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Es klingt fast zu gut um wahr zu sein - Polly wird ihr Hobby zum Beruf machen, und das in Cornwall, auf einer romantischen Insel mit Männerüberschuss. Genau die richtige Kur für ein leeres Konto und ein gebrochenes Herz. Aber die alte Bäckerei ist eine windschiefe Bruchbude, am Meer kann es sehr kühl sein, und der Empfang, den manche Insulaner ihr bereiten, ist noch viel kälter. Gut, dass Polly Neil hat, einen kleinen Papageientaucher mit gebrochenem Flügel. Doch bald kauft der halbe Ort heimlich ihr wunderbares selbstgebackenes Brot, und als sie Neil fliegen lassen soll, ist sie schon fast heimisch geworden. Nur das mit der Liebe gestaltet sich komplizierter als gedacht ...
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Für Anna-Marie Fourie,meine liebe Erstleserin und Freundin in weiterFerne, die das Warten auf die Heimkehr einesMenschen auf See nur zu gut kennt
Übersetzung aus dem Englischen von Sonja Hagemann
ISBN 978-3-8270-7864-3
Juni 2016
Deutschsprachige Ausgabe:
© 2015 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH,
München/Berlin
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Covermotiv: FinePic®, München
Datenkonvertierung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
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Ich wünscht, ich wär ein Fischersmann
Und wogte auf dem Meer,
Weit, so weit vom festen Land
Und seinen Sorgen schwer.
Ich würfe meine Angel aus
Mit Leidenschaft und Glut,
Kein Dach, das mir den Atem raubt,
Oben nur Sternenflut.
Und mit dir im Arm
Wär mir so leicht zumut – –
Juchhe!
Fisherman’s Blues
The Waterboys
Zu Schiff nun, liebe Mannen
Wir segeln vor Tagesschein
Da sprach ein alter Matrose:
»Sir Patrick, das kann nicht sein.
Ich hört’ in meiner Koje
Die Windsbraut, wie sie gelacht,
Und der neue Mond hielt den alten
Im Arme letzte Nacht.«
Sir Patrick Spens
Traditionelle Ballade aus dem vierzehnten Jahrhundert in der Nachdichtung von Theodor Fontane
Manchmal stellte Polly sich vor, wie sie es viele Jahre später, als alte Dame an einem weit entfernten Ort, schwierig fände, ihr Leben auf Mount Polbearne zu erklären. An manchen Tagen konnte man von dort mit dem Auto aufs Festland fahren, manchmal musste man aber das Boot nehmen. Gelegentlich waren die Menschen auch für längere Zeit vom Rest der Welt abgeschnitten, und es wusste niemand, wann das eintreffen würde und für wie lange. Der Gezeitenkalender konnte eben nur Ebbe und Flut vorhersagen, aber nicht das Wetter.
»Aber war das denn nicht fürchterlich?«, würde man sie fragen. »Zu wissen, dass es keine Verbindung zum Festland gab?«
Polly dachte dann daran, wie die Sonnenstrahlen auf dem Hochwasser glitzerten und schließlich ihre Farbe änderten. Dann leuchtete das Meer im Westen pink, rosa oder lila im Licht des Sonnenuntergangs. Bei diesem Anblick wurde einem klar, dass ein anderer Tag vorbeigezogen war und man weiterhin festsaß.
»Ehrlich gesagt nicht«, würde sie sagen. »Das war wirklich schön. Man musste es sich einfach nur mit den anderen Bewohnern von Polbearne gemütlich machen. Dann musste man halt aufpassen, dass man alles hochgestellt, außer Reichweite des Wassers gebracht hatte. Und wenn wir noch Strom hatten, war das natürlich super, aber wenn nicht, na ja, kam man auch irgendwie klar. Und dann flackerten hinter all den kleinen Fensterscheiben eben Kerzen. Das war so behaglich.«
»Das klingt wie vor hundert Jahren.«
Polly würde lächeln. »Ich weiß. Aber so lange ist das in Wirklichkeit noch gar nicht her … Mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen. Wenn man sein Herz an einen Ort verliert, dann trägt man ihn eben immer in sich.«
Polly blätterte die Papiere im glänzenden Ordner mit dem Foto eines Leuchtturms durch, das doch wirklich hübsch war. Sie versuchte eben mit aller Kraft, das Positive zu sehen.
Und die beiden Männer im Raum waren sympathisch, viel freundlicher als eigentlich nötig. Ehrlich gesagt waren sie so nett, dass es Polly dadurch merkwürdigerweise nicht besser, sondern eher schlechter ging. Statt wütend werden zu können oder eine Abwehrhaltung einzunehmen, war sie einfach nur traurig.
Chris und sie waren damals so stolz auf ihr kleines Büro im ehemaligen Bahnhof gewesen, in dessen hinterem Zimmer sie jetzt saßen. Der frühere Warteraum mit seinem nicht funktionierenden Kamin war einfach zauberhaft und schnuckelig.
Aber inzwischen herrschte in beiden Räumen das totale Chaos: Überall lagen Papiere und Ordner herum, Computer wurden hin und her geschoben, und die beiden reizenden Herren von der Bank gingen alles durch. Chris saß da und schmollte, er sah aus wie ein kleiner Junge, dem man sein Lieblingsspielzeug weggenommen hatte. Polly hingegen versuchte, sich nützlich zu machen, huschte hin und her, fing gelegentlich jedoch einen sarkastischen Blick von Chris auf, mit dem er zu sagen schien: »Warum bist du bloß so zuvorkommend zu diesen Typen, die uns doch fertigmachen wollen?« Und damit hatte er nicht ganz unrecht, aber sie konnte einfach nicht anders.
Später kam Polly dann in den Sinn, dass die Bank vermutlich aus gutem Grund so nette Angestellte schickte – um Konfrontationen und Streit zu vermeiden und damit die Leute kooperierten. Das machte sie traurig, ihretwegen und auch wegen Chris, aber genauso wegen dieser reizenden Männer, die von Berufs wegen den ganzen Tag mit dem Elend anderer Menschen zu tun hatten. Und das alles war doch wirklich nicht ihre Schuld, auch wenn Chris es natürlich so sah.
»Also«, erklärte nun der ältere der beiden Männer, ein Inder, der einen Turban trug und auf dessen Nasenspitze eine kleine Brille thronte. »Normalerweise werden Insolvenzverfahren vor dem Bezirksgericht verhandelt. Sie müssen dabei nicht beide anwesend sein, es reicht, wenn einer der Direktoren daran teilnimmt.«
Polly war beim Wort »Insolvenz« zusammengezuckt. Das hörte sich so ernst und endgültig an. Bankrott gingen doch normalerweise nur Promis und alberne Popstars, keine hart arbeitenden Menschen wie sie.
Chris schnaubte sarkastisch. »Das kannst ruhig du übernehmen«, sagte er zu Polly. »So was machst du doch gern.«
Mitfühlend sah der jüngere Mann Chris an. »Wir können uns natürlich gut vorstellen, wie schwierig das für Sie sein muss.«
»Wieso?«, fragte Chris. »Sind Sie etwa auch schon mal pleitegegangen?«
Polly starrte wieder den hübschen Leuchtturm an, aber das Bild hatte seine Wirkung leider verloren. Deshalb dachte sie lieber an etwas anderes und bewunderte jetzt Chris’ wunderbare Zeichnungen, die sie vor sieben Jahren bei ihrem Einzug hier aufgehängt hatten. Damals hatten sie beide sich als Mittzwanziger voller Enthusiasmus in das Abenteuer gestürzt, eine Firma für Grafikdesign zu gründen. Am Anfang war es gut gelaufen, Chris hatte aus seinem alten Job ein paar Kunden mitgebracht, und auf der kaufmännischen Seite hatte Polly unermüdlich geschuftet, Networking betrieben, neue Aufträge an Land gezogen und nicht nur Prospekte von Firmen an ihrem Wohnort Plymouth reingeholt, sondern ihren Wirkungskreis bis auf Exeter und Truro erweitert.
Sie investierten in Plymouth in eine Wohnung in einem neu erschlossenen Gebiet am Wasser, in ein minimalistisches und hochmodernes Apartment. Dann zeigten sie sich in all den Restaurants und Bars, in denen man gesehen werden musste. Und es lief gut – zumindest eine Zeit lang. Sie kamen sich wie echte Senkrechtstarter vor und erzählten den Leuten gerne von ihrer eigenen Firma. Aber dann kam 2008 nicht nur die Bankenkrise – neue Computertechnik machte es auch einfacher als je zuvor, Bilder zu bearbeiten und selbst grafisch zu arbeiten. Viele Unternehmen erteilten keine Aufträge mehr, weil sie Kosten senken wollten und Selbstständige einsparten. Chris zufolge ging damit die Qualität des Grafikdesigns den Bach runter, aber vieles wurde jetzt einfach von eigenem Personal erledigt. Es wurde gemacht, aber eben nicht mehr von ihnen.
Polly arbeitete sich die Finger wund. Ohne Unterlass pries sie die Arbeit ihrer talentierten besseren Hälfte an, lockte mit Rabatten und brachte Aufträge rein. Chris hingegen zog sich völlig in sein Schneckenhaus zurück und pflegte seinen Groll gegen eine Welt, die seine wunderbaren Zeichnungen und handgemalten Schriftzüge verschmähte. Während er bockig und schweigsam wurde, versuchte Polly, dem mit einer positiven Einstellung entgegenzuwirken. Es war jedoch gar nicht so einfach, das durchzuhalten.
Irgendwann hatte dann selbst sie ihn angefleht, die Firma aufzugeben und sich anderswo einen Job zu suchen. Damals hatte sie sich von ihm anhören müssen, dass sie nicht zu ihm hielt und gegen ihn intrigierte.
Das war schon ein Weilchen her, aber trotzdem wollte Polly nicht einmal sich selbst eingestehen, wie erleichtert sie war, dass nun endlich alles vorbei war. Natürlich war das Ganze nicht angenehm, vielmehr ganz furchtbar und peinlich. Dabei ging es schließlich vielen Leuten so, die mit ihnen früher durch die Bars in Plymouths trendigem Zentrum gezogen waren. Jeder kannte irgendwen, der dasselbe durchgemacht hatte.
Pollys Mutter hingegen konnte das alles gar nicht verstehen, für sie kam eine Insolvenz quasi einem Aufenthalt im Knast gleich.
Sie würden die Wohnung verkaufen und noch einmal ganz von vorn anfangen müssen. Aber dieser Besuch von Mr Gardner und Mr Bassi von der Bank bedeutete zumindest, dass endlich etwas passierte und jetzt alles geregelt wurde. Die letzten zwei Jahre waren sowohl in beruflicher als auch in persönlicher Hinsicht elend und entmutigend gewesen. Die ganze Sache hatte ihre Beziehung auf eine harte Probe gestellt. Eigentlich waren sie fast zwei Leute geworden, die sich eher unfreiwillig eine Wohnung teilten. Polly fühlte sich völlig ausgelaugt.
Als sie nun zu Chris rübersah, bemerkte sie in seinem Gesicht Falten, die ihr vorher noch nie aufgefallen waren. Andererseits musste sie sich auch eingestehen, dass sie ihn schon länger nicht mehr richtig angesehen hatte. Sie war immer als Erste nach Hause gegangen, während er noch im Büro geblieben war und stundenlang an den wenigen Aufträgen gefeilt hatte, als könnte er durch Perfektionismus das Unausweichliche abwenden. Wenn er dann heimgekommen war, war sie seinem Blick am Schluss lieber ausgewichen, weil er ihr jedes Mal wie eine Anklage, eine Schuldzuweisung vorgekommen war.
Eins war schon seltsam – wäre hier nur ihre Beziehung in die Brüche gegangen, dann wären alle mitfühlend gewesen, hätten ihnen zu helfen versucht, hätten ihnen mit Ratschlägen tröstend zur Seite gestanden. Aber die Unternehmenspleite schien die Leute zu verschrecken, man hatte zu viel Angst, dazu etwas zu sagen. Man blieb auf Distanz und stellte kaum Fragen, und das galt selbst für Pollys beherzte beste Freundin Kerensa.
Vielleicht lag es an der Furcht vor Armut – die Angst vor dem Verlust des hart erarbeiteten Lebensstandards schien in den Menschen tief zu gründen. Und daher hielten sie sich lieber fern, falls das irgendwie ansteckend sein sollte. Vielleicht war den Leuten ihr Verhalten auch gar nicht klar, oder sie und Chris hatten einfach zu lange die perfekte Fassade aufrechterhalten. Sie hatten gute Miene zum bösen Spiel gemacht, bei Verabredungen zum Essen mit Kreditkarte bezahlt und die Luft angehalten, wenn der Kellner die Karte durchzog. Zu Geburtstagen hatten sie selbst gemachte Geschenke mitgebracht – zum Glück konnte Polly backen, das hatte sich als extrem nützlich erwiesen. Den schicken schwarzen Mazda hatten sie noch, obwohl der jetzt natürlich auch verschwinden musste. Aber das Auto war Polly sowieso egal, wichtig war ihr Chris. Oder er war es zumindest gewesen, aber den alten Chris hatte sie eigentlich schon seit einem Jahr nicht mehr zu Gesicht bekommen. Den liebevollen, witzigen Mann, der am Anfang ihrer Beziehung so schüchtern gewesen und dann richtig aufgeblüht war, nachdem er sich als Grafikdesigner selbstständig gemacht hatte. Die beiden waren ein Team, und Polly unterstützte ihn bei allem. Wie sehr sie an ihn glaubte, bewies sie ihm dann auch, als sie bei der Firma einstieg. Sie investierte ihre gesamten Ersparnisse in das Unternehmen (von denen nach der Hypothek allerdings nicht mehr viel übrig geblieben war), bezirzte Kunden, blieb am Ball und kämpfte um jeden einzelnen Auftrag, wobei sie sich jedoch langsam, aber sicher an den Rand der Erschöpfung arbeitete.
Und damit machte sie es nur noch schlimmer. Der Frühling war eisig kalt, eigentlich fühlte er sich eher wie ein endloser Winter an. An jenem verhängnisvollen Abend kam Chris nach Hause, und sie sah ihm in die Augen, schaute ihn dieses eine Mal wirklich an. »Das war’s«, versetzte er grimmig.
Die Lokalzeitungen machten zu, also ging die Nachfrage nach Layout und Grafikdesign zurück … Und die meisten Firmen brauchten eigentlich auch keine Flyer mehr, oder falls doch, entwarf sie der Inhaber selbst und druckte die Dinger dann einfach aus. Inzwischen war eigentlich jeder sein eigener Fotograf und Designer und übernahm, was Chris einst mit so viel Sorgfalt und Liebe zum Detail erledigt hatte. Es lag nicht nur an der Krise, obwohl die natürlich nicht gerade geholfen hatte. Die Welt veränderte sich einfach. Chris hätte genauso gut versuchen können, Piepser oder Kassetten zu verkaufen.
Sie hatten schon seit Monaten keinen Sex mehr, und wenn Polly in den frühen Morgenstunden aufwachte, lag Chris oft hellwach neben ihr, rechnete im Kopf alles durch oder ließ sich einfach von Sorge und Qual zerfressen. Dann suchte sie vergeblich nach den passenden Worten, um ihn zu trösten.
»Das bringt doch nichts«, knurrte er bei jedem ihrer Vorschläge, von Hochzeitskarten bis hin zu Schuljahrbüchern. Oder: »Ist doch eh alles aussichtslos.« Er wurde immer unzugänglicher, bis die Zusammenarbeit zwischen ihnen fast unmöglich geworden war. Und weil Chris Pollys Geschäftsideen nicht passten, aber kaum noch Aufträge reinkamen, hatte auch Polly immer weniger zu tun. Chris ging morgens als Erster aus dem Haus, um eine Runde zu joggen, das war seine einzige Chance, Stress abzubauen, wie er betonte. Sie biss sich auf die Lippe und hielt ihm nicht vor, dass er ihre Vorschläge in diese Richtung alle abschmetterte – ein Spaziergang, vielleicht runter zum Strand, ein Picknick, Sachen, die nichts kosteten. Er fauchte dann, dass doch sowieso alles sinnlos sei und er darauf nun wirklich keine Lust habe.
Polly versuchte auch, ihn zum Arzt zu schicken, aber das war ebenfalls reine Zeitverschwendung. Chris wollte einfach nicht zugeben, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte – mit ihm, mit ihnen, mit einfach allem. Angeblich war das nur eine schwierige Phase, bald würde sich alles wieder einrenken. Dann erwischte er sie bei der Jobsuche im Internet, und das brachte das Fass zum Überlaufen. Beim Streit an diesem Abend flogen beinahe die Teller, und es kam alles ans Licht: dass Chris sich Geld geliehen hatte und die Situation viel schlimmer war, als er Polly gegenüber je zugegeben hatte. Irgendwann hatte sie ihn nur noch mit offenem Mund angestarrt.
Eine Woche, eine quälend lange Woche später gab er schließlich klein bei, setzte sich mit ihr hin und sah ihr in die Augen. »Das war’s.«
Und jetzt hockten sie hier zusammen mit den reizenden Männern von der Bank in den Trümmern ihres Unternehmens. All die Träume, all die hochfliegenden Pläne, die sie in besseren Zeiten geschmiedet hatten, waren dahin. Es blieb nichts mehr von den Unterlagen, die Chris einst unterschrieben hatte. Nach der Unterzeichnung hatten sie eine Flasche Champagner aufgemacht, den Schreibtisch im zauberhaften kleinen Büro damit getauft und ihre Anzeige in den Gelben Seiten bewundert. Und nun waren all diese Dinge von einer Welt geschluckt worden, der es offenbar völlig egal war, wie sehr sie geschuftet oder wie sehr sie sich den Erfolg gewünscht hatten. Im wahren Leben waren diese ganzen Realityshow-Klischees nämlich völlig irrelevant. Es war vorbei, und das konnten auch alle Leuchtturmbilder der Welt nicht ändern.
»Also, das bleibt mir noch«, sagte sich Polly, die bei ihrem Fußmarsch durch die Stadt vom kalten Frühlingswind ordentlich durchgepustet wurde. Sie versuchte verzweifelt, sich zusammenzureißen und sich auf die positiven Dinge in ihrem Leben zu konzentrieren. Schließlich war sie mit ihrer besten Freundin zum Krisengipfel verabredet und wollte ihr nicht tränenüberströmt gegenübertreten.
»Ich bin gesund. Abgesehen von meinem wackeligen Knöchel, den ich mir – selbst schuld – beim Tanzen verknackst hab, geht es mir gut. Ich bin im Vollbesitz meiner Kräfte. Mein Geld ist durch die Firma zwar futsch, aber es verlieren doch ständig Leute noch viel größere Summen. Von Naturkatastrophen bin ich bislang verschont geblieben, und meiner Familie geht es gut, auch wenn sie ziemlich nervt. Meine Beziehung … na ja, andere Menschen machen Schlimmeres durch, viel Schlimmeres. Wenigstens müssen wir uns nicht scheiden lassen und –«
»Hast du sie noch alle?«, fragte Kerensa laut. Obwohl sie Schuhe mit unglaublich hohen Absätzen trug, hatte sie Polly in ihren Chucks auf dem Weg von der Unternehmensberatung nach Hause problemlos eingeholt. »Deine Lippen bewegen sich ja. Vielleicht wirst du langsam doch noch verrückt. Und, weißt du …«
»Was denn?«
»Na ja, daraus könntest du vielleicht sogar Kapital schlagen. Behinderte kriegen doch bestimmt eine Rente.«
»KERENSA!«, fauchte Polly. »Du bist einfach furchtbar! Und nein. Wenn du es unbedingt wissen willst – ich hab mir die positiven Aspekte meines Lebens aufgesagt und war gerade bei ›Wenigstens müssen wir uns nicht scheiden lassen‹.«
Vermutlich zog Kerensa jetzt ein langes Gesicht, aber das Botox machte es einem manchmal nicht leicht, ihre Miene korrekt zu interpretieren. Zum Glück verlieh sie ihrer Meinung immer direkt lautstark Ausdruck.
»Gott im Himmel, ernsthaft? Was steht denn sonst noch auf deiner Liste, etwa dass du zwei Arme und Beine hast?«
»Ich dachte, wir wollten uns treffen, damit du mich ein bisschen aufmuntern kannst.«
Kerensa hielt die Tüte eines Weinladens hoch, in der etwas leise klirrte.
»Ja, allerdings. Also, wie sehen die weiteren Punkte auf deiner Liste aus? Dass du arbeits- und obdachlos bist, hast du vermutlich außen vor gelassen, was?«
Inzwischen hatten sie Kerensas makelloses kleines Häuschen erreicht. Neben der polierten roten Tür mit dem Messingklopfer standen rechts und links zwei Orangenbäumchen.
»Ehrlich gesagt bin ich langsam nicht mehr so sicher, ob ich noch mit reinkommen will«, maulte Polly, meinte es aber nicht ernst. So war Kerensa eben, sie packte den Stier gern bei den Hörnern. Diese Strategie hätte Polly im letzten Jahr vielleicht auch lieber anwenden sollen, während die Firma bankrottging und Chris sich immer weiter zurückzog. Polly hatte Kerensa nur ein einziges Mal um einen Rat gebeten, nach ein paar Gläsern zu viel auf einer Weihnachtsparty vor x Jahren. Kerensa hatte ihr damals gesagt, dass ihre Geschäftsidee riskant sei, und sie dann gebeten, sie nicht noch einmal zu fragen. Polly hatte sich eingeredet, dass doch alle Geschäftsideen riskant waren, und das Thema seitdem nicht mehr angesprochen.
»Ach, komm doch rein, wenn du schon mal hier bist, ich kann doch unmöglich all diese Pringles allein essen«, verkündete Kerensa ungerührt und zog ihren Schlüssel mit dem Tiffanys-Anhänger hervor.
»Du isst doch nie Pringles«, grummelte Polly. »Du stellst die immer nur hin und sagst dann: ›Oh, ich musste heute Mittag so einen Riesenlunch essen, den ich mir in Wirklichkeit nur ausdenke, iss du doch bitte die Pringles, sonst werden die nämlich schlecht.‹ Was übrigens gar nicht stimmt.«
»Na ja, wenn du bleiben würdest, dann könntest du sie auch ganz langsam und genüsslich verspeisen, statt sie runterzuschlingen, als wärst du am Verhungern.«
Bevor Polly noch irgendwas erwidern konnte, hob Kerensa beide Hände. »Na los, komm schon, wenigstens heute Nacht.«
»Okay«, sagte Polly.
Polly musste die Augen schließen, um es auszusprechen, aber da erschienen vor ihrem inneren Auge Mr Gardner und Mr Bassi, die es ihnen verkündeten: Sie würden die Wohnung an die Bank verlieren. Bei dieser Nachricht hatte ihre Mum reagiert, als hätten sie ihren Erstgeborenen verkauft. Kein Wunder, dass Polly ihrer Mutter möglichst wenig anvertraute.
»Also, ich versuche ja, die positiven Aspekte zu sehen.«
»Die positiven Aspekte der Obdachlosigkeit?«
»Sei nicht so gemein. Und ich kann mir jetzt endlich mal was für mich selbst suchen.«
Kerensa versuchte, die Stirn zu runzeln, und starrte dann auf den Schleier von Chipskrümeln hinunter, den Polly auf ihrem BoConcept-Sofa verteilt hatte.
»Nur für dich?«
Polly biss sich auf die Unterlippe. »Also, wir trennen uns jetzt nicht oder so. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie wir zu zweit in einer fürchterlichen, winzigen Mietwohnung aufeinanderhocken …«
Sie holte tief Luft und trank dann einen großen Schluck Wein.
»Chris hat gesagt, dass er vorübergehend wieder bei seiner Mutter einzieht. Nur bis … bis wir das wieder auf die Reihe kriegen. Weißt du, was ich meine? Bis wir sehen, wie es zwischen uns steht.«
Polly tat ihr Bestes, um es so klingen zu lassen, als wäre diese Entscheidung durch ruhiges, vernünftiges Abwägen gefällt worden, nicht durch lautes Streiten mit anschließendem Schmollen.
»Ich meine, ein Tapetenwechsel tut uns bestimmt gut.«
Kerensa nickte mitfühlend.
»Bis die Wohnung verkauft ist … stehe ich aber leider mit leeren Händen da. Wenn wir dafür mehr kriegen als erwartet, dann sind damit eventuell die Schulden getilgt, aber …«
»Aber du rechnest nicht damit?«
»Bei meinem Glück im Moment«, sagte Polly, »kriege ich bestimmt kaum etwas zurück. Und wenn ich dann mit meinem Geld in der Hand aus der Bank trete, schlägt der Blitz ein und lässt es in Flammen aufgehen. Danach knallt mir vermutlich ein Klavier auf den Kopf, und ich falle in einen Gully.«
Kerensa tätschelte ihr die Hand. »Und wie sieht es bei Chris aus?«
Polly zuckte mit den Achseln. »Im Prinzip genauso. Diese Konkursverwalter waren wirklich nett, also den Umständen entsprechend.«
»Was für ein fürchterlicher Job.«
»Aber die haben wenigstens Arbeit«, sagte Polly. »Was ich im Moment schon beeindruckend finde.«
»Schaust du dich denn nach was Neuem um?«
»Oh ja«, sagte Polly. »Aber ich bin offenbar für jede einzelne Stelle auf diesem Planeten überqualifiziert und zu alt. Außerdem scheint für Einstiegsjobs heute niemand mehr bezahlt zu werden. Und ich bräuchte erst mal dringend eine Postanschrift.«
»Du weißt doch, dass du hier wohnen kannst«, sagte Kerensa augenblicklich.
Polly sah sich in diesem absolut perfekten, makellosen Singlefrauen-Bau um. Kerensa konnte sich die Männer aussuchen – kein Wunder, bei ihrem durchtrainierten Körper, ihren teuren Klamotten und ihrer erbarmungslosen Arroganz –, hatte aber nicht die geringste Lust auf etwas Ernsthaftes. Sie war wie eine Rassekatze, während Polly selbst sich eher wie ein freundlicher, aber leicht verwahrloster Hund vorkam. Vielleicht wie ein Cockerspaniel, schließlich hatte sie rötlich blondes Haar und wenig markante Gesichtszüge.
»Ich würde lieber in einer Tonne schlafen, als unsere Freundschaft damit aufs Spiel zu setzen, dass wir uns wieder die Wohnung teilen.«
»Wir hatten doch eine super Zeit«, wandte Kerensa ein.
»Hatten wir nicht«, entgegnete Polly. »Du warst jedes Wochenende mit lauten Arschlöchern auf ihrem Boot unterwegs und hast nie abgewaschen!«
»Also erstens hab ich dich jedes Mal gefragt, ob du nicht mitkommen willst.«
»Und ich hab immer Nein gesagt, weil das eben Arschlöcher waren.«
Kerensa zuckte mit den Achseln. »Und zweitens hab ich deshalb nie abgewaschen, weil ich da doch nie was gegessen hab. Du warst diejenige, die überall Mehl und Hefe verteilt hat.«
Das mit dem Backen hatte Polly nie ganz aufgegeben. Kerensa hingegen hielt Kohlenhydrate für Gift und war fest davon überzeugt, dass sie eine Glutenallergie hatte. Eigentlich war es ein Wunder, dass die beiden immer noch so gut befreundet waren.
»Trotzdem, keine Chance!«, sagte Polly traurig. »Aber Himmel, ich bin auch nicht in der Verfassung dazu, in eine WG mit irgendwelchen Mittzwanzigern zu ziehen und so zu tun, als wäre ich so jung und hip wie die.«
Sie war dieses Jahr 32 geworden und fragte sich gerade, ob einer der winzigen Vorteile ihrer Insolvenz womöglich darin bestand, dass sie nicht mehr ständig für alle Welt Hochzeits- und Taufgeschenke kaufen musste.
Kerensa lächelte. »Das wäre vielleicht gar keine schlechte Idee. Mit denen könntest du wieder durch die Clubs ziehen.«
»O Gott!«
»Und die ganze Nacht aufbleiben, einen Joint rumgehen lassen und über den Sinn des Lebens diskutieren.«
»Ach du jemine.«
»Oder zu Musikfestivals gehen und da zelten.«
»Jetzt mal im Ernst«, sagte Polly, »ich bin schon fertig genug, da musst du nicht auch noch Salz in die Wunden streuen. Riesel, riesel.«
Mit einer Miene der perfekt einstudierten Verzweiflung auf ihren Zügen reichte Kerensa ihr die Pringlesdose. »Na, sag ich doch, dann wohnst du eben hier bei mir.«
»Für unbegrenzte Zeit auf deinem unbezahlbaren Sofa in deiner Einzimmerwohnung?«, murmelte Polly. »Nein, danke, es ist wirklich wahnsinnig nett von dir, mir das anzubieten, aber ich suche erst mal im Internet. Was für mich allein. Das wird bestimmt … cool.«
Schweigend beugten sich die beiden Freundinnen über den Laptop. Polly scrollte durch die Liste mit Wohnungen im Rahmen des von der Bank festgelegten Budgets. Das war kein schöner Anblick, ehrlich gesagt schienen die Mieten in letzter Zeit wie verrückt in die Höhe geschossen zu sein. Es war furchtbar.
»Das ist ja kaum ein Schrank«, sagte Kerensa von Zeit zu Zeit. »Und die Wohnung da hat keine Fenster. Warum haben die denn ein Foto von dieser fleckigen Mauer eingestellt? Wie sehen dann wohl erst die anderen Wände aus? Oh, diese Straße kenne ich aus der Zeit, in der ich mit dem Sanitäter zusammen war, da gehen ständig irgendwelche Typen mit Flaschen aufeinander los.«
»Es gibt einfach nichts«, sagte Polly, in der langsam Panik aufstieg. Ihr war wirklich nicht klar gewesen, wie verhältnismäßig niedrig ihre Hypothek gewesen war und wie hoch die Mieten. »Hier ist absolut nichts zu finden.«
»Wie sieht es denn mit diesen Manager-WGs aus?«
»Die sind unglaublich teuer, und außerdem muss man da für einen Satellitenfernsehanschluss zahlen und sich die Wohnung vermutlich mit einem Freak teilen, der in seinem Zimmer Hanteln stemmt.«
Je weiter Polly nach unten scrollte, desto unruhiger wurde sie. Sie war nicht sicher, wie weit sie ihre Erwartungen noch herunterschrauben konnte, aber je mehr sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass sie unbedingt allein leben musste. So sehr sie sich auch bemühte, vor Kerensa, Chris und ihrer Mutter die Fassung zu wahren – ihr war etwas Schlimmes passiert, und davon würde sie sich nicht so schnell erholen. Die Aussicht, sich abends in den Schlaf zu weinen, während um sie herum jugendliche Mitbewohner einen auf Party machten, war einfach zu viel. Sie musste sich erst einmal zurückziehen und mit sich selbst klarkommen. Und deshalb konnte sie jetzt wirklich nicht auf zehn Jahre jünger machen und über Boybands quatschen. Oder zu ihrer Mutter zurückziehen. Mum liebte sie ja auf ihre Weise und würde alles für sie tun. Aber sie würde auch seufzen, sich besorgt nach Chris erkundigen und die Enkelkinder anderer Leute erwähnen … Nein. Pollys Verhältnis zu ihr war schon in Ordnung, dem Zusammenleben mit ihr würde es aber nicht standhalten.
Okay, also was dann?
Am nächsten Morgen stand Kerensa früh auf und ging um kurz nach sechs aus dem Haus, um in einem Park in der Nähe British Military Fitness zu machen, obwohl doch März war und Regen ans Fenster prasselte. Natürlich hatte sie Polly aufgefordert mitzukommen, die hatte jedoch nur gestöhnt und sich noch einmal umgedreht. Sie hatte einen kleinen Kater und immer noch den Geschmack von Pringles auf der Zunge.
Als Kerensa weg war, kochte Polly erst einmal Kaffee und versuchte, das winzige, absolut makellose Häuschen aufzuräumen. Aber das brachte ja doch nichts, ihre kleine Reisetasche schaffte Unordnung in diesem Apartment, und sie würde einfach nie begreifen, warum die Kissen bei ihr nicht so perfekt aufrecht stehen blieben wie bei Kerensa. Als Polly dann nach ihrem Kaffee griff, verschüttete sie etwas davon auf den sündhaft teuren Teppich und fluchte. Nein, das hatte einfach keine Zukunft.
Deshalb schmiss sie noch einmal den Laptop an. Die Stellenanzeigen konnten warten, erst einmal brauchte sie jetzt eine Bleibe.
Dieses Mal ging sie es langsamer an und schaute sich jede einzelne Wohnung in Plymouth an, die sie sich leisten konnte. Alle waren entweder ganz grauenhaft oder lagen in einer Gegend, in der sie sich ohne Auto nicht sicher fühlen würde. Polly scrollte bis zur allerletzten Seite durch. Das war es also, mehr gab es nicht. Unter den Angeboten war nichts gewesen, was sie sich wenigstens gern mal angesehen hätte, geschweige denn wo sie beruhigt einziehen würde.
Natürlich hatte ihr nicht nur Kerensa ihr Sofa angeboten, sondern auch noch andere Freunde, aber allein den Gedanken an die bangen Fragen nach ihrem Befinden und das besorgte Murmeln konnte Polly nicht ertragen. Außerdem vermutete sie auch, dass ein paar ihrer Freundinnen froh wären, wenn sie ihnen gelegentlich die Kinder abnehmen würde, aber die Vorstellung fand sie noch schrecklicher. Sie wollte auf keinen Fall als eine Mischung aus tantenhafter alter Jungfer und unbezahlter Babysitterin auf Zehenspitzen durch eine fremde Wohnung schleichen, um ihre Gastgeber nicht zu stören.
Mit Anfang zwanzig hatte sie mal gedacht, dass Chris und sie inzwischen wahrscheinlich verheiratet und gesettelt sein würden. Er würde viel Geld verdienen, sie sich vielleicht ums Kind kümmern … und nun war es wirklich anders gekommen.
Stopp, so durfte sie einfach nicht denken. Sie konnte jetzt entweder in Selbstmitleid versinken oder nach vorne schauen. Aus einer Laune heraus beschloss sie, ihre Suche aufs ganze Land auszuweiten. Wow! Wenn sie nach Wales zöge, könnte sie sich dort jede Menge Wohnungen leisten, und zwar richtig schöne. Oder in die schottischen Highlands. Oder ins ländliche Nordirland. Oder in den Peak District. Dabei wusste sie nicht einmal so genau, wo der Peak District eigentlich lag, aber da gab es auf jeden Fall zig Apartments, in die sie auch ohne Geld, Vitamin B und zu Pringles verführenden Freundinnen einziehen konnte, selbst ohne Job … Na ja, das vielleicht lieber doch nicht.
Sie engte den Radius wieder ein und suchte nur noch im Südwesten, und da sprang ihr ein Ort ins Auge, an den sie schon ewig nicht mehr gedacht hatte – Mount Polbearne. Da war sie mal auf einem Schulausflug gewesen, wie wohl jede Klasse irgendwann. Dass dort überhaupt noch jemand wohnte, war kaum zu glauben.
Polly studierte das Minifoto, auf dem nicht besonders viel zu erkennen war. Es unterschied sich dadurch von all den anderen Bildern, durch die sie sich geklickt hatte, dass es von außen aufgenommen war. Man sah ein Fensterchen unter einem Giebeldach. Die Farbe blätterte vom Rahmen ab, und die schartigen Ziegel wirkten uralt. Im Kurztext stand »Ungewöhnliche Lage«, was normalerweise »Halt dich fern!« hieß. Trotzdem klickte Polly das Bild an und nahm einen Schluck längst kalten Kaffee.
Mount Polbearne also. Das war eine Gezeiteninsel, so viel wusste sie noch. Damals waren sie mit dem Bus dorthin gefahren, und eine Straße mit Kopfsteinpflaster hatte die Insel mit dem Festland verbunden. Überall hatten Schilder davor gewarnt, beim Einsetzen der Flut über diesen Damm zu fahren oder bei Ebbe darüber hinwegzusegeln. Sie hatten aufgeregt gequietscht, als dann Wasser zwischen den Steinen hochgespritzt war, weil sie jetzt womöglich alle ertrinken würden. Neben dem Damm konnte man Stümpfe von alten Bäumen erkennen, die inzwischen nicht mehr an Land standen. Ganz oben auf der Insel gab es eine zerfallene Kirche und einen Souvenirladen, in dem Kerensa und sie riesige Lollis mit Erdbeergeschmack gekauft hatten. Aber da konnte man doch nicht wohnen, die Hälfte der Zeit würde man ja festsitzen! Ein Pendlerleben war jedenfalls ganz sicher unmöglich.
Auf der Webseite gab es noch ein anderes Foto, und darauf wirkte das Gebäude wie eine ziemliche Bruchbude. Das Dach war schief und krumm, und die beiden Fenster, von denen eins auf dem ersten Bild zu sehen gewesen war, waren schmutzig und gingen nach außen auf. Unten gähnte das schwarze Loch eines leer stehenden Ladenlokals. Dem Seewind so ausgesetzt zu sein, hatte das Häuschen offenbar ziemlich mitgenommen. Polly fragte sich auch, ob ein Ausflug auf ein Fleckchen Erde, das bei Flut vom Festland abgeschnitten war, für Touristen wohl immer noch so interessant war wie früher. Heutzutage wollten doch alle nur Surfstrände, Themenparks und teure Fischrestaurants. Cornwall hatte sich wirklich verändert.
Aber jetzt stach ihr noch etwas ins Auge, dass das Häuschen nämlich über zwei Zimmer plus Bad verfügte. Hier wohnte man weder zur Untermiete noch in einer WG, das war eine komplette kleine Wohnung. Und sie lag in Pollys finanziellem Rahmen. Mehr noch, der nach vorne rausgehende Wohnraum war auch ziemlich groß, sechs mal acht Meter. So geräumig war das Wohnzimmer ihrer Wohnung hier in Plymouth nicht, das war klein und eng, mit angestrahlten Spiegeln an beiden Seiten, die die Illusion von mehr Platz schaffen sollten. Sie fragte sich, wie hoch die Wohnung da unter dem Dach wohl lag. Wenn das Ladenlokal unten leer stand, dann wäre außer ihr nämlich niemand in dem Häuschen – mal abgesehen von den Ratten. Hmm. Dann fiel ihr Blick auf das letzte Bild. Das war der Blick aus den vorderen Fenstern, und das Foto war von innen aufgenommen.
Hinter den Fenstern befand sich … gar nichts, nur ein Stückchen Weltall, das sich bei genauerem Hinsehen als das Meer herausstellte. Die Aufnahme stammte von einem Tag, an dem Himmel und Ozean sich im gleichen grauen Farbton gezeigt hatten und einfach ineinander übergegangen waren. Lange starrte Polly fasziniert auf diese weite graue Leere. Die sah genau so aus, wie Polly sich fühlte: hohl. Aber irgendwie war dieser Anblick auch seltsam beruhigend, als erteilte er der Welt die Erlaubnis, eben auch mal grau zu sein. Wenn Polly früher aus dem Fenster ihrer Managerwohnung geschaut hatte, dann hatte sie immer jede Menge Leute wie sich selbst gesehen, die Audi und BMW fuhren und ihr Abendessen im Wok kochten, nur dass deren Firma nicht den Bach hinunterging und sie noch miteinander zu sprechen schienen. Der Blick aus dem Fenster war einfach stressig gewesen. Das da hingegen … war etwas ganz anderes.
Sie suchte Mount Polbearne auf Google Earth und stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass sich dort tatsächlich ein paar Straßen mit Steinhäuschen von der Kirchenruine auf dem Hügel zum Hafen hinunterschlängelten. Der lag im rechten Winkel zur Straße da, und man konnte ein paar Fischkutter darin erkennen. Ganz offensichtlich war über diesen Teil von Cornwall noch nicht der Immobilienboom hereingebrochen, so weit abseits von der Autobahn schien dieses unmoderne Fleckchen Land noch nicht entdeckt worden zu sein. Andererseits lag es nur fünfzig Meilen von Plymouth entfernt, also könnte sie immer wieder mal zurückkommen …
Mit ein wenig zittrigen Fingern klickte sie den Button mit der Aufschrift »Makler kontaktieren«.
Kerensa hatte einen lächerlichen Blazer mit goldenen Knöpfen an, der an ihr trotzdem irgendwie schick aussah. »Eigentlich solltest du dir jetzt einen Mann mit Geld suchen«, verkündete sie. »Und den findest du in diesem Loch nicht, das kann ich dir sagen.«
»Na, dann wie immer herzlichen Dank«, sagte Polly, die heute Schwarz trug. Eigentlich trug sie nie Schwarz, das stand ihr nämlich nicht mit ihrem rotblonden Haar und der blassen Haut. Außerdem wirkte sie damit irgendwie kleiner. Aber ohne ihre bessere Hälfte, ihren Job und klimpernde Autoschlüssel kam es ihr auf einmal so vor, als wüsste sie gar nichts mehr.
»Du musst wirklich in der Nähe einer größeren Stadt bleiben«, fand Kerensa, »dich besser anziehen und dir jemanden angeln.«
»Ist das etwa dein Plan?«
»Also bitte«, sagte Kerensa und rollte mit den Augen. Polly schaute rasch aus dem Fenster, bevor Kerensa noch anfing, Beyoncé-Songs zu trällern.
Es war ein grauer, bedeckter Samstag, und als sie es endlich aus Plymouth rausgeschafft hatten, verwirrte das Navi sie nur mit all den engen, windigen Straßen, über die es sie führen wollte. Irgendwann beschlossen sie, dass sie schon ankommen würden, solange sie unterwegs nur immer das Meer zu ihrer Linken sehen konnten. Und so war es tatsächlich.
Vor dem Fahrdamm zur Insel hinaus gab es einen Parkplatz und eine Tafel mit den Gezeiten. Über die hatten sie sich vor der Abfahrt nicht informiert. Also blieben sie erst einmal auf dem Parkplatz stehen und starrten die Insel in der Ferne an.
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