehenden Schleier.

»Was wollte denn dein Bruder von dir?« fragte Hanna mit einem Blick zur Türe hin, durch die sich Wolfi verzogen hatte.

»Ein Moped«, erklärte Gina trocken.

»Phantastisch! Ausgerechnet heute an deinem Hochzeitstag kommt er dir mit so etwas? So ein Spinner.«

Gina hatte sofort das Bedürfnis, ihren Bruder in Schutz zu nehmen. »Er kämpft schon wer weiß wie lange darum«, sagte sie entschuldigend.

»Soll er doch! Was geht dich das an?« Hanna trat näher, berührte bewundernd Ginas Spitzenkleid. »Phantastisch! Menschenkind, ich bin mal gespannt, ob sich mein Vater später auch so in Unkosten stürzen wird!«

Gina zuckte die Achseln, machte noch einen Schritt auf ihr Spiegelbild zu, aber sie konnte in der schlechten Beleuchtung nur die Konturen ihres weichen Gesichtchens erkennen.

Sie wandte sich Hanna zu. »Wie sehe ich aus?«

»Wie ein Engel aus Himmels Höhen!«

»Ich meine … ist alles in Ordnung?«

»Und ob! Überhaupt, ganz ehrlich, ich bewundere dich … wie du bei dem allen so ruhig sein kannst!«

»Ich? Hast du eine Ahnung! Hast du nicht gemerkt, daß ich in der Kirche vor lauter Aufregung kaum ein Wort hervorgebracht habe?«

»Das meine ich nicht. Nicht das ganze Drum und Dran. Davor hätte ich auch keine Angst.« Hanna trat sichtlich verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Aber das, was später kommt!« Sie druckste. »Heute nacht!«

Eine Blutwelle schoß in Ginas helles Gesicht, aber die behauptete mit fester Stimme: »Daran denke ich jetzt noch gar nicht! Und überhaupt, wenn man sich liebt …«

»Phantastisch!« Hanna merkte gar nicht, daß sie ihr Lieblingswort jetzt schon zum dritten Mal in den letzten Minuten angewandt hatte. »Du bist wirklich phantastisch, Gina …«

Gina ging an ihr vorbei auf die Tür zum Hochzeitszimmer zu.

Hanna lief wie ein Hündchen neben ihr her. »Aber du wirst uns doch alles schreiben, nicht wahr? Genau, wie es gewesen ist? Du weißt doch, was wir ausgemacht haben …«

»Ja, natürlich«, versprach Gina, aber sie wußte schon im gleichen Augenblick, daß das eine Lüge war. Sie würde über das, was nur sie und Thomas anging, weder etwas schreiben noch etwas erzählen und am allerwenigsten den beiden neugierigen Freundinnen. Noch vor wenigen Wochen waren sie zusammen zur Schule gegangen, hatten manchen Spaß und manchen Streit miteinander gehabt — aber Gina erkannte ganz klar, daß die Trennung zwischen ihnen endgültig vollzogen war. Sie war aufgebrochen, während die anderen am Ufer zurückblieben und ihr nur neidvoll nachblicken konnten.

Gina öffnete die Türe zum Extrazimmer. Lachen und Geplauder schlugen ihr entgegen. Einen Augenblick lang stand sie fast verloren auf der Schwelle, dann hatte Thomas sie entdeckt.

Er rief ihr über die Köpfe der anderen hinweg zu: »Komm schnell, Gina, setz dich! Wir haben alle auf dich gewartet!«

Er kam ihr entgegen, reichte ihr den Arm und führte sie zum Kopfende der langen Tafel. Honiggelbe Kerzen brannten, die Plätze der Brautleute waren mit roten Rosen geschmückt.

»Der große Moment ist gekommen«, sagte Onkel Ludwig.

»Jetzt kann’s endlich losgehen!« rief Ute, seine Tischdame.

»Was ist?« wandte sich Gina leise an Thomas. »Wovon sprechen sie?«

»Von den Telegrammen. Ich soll sie vorlesen.«

Aber es kam noch nicht sogleich dazu.

Als Gina und Thomas Platz genommen hatten, erhob sich Dr. Jahn und brachte in netten und freundschaftlichen Worten den ersten Toast auf das junge Paar aus. Alle verließen ihre Sitze und gingen in einer langen Prozession an Gina und Thomas vorbei, um mit ihnen anzustoßen. Gina lächelte, dankte, lächelte, dankte, ohne sich später an ein einziges Gesicht erinnern zu können. Sie war froh, als es endlich soweit war, und ihr Vater Thomas den Stoß Glückwunschtelegramme herüberreichte.

Während Thomas sie vorlas — immer wieder von Gelächter und Beifall unterbrochen — waren Ginas Gedanken weit fort. Sie dachte an die Nacht, die kommen, die sie in den Armen ihres Mannes finden würde. Bisher hatte sie sich das ganz selbstverständlich vorgestellt. Aber jetzt hatten Hannas neugierige Worte Unbehagen in ihr erweckt, das wuchs und wuchs und ihr die Kehle zusammenschnürte.

Sie musterte Thomas mit scheuen Blicken von der Seite — sein gut geschnittenes Profil mit der sehr geraden Nase, der leicht vorgeschobenen Unterlippe, sie betrachtete ihn, zum erstenmal, seit sie ihn kannte, wie einen Fremden.

War er nicht ein Fremder für sie? Vor fünf Monaten waren sie sich zum ersten Mal begegnet, als er seinen Urlaub in ihrer Heimatstadt Garmisch-Partenkirchen verbrachte. Sie hatte sich sofort und ohne Besinnung rasend in ihn verliebt, hatte ihn sozusagen im Sturm erobert, sich über den Widerstand ihrer Eltern bedenkenlos hinweggesetzt — und jetzt war sie mit ihm verheiratet. Mit Schaudern stellte Gina fest, wie wenig sie von ihm wußte, nichts, als daß er 27 Jahre alt war, ein angesehener junger Rechtsanwalt mit ausreichendem Einkommen war — sonst hätte ihr Vater ihr die Einwilligung in die Ehe bestimmt nicht gegeben — und daß er bisher als Junggeselle mit seiner Mutter zusammen gelebt hatte.

Seine Mutter — warum war sie eigentlich nicht zur Hochzeit erschienen? Thomas hatte behauptet, daß sie durch ihre Übersiedlung nach Düsseldorf in die Familie seiner Schwester zu schwer in Anspruch genommen wäre — aber war das wirklich eine Entschuldigung? Auch nur eine Erklärung? Mit plötzlicher Hellsicht begriff Gina, daß Frau Miller sie als Schwiegertochter ablehnte, sie vielleicht sogar haßte, weil sie ihr den Sohn genommen hatte. Aber sie schüttelte diesen unbehaglichen Gedanken mit der ganzen Unbekümmertheit ihrer Jugend von sich ab — was scherte sie seine Mutter, wenn sie nur seine Liebe besaß!

Ihre kleine Hand bewegte sich langsam zu ihm hin. Es war, als wenn er ihre Angst und ihr Verlangen spürte. Er umfaßte ihre Finger mit festem, zuverlässigen Druck, zog sie an die Lippen — und plötzlich löste sich der Kloß in ihrer Kehle auf, alles Unbehagen war verschwunden, ja, schon vergessen. Nichts mehr war übrig geblieben, als das überwältigende Glück, mit dem Mann ihrer Liebe verheiratet zu sein.

»Mutter und ich«, las Thomas, »sind in Gedanken heute bei dir, lieber Thomas, und deiner jungen Frau und wünschen euch von Herzen alles Glück und alles Liebe! Deine Schwester Angela.«

Es wurde geklatscht.

»Deine Mutter ist also nicht böse auf mich?« fragte Gina ganz erleichtert.

»Schäfchen!« Er lächelte ihr zu. »Wer könnte auf dich böse sein!«

Er legte das Telegramm seiner Schwester beiseite, überflog das nächste. »Geliebter Thomas«, begann er, stockte, knickte das Telegramm zusammen und ließ es mit gerunzelter Stirn in der Tasche seiner Smokingjacke verschwinden.

»Ein geschmackloser Scherz«, sagte er, halb zu Gina, halb zu den anderen gewandt.

»Von wem?« fragte Gina, plötzlich beunruhigt.

Er konnte schon wieder lächeln. »Das werde ich dir später erklären!«

Aber dazu sollte es nicht mehr kommen. Zu viele Eindrücke stürmten an diesem Tag auf Gina ein. Als sich endlich eine Gelegenheit gab, mit Thomas zu sprechen, hatte sie den kleinen Zwischenfall längst vergessen.

Thomas Miller war froh darüber. Es wäre ihm sehr unangenehm gewesen, ihr gestehen zu müssen, daß das Telegramm von einer Frau kam, die er einmal geliebt hatte und die sich immer noch einbildete, ein Recht auf ihn zu besitzen — genauso unangenehm, wie Gina schon gleich am Hochzeitstag zu belügen.

Zur selben Zeit, als im Gasthof »Auf der Wies« der erste Gang des Hochzeitsessens aufgetragen wurde, saßen die Journalistin Vivian Geron und der Modefotograf Henry Horn in der Bar des Hotels »Bayerischer Hof« in München und tranken schwarzen Kaffee und einen Cognac.

Vivian Geron war eine schöne junge Frau Ende zwanzig, mit einem ebenmäßigen bräunlichen Gesicht unter lackschwarzem Haar, schillernden mandelförmigen Augen und einer so damenhaften Haltung, wie sie nur durch langjährige, ganz bewußte Übung erworben werden kann.

Henry Horn, ein breitschultriger, sehr attraktiver Mann betrachtete sie mit belustigtem Wohlgefallen. »Du hast ihm also tatsächlich ein Telegramm geschickt?« sagte er. »Allerhand, Vivian, du traust dich was!«

»Und warum nicht?« sagte sie kampfbereit. »Auf wen hätte ich Rücksicht nehmen sollen?«

Er zeigte lächelnd sehr schöne starke Zähne. »Rücksicht! Was für ein ungewöhnliches Wort in deinem Munde!«

»Ach, hör auf«, sagte sie ärgerlich, »tu nicht so, als wenn ich eine Bestie wäre!«

»Bist du es etwa nicht?«

»Nein. Ich hasse es einfach, daß man mich abschiebt, als ob ich …«

Sie suchte nach dem richtigen Wort. »… als ob ich ein lästiges Insekt wäre! Lach nicht so albern! Genauso hat Thomas es mit mir gemacht … das heißt, er hat es versucht! Denn noch ist nicht aller Tage Abend.«

Er ließ ein goldenes Etui aufschnappen, bot ihr eine Zigarette an. »Was hast du also vor?«

»Das weiß ich noch nicht genau!« Vivian ließ sich Feuer geben, blies den Rauch durch die Nase. »Aber irgend etwas wird mir schon einfallen.«

Henry Horn hatte sich selber eine Zigarette angesteckt, ließ sein Etui offen auf dem Tisch liegen. »Davon bin ich überzeugt.« Er nahm einen Schluck Cognac. »Ich bin weit entfernt, mir ein Urteil über deine Einstellung anzumaßen, aber du wirst mir wenigstens erlauben, daß ich mich wundere …«

»Worüber?«

»Nun, ich hatte dich bisher immer für eine sehr selbständige, vernünftige junge Frau gehalten — eher kalt als heiß, möchte ich sagen. Ich wäre nie im Traum darauf gekommen, daß du darauf aus warst, diesen jungen Rechtsanwalt einzufangen.«

Sie hob die sorgfältig ausrasierten Augenbrauen. »Du sprichst von einfangen? Ich fürchte, wir reden verschiedene Sprachen.«

»Willst du etwa leugnen, daß du im Grunde genommen doch vorhattest, dich von ihm heiraten zu lassen?«

Sie blähte verächtlich die Nasenflügel. »Was für eine absurde Idee! Traust du mir so eine Geschmacklosigkeit etwa allen Ernstes zu?«

»Geschmacklos könnte ich diesen Wunsch eigentlich gar nicht finden. Höchstens natürlich. Ihr Frauen seid doch alle darauf aus, Nestchen zu bauen. Früher oder später überkommt es jede.«

»Tut mir leid, mein Lieber!« Vivian streifte mit einer unbeherrschten Bewegung die Asche ihrer Zigarette ab. »Du hast völlig danebengetippt. Was mich mit Thomas Miller verbunden hat, war nichts als eine gute Freundschaft!«

»Na, na, na!« sagte er ironisch.

Sie sah ihn herausfordernd an. »Mit allen Konsequenzen versteht sich. Er war nicht der erste Mann in meinem Leben, und ich hatte niemals damit gerechnet, daß er der letzte sein würde.«

»Wenn die Dinge so stehen … weshalb regst du dich dann so über seine Heirat auf?«

»Das habe ich dir schon einmal gesagt … weil ich es nicht liebe, abgeschoben zu werden. Du kannst dir nicht vorstellen, wie er sich mir gegenüber benommen hat, nein, du kannst es nicht. Er fuhr in diesem Frühsommer nach Garmisch in Urlaub wir hatten eigentlich gemeinsam verreisen wollen, aber dann mußte ich zu dieser Modereportage nach Palm Beach. Wir trennten uns in bestem Einvernehmen … ohne Streit, ohne Spannungen, ohne die Spur einer Entfremdung … und dann, als ich zurückkam, eröffnete er mir ganz kalt, daß es aus zwischen uns sein müßte! Nun sag einmal selber …«

»Scheußlich für dich«, erklärte er, aber sein Mitgefühl klang nicht ganz echt. »Ich nehme an, du hast ihm daraufhin eine Szene gemacht, daß die Wände wackelten.«

Ihre schillernden Augen verengten sich. »Du kennst mich schlecht, Henry, verdammt schlecht. Ich bin völlig ruhig geblieben, habe seine Eröffnung hingenommen, ohne mit der Wimper zu zucken.«

»Bravo! Ein Meisterstück!«

»Wieso?!« Sie zuckte die schönen Schultern. »Ich habe noch niemals versucht, einen Mann mit Kampf an mich zu fesseln. Reisende soll man nicht aufhalten, das war von jeher meine Devise.«

Er ließ sich nicht täuschen. »Aber du warst überzeugt, er würde zurückkommen?«

»Ja«, gestand sie nach einem kleinen Zögern.

»Und dann? Weiter? Hör mal, diese Geschichte ist unerhört spannend, ich merke, daß man immer noch was dazu lernen kann.«

»Dann erfuhr ich, daß ein Kind dahinter steckte …«

»Ein Kind?«

»Na, eben dieses Mädchen, das er heute geheiratet hat. Sechzehn oder siebzehn Jahre alt, Schülerin. Er hat die Kleine in seinem Urlaub in Garmisch kennengelernt … hältst du so etwas für menschenmöglich?«

»Es überrascht mich«, sagte er augenzwinkernd, »aber daß es möglich war, beweist ja, daß es geschehen ist!«

»Hör auf mit deinen Spitzfindigkeiten. Das weiß ich natürlich auch. Aber es ist unglaublich, einfach unausdenkbar …. mich wegen eines Teenagers abzuschieben!«

»Da hättest du eigentlich früher kommen müssen. Ist das alles nicht jetzt schon zu spät? Du scheinst zu übersehen, daß die beiden inzwischen verheiratet sind!«

»Na, wenn schon«, erklärte Vivian Geron mit einem bösen Lächeln. »Schließlich kann man sich scheiden lassen!«

Frau Miller saß im Wohnzimmer der kleinen Düsseldorfer Neubauwohnung, eine elegante zierliche Frau, mit sorgfältig zurechtgemachtem Gesicht und wohl frisiertem, bläulich getöntem Haar. Sie hielt ein Buch in den Händen, aber sie las nicht, sondern starrte durch das Fenster in den verdämmernden Tag hinaus.

Ihre Gedanken waren weit fort, bei Thomas, ihrem Sohn, den sie heute für immer verloren hatte.

Als ihre Tochter ins Zimmer trat, zuckte sie zusammen, wie ertappt.

Angela war mit zwei Schritten mitten im Raum, knipste die Stehlampe an, die das Zimmer sofort mit goldenem Licht überflutete. »Aber, Mama«, sagte sie, »warum sitzt du denn im Dunkeln? Du wirst dir die Augen verderben!«

»Meine Augen sind immer noch sehr gut«, erwiderte Frau Miller, gereizt über die unerwünschte Störung.

Angela sah die Mutter halb mitleidig, halb bewundernd an. »Aber daran zweifle ich ja gar nicht, Mama.«

»Dann mach mir, bitte, auch nicht dauernd Vorhaltungen!«

»Dauernd? Nur weil ich mir zu sagen erlaubte …« Angela unterbrach sich. »Schon gut, Mama, entschuldige. Ich weiß, du hast heute einen schweren Tag.«

Angela ging zum Fenster, zog die Vorhänge zu. Sie war eine schlanke, sehr sportliche Frau mit breiten Schultern, kräftigen, aber außerordentlich gepflegten Händen, denen man die Arbeit in Haushalt und Küche nicht ansah. Sie trug das starke braune Haar jungenhaft kurz geschnitten, und die Tatsache, daß sie zu Hause fast ständig in Hosen ging — grade jetzt mit einem bunten schwedischen Cocktailschürzchen vorgebunden — betonte noch die sehr sachliche und selbstbewußte Art ihres Auftretens.

»Ich werde uns jetzt einen Tee aufbrühen, Mama«, sagte sie mit gewollter Unbefangenheit. »Oder möchtest du lieber einen Cocktail?«

»Danke. Sehr lieb von dir. Aber ich werde mich jetzt zurückziehen.«

Angela blieb vor ihrer Mutter stehen. »Warum denn das?«

»Weil dein Mann gleich nach Hause kommt.«

»Na und? Deshalb brauchst du doch nicht zu fliehen. Schließlich bist du ja jetzt hier zu Hause.«

»Nett, daß du das sagst. Aber dein Mann …«

»Hans ist abgespannt, wenn er heimkommt. Das ist doch klar. Er will erst mal seine Ruhe haben, nichts weiter. Glaubst du, er hat mir gegenüber sonst den glänzenden Gesellschafter gespielt? Du erwartest zuviel von den Menschen, Mama, das ist dein Fehler.«

»Er scheint eine seltsame Auffassung von Ruhe zu haben. Das Indianergeheul deiner Kinder läßt ihn jedenfalls immer völlig ungerührt.«

»Aber er freut sich doch, sie zu sehen. Und wenn sie ein bißchen laut sind … du lieber Gott, Kinder sind nun einmal so. Waren Thomas und ich etwa anders?«

»Ja, Angela. Ihr wart von klein auf gut erzogen.«

»Danke«, sagte Angela und versuchte ihr Unbehagen mit eninem Lachen abzuschütteln. »Ich sehe, du bist wieder einmal in deiner liebenswürdigsten Laune. Ich könnte dir jetzt sagen, daß die Erinnerung dir einen Streich spielt … aber wozu? Ich bitte dich für meine unmögliche Familie um Entschuldigung. Mehr kann ich leider nicht tun.«

Frau Miller erhob sich mit steinernem Gesicht und wollte zur Tür.

Angela lief ihr nach, legte den Arm um ihre Schulter. »Mama, bitte, wollen wir nicht versuchen uns zu vertragen? Ich weiß ja, du meinst es gar nicht so. Es bedrückt dich, daß Thomas heiratet und du nicht dabei bist!«

»Unsinn«, sagte Frau Miller scharf, »daran habe ich nicht einmal gedacht!«

»Aber, Mama, warum versuchst du denn, mir etwas vorzumachen? Thomas war immer dein Lieblingssohn, und er hat so an dir gehangen. Da ist es doch geradezu unnatürlich, daß du ausgerechnet an diesem Tag nicht bei ihm bist.«

»Meine Anwesenheit würde bedeuten, daß ich diese völlig undiskutable Verbindung gutheiße. Und das werde ich niemals tun. Nicht heute und nicht morgen und auch nicht auf dem Sterbebett.«

Angela sah ihre Mutter ganz erschrocken an. »Wie kannst du nur so unerbittlich sein!«

»Thomas weiß genau, welch schweres Leid er mir mit diesem Schritt zugefügt hat«, sagte die alte Frau starrsinnig.

»Unsinn! Er hat einfach das getan, was jeder junge Mann eines Tages tut. Oder hattest du etwa erwartet, er würde immer dein kleiner Junge bleiben? Du mußtest doch damit rechnen, daß er früher oder später heiraten würde.«

»Aber nicht, ohne mir seine Braut wenigstens vorher vorzustellen.«

»Als wenn er das nicht gewollt hätte! Du warst es ja, Mama, die sich geweigert hat …«

»Stimmt. Ja. Ich habe mich geweigert, ein Schulmädchen als Schwiegertochter zu akzeptieren. Willst du mir daraus etwa einen Vorwurf machen? Thomas hat sich von mir losgesagt, als er sich für dieses Kind und gegen seine eigene Mutter entschied!«

»Was für Ideen! Thomas wollte dich bestimmt nicht kränken. Wahrscheinlich hat er sogar gehofft, du würdest nett zu Gina sein, dich mit ihr verstehen …«

»Ich?! Mit diesem verdorbenen Ding?«

»Verdorben?« sagte Angela, ehrlich erstaunt. »Wie kommst du denn darauf?«

»Zumindest frühreif. Eine Siebzehnjährige, die es fertig bringt, einen erwachsenen Mann einzufangen, ihn gegen seine Mutter aufzuhetzen, kann nichts taugen.«

»Ich hätte niemals gedacht, daß du dich so an Vorurteile klammern würdest, Mama. Schön, Gina ist siebzehn. Aber was besagt das schon? In drei Jahren ist sie zwanzig. Kommt es wirklich darauf an? Du hättest sie dir wenigstens einmal ansehen sollen. Wahrscheinlich ist sie reizend … sicher ist sie das, sonst hätte Thomas sie doch niemals geheiratet.«

»Es sind nicht die besten Frauen, die am schnellsten geheiratet werden, Angela. Thomas ist viel zu gut. Er kennt die Welt nicht …«

»Als Rechtsanwalt?« warf Angela ein.

»Jedenfalls nicht die Frauen«, sagte Frau Miller hitzig. »Er war ihren Tricks noch nie gewachsen. Versuch nicht, mich umzustimmen, Angela. Ich weiß Bescheid. Diese Ehe ist ein schreckliches Unglück. Nicht nur für mich … ich bin eine alte Frau, auf mich kommt es ja nicht mehr an. Aber für Thomas. Dieses Mädchen wird ihn zugrunde richten, wenn er sich nicht rechtzeitig von ihr löst.«

Angela mußte plötzlich lachen. »Jetzt weiß ich, was mit dir los ist, Mama! Hans hat doch mal wieder recht gehabt … du bist einfach eifersüchtig!«

Wortlos, mit hocherhobenem Kopf, verließ Frau Miller das Zimmer.

Gina und Thomas konnten bei der Hochzeitstafel kaum einen Bissen hinunterbringen.

Gina war viel zu aufgeregt. Ihre Wangen glühten wie im Fieber. Thomas mußte sie immerzu anschaun.

Sie war eine wunderschöne Braut. Das Oberteil ihres schneeweißen Spitzenkleides war ganz eng gearbeitet, der Rock fiel in zahllosen Falten nach unten weit auseinander. Ein Krönchen hielt den kleinen Schleier auf ihrem ungebärdigen hellen Haar, die klaren grauen Augen strahlten.

Thomas hätte sie am liebsten vor allen Leuten in die Arme genommen. Aber das war unmöglich. Er begann ungeduldig zu werden. Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr auf all die Reden und Glückwünsche konzentrieren, die auf ihn einprasselten, hatte nur den einen Wunsch, mit seiner jungen Frau allein zu sein.

Aber er mußte sich bis zum Abend gedulden. Dann erst, als die Musiker auf dem kleinen Podium Platz genommen und Gina und Thomas mit einem langsamen Walzer den Tanz eröffnet hatten, winkte Dr. Lowitzer ihnen verstohlen zu. Thomas nahm Gina bei der Hand und zog sie rasch durch eine Seitentür ins Treppenhaus.

In einem der oberen Gastzimmer hatte Gina schon ihr Tweedkostüm für die Reise zurecht gelegt. Rasch zog sie sich mit Hilfe ihrer Mutter um, während Thomas nur einen sportlichen Mantel über den Smoking warf. Frau Lowitzer weinte, als sie sich mit Küssen von ihrer Tochter verabschiedete.

»Aber, Mutti«, sagte Gina, »du tust grade so, als ob mir etwas Schreckliches bevorstünde! Ich habe doch nur geheiratet, da ist doch nichts dabei! Ich bin glücklich … so glücklich wie noch nie!«

»Bleib es, mein Liebling«, schluchzte Frau Lowitzer, »ach, ich wünsche dir so sehr, daß du es immer bleibst!«

»Puh«, sagte Gina unsentimental, als sie endlich neben Thomas im Fond von Dr. Lowitzers Auto saß, »das hätten wir geschafft!«

Aber die Flucht war doch nicht ganz gelungen. Die Hochzeitsgäste hatten den plötzlichen Aufbruch bemerkt, jetzt stürmten sie ins Freie, jubelten, riefen Scherzworte, ließen Konfetti und Reiskörner über das Auto rieseln.

»Bitte, Vati, fahr zu!« rief Gina.

Dr. Lowitzer ließ den Motor an, wendete den Wagen.

Hanna kam ganz dicht an das Fenster, rief: »Den Brautstrauß … bitte, Gina, bitte!«

Gina zögerte. Es fiel ihr schwer, sich von dem Bukett blutroter, eben erblühter Rosen zu trennen. Aber da griff Thomas schon über sie hinweg, kurbelte das Fenster nieder.

»Wirf ihn hinaus, Gina«, flüsterte er, »sonst kommen wir nie hier weg. Wirf ihn so weit wie möglich!«

Mit Schwung warf Gina den Strauß in die lärmende Gesellschaft hinein, sie sah nicht mehr, wer ihn auffing, denn jetzt hatte das Auto Fahrt gewonnen und brauste davon.

Wolfi, der vorne, neben dem Vater saß, bog sich vor Lachen, er konnte sich gar nicht wieder beruhigen.

»Warum lachst du so blöd!« fuhr ihn sein Vater an. »Hast du etwa zuviel getrunken?«

Wolfi verstummte schlagartig, kroch ganz in sich zusammen.

Gina kannte ihren Bruder. Sie beugte sich vor, legte sanft ihre schmale Hand auf seine Schulter. »Warum hast du so gelacht, Wolfi? Weil sie wissen wollten, wer die nächste Braut ist?«

Wolfi schüttelte den Kopf.

»Also sag’s schon … mach es nicht so geheimnisvoll!«

»Wenn du es unbedingt wissen willst«, sagte er und fing unvermittelt wieder an zu prusten, »sie haben ein Schild hinten an den Wagen gemacht … ›Eben geheiratet‹!«

»Typisch«, sagte Dr. Lowitzer, »ich werde gleich anhalten und es abmontieren.«

»Warum?« fragte Gina. »Das stört doch nicht!«

»Aber, Gina!« Thomas Miller legte den Arm um seine junge Frau. »Möchtest du wirklich, daß alle Leute uns nachstarren?«

»Natürlich nicht«, murmelte Gina, aber sie fühlte plötzlich, wie sich Enttäuschung, fast Trauer auf ihr Herz legte. Der wunderschöne Tag war schnell, viel zu schnell vorbei gewesen. Warum hatte es nicht noch ein ganz klein bißchen länger dauern können?

Eine Stunde später stand sie am geöffneten Fenster ihres Schlafwagenabteils, beide Arme voller Blumen, und lächelte unter Tränen ihrem Vater und ihrem jüngeren Bruder zu, die auf dem Bahnsteig standen und zu ihr hinaufblickten.

»Denk an mein Moped!« schrie Wolfi.

Der Vater warf ihm einen Blick zu, unter dem er verstummte.

Dann setzte sich der Zug in Bewegung.

Gina ließ die Blumen auf das untere Bett gleiten, winkte mit ihrem Taschentuch hinaus, bis Thomas sie in die Arme nahm und das Fenster schloß.

Er holte tief Atem und sah lächelnd auf sie nieder. »So«, sagte er, »endlich ist’s überstanden. Weißt du eigentlich selber, warum du weinst?«

»Ich … weil …« stammelte sie, »ich glaube, weil ich so durcheinander bin!«

Er tupfte ihr behutsam mit seinem blütenweißen Taschentuch die Tränen aus den Augen, bevor er sie küßte.

Sie merkten nicht, wie die Türe des Schlafwagenabteils geöffnet wurde.

Erst als eine beherrschte Stimme sagte: »Oh, Entschuldigung, es tut mir leid, wenn ich gestört habe …« fuhren sie auseinander.

Eine junge Frau in tadellos sitzendem moosgrünen Kostüm hatte die Tür hinter sich zugezogen und machte, im Gegensatz zu ihren Worten, keine Anstalten, sie allein zu lassen.

»Vivian … du!?« sagte Thomas verstört.

Die junge Frau blieb ganz kühl. »Ein seltsamer Zufall, nicht wahr?« sagte sie. »Du fährst auch nach Rom? Wie nett. Aber warum machst du mich nicht mit deiner Begleiterin bekannt?«

»Vivian Geron«, sagte Thomas steif, »Gina, meine Frau …«

»Ah, das freut mich!« Vivian Geron streckte Gina die Hand mit den spitzen orangerot lackierten Nägeln entgegen. »Sie sind also das Wunderkind, das es fertig gebracht hat, unseren Thomas zum Altar zu schleppen?!«

»Vivian!« sagte Thomas scharf.

Gina hatte benommen den fast schmerzhaft kräftigen Händedruck der anderen erwidert.

»Na, ist es etwa nicht wahr?« rief Vivian mit gespielter Unbefangenheit. »Hast du mir nicht selber gesagt, daß die Kleine dich einfach nicht losläßt? Daß du keine Möglichkeit siehst, dich zurückzuziehen?«

»Das ist nicht wahr!« rief Gina empört.

»Aber warum regen Sie sich auf, Kind?« sagte Vivian zuckersüß. »Es ist doch keine Schande, einen Mann zu kapern … im Gegenteil, es gehört einige Geschicklichkeit dazu. Sie haben das wirklich ausgezeichnet gemacht.«

»Vivian«, sagte Thomas, weiß bis an die Lippen, »wenn du jetzt nicht sofort den Mund hältst …«

»Oh!« Vivian tat erschrocken, »Habe ich aus der Schule geplaudert? Entschuldige, Thomas … verzeihen Sie mir, Frau Miller! Ich hätte daran denken sollen, daß ihr noch in dem Stadium seid, wo man sich gegenseitig etwas vormacht … aber besser wäre es schon, ihr würdet anfangen, der Wahrheit ins Auge zu sehen!«

Thomas trat dicht auf Vivian Geron zu. »Hinaus!« brüllte er.

Gina stieß ihn fast zur Seite. »Bleiben Sie nur!« rief sie mit blitzenden Augen. »Jetzt will ich es genau wissen! Was hat Thomas über mich erzählt? Wer sind Sie überhaupt? Wie stehen Sie zu Thomas? Was …?«

»Aber, Kindchen, warum denn so aufgeregt? Lassen Sie sich das alles von unserem Thomas erklären. Er tut es bestimmt mit Vergnügen, wie ich ihn kenne … zartfühlend ist er ja nie besonders gewesen! Bye, bye!« Vivian schlüpfte lächelnd auf den Gang hinaus.

Thomas und Gina blieben allein zurück. Es war, als ob sie sich plötzlich mit anderen Augen sähen. Sie standen sich gegenüber wie zwei wildfremde Menschen.

In dieser Nacht, die ihre Hochzeitsnacht sein sollte, lag die junge Gina weinend auf ihrem schmalen Schlafwagenbett.

Der D-Zug ratterte durch die nächtliche Landschaft. Wälder und Berge, vom Mondlicht scharf umrissen, erleuchtete Dörfer, Bahnwärterstationen sausten an dem unverhängten Fenster vorüber.

Gina achtete nicht darauf. Sie spürte nur ihren Schmerz und ihre grenzenlose Enttäuschung.

Thomas, der im Oberbett lag, warf sich unruhig von der einen zur anderen Seite. Sie hoffte inständig, daß er wenigstens zu ihr herunterschauen würde. Aber nichts dergleichen geschah. Ganz im Gegenteil, ihr schien es, als wenn die Atemzüge ihres Mannes allmählich tiefer und gleichmäßiger würden.

War er etwa im Begriff einzuschlafen?

Ginas Tränen versiegten. Sie setzte sich kerzengerade im Bett hoch, stieß sich den Kopf und schrie leise auf — ihr Verdacht verstärkte sich, Thomas reagierte in keiner Weise.

Sie konnte es nicht fassen. Er schlief? Nein, das war einfach nicht möglich, das war ausgeschlossen nach allem, was geschehen war!

Sie hatten den ersten Streit in ihrer jungen Ehe gehabt, einen wilden unvernünftigen verbitterten Streit, bei dem sie sich unverantwortliche Dinge an den Kopf geworfen hatten. — »Du bist ein völlig hirnloses Geschöpf!« — hatte er gebrüllt, und sie, sie hatte gesagt: »Ich bereue, daß ich dich geheiratet habe!«

Eine Welt war für sie zusammengestürzt — und er, er sollte trotz allem schlafen können?

Behutsam schwang Gina die Beine aus dem Bett, kletterte ein paar Sprossen auf der kleinen Leiter nach oben.

Im blauen Licht der Nachtlampe war sein Gesicht deutlich zu erkennen. Er hatte die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet — schlief er wirklich?

Das schwarze Haar, das er tagsüber immer streng zurückgebürstet trug, hatte sich gelöst und fiel ihm in wirren Locken in die Stirn. Er sah aus wie ein kleiner Junge, ein geliebter kleiner Junge, und ohne daß Gina recht begriff, was in ihr vorging, beugte sie sich über ihn und drückte ihm einen zarten Kuß auf den Mund.

Sie war überrascht, aber gar nicht erschrocken, als sich seine starken Arme um sie schlangen.

»Gibst du zu, daß du dich schlecht benommen hast?« flüsterte er, ganz nahe an ihrem Ohr.

»Ja«, hauchte sie, »ja …« Aber dann, um ihre Unterwerfung nicht vollständig zu machen, fügte sie rasch hinzu: »Du aber auch.«

»Ich weiß«, sagte er, »bitte, verzeih mir.«

»Ach, Thomas«, sagte sie erleichtert, »ich bin froh, daß wir uns wieder versöhnt haben! Ich dachte schon …«

»Sprich nicht soviel. Komm unter die Decke. Du bist ja ganz kalt.«

»Thomas«, sagte sie und kuschelte sich eng in seine Arme, »bitte, sei ehrlich … ist es wahr?«

»Was meinst du?«

»Das mit Vivian? War sie wirklich deine …« Sie scheute sich, das Wort auszusprechen, »deine … na, du weißt schon was.«

»Wir waren gut befreundet.«

»Nicht mehr?«

»Bitte, Gina, hör auf damit! Du bist einfach zu jung, um solche Dinge richtig zu verstehen.«

»Zu jung? Ich bin verheiratet … ich bin deine Frau!«

»Was auch immer mit Vivian war«, sagte er, »es hat mit dir nichts zu tun. Es hat aufgehört, als ich dich kennen lernte.«

»Und vorher? Hast du sie geliebt?«

Er zögerte mit der Antwort, nur den Bruchteil einer Sekunde, aber sie merkte es doch. »Nein«, sagte er dann, »nein … geliebt habe ich sie nicht. Sie war … ein guter Kamerad, eine der Frauen, mit denen man Pferde stehlen kann … die nichts verlangen, aber immer bereit sind zu geben. Jedenfalls bis zum heutigen Abend habe ich geglaubt, daß sie so war. Niemals hätte ich ihr die Geschmacklosigkeit zugetraut, in unser Abteil einzudringen.«

»Wußte sie, daß du heiraten wolltest?«

Er drehte sich auf die Seite, was in dem schmalen Bett gar nicht so einfach war. »Natürlich. Ich habe es ihr geschrieben. Aber nun kein Wort mehr davon. Ich wünsche, daß du den Namen Vivian nie wieder erwähnst.«

Zum erstenmal wurde sie sich seiner männlichen Nähe voll bewußt, und ihre Stimme klang plötzlich unsicher, als sie fragte: »Wovon soll ich denn reden?«

»Überhaupt nicht«, sagte er, und dann spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund, zärtlich, drängend, fordernd.

Sie versuchte noch einmal, sich aus seiner Umarmung zu befreien, aber dann vergaß sie alles über seiner zärtlichen Leidenschaft, über ihrer eigenen aufflammenden Liebe.

Erst viel später fragte sie: »Thomas, ganz ehrlich … wenn ich nun nicht zu dir heraufgekommen wäre? Was hättest du getan?«

Er lächelte in die Dunkelheit hinein. »Ich wäre hinuntergestiegen was denn sonst? Glaubst du, ich hätte dich unversöhnt einschlafen lassen? Ausgerechnet auf unserer Hochzeitsreise?«

»Bitte, Thomas«, sagte sie und bedeckte sein Gesicht mit kleinen zärtlichen Küssen, »bitte, tu es nie! Willst du mir das versprechen? Auch wenn wir uns noch einmal zanken sollten … bitte, laß uns nie zerstritten schlafengehen. Ich … ich könnte es nicht vertragen. Ich liebe dich viel zu sehr.«

Sie trafen am frühen Nachmittag des nächsten Tages auf dem Bahnhof Termini in Rom ein.

Thomas Miller hatte ein Doppelzimmer mit Bad im Hotel »Colomba« bestellt, das auf einer der Prachtstraßen zwischen Petersplatz und Tiber liegt. Sie fuhren mit einem Taxi hin, packten gemeinsam ihre Koffer aus, begannen sich umzuziehen.

Gina war noch dabei, die vielen Kleinigkeiten — Nähzeug und Kopfwehtabletten, Fleckenpaste, Kleiderbürste und Reiselektüre — einzordnen, als das Telefon klingelte.

Sie zögerte, den Anruf entgegenzunehmen, denn sie fürchtete sich, am Telefon italienisch sprechen zu müssen.

»Thomas«, rief sie, »das Telefon!«

Es klingelte wieder.

»Geh du ′ran«, sagte er undeutlich.

Sie nahm den Hörer ab, sagte unsicher: »Hallo!«

Niemand meldete sich. Aber es war auch kein Freizeichen in der Leitung.

»Hallo«, sagte Gina, und noch einmal, seltsam beunruhigt: »Hallo!«

Es kam keine Antwort, aber es war ihr, als hörte sie fremde Atemzüge. Dann gab es ein leises Knacken, und die Leitung war tot.

Gina runzelte die glatte Stirn und hängte ein.

»Wer war es?« rief Thomas vom Badezimmer herüber.

»Niemand.«

»Na, dafür hat es aber reichlich lang gedauert.«

Gina trat in die Verbindungstüre. »Ich hatte gehofft, der Anrufer würde sich doch noch melden … es war jemand in der Leitung, ganz bestimmt.«

»Ach, Unsinn«, sagte er, »wer sollte denn …!?« Er brach ab, sagte unbehaglich: »Wir sind beide nicht richtig ausgeschlafen. In so einem Zustand bildet man sich die merkwürdigsten Dinge ein.« Er stöpselte seinen elektrischen Rasierapparat aus, begann ihn zu säubern.

Sie war nahe daran gewesen, den Namen, an den sie beide dachten, auszusprechen. Aber sie wollte sich und ihm den ersten Tag in Rom nicht verderben. Deshalb sagte sie nur: »Vielleicht hast du recht …«

Zehn Minuten später fuhr Thomas Miller mit dem Lift hinunter. Gina hatte noch ein Bad nehmen und sich umziehen wollen.

Als er die kühle, marmorverkleidete Halle betrat, sah er Vivian Geron. Obwohl er es fast erwartet hatte, traf es ihn wie ein Schlag.

Sie saß in einem der tiefen Ledersessel, die schlanken Beine übereinandergeschlagen, und blickte ihm mit einem ironischen Augenbrauenzucken entgegen. Sie wirkte sehr elegant in einem Kleid von matter, grauer Seide, schwarzem großen Hut und dreireihiger schwarzer Perlenkette.

Thomas Miller wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Er versuchte, mit flüchtigem Gruß an ihr vorüber zu gehen.

Aber sie winkte ihm mit einem kleinen Lächeln zu sich heran, rief gedämpft, aber doch laut genug, daß die anderen Gäste in der Halle es hören konnten: »Hallo, Thomas … wie nett, dich hier zu sehen.«

Wohl oder übel mußte er zu ihr treten.

Sie reichte ihm die schmale, sehr gepflegte Hand mit den langen, perlmutt getönten Fingernägeln. »Setz dich doch … oder hast du es eilig?«

Er berührte ihre Hand so flüchtig, als ob er fürchtete, sich zu verbrennen. »Vivian, was soll das! Meine Frau kann jeden Augenblick herunter kommen.«

»Oh, nein, das glaube ich nicht. Auf der Hochzeitsreise braucht man besonders viel Zeit, um sich schön zu machen.«

»Was willst du von mir?«

»Wenn du dich setzen würdest, könnte ich es dir leichter erklären.«

Er machte keine Anstalten, ihrer Aufforderung zu folgen. »Also warst du es wirklich, die eben angerufen hat«, sagte er, »was versprichst du dir von diesen kindischen Mätzchen?«

»War es nicht sehr taktvoll von mir?« fragte sie. »Daß ich meinen Namen nicht genannt habe? Es hätte deiner jungen Frau vielleicht die Laune verderben können.«

»Taktvoll wäre es, wenn du mich und Gina in Ruhe ließest.«

»Ich verstehe, daß du ärgerlich bist«, sagte sie sanft und holte ein Zigarettenpäckchen aus ihrer schwarzen Krokodillederhandtasche, »ich gebe zu, ich habe mich gestern im Schlafwagen unverzeihlich gehenlassen.« Sie klopfte eine Zigarette auf, und als er sich nicht rührte, ließ sie ihr eigenes Feuerzeug aufflammen. »Es tut mir ehrlich leid«, sagte sie und nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, »könntest du nicht versuchen, es zu vergessen?«

»Schon geschehen«, sagte er kühl, »sonst noch was?«

»Ich hatte es nicht vorgehabt«, sagte sie, »ganz bestimmt nicht. Es kam einfach über mich. Als ich dich und deine junge Frau in Rosenheim einsteigen sah … das glücklichste junge Hochzeitspaar … ich war einfach außer mir. Ich wußte nicht mehr, was ich tat.«

»Ich hatte dir geschrieben, daß ich heiraten würde.«

»Sicher. Aber es ist eben doch ein Unterschied … ob etwas auf dem Papier steht, oder ob man es mit eigenen Augen sieht.«

»Warum machst du dir Vorwürfe?« fragte er, »jeder kann mal die Nerven verlieren … Hauptsache, wenn es bei dem einen Mal bleibt.« Er sah unruhig zum Lift, glaubte, jeden Augenblick Gina in die Halle treten zu sehen.

»Weißt du noch, wie wir beide in Rom waren?« fragte Vivian. »Erinnerst du dich an unsere zauberhaften Abende in Trastevere? Wie wir auf der Terrasse am Tiber getanzt haben!«

»Wenn ich geahnt hätte, daß du uns verfolgen würdest, hätte ich niemals daran gedacht, mit Gina nach Rom zu fahren.«

»Du irrst dich. Ich bin hier, um über die neue Kollektion von Schuberth zu schreiben.«

»Dann tu das«, sagte er brüsk, »und laß uns in Ruhe.« Er drehte sich um und ging zu der großen Schwingtüre, die auf die Straße führte.

»Thomas!« Sie kam ihm nach. »Thomas … ist dir meine Gegenwart denn wirklich so unangenehm?«

»Ja! Wenn du es genau wissen willst … ja, ja, ja! Was erwartest du denn von mir? Daß ich aufjubele, wenn du versuchst, meine Flitterwochen zu durchkreuzen? Aber du hast dich verrechnet. Ich liebe Gina, und ich werde sie nicht unglücklich machen lassen … auch von dir nicht. Wenn du es drauf anlegst, auch das letzte Fünkchen Gefühl, das ich noch für dich hatte, zu ersticken …«

Sie unterbrach ihn. »Weiß sie von mir?«

»Dafür hast du ja selber gesorgt.«

»Ich meine … weiß sie alles?«

»Daß wir befreundet waren … ja.«

»Warum ist es dir dann peinlich, wenn sie uns zusammensieht? Sie weiß, daß wir uns etwas bedeutet haben, und sie weiß auch, daß es aus ist. Was ist schon dabei, wenn wir uns zufällig in der Hotelhalle begegnen und ein paar Worte miteinander wechseln?«

»Warum mußt du mich so quälen?«

»Qual nennst du das? Hast du dir auch nur eine Sekunde überlegt, was ich durchgemacht habe?«

Er seufzte, »Vivian«, sagte er, »gut, zugegeben … vielleicht habe ich mich dir gegenüber wirklich nicht ganz korrekt benommen. Aber du kannst doch nicht leugnen, zwischen uns war von Heirat nie die Rede. Wie hätte ich ahnen können, daß meine Liebe zu Gina dich so umwerfen würde? Also, sei vernünftig! Du warst doch immer ein vernünftiges Mädchen … ich habe es Gina auch erzählt … eine, mit der man Pferde stehlen konnte. Es paßt gar nicht zu dir, daß du jetzt so ein Theater machst. Was versprichst du dir denn davon?«

»Ja, Vivian, das vernünftige Mädchen!« Sie zog eine Grimasse. »Wie sehr du dich täuschst. Wie sehr ihr alle euch getäuscht habt. Ich habe es satt, vernünftig zu sein. Alles habe ich mir mit meiner verdammten Vernunft verpatzt … alles!«

»Vivian«, sagte er, »bitte … sei wenigstens leise.« Er blickte über seine Schulter hinweg wieder einmal nervös zum Lift und — fuhr herum, als er Gina kommen sah.

Diesmal war sie es wirklich. Sie sah sehr jung und sehr bezaubernd aus in einem gerade geschnittenen weißen Kleid mit halblanger weißer Jacke. Das helle, schimmernde Haar fiel ihr in einer ungebärdigen Welle bis auf die Schultern, ihre klaren hechtgrauen Augen wirkten noch größer unter den sorgfältig nachgetuschten Wimpern, ihre nackten braunen Beine steckten in weißen, hochhackigen Riemchensandalen mit bleistiftdünnen Absätzen.

Einige Herren am Empfangstisch wandten sich ihr bewundernd zu, und eine Welle von Glück und zärtlichem Stolz durchflutete Thomas Millers Herz; für eine Sekunde vergaß er sogar Vivian an seiner Seite, die sich nicht von der Stelle rührte.

Noch hatte Gina sie nicht entdeckt. Sie sah sich suchend in der geräumigen Halle um.

»Verschwinde«, sagte er leise zu Vivian, »rasch, bevor sie dich sieht.«

»Ich denke nicht daran«, erwiderte Vivian Geron hart, »ich bin ja kein Verbrecher, daß ich mich verbergen müßte.«

Ohne ihr eine Antwort zu geben, ging er seiner Frau mit großen Schritten entgegen, küßte ihr zärtlich die Hand. »Gina«, sagte er, »du siehst wunderbar aus.«

Sie lächelte unbefangen. »Gefalle ich dir? Ein schickes Kleid, nicht wahr? Wenn ich die Jacke ausziehe …« Dann entdeckte sie Vivian, die langsam und sehr gelassen auf sie zukam, und stockte mitten im Satz.

Vivian trat zu ihnen.

Thomas Miller räusperte sich, überlegte, wie diese Situation am besten zu meistern war, entschloß sich, den Stier bei den Hörnern zu nehmen. »Fräulein Geron möchte sich bei dir entschuldigen, Gina«, sagte er, »es tut ihr leid, daß sie sich gestern abend im Schlafwagen so aufgeführt hat … das war es doch, was du auf dem Herzen hast, Vivian, nicht wahr?«

Sie lächelte kühl. »Das und einiges mehr.« Sie reichte Gina die Hand. »Aber auf gewisse Weise hat unser Thomas recht«, sagte sie, »ich möchte mich wirklich wegen gestern abend entschuldigen.«

Gina nahm die Hand der anderen nicht entgegen, ihr Gesicht war ganz unbewegt, sie sagte kein Wort.

Vivian zog die dunklen, sorgfältig ausgezupften Augenbrauen zusammen. »Es tut mir leid, mehr kann ich nicht sagen … oder verlangen Sie etwa, daß ich einen Kniefall vor Ihnen mache?«

»Vivian«, sagte Thomas, »bitte …«

Jetzt öffnete Gina den Mund. »Was Sie tun und lassen, ist mir gänzlich gleichgültig«, sagte sie mühsam, »auch was Sie vor meiner Ehe mit Thomas gehabt haben. Es ist jetzt vorbei, bilden Sie sich nur nichts darauf ein. Es ist aus. Für immer.«

»Großartig, daß Sie so denken«, sagte Vivian mit gespielter Begeisterung, »natürlich. Sie haben vollkommen recht. Ich bin sehr froh darüber. Ziehen wir einen dicken Strich unter die Vergangenheit. Nichts hindert uns also daran, gute Freunde zu werden … alle drei. Ist das nicht wunderbar?«

Thomas riß das Gespräch an sich. »Wir würden deinen Enthusiasmus gerne teilen, Vivian, aber wir haben heute noch einiges vor. Ich möchte Gina wenigstens noch ein Stückchen von Rom zeigen.«

»Ach ja, natürlich, ich vergaß ganz … Sie waren sicher noch nie hier, Frau Miller? Thomas und ich …« Sie fing seinen warnenden Blick auf, verbesserte sich und sagte: »Thomas kennt Rom wie seine Westentasche. Sie können sich ganz auf ihn verlassen.«

»Das tue ich, Fräulein Geron«, sagte Gina mit erzwungener Ruhe, »und zwar in jeder Beziehung.«