Hochzeitsglocken auf der kleinen Insel - Jenny Colgan - E-Book

Hochzeitsglocken auf der kleinen Insel E-Book

Jenny Colgan

0,0
10,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Inselflair und Glücksgefühle: Mit »Hochzeitsglocken auf der kleinen Insel« führt SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan ihre Frauenroman-Reihe um die kleine Sommerküche zum krönenden Abschluss.

»Wohlfühlfaktor: Sehr hoch, wie immer bei Jenny Colgan, der Meisterin der Romane, in die man gleich einziehen will, weil ihre Welten sich so kuschelig anfühlen beim Lesen.« Berner Zeitung

 Gleich drei verliebte Paare suchen in »Hochzeitsglocken auf der kleinen Insel« nach ihrem Happy end – Romantik und Sommersonne garantiert!

Instagram-Star Olivia plant eine Hochzeit, die alle anderen in den Schatten stellen soll. Und das ausgerechnet auf der schottischen Insel Mure. Das Event wäre die Werbung, die Hotel-Chefin Flora braucht, um das brandneue Hotel »The Rock« ans Laufen zu bringen. Dumm nur, dass Olivias extravagante Ideen Floras eigene Pläne durcheinanderwirbeln.

Denn Flora möchte mit »ihrem« Joel auch endlich den Bund fürs Leben schließen. Doch die beiden haben ziemlich unterschiedliche Vorstellung vom perfekten Fest – er: so klein wie möglich, sie: am liebsten mit der ganzen Welt –, und jetzt funkt auch noch Olivia dazwischen.

Lorna, die Leiterin der Inselschule, macht sich ebenfalls Gedanken über die Zukunft. Sie und Saif, der syrische Arzt, leben ihre Liebe weiterhin nur im Verborgenen. Werden Sie irgendwann ganz offen ein Paar sein dürfen?

Love is in the air auf der kleinen Insel Mure! Werden die Hochzeitsglocken in diesem Sommer gleich für drei Paare läuten?


Glücksgefühle in Buchform – die Reihe um „Floras Küche“ von SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan 

Band 1: Die kleine Sommerküche am Meer

Band 2: Hochzeit in der kleinen Sommerküche am Meer

Band 3: Weihnachten in der kleinen Sommerküche am Meer

Band 4: Weihnachten im kleinen Inselhotel

Band 5: Hochzeitsglocken auf der kleinen Insel

Und exklusiv im e-book die Novella: Begegnung in der kleinen Sommerküche am Meer

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Hochzeitsglocken auf der kleinen Insel« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

Für Andrea MacDonald, deren Entschlossenheit,

den Kindern von Fife auch während der Pandemie und danach

in bezahlbaren Tanzstunden Highlandtänze beizubringen,

eine wahre Inspiration ist.

© Jenny Colgan 2022

Titel der englischen Originalausgabe: »An Island Wedding«,

Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group,

an Hachette UK Company, London 2022

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Kerstin Kubitz

Covergestaltung: zero-media.net, München,

nach einem Entwurf von Little, Brown Book Group

Covermotiv: Illustration: Kate Forrester und FinePic®, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von

digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem E-Book hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen und übernimmt dafür keine Haftung.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Einleitung

Karte

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Epilog

Dank

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Einleitung

Hallöchen und willkommen auf der Insel Mure!

Diese Zeilen schreibe ich an einem stürmischen Frühlingstag, an dem die Sonne hier und da zwischen den Wolken auftaucht, nur um sofort wieder zu verschwinden. Ich wollte euch gern ein paar Erklärungen mit auf den Weg geben, falls ihr neu seid. Aber selbst wenn ihr schon andere meiner Mure-Bücher gelesen habt, kann eine kleine Auffrischung nicht schaden. Wir haben schließlich alle viel zu tun und tausend Sachen im Kopf.

Also, hier kommt ein kurzer Überblick, damit jeder auf dem Laufenden ist. (Nachzugucken, wer noch mal wer war, finde ich besonders bei E-Books anstrengend, weil man da nicht so einfach ein paar Seiten zurückblättern kann.)

Es gefällt mir überhaupt nicht, wenn einem bei Büchern in den ersten Abschnitten unauffällig eine Zusammenfassung untergeschoben werden soll. Ihr wisst schon, was ich meine, das sieht dann ungefähr so aus:

»Hey, Peter, wie geht es denn deiner Schwester Jane?«

»Du meinst meine jüngste Schwester, die achtundzwanzig ist? Die gerade in Minsk bei einem schrecklichen Unfall beide Beine verloren hat?«

»Ja, genau die. Die, deren Hochzeit wir – du, ich und dein dreißigjähriger Bruder John – hier feiern wollen.«

Lasst mich euch daher zunächst auf den neuesten Stand bringen, egal, ob ihr neu dazustoßt (Willkommen!) oder gerade alle anderen Bücher fertig gelesen habt.

Also, Flora MacKenzie ist nach dem Tod ihrer Mutter zurück auf die Insel Mure vor der nordöstlichen Küste von Schottland gezogen, wo sie aufgewachsen ist. Dort bewirtschaften ihr Vater und ihre drei Brüder den Bauernhof der Familie.

Flora hat das kleine Café Annies Küche eröffnet und kürzlich die Leitung des schicken Hotels The Rock übernommen, dessen Besitzer Colton vor einiger Zeit gestorben ist.

Flora ist außerdem mit dem Amerikaner Joel verlobt, der in London ihr Boss war, etwas schwierig ist und aufgrund einer Kindheit in Pflegefamilien zunächst so einige Probleme mit einer festen Bindung hatte.

Die beiden haben einen Sohn, Douglas, der inzwischen fast ein Jahr alt ist.

Lorna MacLeod ist Rektorin der Grundschule auf Mure und hat eine heimliche Beziehung mit Saif Hassan, dem örtlichen Hausarzt, der aus Syrien geflüchtet ist. Die zwei sind ganz verrückt nacheinander. Saifs Söhne sind bei ihm auf der Insel (und gehen bei Lorna zur Schule), seine Frau ist aber in Syrien im Krieg verschollen. Saif hat jedoch vor Kurzem ein Foto von ihr gesehen, auf dem sie nicht nur neu verheiratet, sondern auch schwanger zu sein schien.

Und dann haben wir da noch Floras Brüder.

Der verwitwete Fintan ist erleichtert, dass er nicht mehr die Verantwortung für The Rock trägt, Innes gibt seiner Ehe eine zweite Chance und hat mit der Erziehung seiner Tochter Agot beide Hände voll zu tun, und Hamish ist einfach nur Hamish. Er ändert sich nicht groß.

Okay, ich glaube, damit sind wir alle im Bilde!

Normalerweise liebe ich das Schreiben von Büchern, aber manchmal hätte ich gern die Möglichkeit, einen Film zu drehen. Dann würde ich an dieser Stelle Wind aufkommen lassen, nur eine leichte Brise, die plötzlich die Seiten des Buchs zum Flattern bringt … Man würde meinen, den Geruch von Salzwasser in der Luft wahrzunehmen, und es würde eine von diesen Aufnahmen folgen, die ihr doch sicher kennt: Da fährt die Kamera immer schneller übers Wasser, zoomt an einen winzigen Punkt in der Ferne heran, der größer und größer wird. Frisch weht der Wind am sonnigen Morgenhimmel, es erscheint ein breiter goldener Sandstrand, der sich als der Endless Beach herausstellt, man sieht den Leuchtturm und dann hoch im Norden The Rock. Am südlichen Ende des Strandes kann man eine Ansammlung von freundlichen kleinen Häuschen in unterschiedlichen Farben erkennen – in Blau, Gelb und Rosa sowie verblichenem Schwarz-Weiß im Fall des alten Hotels Harbour’s Rest.

Jetzt wird die Kamera langsamer, macht einen geschmeidigen Schwenk über die klappernden Masten der Fischerboote mit ihren fröhlichen Wimpeln hinweg und setzt uns sanft auf dem grauen Kopfsteinpflaster des Hafens ab, direkt vor dem Anleger der Caledonian-MacBrayne-Fähre, die gerade zum ersten Mal am Tag hergetuckert ist und Pakete sowie die Zeitung vom Festland an Bord hat.

Der Kapitän steht selbst am Steuer, blickt zum Anleger und manövriert die Fähre vorsichtig.

Auf dem Weg zurück zu Eck, Floras Vater auf dem MacKenzie-Hof, trottet Schäferhund Bramble vorbei, die Zeitung des Vortags im Maul.

Im rosafarbenen Gebäude steht die Tür von Annies Küche bereits offen, und der Duft von gutem Kaffee und frischen Käsescones zieht nach draußen, während auf Radio BBC nan Gàidheal Fiddlemusik läuft. Daher können wir ruhig hineingehen, uns eine Weile neben die Fair-Isle-Strickgruppe setzen, ein bisschen abschalten und das Kommen und Gehen im Hafen beobachten – willkommen zurück auf Mure!

Alles Liebe

JennyXXXXX

I loved you a long time ago, you know

Where the wind’s own forget-me-nots

blow, you know

Weißt du, ich hab dich vor langer Zeit geliebt

Da, wo der Wind seine eigenen

Vergissmeinnichtblüten verstreut

Roy Harper, Another Day

Kapitel 1

Ende März war das Hotel The Rock auf Mure komplett ausgebucht, und die Gäste hatten wirklich Glück: Nachdem die Stürme über dem Atlantik nachgelassen hatten, hatte es auf der Insel noch bis weit in diesen Monat hinein Eis und Schnee gegeben, doch letzte Woche hatte jeden Tag die Sonne gelacht.

Bei solchem Wetter war es auf der Insel einfach himmlisch, solange man nur eine warme Jacke und vernünftiges Schuhwerk hatte. (Im Notfall konnte man sich im Hotel ein Paar Gummistiefel leihen.)

Der Sand am Endless Beach war so hell, dass er fast weiß aussah; das Wasser schwappte türkisfarben und sauber an den Strand, der Himmel war so weit und blau wie auf einer Kinderzeichnung.

Die kleinen Häuschen in leuchtenden Farben, die sich am Hafen krumm und schief gegeneinander lehnten, hatten etwas Vergnügtes, Fröhliches an sich, und die frisch gestrichenen Fischerboote warteten ungeduldig auf ihre nächste Fahrt.

»Es ist einfach. Unfassbar. Kalt«, bibberte Flora, als sie in den strahlenden Sonnenschein hinaustrat, um den Garten hinter dem Gebäude in Augenschein zu nehmen, wo Osterglocken blühten.

Sie telefonierte gerade mit ihrem Verlobten, Joel, der ein bellendes Lachen ausstieß. »Du bist wohl inzwischen etwas verweichlicht, weil das Hotel immer so gut beheizt ist.«

Flora seufzte. Damit hatte er vermutlich recht. Im Bauernhaus des MacKenzie-Hofs, wo sie aufgewachsen war, gab es bloß zugige Fenster mit Einfachverglasung. Morgens musste man mit kalten Füßen über den eisigen Boden huschen, um das nachts nur glimmende Torffeuer zu schüren, und dann zum Warmwerden die klammen Finger um eine Tasse kräftigen Tee schlingen.

Ganz anders war es mit The Rock, dem riesigen alten grauen Gebäude aus Stein. In ein Hotel verwandelt hatte es ein reicher Texaner, der keinerlei Unbequemlichkeit hatte ertragen können. Die Fenster im traditionellen Stil hatten eine Dreifachverglasung, eine Wärmepumpe war eingebaut worden und produzierte jede Menge günstige Energie, und die Badezimmer hatten Fußbodenheizung. Es gab überall flauschige Läufer und gemütliche Decken, und auch der Teppichboden in der Bibliothek und den Aufenthaltsräumen war schön dick.

Colton, der inzwischen verstorbene Ehemann von Floras Bruder Fintan, hatte ein Leben auf einer der nördlichsten der Britischen Inseln mit einem Aufenthalt in einem Skiresort verglichen und alles entsprechend einrichten lassen. Dabei hatte er auf eine Ästhetik gesetzt, mit der er sich an den Geschmack der Einheimischen hatte anpassen wollen. Da er aber ganz neu in Schottland gewesen war, war jetzt alles voll mit Hirschköpfen und Schottenkarostoffen in dunklem Blau und Grün.

Am Anfang hatte Flora es geschmacklos und albern gefunden. Inzwischen war ihr das alles aber ans Herz gewachsen, und die Dekoration erinnerte sie bei ihrem Weg durch die langen Flure oder bei einem kurzen Blick ins Restaurant jedes Mal an Colton. (Wenn Gaspard, der temperamentvolle Koch, in der Küche gerade jemanden laut zusammenstauchte, trat Flora lieber schnell den Rückzug an.)

Jetzt bog sie um die Ecke des Gebäudes und erreichte die Seite des Hotels, die aufs Meer hinausging. Hier gab es einen kleinen Anleger, den viele Leute mit dem Boot erreichten.

An einem windgeschützten, sonnigen Plätzchen direkt an der Mauer waren Bänke aufgestellt, von denen aus die Gäste in der Ferne die großen Schiffe bei ihrer langen Reise zu den Fjorden beobachten konnten.

Wenn die Sonne auf die Mauer schien, war es hier unglaublich angenehm, daher ließ sich Flora kurz nieder, um mal zwei Sekunden von den endlosen Aufgaben der Geschäftsführerin eines Hotels und Cafés zu verschnaufen. Sie versteckte sich nicht direkt, war aber froh, dass sie hier nicht entdeckt werden würde.

Sie hatte immer noch Joel am Telefon. »Wie läuft es so?«

Da Joel als Antwort schwer seufzte, rechnete er wohl nicht mit einer baldigen Rückkehr. Er kümmerte sich um Coltons Treuhandfonds, der die Entwicklung eines weltweiten Impfprogramms mitfinanzierte.

Durch dieses Projekt hatte Joel mehr zu tun, als er je für möglich gehalten hatte, vor allem nach seinem Umzug nach Mure, wo er eigentlich ein ruhigeres Leben angestrebt hatte.

»So gut also?«, sagte Flora und warf einen Blick auf die Uhr. Im Moment war Joel in Mexico City, wo es jetzt zehn Uhr morgens war.

»Viel zu gut«, antwortete Joel. »Und das ist ein Problem, weil alle der Meinung sind, dass ich dafür verantwortlich bin.«

»Bist du ja auch«, sagte Flora. Für sie war Joel der beste und klügste Mann, dem sie je begegnet war. Dass der Rest der Welt es langsam auch zu begreifen begann, wunderte sie nicht im Geringsten.

Joel räusperte sich. »Ich denke mal, die Tausende von echten Wissenschaftlern haben dazu wohl auch beigetragen. Na ja, ich will jedenfalls nur noch nach Hause.«

Aus alter Gewohnheit suchte Flora mit Blicken das Meer ab. Da war irgendwo eine Walschule in der Nähe, das konnte sie spüren, allerdings war am Horizont trotz des bewegten Wassers nichts zu sehen.

Alle auf der Insel wussten, dass die MacKenzie-Frauen von den Selkies abstammten, von Seehundmenschen. Das helle Haar und die durchsichtigen Augen machten ihre Verwandtschaft mit diesen Wesen aus dem Meer, die eines Tages dorthin zurückkehren mochten, unverkennbar.

Auf Bemerkungen dazu murmelte Flora nur, dass so etwas doch Unsinn sei. Aber auch sie konnte nicht verleugnen, dass sie zu den wilden Tieren vor der Küste der Insel einen besonderen Draht hatte. Sie fühlte eine ganz spezielle Verbundenheit, vor allem zu den Walen.

Aber das ging doch bestimmt allen Inselbewohnern so, sagte sie sich.

»Komm zurück, bevor die Wale hier sind«, bat sie Joel. »Dann liegt noch der ganze Sommer vor uns.«

»In Ordnung, mein Selkie-Mädchen«, sagte Joel, der in sich hineinlächelte. Manchmal gefiel ihm die Vorstellung, dass Flora ein Wesen aus dem Meer war.

Obwohl er einst ein eifriger Bahnenschwimmer gewesen war, mochte Joel selbst das tiefe Meerwasser überhaupt nicht, was er vor allen außer Flora geheim hielt. Um diese Abneigung zu überwinden, hatte er sich sogar als Freiwilliger für die Seenotrettungsgruppe der Royal National Lifeboat Institution gemeldet.

»So, ich mache mich dann wohl mal wieder an die Arbeit.«

»Pass gut auf dich auf!«, bat Flora mit gerunzelter Stirn. »Ist es da, wo du bist, eigentlich gefährlich?«

Man konnte Joel anhören, dass er lächelte. »Das ist es im Vergleich zu Mure doch überall«, sagte er. »Was dir gefährlich erscheint, ist es rational gesehen meist nicht.«

Damit hatte er recht. Clark, der Polizist vor Ort, arbeitete quasi Vollzeit auf seinem Bauernhof und wurde nur gelegentlich mal gerufen, wenn es am Markttag spätabends Theater vor dem Harbour’s Rest gab oder wenn Touristen die ausdrückliche Empfehlung, keine Autos auf die Insel mitzubringen, ignoriert hatten und dann beim Parken ein wenig zu optimistisch waren.

Hier auf Mure kannte mehr oder weniger jeder jeden, und die Kinder stromerten die meiste Zeit des Jahres unbeaufsichtigt herum.

»Wie geht’s Douglas? Läuft er schon?«

»Hör auf, ihm Druck zu machen!«

Alle MacKenzies hatten wohl mit neun Monaten ihre ersten Schritte gewagt. Da Douglas schon beinahe ein Jahr alt war, bestand also eine gewisse Erwartung.

»Mach ich doch gar nicht! Ich will einfach nur bei euch sein!«

»Oh, na ja. In diesem Fall: Er besteht weiterhin vor allem aus Sabber und Rotz.«

»Gut, gut«, murmelte Joel. Obwohl er selbst kaum elterliche Zuneigung gekannt hatte, hatte er sich zu dem hingebungsvollsten Vater entwickelt, den man sich nur vorstellen konnte. »Und über eins müssen wir noch reden, nämlich über … Ach nein, so dringend ist das nun auch wieder nicht.«

»Was denn?«, fragte Flora, die jetzt kerzengerade dasaß. Der Satz »Wir müssen reden« brachte ihrer Erfahrung nach nie etwas Gutes mit sich.

»Ach, nichts, ehrlich. Lass uns warten, bis ich zurück bin.«

»Aber das dauert doch noch Tage. Und jetzt krieg ich Panik und denke, dass es etwas Schlimmes ist.«

»Es ist nichts Schlimmes«, versicherte Joel. »Finde ich jedenfalls.«

»Was? O mein Gott, o mein Gott, o mein Gott, was denn nur?«

»Nichts! Wirklich!«

»JETZT SPUCK ES SCHON AUS!«

»Wenn ich wieder da bin … könnten wir dann über die Hochzeit reden?«

»Über unsere Hochzeit?«

»Nein«, schnaubte Joel, »über eine der vielen anderen Hochzeiten, an denen ich so reges Interesse habe. Steht bei den Kardashians gerade keine an?«

Nach dem Telefonat machte sich Flora auf den Weg zu ihrem Büro und fragte sich, was Joel damit wohl gemeint hatte – abblasen wollte er die Hochzeit wohl nicht, wenn er Witze über die Kardashians riss. Trotzdem …

Er hatte Flora den Antrag an Weihnachten gemacht, was toll und einfach wunderbar gewesen war. Einerseits sprach eigentlich nichts dagegen, dass die Feier noch diesen Sommer über die Bühne ging – andererseits hatte Joel immer etwas widerwillig gewirkt, wenn es darum ging, die Details zu klären.

Flora wäre es sehr recht gewesen, wenn er ihr einfach freie Hand gelassen hätte, immerhin standen ihr ja ein Hotel mit Chefkoch und jede Menge Kuchen zur Verfügung, aber auch das hatte er so nicht gesagt. Und wenn sie wirklich in ein paar Monaten heiraten wollten, mussten sie sich langsam mal ranhalten …

Flora schaute hinüber zum nördlichen Ende des Endless Beach. Dort hatten sich Touristen in optimistischen Badesachen und weitaus realistischeren Anoraks breitgemacht. Von Zeit zu Zeit näherte sich jemand dem Wasser und steckte die Zehen hinein. Es sah ja auch einladend aus, wie es in karibischem Blau sanft an den perfekten weißen Sandstrand schwappte. Allerdings zuckte jeder, der sich vorgewagt hatte, angesichts der Temperatur unweigerlich entsetzt zurück.

Flora lächelte.

Egal, wie heiß die Sonne vom Himmel brennen mochte: Das war immer noch der Nordatlantik.

Im Lauf des Winters tauchten hier immer wieder sogenannte Wildschwimmer mit teurer Ausrüstung und riesigen Bademänteln auf, die laut tönten, wie super und fantastisch das Schwimmen in offenen Gewässern doch war, wie es ihr Leben komplett verändert hatte. Die konnte man dann dabei beobachten, wie sie maximal fünf Minuten immer wieder ins Wasser rannten, um sofort ans Ufer zurückzukehren. Auf Mure nannte man das einfach nur »Schwimmen«.

Flora betrat ihr Büro und warf durchs Fenster einen Blick nach draußen. Oh, da waren sie ja!

Eigentlich hatte sie damit gerechnet, ihnen draußen über den Weg zu laufen – gerade versuchten ihr Dad Eck und einer ihrer Brüder, Hamish, Douglas zum aufrechten Stehen zu bewegen.

Jetzt kam Agot zur Tür herein, die Tochter von Floras Bruder Innes, und schniefte abfällig. »Das mit dem Laufen hat dieses Baby ECHT NICHT DRAUF! Tha e gòrach.« Agot sprach mit ihrer Mutter Gälisch und murmelte in dieser Sprache generell gern vor sich hin, vor allem freche Bemerkungen, die sie eigentlich besser nicht laut aussprechen sollte.

Floras drolliges Kind mit seiner ernsten Miene war seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Gehüllt in etwa neun Lagen von Wollsachen, mit denen Inselbewohner, die stricken konnten (und das konnten auf Mure die meisten), Douglas ausgestattet hatten, hockte er im Gras und beäugte seine Verwandten misstrauisch.

Diesen Blick kannte Flora nur zu gut von seinem Vater, und er bedeutete: »Was auch immer ihr von mir wollt, ich werde tun, was ich für richtig halte, und zwar dann, wenn es mir passt.« Diese Haltung machte Joel zu einem so ausgezeichneten Anwalt und manchmal einem ziemlich nervigen Partner.

Trotzdem fand Flora es schön, die drei Generationen von MacKenzie-Männern zusammen zu sehen. Und dann war da auch noch Bramble, der sich auf die Suche nach der matschigsten Stelle im Blumenbeet machte, um sich darin herumzuwälzen. Dabei mied er die Aufmerksamkeiten des meist etwas zu enthusiastischen Bjårk Bjårkensson, des riesigen und ungestümen Küchenhundes. Sie sollten hier wirklich keinen Küchenhund haben, dachte Flora wieder einmal und ging ans Telefon, das jetzt klingelte: »Hotel The Rock, hallo!«

»Ja, hi.« Die Stimme klang ruhig und ausdruckslos. Von der ersten Silbe an war klar, dass diese Person daran gewöhnt war, stets ihren Willen zu bekommen. »Spreche ich da mit der Geschäftsführerin des Hotels?«

Flora stöhnte innerlich auf. Was auch immer man ihr andrehen wollte, sie wollte es nicht kaufen und würde es sich sowieso nicht leisten können.

»Ja, das bin ich, Flora MacKenzie, aber wir sind eigentlich nicht …«

»Jan MacArthur hat mir Ihre Nummer gegeben.«

Ah. Jan MacArthur, geborene Mathieson, bot hier auf der Insel Camping- und Survival-Kurse an und hegte eine völlig unerklärliche Abneigung gegen Flora, die vor Urzeiten mal mit Jans Ehemann rumgemacht hatte. Tatsächlich lange, bevor sie geheiratet hatten, was aber keine Entschuldigung zu sein schien.

»Ah, super!«, versetzte Flora mit heiterer Stimme.

»Ehrlich gesagt wollte sie mich ja davon abhalten, aber ich habe den Artikel über Sie gesehen …«

Letztes Jahr hatte sich an Weihnachten eine Journalistin im Hotel eingeschlichen, um einen Schmähartikel darüber zu schreiben. Am Ende hatte sie ihre Zeit hier allerdings so genossen, dass sie stattdessen ins Schwärmen verfallen war.

»Na ja. Ich wollte mit Ihnen über eine Hochzeit sprechen.«

Darauf war Flora vorbereitet. »Tut mir leid, aber Hochzeiten richten wir nicht aus«, sagte sie entschuldigend.

Tatsächlich hatte sie das schon irgendwann vor, denn ständig riefen Leute an und fragten danach. Außerdem konnte man sich dafür kaum einen malerischeren Ort vorstellen.

Aber das Hotel war ja erst seit drei Monaten wirklich geöffnet. Flora wollte erst einmal sichergehen, dass sie so etwas packen könnten, dass Gaspard keinen Zusammenbruch erleiden würde, dass die Gäste nicht ins Blumenbeet kotzen würden und dass sie hundert Leute gleichzeitig bedienen könnten. Dann wollte sie auf jeden Fall auch das Thema Hochzeiten in Angriff nehmen.

Bevor sie das Ganze anging, sollte die Hochzeit von Joel und ihr quasi als Testlauf dienen. Das war zumindest der Plan.

Allerdings steckte hinter ihrem Zögern noch mehr: Flora ging einfach die Hochzeit von Colton und Fintan nicht aus dem Kopf.

Sie hatte an einem wirklich zauberhaften Tag stattgefunden, alles war bis ins kleinste Detail geplant gewesen, einfach wunderbar – Wetter, Essen, Gäste, Trinksprüche, Reden, jedes dieser Elemente hatte unter dem leuchtend blauen Himmel zur reinsten Traumhochzeit beigetragen. Aber auch das hatte nicht verhindert, dass der Krebs Colton im Lauf des folgenden Jahres zerfressen hatte, was Fintan das Herz gebrochen hatte. Und deshalb waren jetzt alle ein bisschen abergläubisch.

»Jan hat gesagt, dass Sie für uns eine Ausnahme machen würden. Ich heiße Jacinth und rufe im Namen von Jans Schwester an.«

Flora riss die Augen auf. »Meinen Sie etwa Olivia?«

»Genau.«

Kapitel 2

Agot wusste nur zu gut, dass sie nach der Schule nicht im Hotel vorbeischauen, sondern direkt zum Bauernhaus gehen sollte.

Leider war sie in der Hotelküche äußerst beliebt, und Gaspard hatte sie unter seine Fittiche genommen. Er versuchte, mit Sachen wie Oliven, Sardellen, Entenherz, rohem Knoblauch und allem, was gerade Saison hatte, ihren Gaumen zu schulen.

Das wiederum führte vor allem dazu, dass sie Fintan bat, seinen Käse noch stinkiger zu machen, worauf außer Bramble sonst niemand scharf war.

Etwas später brach Flora jedenfalls mit ihrer Nichte auf, um sie auf dem Hof abzuliefern.

»O mein Gott, Olivia Mathieson!«, rief Flora aus, als sie zur Tür hereinkamen.

Innes lag nach der harten Arbeit des Tages ausgestreckt auf dem Sofa. Douglas hockte auf ihm und zog an Knöpfen der Kleidung seines Onkels herum.

Das kalte Sonnenlicht fiel herein und ließ den Raum mit seinen schäbigen Teppichen, den alten Familienfotos, stapelweise früheren Ausgaben des wöchentlichen Bauernmagazins und dem angeschlagenen Geschirr im Küchenschrank gemütlich und einladend aussehen.

»Dein Sohn ist einfach dämlich, Schwesterchen«, sagte Innes, ohne aufzustehen, während er Douglas zugleich liebevoll über die Wangen strich. »Der kann immer noch nicht laufen! Alle MacKenzie-Babys waren mit neun Monaten auf den Beinen! Jedes einzelne!«

»Er wird mit dem Laufen anfangen, wann er will!«

»Vielleicht könnten wir ihm ein paar Bürsten unterschnallen, damit er beim Krabbeln ein bisschen die obere Scheune fegt.«

»Halt den Mund!«, sagte Flora, während Douglas seine dicken Ärmchen nach ihr ausstreckte. Dabei schien er allerdings immer ein wenig enttäuscht zu sein, dachte Flora jedes Mal, dass sie nicht sein heiß geliebter Vater war.

Durch Eck, Joel und Floras drei Brüder wurde Douglas’ Leben weitestgehend von Männern bestimmt.

Es wäre schön gewesen, wenn seine Cousine Agot ein bisschen Interesse für ihn aufbringen würde, aber Agot empfand Douglas gegenüber tödlichen, unerbittlichen Hass.

»Ich glaube, DIESES BABY hat die Windel voll«, sagte sie jetzt und verzog ihr kleines Näschen. »Ich finde es ganz doof, dass jemand hier im Haus kackt. Selbst Bramble kackt nicht im Haus, und er ist nur ein Hund.«

»Hör auf, übers Kacken zu reden«, murmelte Innes.

»Kack, kack, kack«, trällerte Agot augenblicklich. »Kack, kack, kack, kack, kack.«

»Ich wechsle mal seine Windel«, sagte Flora und hob Douglas hoch.

»Moment!«, rief Innes. »Hast du gerade etwa ›Olivia Mathieson‹ gesagt?« Ruckartig setzte er sich auf.

»Äh, ja«, antwortete Flora über die Schulter hinweg, während sie Douglas ins Badezimmer trug.

Innes stand auf und folgte ihr. »Wow! Olivia hab ich jetzt schon seit … Gott, seit der Schulzeit nicht mehr gesehen.«

»Jan spricht nie über sie. Inzwischen hatte ich sie fast für eine Legende gehalten … Weißt du, du darfst Douglas durchaus auch mal wickeln«, bemerkte Flora beim Anblick der Giftmülldeponie in Douglas’ Windel.

Hektisch zog sich Innes zurück.

Als Flora mit einem süß duftenden Baby zurückkehrte, sang Agot immer noch das Kack-Lied, während Innes hastig auf dem uralten Laptop des Hofs herumscrollte.

»Sie ist nicht auf Facebook«, sagte er mit leicht verträumtem Gesichtsausdruck.

»Ich hatte in unserer gemeinsamen Schulzeit nie viel mit ihr zu tun, weil sie ihre eigene Clique hatte. Aber selbst damals war sie schon berühmt«, murmelte Flora.

»Olivia Mathieson«, wiederholte Innes noch einmal mit leicht ehrfürchtigem Tonfall, bevor er sich schuldbewusst umschaute. Seine Frau, Eilidh, war allerdings im Harbour’s Rest, um mit Inge-Britt etwas zu trinken.

»Wie ist sie denn so? Und warum spricht Jan nicht gern über sie? Ehrlich gesagt hab ich die beiden bisher gar nicht miteinander in Verbindung gebracht. Jan kannte ich damals auch nicht, aber darum war es wirklich nicht schade.«

Innes lächelte in sich hinein. »Oh, eine Schwester wie Olivia zu haben war für Jan nie leicht.«

»Warum nicht?«, fragte Flora fasziniert.

»Das schönste Mädchen der Insel«, sagte Innes. »Und auch in der Highschool die Schönste weit und breit.«

Diese Bemerkung ging Flora irgendwie gegen den Strich. »Ja, aber: Ist sie auch nett?«

Innes zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.«

»Bist du mal mit ihr ausgegangen?«

Innes war seinerzeit ein ziemlicher Insel-Casanova gewesen. Aber er schüttelte traurig den Kopf.

»Nee. Ich hab immer gedacht, dass ich vielleicht eine Chance bei ihr hätte, aber sie hat deutlich gemacht, dass sie mit Jungen von der Insel nichts zu tun haben wollte. Sie war ja kaum mal hier. Und du kennst doch Fraser, der hat richtig Geld.«

Tatsächlich waren die Mathiesons die reichste Familie auf der Insel. Zumindest waren sie das bis zu irgendeiner seltsamen Bitcoin-Geschichte gewesen, die niemand recht verstand. Flora hatte es sich mit Familienoberhaupt Fraser letztes Jahr verscherzt, als er versucht hatte, die Inselstatue abreißen zu lassen.

Aber mit der Zeit hatte der erbitterte Widerstand der Familie nachgelassen: Wenn man sich weigerte, sein Geburtstagsessen in The Rock zu veranstalten, und Sandwiches oder Gebäck nicht in Annies Küche kaufen wollte, hatte man auf Mure beim Thema Gastronomie leider nicht mehr viel Auswahl.

Daher hatten Fraser und der Rest der Familie unter Murren und Maulen begonnen, wieder die von Flora geführten Lokale zu besuchen. Wie ihr nicht entging, kritisierten sie dabei stets demonstrativ die Getränke, wenn sie mal etwas mit zu wenig Eiswürfeln fanden. Das Essen kritisierten sie nie, weil es da a) selten etwas zu kritisieren gab und sie b) furchtbare Angst vor Gaspard hatten.

»Und du willst ein berühmter Insel-Casanova gewesen sein?«, neckte Flora ihn, woraufhin Innes sofort ein Kissen nach ihr warf.

»Halt den Mund!« Er lächelte. »Also, was ist mit Olivia?«

»Sie will in The Rock heiraten.«

»Wer?«, fragte Fintan, der gerade aus der Milchkammer zurückkehrte und sich erst einmal die Hände im riesigen Spülbecken wusch. »Hey, Douglas! Hey, Agot!«

»Kacke!«

Fintan schaute Innes an, der mit arglosem Blick beide Hände hob.

»Agot, wie alt bist du eigentlich?«, fragte Fintan ernst. »Bist du schon eine große Siebenjährige oder etwa ein kleines Mädchen, das dauernd alberne Sachen sagt?«

»Ich bin kacke Jahre alt«, antwortete Agot, und Fintan gab es auf.

»Wer wird in The Rock heiraten?«, fragte er wieder.

»Olivia Mathieson.«

Fintan brach in Gelächter aus und presste sich dann mit gespielt schwärmerischem Gesichtsausdruck die Hände vor die Brust. »Ooooh, doch nicht etwa Olivia Mathieson, das liebreizendste Mädchen der ganzen verdammten Insel?«

»Ich kann mich kaum noch an sie erinnern«, sagte Flora.

»Sie hat ja auch die erstbeste Gelegenheit genutzt, um hier zu verschwinden. Die Beine in die Hand genommen, so wie du auch, wenn ich mich recht entsinne.«

Flora räusperte sich.

»Ist sie nicht in die Ferne entschwunden, um Model zu werden oder so? Sie kommt wohl nie zurück auf die Insel.«

»Wirklich schade.«

»Du hast uns doch auch nie besucht!«, rief Fintan aus, aber Flora brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.

»Ich wette, dass sie niemanden aus der Gegend heiratet«, sagte Innes, machte zwei Flaschen Bier auf und reichte eine davon Fintan, der sie dankbar entgegennahm.

»Und wo ist mein Bier?«, fragte Flora.

»Aber du stillst doch noch, oder?«

»Schon seit gut vier Monaten nicht mehr!«, entgegnete Flora und wünschte sich nicht zum ersten Mal, es gäbe mehr Frauen in ihrer Familie.

Jetzt holte Fintan auch ihr eine Flasche, die sie eigentlich gar nicht wollte. Aber es passte ihr nicht, nicht miteinbezogen zu werden.

»Und wen heiratet sie dann?«

»Das habe ich nicht gefragt«, antwortete Flora. »Beim Thema Hochzeiten sind die Bräutigame eigentlich nicht so wichtig.«

»So hab ich das aber nicht empfunden«, sagte Fintan, während ein unfassbar trauriger Ausdruck über sein Gesicht huschte. Coltons Tod war noch nicht einmal zwei Jahre her. Der Jahrestag ihrer Hochzeit, die auf dem Gelände von Coltons eigenem Hotel an einem strahlenden Tag stattgefunden hatte, fiel in den Sommer.

»Tut mir leid, Bruderherz«, sagte Flora sanft.

Fintan zuckte mit den Achseln. »Aye, na ja, es ist, wie es ist.«

Mit finsterer Miene starrte Innes wieder auf den Laptop. »Ich kann es nicht fassen. Endlich ist das Internet auf Mure gut genug, um auf Facebook zu gehen, und da schließen alle ihren Account.«

»Probier’s mal mit Instagram«, schlug Flora vor, während sie versuchte, gleichzeitig Douglas, ihr Bier und ihr Handy zu jonglieren.

Innes verzog das Gesicht.

»Instagram ist wirklich gut für uns«, rief ihm Flora in Erinnerung.

Iona, die inzwischen Annies Küche leitete, postete dort viele tolle Bilder von ihren Kuchen, dazwischen Fotos vom Hafen, den hübschen Häuschen und der tollen Landschaft. Da sie die meisten Aufnahmen an sonnigen Tagen machte, hatte sie allerdings den ein oder anderen in falscher Sicherheit gewiegt, sodass etliche Touristen für ihren Urlaub mit Badesachen anreisten.

Flora scrollte durch Instagram und fand schließlich Olivia Mathieson über die Leute, denen Jan folgte. Jan veröffentlichte viele Bilder von ihrem Baby, der kleinen Christabel mit den runden Wangen. Oft trugen Mutter und Tochter dabei das gleiche Outfit. Aber …

»Da ist sie ja!«, rief Innes nur Sekunden später aus. »Meine Herren, sie hat sich überhaupt nicht verändert.«

»O doch«, widersprach Fintan, der einen Blick über Innes’ Schulter warf. »Inzwischen sieht sie noch besser aus.«

Olivias Instagram war wirklich eine Nummer für sich.

Innes pfiff durch die Zähne.

Olivia war groß und gertenschlank, hatte dazu aber hoch sitzende, runde Brüste, die sie vorteilhaft in immer neuen, umwerfenden Bikinis und Cut-Out-Badeanzügen zur Schau stellte. Auf einem Bild stieg sie in ein Flugzeug, das nach einem Privatjet aussah. Auf einem anderen verzog sie die verdächtig voluminösen Lippen am Bug einer weißen Jacht zu einem Schmollmund. Auf wieder einem anderen wartete sie in einem äußerst edlen Geschäft darauf, dass jemand für sie eine Handtasche einpackte. Die Bilder waren fast alle von ihr, und sie zog auf jedem entweder den besagten Schmollmund oder zeigte ein strahlendes Lächeln mit gleichmäßigen, leuchtend weißen Zähnen.

Es bestand jedenfalls kein Zweifel daran, dass sie dauernd um die Welt jettete und unglaublich tolle Sachen machte – davon zeugten Infinitypools und Hochhäuser und L. A. und Hongkong und Singapur und die Hashtags #lovingmylife, #blessed, #beyourself.

Innes betrachtete etwas wehmütig die Bikinifotos, während Fintan und Flora einander auf die teuren Handtaschen aufmerksam machten.

Eins der letzten Fotos zeigte zwei miteinander verschlungene Hände, von denen eine einen Ring trug. Olivias zarter Finger schien das Gewicht des etwa legosteingroßen Diamanten daran kaum tragen zu können. Die Person, die ihr den Ring angesteckt hatte, war nicht zu sehen, aber man konnte hinter den verschlungenen Händen die Reling einer Jacht vor einem Sonnenuntergang erahnen. Das Bild hatte Tausende von Likes.

»Du meine Güte«, murmelte Fintan.

»O Mann«, sagte Flora. »Und sie will bei uns im Hotel heiraten.«

Flora lag die halbe Nacht wach und machte sich darüber Sorgen, was um alles in der Welt eine reiche Instagram-Influencerin wohl von ihnen erwarten würde und ob sie das übernehmen sollte oder nicht. Natürlich könnte sie einfach Nein sagen. Aber Olivia stammte doch von der Insel. Wenn sie plötzlich zurück zu ihren Wurzeln wollte – na ja, dann hatte Flora wohl kein Recht, ihr das zu verwehren, oder?

Mal abgesehen davon: Wenn man sie nicht in The Rock feiern ließ, würde Olivia womöglich das einzige andere Lokal auf Mure mieten, das Harbour’s Rest, und das wäre doch wirklich nicht schön. Ja, das große schwarz-weiße Hotel direkt am Hafen hatte durchaus etwas Gemütliches an sich, aber es wurde nachlässig geführt und war auch halb verfallen.

Diese Vorstellung tat Flora in der Seele weh. Und irgendwo musste The Rock doch anfangen, oder nicht? Außerdem würden sie das Geld gut gebrauchen können. Die Kosten für das Personal waren schließlich hoch. Und Gaspard war absolut genial, akzeptierte für die Küche aber nur hochwertigste Zutaten.

Und es wäre so schön, dachte Flora, wenn das glückliche Lachen gut gekleideter Menschen, die Trinksprüche ausbringen und Spaß haben, durch die Räume von The Rock hallen würde. Falls Olivias Freundinnen alle so schön waren wie sie, wäre das die reinste Augenweide …

Bereits halb überzeugt döste Flora schließlich ein. In Gedanken schickte sie noch Joel einen Gutenachtkuss und fügte die Entscheidung über die Hochzeit zu der langen Liste von Aufgaben hinzu, die am nächsten Tag nach Douglas’ Vorsorgeuntersuchung auf sie warteten.

Hätte jemand sie danach gefragt, hätte sie diese Termine wohl als reine Zeitverschwendung bezeichnet, da Douglas ja gesund war, wuchs und gedieh.

Wie viele junge Mütter hatte sie insgeheim allerdings große Freude an Unterhaltungen über ihr Baby, auch wenn der Gesprächspartner trockene medizinische Fragen stellte und dafür bezahlt wurde. Und angesichts all der Arbeit, die sie im Moment hatte, ging ein Besuch in der Arztpraxis geradezu als Freizeit durch.

Kapitel 3

Die Fähre ruckelte bei der Einfahrt in den Hafen.

Neda Okonjo genoss es immer, auf Mure anzukommen, vor allem an einem kalten, sonnigen Tag wie heute. Sie lebte in Glasgow und kümmerte sich dort um die gesellschaftliche Eingliederung von Flüchtlingen, die in manchen Fällen gut gelang, in anderen weniger gut.

Die Vermittlung von Dr. Saif Hassan nach Mure war eine ihrer größten Erfolgsgeschichten: Er hatte die Praxis eines tatterigen alten Inselarztes übernommen und war mit seiner ruhigen, geduldigen Art, seiner Gründlichkeit und Freundlichkeit äußerst beliebt bei seinen Patienten.

Heute sollte Neda kurz nach seinen beiden Söhnen sehen, die bei ihm lebten, und hatte außerdem wunderbare Neuigkeiten für ihn im Gepäck.

Neda setzte ein schiefes Lächeln auf, als sie zu dem riesigen Engel hochschaute, den einfach jemand an den Stadtrand gesetzt hatte. Die Statue hatte sich zu einer richtigen Touristenattraktion gemausert. Tatsächlich hatte sie mit den großen, ausgebreiteten Engelsflügeln durchaus etwas Beeindruckendes an sich, wenn die Sonne direkt darauf fiel.

Mure war schon ein schönes Fleckchen Erde, dachte Neda.

Wenn sie nicht durch die Arbeit an Glasgow gebunden wäre und wenn Mhairi nicht so sehr an ihrer Stelle in der Bücherei und an all den Restaurants und Kneipen im West End hängen würde … Nein, für sie beide war es nichts weiter als ein Luftschloss. Dennoch konnte Neda verstehen, warum manche Menschen so gern hier lebten.

Die Abläufe in Saifs Alltag kannte Neda gut: Er machte um drei Uhr in der Praxis Schluss, um die Jungen abzuholen.

Dabei hatte Ib ihn mehr als einmal darauf hingewiesen, dass er nun wirklich nicht mehr wie ein kleines Kind von der Schule abgeholt zu werden brauchte, schließlich war er jetzt in der höchsten Klasse der Grundschule. (Um ihm Zeit für die Eingewöhnung zu geben, hatte man ihn hier in Schottland eine Klasse tiefer eingeschult.)

Wenn die Kinder zu Hause mit einem Erdnussbuttersandwich vor dem Fernseher saßen und Horrible Histories guckten oder an so schönen Tagen wie heute zusammen im Garten hinter dem Haus Fußball spielten, machte Saif seine Hausbesuche, während Mrs Laird seine Söhne im Auge behielt.

Jetzt gerade war Saif mit seiner morgendlichen Sprechstunde beschäftigt, was Neda wunderbar passte, weil sie noch ein paar Formulare auszufüllen hatte und das gern in Annies Küche bei einer großen Tasse Kaffee und einem duftenden, noch ofenwarmen Käsescone tun wollte – einem so leckeren Käsescone, wie man ihn nirgendwo sonst bekam. Die Enthüllung ihrer guten Nachricht konnte noch ein bisschen warten, aber sie freute sich schon darauf, genau wie auf das Gespräch mit den beiden lieben Jungen. Einen besseren Arbeitstag konnte man sich eigentlich kaum vorstellen.

Auf dem Festland übernahmen normalerweise Krankenschwestern die Kindervorsorgeuntersuchungen, auf der abgelegenen, kleinen Insel Mure gab es dafür aber kein Personal, daher machte Saif das selbst.

Und für gewöhnlich genoss er es auch: Gesunde Patienten waren immer ein Plus, und er staunte jedes Mal darüber, wie schnell schwangere Frauen zu Müttern wurden und wie Kinder, die von ihm gerade erst die Dreifachimpfung bekommen hatten, plötzlich kurz vor der Einschulung standen.

Manchmal erfüllte ihn die Tatsache, wie schnell Kinder groß wurden, mit einer gewissen Panik. Er musste daran zurückdenken, wie seine Frau Amena damals mit ihren Söhnen zum großen, lauten Krankenhaus in der Nähe gefahren war, obwohl er durchaus selbst dazu in der Lage gewesen wäre, die Entwicklung der Jungen im Auge zu behalten.

Sie hatte ihm allerdings erklärt, dass sie die Termine dort immer gern wahrnahm, denn dann konnte sie jedes Mal sehen, wie viel besser und schöner ihre Söhne im Vergleich mit den anderen Babys doch waren.

Saif hatte eingewandt, dass die anderen Mütter sicher dasselbe dachten. Daraufhin hatte sie ihn nur mitleidig angesehen. »Ja«, hatte sie bemerkt, »wirklich traurig, wie blauäugig die sind.«

Heute hatte als Erstes Flora MacKenzie mit dem kleinen Douglas einen Termin, der bald ein Jahr werden würde und mit seinen dunklen Locken und dem intensiven Blick Joel so sehr ähnelte.

Flora grinste, als Saif ihr Baby wog und seine Reflexe überprüfte. »Meine Brüder sagen, er ist ein Idiot, weil er das mit dem Laufen noch nicht hinkriegt und auch sonst nicht besonders viel«, sagte sie.

»Sitzen kann er ja«, meinte Saif und probierte es gleich noch einmal aus.

Douglas blieb konzentriert sitzen, ließ wie ein kleiner Pascha den Blick durch das Sprechzimmer wandern und streckte die Hand nach einer Spielzeuggiraffe aus, die bei Saif auf dem Schreibtisch stand.

»Ja, allerdings kaum krabbeln. Er schiebt sich einfach auf dem Hintern voran! Einer von meinen Brüdern glaubt ja, dass er total beschränkt ist und irgendwann im Knast enden wird.«

»Etwa der Vater von Agot?«, fragte Saif, dessen Mundwinkel zuckten. Agot war die beste Freundin seines Sohnes Ash und verteidigte ihn immer gegen den Rest der Welt. Die beiden waren ein eingeschworenes Duo.

»Ja, genau. Also habe ich zu ihm gesagt: ›Lieber ein sabbernder Idiot als eine bösartige Psychopathin, die eines Tages die Weltherrschaft an sich reißt.‹ Statt mir zu widersprechen, hat er nur entgegnet: ›Diese Worte wird sie nach der Machtübernahme nicht vergessen haben.‹«

Saif lächelte und ließ seinen Stift durch die Luft wandern, dem Douglas mit Blicken folgte. Beide Augen bewegten sich parallel.

Dann setzte Saif ihm Kopfhörer auf und bat Flora, davon kein Foto zu machen, auch wenn sie es furchtbar lustig fand.

»Aber er ist so niedlich!«

»Lenk ihn bitte nicht ab!«, sagte Saif und testete das Gehör mit mehreren Knöpfen. Die Reaktionen des Babys passten zur Richtung der Töne.

»Was für Wörter und Laute benutzt er so?«

»Gar keine! O Gott, hat Innes etwa recht? Joel sagt, mit Douglas ist alles in Ordnung, und ich soll Innes einfach ignorieren.«

»Ich kann dir nach meinem besten Wissen versichern, dass mit Douglas tatsächlich alles in Ordnung ist«, sagte Saif, während er noch das Herz abhörte und dem Baby ein Maßband um den Kopf legte. Er versteckte die Giraffe hinter dem Rücken und beobachtete, wie Douglas auf die Stelle zeigte, an der er das Spielzeug vermutete.

»Braver Junge!«, sagte er. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.«

»Außer wegen der …«

Saif lächelte und holte die Spritze. »Ich verspreche dir, dass es ganz schnell geht.«

»Weiß ich doch«, sagte Flora. »Aber ich hasse das einfach. Ich meine, diesem Baby ist noch nie irgendetwas Schlimmes zugestoßen. Und dann kommt der Mensch, der ihn auf dieser Welt am meisten liebt, dem er völlig vertraut, und hält ihn fest, während du ihm wehtust. Mir kommt das wie der Anfang vom Ende seiner Unschuld vor.«

»Ist aber zugleich«, sagte Saif beim Tippen gegen die Spritze, »Anfang und Ende seiner Masern.«

Douglas schaute erschrocken drein, als die Nadel in seinen molligen Oberschenkel eindrang, erholte sich nach einem kleinen Aufschrei und einer dicken Umarmung aber schnell wieder.

»Damit hätten wir’s«, sagte Saif. Er schaute Flora an. »Und du selbst, wie geht es dir?«

»Was meinst du?«

Er zuckte mit den Achseln. Diese Frage war manchmal ein wenig heikel. »Wie ergeht es dir mit deiner Rolle als Mutter?«

»Oh!« Jetzt hatte Flora ihn verstanden. Sie grinste Douglas an, der zurückgrinste und dabei seine fünf Zähnchen zeigte.

»Na ja, es ist ganz schön anstrengend, absolut furchtbar: Ich werde nie wieder in meine alten Jeans passen, und irgendwie bin ich die ganze Zeit schmuddelig. Außerdem können Joel und ich keinen Satz zu Ende bringen, bevor einer von uns das Baby hochnehmen muss oder mittendrin einschläft. Und rein theoretisch hab ich vor vier Monaten mit dem Stillen aufgehört, doch Douglas möchte zum Einschlafen manchmal noch an die Brust, und dann bringe ich es einfach nicht über mich, ihm das zu verweigern … Aber erzähl es bitte niemandem, denn es bedeutet ja wohl, dass ich eine schrecklich nachgiebige Mutter werde, die keinerlei Rückgrat zeigt und ein absolutes Blag großziehen wird. Außerdem kann ich mich nicht auf meine Beziehung, die Arbeit, meine Freunde, den Haushalt und das Baby gleichzeitig konzentrieren, was heißt, dass ich all das gleich schlecht erledige.« Sie lächelte wieder. »Und ich bin vollauf begeistert.«

Saif nickte und notierte sich etwas. »Das ist alles ganz normal.«

»Danke, Herr Doktor«, grinste Flora. »Ich hab dir ein Stück Bakewell-Kuchen mitgebracht.«

»Das ist nett.« Die meisten Frauen auf der Insel fanden, dass man Saif ein bisschen päppeln musste, aber Floras essbare Geschenke waren bei Weitem die leckersten.

»Und, was hast du heute noch so vor?«

»Ich muss zur Arbeit, dann werde ich Joel anrufen, und dann werden wir eine Telefonkonferenz organisieren, um zusammen meinen blöden Brüdern zu erklären, dass mein Baby perfekt ist. Könntest du mir dafür vielleicht eine Bescheinigung mitgeben? Und am besten einen Anstecker oder eine Medaille, auf der steht, dass mein Baby das tollste ist?«

Saif lächelte. »Eine gute Idee. Ich sollte unter den Babys auf der Insel Noten verteilen, das würde bestimmt gut laufen.«

»Lorna hat mal erwähnt, dass du ziemlich sarkastisch sein kannst«, sagte Flora. Das war ihre beste Freundin, die heimlich mit Saif zusammen war. »Aber ich interpretiere das jetzt mal als ernst gemeint.«

Und dann verließ sie mit Douglas, der sich beruhigt hatte und schon wieder übers ganze Gesicht strahlte, das Sprechzimmer.

Im Wartezimmer versuchte Jan gerade, Christabel zu beruhigen, die mit puterrotem Gesicht in ihrem Kinderwagen tobte und sich wand.

Bis vor vierundzwanzig Stunden hatte sich Jan noch auf den heutigen Vorsorgetermin gefreut, schließlich war Christabel hochbegabt, wie Saif gleich selbst feststellen würde.

Gestern war jedoch etwas Furchtbares passiert. Okay, so furchtbar war es nun auch wieder nicht, das wusste sie ja selbst. Manche Leute würden sich sogar für ihre von allen bewunderte, reiche, schöne und talentierte Schwester freuen, die jetzt nach Hause zurückkehren würde, um triumphierend vor aller Augen einen Millionär zu heiraten.

Aber die hatten ja auch nicht mit ihr zusammenleben müssen.

Eine von Jans frühesten Erinnerungen bestand darin, dass eine alte Dame zu Senga, ihrer Mutter, herüberkam, auf Olivia zeigte und sagte: »Aber die da! Die ist ja niedlich!«, als wäre das völlig unerwartet.

Die behäbige, kurzsichtige Jan hatte danebengestanden und ganz unschuldig auf ihr eigenes Kompliment gewartet, das nie gekommen war.

Die beiden Schwestern waren herangewachsen, und es hatte nie eine Rolle gespielt, wie gut Jan in der Schule gewesen war und wie brav sie ihr Gemüse aufgegessen hatte.

Olivia war anmutig, hübsch und zuckersüß – zu allen außer Jan, der sie in die stämmigen Beine kniff, sobald die Erwachsenen ihnen den Rücken zuwandten. Wenn sich Jan darüber beschwerte, hatte Olivia plötzlich Tränen in den schönen grünen Augen und behauptete, es sei ein Versehen gewesen. Wenn Jan zurückschlug, ging das für sie immer übel aus.

Jan lernte, ihre kleine Schwester zu ignorieren, mit zunehmendem Alter wurde aber alles nur noch schlimmer, da Olivia unfassbar beliebt war.

Jeder wollte mit dem Mädchen befreundet sein, das wie Schneewittchen aussah und in dem großen Haus mit Whirlpool lebte. (Bis heute war es der einzige Whirlpool auf Mure in einem Privathaushalt und immer noch eine echte Sensation.) Jedenfalls geriet die seltsame, unscheinbare ältere Schwester dadurch zunehmend ins Abseits, während Olivia immer mehr auftrumpfte.

Irgendwann gab Jan den Gedanken an eine Freundschaft mit anderen Mädchen, die in ihren Augen ja doch nur alle boshaft waren, völlig auf.

Später konnte sie ihrem Leben dadurch einen Sinn verleihen, dass sie für Outward Adventures mit kleinen Jungen arbeitete, die auf eine Förderschule gingen. Ihre Schwester erwähnte sie nie (und ihre Mutter war klug genug, in Jans Gegenwart nie die Sprache auf Olivia zu bringen).

Diese winzige, engstirnige Insel hatte Olivia hinter sich gelassen, sobald sie konnte.

Sie war nach London gezogen, hatte ein bisschen gemodelt und dann eine nicht näher definierte Arbeit im Bereich Tourismus-PR ergattert, durch die sie ständig unterwegs zu den nobelsten Reisezielen war, die man auf ihren Instagramfotos bewundern konnte. Außerdem war sie, dem riesigen Klunker an ihrem Finger nach zu urteilen, jetzt mit einem wirklich, wirklich reichen Mann verlobt.

Und nun kam diese Schwester plötzlich zurück! Sie würde mit einem vermutlich superreichen, supersexy Liebhaber in Jans Territorium einfallen, und es würde wieder genauso wie damals in der Schule sein.

Olivia hatte sich noch nicht einmal dazu herabgelassen, zu Jans Hochzeit zu kommen. Sie hatte behauptet, in Hongkong zu tun zu haben, und als Geschenk ein unglaublich teures Louis-Vuitton-Gepäckset geschickt. Dabei hätte sie doch genau wissen müssen, dass Jan nie verreiste und deshalb überhaupt keine Verwendung dafür hatte.

Und Jan würde sich jetzt mit Sicherheit wieder ein Jahr lang von allen anhören müssen, wie toll Olivia doch war. Na super!

»Hallo!«, sagte Flora zu Jan, als sie auf dem Weg nach draußen einen Blick ins Wartezimmer warf. Sie gab sich ja Mühe, nett zu sein, bekam im Gegenzug aber wie üblich nicht viel zurück. »Wir sind schon fertig. Viel Glück!«

Jan beäugte Douglas so misstrauisch, als würde mit ihm irgendetwas nicht stimmen.

Arzthelferin Jeannie schaute zu ihnen herüber. »Okay, Miss Christabel MacArthur, jetzt sind Sie an der Reihe!«

Mit leuchtend rotem Gesicht zeterte Christabel nur noch lauter, als Jan an den Gurten herumfummelte.

»Viel Glück!«, sagte Flora wieder und bekam ein schlechtes Gewissen, weil Jan ihr einen bösen Blick zuwarf.

»Ich denke«, sagte Jan, »sie ist hochbegabt.«

Auch im Sprechzimmer hörte Christabel nicht mit dem Gebrüll auf.

»Sie kann schon sprechen und die Babyzeichensprache.«

»Sehr gut«, murmelte Saif, während er sein Stethoskop anwärmte, obwohl er Babygebärden ja eher argwöhnisch gegenüberstand.

Jetzt benutzte Christabel aber gerade ein Zeichen, das man kaum missverstehen konnte. Wie sie mit den Armen wedelte und um sich schlug, hieß eindeutig: »BLEIB WEG VON MIR, FREMDER MANN!«

»Hallo, kleines Baby, keine Sorge«, sagte er sacht.

»Sie ist für ihr Alter wirklich weit entwickelt«, fuhr Jan ungerührt fort.

Christabel biss Saif in den Finger.

»Okay«, sagte er, löste sich so vorsichtig wie möglich von dem Baby und hielt es seiner Mutter hin. »Bei den nächsten Untersuchungen bleibt sie am besten bei Ihnen auf dem Arm, aber bitte mit dem Gesicht zu mir.«

Er betrachtete Jan. Normalerweise hatte sie doch alles unter Kontrolle und hielt auf dem Zeltplatz die Zügel in der Hand. Ihre Kurse kannte Saif, weil seine Jungen da mitgemacht und wirklich viel Spaß gehabt hatten. Aber heute wirkte Jan traurig und bedrückt. Das zu einer praktischen Kurzhaarfrisur geschnittene graue Haar war ein wenig verwuschelt, ihre Brille verschmiert und die aufeinandergepressten Lippen nach unten verzogen.

Jan griff unwillig, beinahe grob, nach ihrer Tochter, deren Gebrüll noch lauter wurde.

Saif runzelte die Stirn. Der Unterschied zu Flora, die zwar gestresst war, das wie so viele Mütter aber gern in Kauf nahm, war ziemlich offensichtlich.

Saif untersuchte das Kind und sprach dabei mit Jan. »Und Ihnen selbst, wie geht es Ihnen so?«

Kurzes Schweigen.

»Wunderbar«, knurrte Jan. »Warum sollte es mir nicht gut gehen?«

Saif runzelte die Stirn. »Für einige Menschen ist es eine ziemlich … einschneidende Erfahrung, ein Kind zu bekommen. Manche finden es schwierig.«

»Ich nicht«, erwiderte Jan sofort. »Schließlich kümmere ich mich doch ständig um Kinder und bin in meinem Job gut. Ich hab ja auch mal auf Ihre Jungen aufgepasst.«

»Ich weiß«, lächelte Saif, der bewusst darauf achtete, dass seine Stimme behutsam und freundlich blieb. »Und dafür bin ich sehr dankbar. Die beiden fanden es toll, Zeit mit Ihnen zu verbringen.«

Jan war drauf und dran, ihm von Olivia zu erzählen. Dieser große, dünne Doktor mit den riesigen Welpenaugen hatte so etwas an sich … mit seiner fast greifbaren Aura von Traurigkeit, von Einsamkeit vermittelte er den Eindruck, alles verstehen zu können. Er war so sanft und vorsichtig und ruhig.

Beinahe hätte Jan sich ein Herz gefasst. Doch in diesem Moment wurde sie von Christabel abgelenkt, die einen lauten Schrei ausstieß. Jan versuchte, ihre Tochter zu beruhigen, und danach war sie zum Reden einfach zu müde.

Als sie den besorgten Gesichtsausdruck des Arztes bemerkte, wiederholte sie unwillig: »Mir geht es gut!«, während er Christabels Augenbewegungen und ihr Gehör überprüfte.

»Schön«, sagte Saif und notierte genau das Gegenteil in seinen Unterlagen, nur für alle Fälle. »So, jetzt ist sie bereit für die Impfung.«

Während Jan die kreischende Christabel dafür festhielt, war sie schon wieder drauf und dran, etwas zu sagen. Sie wollte so gern mit jemandem sprechen, der sich mit Sicherheit freundlich und mitfühlend zeigen würde. Aber das würde ja nichts bringen, wäre mehr als sinnlos.

Olivia war jetzt erwachsen und leider nicht mit unbehandelbaren Furunkeln übersät, war entgegen Jans Erwartungen nicht hässlich geworden. Und inzwischen buhlten nicht mehr nur Frauen um ihre Freundschaft, nein, bei ihrem Anblick wurden Männer zu sabbernden Idioten, denen die Zunge aus dem Mund hing.

»Tschüs«, sagte Jan zum Abschied so barsch, als hätte sie Saif einen Riesengefallen damit getan, in der Praxis vorbeizuschauen.

»Bis bald«, antwortete Saif, der sich wirklich Sorgen um sie machte.

Wie immer war auch an diesem Vormittag viel zu tun. Drei weitere Termine mit Babys standen an, die für die Insel einen äußerst willkommenen Bevölkerungszuwachs darstellten. Und danach musste er sich natürlich auch um seine üblichen Patienten kümmern.

»Also«, begann Saif und blickte auf seine Notizen, »Sie leiden also am Erschöpfungssyndrom?«

Mattie McGuiness nickte eifrig. »Aye, ganz genau.«

Saif schloss einmal langsam die Augen und rieb sich nachdenklich den Bart. Normalerweise fand er es nicht so schlimm, wenn Leute Symptome googelten. Das konnte sogar ganz nützlich sein, wenn er die Patienten erst einmal davon überzeugt hatte, dass sie höchstwahrscheinlich nicht an Denguefieber litten. Aber manchmal war er doch verblüfft.

»Und die Symptome sind …«

»Na ja, wenn man morgens nicht so recht aus dem Bett kommt, hm? Und das Gefühl hat, dass alles irgendwie sinnlos ist.«

Saif ging die einzelnen Schritte für die Diagnose einer Depression durch – soweit er das einschätzen konnte, litt Mattie aber nicht im Geringsten an einer Depression. Er hatte wohl im Moment einfach ein bisschen die Schnauze voll von allem, das war Saifs persönliche Meinung, obwohl er das niemals sagen würde.

»Hat sich in Ihrem persönlichen Umfeld in letzter Zeit etwas geändert?«, fragte er auf seine behutsame Art.

Mattie zuckte mit den Achseln. »Na ja, es ist Ablammsaison. Diese kleinen Mistviecher, die halten einen die ganze Nacht auf Trab.«

Mitfühlend lächelte Saif. Wie es war, zu ungewohnten Uhrzeiten aus dem Bett geklingelt zu werden, wusste er nur zu gut.

»Wenn ich könnte, würde ich Ihnen für die Schafe eine Krankschreibung mitgeben«, sagte er, aber Mattie redete einfach weiter.

Er sprach darüber, wie die Lämmchen davonsprangen und er sie nicht packen konnte. Manche Mutterschafe ignorierten ihre Lämmer auch, und andere Schafe wollten sie nicht annehmen, sodass die verstoßenen auf der Suche nach Milch herumirrten und immer panischer wurden. Dann musste er ein Schaf finden, das sein Lamm verloren hatte, dem toten Jungtier das Fell abziehen und es dem verstoßenen umbinden, damit es den Geruch annahm. Aber das klappte eigentlich nie.

Deshalb nahm er die Lämmchen am Ende mit zu sich und zog sie von Hand auf, was noch schlimmer war. Dann wollten sie nämlich gar nicht mehr nach draußen, was wiederum zu Unruhe bei seinen Hunden und den anderen Tieren führte, die nicht ins Haus durften.

Saif wurde zu spät klar, dass der unverheiratete Mattie vor allem jemanden brauchte, der ihm mal zuhörte. Daher behielt er lediglich die Uhr im Blick, ließ den Patienten reden und nickte an den passenden Stellen mitfühlend.

Er wusste, dass die Landwirtschaft natürlich ein Geschäft war, aber wie so viele andere freute er sich jedes Jahr über die neuen Lämmer. Manchmal wurden sie mitten in wilde, kalte Stürme am Ende eines bitteren Winters hineingeboren, manchmal aber auch, wie diese Woche, an einem sanften goldenen Morgen mit Nebel über den Wiesen.

Auf Matties Feld befand sich eine schlammige Stelle, an der sich die mutigeren unter den Lämmern gern einfanden. Abwechselnd sprangen sie darüber, so, als wollten sie sich gegenseitig herausfordern.

Ash, Saifs jüngerer Sohn, musste sich jedes Mal kullern vor Lachen.

»Aye«, kam Mattie nun zum Ende.

Saif nickte. »Ich … Alles, was ich Ihnen verschreiben könnte, würde es nur noch schlimmer machen«, sagte er. »Dann würde das Leben nur noch an Ihnen vorbeiziehen. Das beste Gegenmittel wäre wohl ein bisschen Urlaub, für den hat das National Health System aber kein Budget.«

»Ach, manchmal aber schon«, sagte Mattie. »Ich hab mal auf dem Festland ein neues Knie gekriegt, und das war wie in einem Hotel. Wussten Sie, dass Sie da Essen ans Bett gebracht bekommen? Und dass es einen Fernseher im Zimmer gibt? Ich bin so lange wie möglich dageblieben. Die haben mir gesagt, dass ich schon früher entlassen werden könnte. Aber ich hab gesagt: ›Nein, ist schon in Ordnung, Schätzchen. Das hier ist das reinste Paradies.‹«

Hier hatte Saif also einen Mann vor sich, dessen Leben so hart war, dass er einen Krankenhausaufenthalt als die angenehmste Erfahrung seit Jahren empfand. Was sollte er so jemandem nur sagen? Da fehlten ihm wirklich die Worte.

»Ich hab hier diese Broschüre«, sagte er. Leider betonte das Faltblatt – wie beim National Health System üblich – vor allem, wie wichtig Sport war.

Was körperliche Ertüchtigung anging, konnte man einem Schafzüchter von Mure allerdings wenig vormachen. Leute von seinem Schlag wurden normalerweise hundertsechs.

Jetzt lugte Mattie hinter Saifs Computer, wo er die braune Schachtel aus Recyclingkarton entdeckt hatte, die Flora eben dagelassen hatte. Sie trug den verräterischen Aufdruck Annies Küche.

»Was ist eigentlich in der Schachtel da drin?«

»Das ist jetzt aber keine medizinische Frage«, wich Saif aus.

»Ein Stück Bakewell-Kuchen, oder?«

Schweigen machte sich breit.

Annies Küche war ein tolles Café vor Ort, in dem es luftig-leichte Pasteten und Kuchen gab. Alles, was dort aus dem Ofen kam, war eine Köstlichkeit.

»Warum fragen Sie?«, wollte Saif wissen, der langsam das Gefühl hatte, dass ihm die Sache entglitt.

»Ich dachte nur …« Ehrlich gesagt hatte Mattie den Vormittag bisher wirklich genossen. Er war mal von seinem Hof runtergekommen, der noch jenseits des MacKenzie-Hofs lag, hatte bei allen vorbeigeschaut und plante, seinen kleinen Ausflug gleich mit einem Mittagessen und vielleicht einer Partie Domino im Harbour’s Rest ausklingen zu lassen. »Ich glaube, ich weiß, was mich wieder auf die Beine bringen würde.«

Saif starrte ihn an. »Ein Stück Bakewell-Kuchen?«

»Na ja, das ist doch ein psychisches Problem, oder? Und deshalb muss ich sehen, wie das Leben wieder neuen Reiz für mich kriegt.«

»Mit meinem Bakewell-Kuchen?«

»Ha, wusste ich doch, dass es Bakewell-Kuchen ist!«

Die sich erneut ausbreitende Stille wurde durch das Telefon unterbrochen, als Jeannie durchrief, weil der nächste Termin anstand.

»Sie glauben, ich kann Sie heilen, indem ich Ihnen meinen Kuchen gebe?«

»Einen Versuch ist es wert«, fand Mattie.

»Ich wusste nicht, dass bei Ihnen Leute während der Sprechstunde essen dürfen«, sagte Neda, als sie in ihrem dunklen Anzug hereineilte. Mit ihrem stets millimetergenau abgezirkelten Bürstenhaarschnitt und ihrem perfekten Make-up bot sie einen ganz anderen Anblick als die Inselbevölkerung mit ihren Fleecepullis und Gummistiefeln.

Sie schaute Mattie McGuiness hinterher, der auf seinem Weg hinaus fröhlich Kuchen mampfte.

»Fragen Sie besser nicht«, antwortete Saif, der seinem listigen Patienten zum Abschied hinterhergelächelt hatte und in dessen Miene sich jetzt ein zurückhaltenderer, argwöhnischer Ausdruck zeigte.

Mure, diese kleine Insel mit ständig umschlagendem Wetter, aber unerschütterlichen Bewohnern, hatte sich für Saif als der perfekte Ort herausgestellt, um die Schrecken des Krieges hinter sich zu lassen, das Dasein als Flüchtling, eine Welt, die unter seinen Händen zerbrochen war.

Neda war seine Verbindung zu dieser Welt, und dessen waren sich beide bewusst.

Saifs Herz begann so schnell zu schlagen, dass er einen kurzen, verräterischen Blick zu seinem im schwarzen Kasten auf dem Schreibtisch verstauten Stethoskop hinüberwarf.

»Wie geht es den Jungen?«

»Gut … Aber ich fürchte, dass Ib sich nicht gerade auf das Internat freut.«

Die Kinder von Mure mussten unter der Woche auf dem Festland übernachten, wenn sie alt genug für die weiterführende Schule waren. Am Montagmorgen und Freitagnachmittag herrschte auf der Fähre daher immer ein ziemliches Tohuwabohu.

Mit wenigen Ausnahmen waren die Inselkinder (zu denen auch Internatsschüler von den Färöern und anderen weit abgelegenen Inseln gehörten) eine eingeschworene Truppe, die zusammenhielt und ihre gemeinsame Zeit auf dem Festland genoss.

Neda nickte. »Ich werde mit ihm darüber reden. Aber er ist ja schon zwölf, fast dreizehn – irgendwann müssen sich die beiden mal voneinander trennen.«

Saif nickte. »Ich weiß, ich weiß.«

Tatsächlich zeigte sich bei Ib bereits der Anflug eines Schnurrbarts auf der Oberlippe, und er bekam hier und da einen Pickel. Die finstere Miene, die er für gewöhnlich zur Schau trug, hatte allerdings nichts mit der Pubertät zu tun, sondern war immer schon typisch für ihn gewesen.

»Na ja«, sagte Neda lächelnd und legte einen Ordner auf den Tisch. »Dieses Mal habe ich jedenfalls gute Nachrichten!«

Sofort wurde ihr bewusst, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Denn es war nicht klar, wie Saif reagieren würde.

Die Behörden hatten Saifs Frau bislang zwar nicht ausfindig machen können, vor einiger Zeit aber ein Bild von ihr aufgetrieben. Es war das Foto ihrer Hochzeit mit einem anderen gewesen, auf dem sie sichtbar schwanger gewesen war. In Saifs Augen hatte sie darauf glücklich ausgesehen. Außerdem hatte sie sich nicht mit ihm in Verbindung gesetzt und antwortete auch nicht auf Nachrichten.

Der Schmerz darüber, dass sie in vielerlei Hinsicht eigentlich gar nicht mehr seine Frau war, saß tief bei Saif. Da würde es ihm nicht im Traum einfallen, mit den Jungen darüber zu sprechen. Was hätte er auch sagen sollen? Sie hatte sich ein ganz neues Leben aufgebaut, und mit dieser Information wollte er seine Söhne nicht belasten.

»Nein, es geht nicht um Amena«, fügte Neda daher schnell hinzu. »Tut mir leid, mein Lieber.«

Saif nickte nur rasch.

»Ich meinte das hier.« Sie zog einen Stapel Papiere hervor. »Sie sind jetzt seit fast fünf Jahren offiziell hier … und können damit das dauerhafte Aufenthaltsrecht beantragen.«

Er schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Um Schotte zu werden?«

»Es wäre bloß der erste Schritt in Richtung Ihrer neuen Staatsangehörigkeit. Durch die Sie allerdings Brite werden, kein Schotte, zumindest im Moment noch.« Sie lächelte in sich hinein. »Sie sind hier viel zu gut integriert.«

Saif blickte sie weiterhin an. »Und die Jungen …?«

»Also: Zuerst wird man Ihnen den Aufenthalt für weitere fünf Jahre verlängern, ich denke, das geht klar. Ihre Nützlichkeit hier steht ja außer Frage, und ich werde für Sie bürgen, daher wird es wohl noch diesen Sommer klappen. Und am Ende dieser Zeit bekommen Sie die Staatsangehörigkeit. Solange Sie nicht in der Zwischenzeit einen Verbrecherring aufziehen oder so.«

Sie lehnte sich vor. »Endlich, Saif! Und da Ib in fünf Jahren noch minderjährig ist, werden dann auch die beiden britische Pässe bekommen.«

Er starrte sie an und versuchte, das alles zu verarbeiten.

»Die Jungen werden sicher sein«, sagte Neda sanft.

Tief in Saif rührte sich etwas. Was genau da passiert war, begriff er nicht, aber er wagte es nicht, jetzt den Mund aufzumachen.

Er würde in Sicherheit sein, und auch seine Söhne, deren neue Staatsangehörigkeit ihnen den Zugang zur ganzen Welt ermöglichen würde. Briten hatten ja keine Ahnung, was für ein Glück ihnen damit zuteilgeworden war, dass sie in einem reichen Land geboren waren. Das hatte er immer schon gedacht, auch wenn er es für sich behielt.