9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €
Romantisch, atmosphärisch, wunderbar – SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan (u.a. „Die kleine Bäckerei am Strandweg“ und „Weihnachten in der kleinen Bäckerei am Strandweg“) entführt ihre Leserinnen in „Weihnachten in der kleinen Sommerküche am Meer“ erneut in die stimmungsvolle Welt ihrer Heldin Flora. Wie schon in den Wohlfühlromanen „Die kleine Sommerküche am Meer“ und „Hochzeit in der kleinen Sommerküche am Meer“ erweist sich die schottische Insel Mure erneut als eine bezaubernde Welt voller Freundschaft, Liebe und köstlicher Rezepte, diesmal ganz im Zeichen der Weihnachts-Feiertage.
Winterzeit auf der Insel Mure ist wunderbar! Während draußen Stürme toben, kuschelt man sich vor dem Kamin so richtig ein, mit Menschen, die man liebt, und genießt regionale Köstlichkeiten von Weihnachts-Shortbread bis Whiskypunsch. Doch der Zauber der Vorweihnachtszeit kann sich nicht so recht entfalten, wenn man ungeplant vom Ex-Boss und heutigen Liebsten schwanger ist und nicht weiß, wie man es ihm sagen soll. Für Flora, in deren Café die Vorweihnachtszeit eigentlich ein Fest voller Wärme, Düfte und Atmosphäre sein könnte, beginnt ein Ringen mit sich selbst und ein Warten auf den richtigen Moment ... Ein Roman so süß und winterlich wie Weihnachts-Shortbread und Früchtekuchen – mit neuen schottischen Rezepten!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.de
In Erinnerung an Kate Breame (1979–2018), in Liebe von deiner FFF-Familie
Wenn Ihnen dieser Roman gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Weihnachten in der kleinen Sommerküche am Meer« an [email protected], und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.
© Jenny Colgan 2018Titel der englischen Originalausgabe:»An Island Christmas«, Sphere 2018© der deutschsprachigen Ausgabe:Piper Verlag GmbH, München 2019Redaktion: Kerstin KubitzCovergestaltung: zero-media.net, München Covermotiv: plainpicture/Elektrons 08; Marcel Lorenz / EyeEm / Getty Images und FinePic®, München
Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Cover & Impressum
Karte
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Nachwort
Rezepte
Lanark-Blue-Scones
Black Bun
Shortbread
Danksagung
Nimm dich vor den Schneetänzern in Acht! Sie sind blass und wunderschön, und wie sie tanzen können! Du wirst spüren, wie sie dich mitreißen. Sie kommen mit Glockengebimmel, drehen sich und wirbeln im Kreis. Wenn du zu ihnen hinausläufst, um mit ihnen zu tanzen, umringen sie dich und locken: »Komm mit, mein Kind, zum ewigen Tanz!«
Viele sind ihrem Ruf gefolgt und seitdem für immer verloren. Lachend sind die wirbelnden Flocken weitergezogen und haben sie erfroren am Ufer zurückgelassen, wo sie sich nach den fernen Glöckchen verzehren, die Geschichten über Eisberge und Eiskönige in der Tiefe noch im Ohr.
Manchmal werden Kinder auch einfach verschluckt, der tanzende Schnee zieht sie mit, und sie werden nie mehr gesehen. Vielleicht tanzen sie ja glücklich im gefrorenen Ballsaal des Königs der Tiefe, aber vielleicht auch nicht. Also riskier es besser nicht!
Im Winter sind die Morgen sehr dunkel auf Mure. Diese winzige Insel hoch oben im Norden von Schottland liegt weit von der Küste entfernt auf halbem Wege nach Island (oder zum Nordpol, so fühlt es sich bei kaltem Wind zumindest manchmal an).
Die Insel ist wunderschön, gemütlich, kahl und ein Ort mit erstaunlich klarer Luft, wenn die Wolken mal weiterziehen – aber die Nächte sind furchtbar lang.
Hunden ist es nicht so wichtig, wie hell oder dunkel es draußen ist. Sie wissen ungefähr, wann es Zeit zum Aufstehen ist, und machen sich dann an ihr straffes Arbeitspensum aus »herumschnüffeln«, »unter dem Tisch auf einen Happen hoffen« und »hmm, wie lecker das stinkt!«.
Ich würde nicht behaupten, dass es unumgänglich ist, auf Mure einen Hund zu haben. Aber es spricht eigentlich auch nichts dagegen, und das sehen die Inselbewohner genauso. Das Leben hier ist sicher, es fahren nur wenige Autos – und die kommen auf den buckeligen Landstraßen auch nur langsam voran.
Es gibt spannende Moorlandschaften zum Herumtoben und Sandstrände und Buchten zum Schwimmen und jede Menge Stöcke. Man kann Robben ankläffen, sich in Schafskötteln wälzen, mit den vielen anderen Hunden spielen und sich nach getaner Arbeit vor einem wärmenden Feuer niederlassen. Außerdem werden Hunde hier normalerweise nicht an die Leine gelegt und dürfen mit in den Pub. Aus der Sicht von Hunden ist Mure also das reinste Paradies, und viele Menschen teilen diese Meinung.
Auf dem MacKenzie-Hof schlafen die Hunde in der Scheune auf warmem Stroh und eingehüllt in die sanfte Wärme der Kühe.
Der Bauernhof liegt oben auf einem kleinen Hügel an der Südspitze der Insel, nur ein wenig abseits von der Hauptstraße mit Läden in Lila, Gelb und Orange, die einen leuchtenden Kontrast zum tief hängenden Winterhimmel bieten und ein bisschen Freude in die dunklen Monate bringen.
Dort oben schnarchen die Hunde zufrieden vor sich hin und zucken mit den Pfoten, wenn Schafe durch ihre Träume tanzen.
Nur Bramble, der heiß geliebte Senior unter den Hofhunden, leistet ihnen keine Gesellschaft. Er ist schon seit Jahren in Rente, wird aber nicht von seinem Platz verstoßen: Am liebsten liegt er in der alten Küche des Hofs so nah am Kamin, wie ein Hund es denn kann, ohne dabei Feuer zu fangen. Er schnauft und schnarcht ganz schön laut und steht morgens gerne früh auf, was Flora, die hier auch wohnt, ein bisschen albern findet. Bei so einem alten Hund, der zwanzig Stunden am Tag schläft, sollten einige dieser Stunden doch am besten zwischen fünf und sieben Uhr morgens liegen, oder?
Man muss natürlich fairerweise dazusagen, dass Flora auch früh auf den Beinen ist, weil sie sich zur Arbeit unten in Annies Küche an der Hauptstraße auf den Weg machen muss. Sie pendelt nicht besonders weit.
An der Hauptstraße sind die Geschenkläden in einem Cremeton gestrichen, die Imbissbude in verblichenem Blau, die Metzgerei in Gelb und die Arztpraxis in Orange. Und dann gibt es da noch die abblätternde schwarz-weiße Farbe des Hotels Harbour’s Rest, das auch als Pub und Treffpunkt in allen Schlüsselmomenten des Lebens fungiert: Dort werden Hochzeiten, Beerdigungen, Geburtstage und Jahrestage gefeiert. Es wird ein wenig nachlässig von einer Isländerin namens Inge-Britt geführt, die keinen Hund hat, weil sie morgens gerne ausschläft, während auf den ungeputzten Tischen die Pint-Gläser immer klebriger werden.
Zwei Häuser weiter befindet sich Floras kleines Café. Flora ist erst vor einem guten Jahr aus beruflichen Gründen wieder auf die Insel zurückgekehrt. Sie war auf Mure aufgewachsen und hatte dann für die glitzernde Großstadt London der Insel jahrelang den Rücken gekehrt. Vor der Heimkehr nach Mure hatte ihr so sehr gegraut, dass sie eigentlich gedacht hätte, sie würde nie mehr hierherziehen.
Aber oft laufen die Dinge im Leben ja nicht so, wie man sich das vorgestellt hatte. Das mit dem Auftrag für die Kanzlei klappte nicht wie erwartet, und stattdessen verliebte sie sich wieder in das Land ihrer Vorväter und noch dazu in den Anwalt, der sie hierher zurückgebracht hatte, Joel Binder.
Joel. Tja. Der ist ein schwieriger Typ, aber Flora liebt ihn trotzdem (oder vielleicht gerade deshalb). Drücken wir es mal so aus: Flora liebt Herausforderungen.
Und jetzt quält sie sich aus dem Bett, weil sie genau weiß, dass ihr Vater als Erster aufstehen wird, wenn sie es nicht tut. Und sie kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass er mit seinen alten, arthritischen Füßen über den eiskalten Küchenfußboden läuft, bevor sie Gelegenheit dazu hatte, im Kamin Holz nachzulegen und den Kessel auf den Herd zu stellen. Ihr Vater kann ja immer noch aufstehen, wenn er ihn pfeifen hört.
Flora schiebt sich eine wirre Strähne aus dem Gesicht. Die junge Frau sieht ungewöhnlich aus, allerdings nicht für die Menschen hier auf der Insel: ihre unfassbar helle Haut, so weiß wie der Schaum draußen auf dem Meer, stammt von ihren Vorfahren, Kelten und Wikingern, die sich generationenlang miteinander vermischt haben. Und ihre Haare sind weder braun noch blond, sondern gehen eher ins Rötliche. Ihre hellen Augen ändern mit dem Wetter die Farbe von Blau zu Grün zu Grau.
In London war sie völlig verblasst, hier hingegen harmoniert sie mit der Umgebung, gehört zur wilden, schäumenden See, zu den hellen Klippen, den weißen Seevögeln und Robben. Sie sieht aus, als wäre sie Teil der Landschaft.
Der sonst so faule alte Bramble ist um diese Uhrzeit voller Energie und fegt mit seinem riesigen Schwanz alles herunter, was auf niedrigen Stühlen liegt. Flora legt die Arme um seinen warmen, pelzigen Bauch, bringt in der Küche alles in Gang und schleppt sich dann unter die Dusche.
Joel ist im Moment nicht hier, er ist in New York und kommt erst kurz vor Weihnachten zurück. Doch aus gewissen Gründen macht das Flora heute, in diesen dunklen, stillen Morgenstunden, nichts aus.
Mit Bramble im Schlepptau eilt sie dann fröhlich die Straße hinunter, während sie darüber nachdenkt, was Isla und Iona, ihre hübschen, jungen Mitarbeiterinnen im Café, heute alles für sie erledigen sollen: Es müssen Torten, Kuchen und Pasteten vorbereitet werden – vor allem das Früchtebrot wird ihnen quasi aus den Händen gerissen.
Mit dem Backen dieses Früchtebrots haben sie schon Anfang November begonnen, da es vor dem Verzehr einige Zeit ruhen muss, und verkaufen es jetzt portionsweise. Flora ist ein Risiko damit eingegangen, jeden Tag einen neuen Laib nachzubacken – weil die Zutaten teuer und auf der Insel nur schwer zu bekommen sind. Zu der Zeit wusste sie noch nicht, ob sich das auszahlen würde oder ob sie im Januar auf Dutzenden von verschmähten Früchtebroten sitzen bleiben würden.
Seit Anfang Dezember jedoch (also seit letzter Woche) gingen sie weg wie warme Semmeln. Manche Leute holten sich jeden Tag ein Stück, und Flora überlegte schon, vielleicht eine Obergrenze festzulegen, um die Arterien ihrer Kunden zu schonen.
Aber sie würde auf jeden Fall täglich weiter nachbacken, damit auch der letzte Laib bis zum Ende der Saison drei Wochen ruhen konnte. Denn dadurch kam ordentlich Geld herein – trotz der Ausgaben für die hochwertigen und damit teuren Zutaten und trotz ihrer berühmten Kundenkarte. (Nur durch diese Karte konnte Flora die Existenz des Cafés im Winter sichern. Mit dem Rabatt konnte sie die Preise für Touristen und Sommerbesucher anheben, ohne damit die Menschen zu benachteiligen, die das ganze Jahr über auf der Insel lebten und weniger verdienten.)
Bramble begleitete Flora bis zur Tür von Annies Küche und keinen Schritt weiter, obwohl er es selbstverständlich versuchte. Aber er wusste natürlich, wie es lief – Flora nahm es mit der Sauberkeit eben äußerst genau. Inge-Britt hätte Bramble sicher im Harbour’s Rest zwischen den Tischen nach alten Erdnüssen suchen lassen, aber die war um diese Zeit leider noch nicht wach.
Und deshalb trottete Bramble jeden Tag geduldig davon, um seine Runde zu drehen.
Mrs MacPherson kam mit ihrem Highland-Terrier Brandy die Straße entlanggezockelt, wie sie es jeden Morgen als Erstes tat. Sie hatte mal zu Flora gesagt, dass man nach siebzig eigentlich nicht mehr schlief, und Flora hatte mitfühlend gelächelt. Gleichzeitig hatte sie sich aber gefragt, wie lange Mrs MacPherson wohl morgens im Bett bleiben würde, wenn sie die Gelegenheit dazu hätte.
Flora selbst kam am Sonntag, wenn ihr kleines Café zuhatte, nicht vor Mittag aus dem Bett. Und wenn Joel da war, überredete sie ihn meistens dazu, an diesem Tag auch die Arbeit ruhen zu lassen, und das führte dann üblicherweise dazu, dass sie …
… aber darüber dachte sie jetzt besser nicht nach.
Bramble begrüßte Brandy, indem er höflich an seinem Hinterteil schnupperte, und lief dann weiter zum Kiosk, wo Besitzer Iagan ihm die Zeitung vom Vortag reichte. Die aktuelle Tageszeitung kam erst mit der ersten Morgenfähre um acht, was Floras Vater aber nicht im Geringsten störte. Er las die Zeitung jeden Tag, versicherte aber stets, dass da ja doch nur Mist drinstand. Deshalb war es ihm ganz egal, wann ihn die Nachrichten erreichten.
Iagans Hund Rickson lag hinten im Kiosk und grummelte träge. Er war viele Jahre lang beim Zeitungsaustragen von anderen Hunden angeknurrt worden und beschützte sein Herrchen auch vor Kindern, die bei ihm billige Bonbons zu klauen versuchten, deshalb war er inzwischen ziemlich mürrisch geworden. So wie Iagan selbst auch, daher gaben die beiden ein gutes Gespann ab.
Als Iagan ihm die Highland Times reichte und ihm den Kopf tätschelte, machte Bramble um Rickson jedenfalls lieber einen großen Bogen.
Dann marschierte er selbstbewusst die Hauptstraße entlang, wo er Pickle begegnete. Der verwöhnte Jack-Russell-Terrier fraß nur Brathähnchen, wie sein Frauchen Mrs McCrorie zum Entsetzen der übrigen Dorfbewohner gerne stolz verkündete.
Immerhin waren Hunde auf Mure für gewöhnlich Arbeitstiere, sie wurden auf großen Farmen wie auf Kleingehöften gebraucht. Und viele Menschen hier konnten sich noch an eine Zeit erinnern, in der Hähnchen für die Inselbewohner ein seltener Luxus gewesen war: Robbe war hier früher das übliche Fleisch gewesen (und wurde von manchen immer noch verzehrt), und bis heute gehörte Fisch zu den Hauptnahrungsmitteln.
Bramble blieb nicht stehen, als er am Hafen vorbeikam. Dies war das Reich von Grey, einem riesigen Streuner unbekannter Rasse mit hellen Augen. Irgendwie war er über ein russisches Fischerboot auf der Insel gelandet, und die Legende besagte, dass er in Wirklichkeit ein geschorener Wolf war. Er hatte so lange am Kai herumgelungert, bis die Fischer ihn schließlich adoptiert hatten. An ihn verfütterten sie die Reste, die nicht einmal die Vögel wollten. Jetzt unterbrach Grey kurz seine versonnene Betrachtung des Horizonts, ließ aber den Kopf wieder sinken, als er sah, dass es nur Bramble war.
Mit auf dem Pflaster klappernden Krallen zog der alte Hofhund mit der Zeitung im Maul hocherhobenen Hauptes vorbei. Er war stolz auf seine täglichen Pflichten.
Auch den Endless beachtete er nicht. Dieser ellenlange Strand begann am nördlichen Ende der Hauptstraße, direkt am alten Pfarrhaus, in dem zurzeit der syrische Flüchtling Saif Hassan mit seinen beiden Söhnen Ashat und Ibrahim lebte. Saif war einer der beiden Inselärzte, wobei der andere so gut wie nutzlos war.
Saif war sich durchaus dessen bewusst, dass Weihnachten vor der Tür stand – man konnte es schlecht ignorieren angesichts all der Werbung im Fernsehen und der endlosen, merkwürdigen Nachrichten von der Schule, in denen es um Geschirrtücher und Kalender und irgendetwas namens Pantomime ging. Letzteres hatte sich Saif auch nach mehrmaligem Googeln nicht erklären können.
Aber die beiden Jungen waren deshalb furchtbar aufgeregt, und er wollte ihnen nach ihrer zweijährigen Trennung gerne ein wundervolles Weihnachtsfest bieten, sobald er denn wusste, worin es überhaupt bestand.
Wenn Bramble nicht so träge gewesen, sondern zum Strand hinübergelaufen wäre, hätte er dort vermutlich Struppi und sein Frauchen Lorna MacLeod angetroffen. Die Lehrerin ließ sich morgens vor der Schule gerne richtig durchpusten, selbst wenn so spät im Jahr um diese Uhrzeit nur ein zarter rosafarbener Streifen am Himmel zu erahnen war.
Von der Seite des Strands, an der das alte Pfarrhaus stand, hielt sich Lorna wohlweislich fern. Dass sie seit einem Jahr heillos in Saif verliebt war, brachte ja doch nichts. Er blieb nämlich weiterhin seiner Frau treu, obwohl er keine Ahnung hatte, was mit ihr geschehen war – ob sie irgendwo von den Wirren des Krieges festgehalten wurde oder tot war oder was auch immer. Das wusste niemand.
Inzwischen blickte Lorna mit einer gewissen Wehmut auf dieses Jahr zurück. Vor langer Zeit, als noch nicht einmal seine beiden Söhne auf die Insel gekommen waren, hatte sie sich morgens oft hier am Strand mit Saif getroffen.
Er hatte in der Hoffnung, etwas Neues von seiner Familie zu hören, vor Beginn seiner Sprechstunde hier auf die Fähre gewartet.
Um diese Uhrzeit ging Lorna regelmäßig mit Struppi spazieren, und sie hatten angefangen, sich zu unterhalten. Nach und nach waren sie Freunde geworden – echte Freunde – und hatten sich auf diese frühen Morgenstunden immer gefreut. Manchmal war es windig oder beißend kalt, manchmal so wunderschön, dass man eine Million Meilen weit hinaus auf die Welt blicken konnte. Dann war der Himmel ein riesiger Baldachin über ihnen, der sich bis ins Unendliche erstreckte. Wenn man an so reinen und betörenden Tagen den Blick auf den Horizont richtete, konnte man beim Platschen der Wellen und Kreischen der Möwen kaum glauben, dass dort draußen je irgendetwas Schlimmes passieren könnte.
Wie auch immer. Damals, als sie Freunde gewesen waren, hatte Lorna den furchtbaren Fehler gemacht und die Karten auf den Tisch gelegt. Und das war nicht gut gelaufen, überhaupt nicht gut. Deshalb hielt sie sich jetzt von Saifs Strandende fern.
Und der Arzt war ja ohnehin damit beschäftigt, zwei Jungen großzuziehen, die auch noch bei ihr in die Schule gingen. Dort wurden sie von den Gleichaltrigen langsam akzeptiert, während sie allmählich ihren Akzent verloren und aufzutauen begannen – zumindest Ash.
Die halb verhungerten kleinen Seelen, die hier im kalten Frühling angekommen waren, ohne ein Wort Englisch zu sprechen, waren inzwischen wie verwandelt. Gutes, vernünftiges Murer Essen, oft vom MacKenzie-Hof, hatte sie etwas voller werden lassen. Ibrahim war fünf Zentimeter gewachsen und sah jeden Tag mehr aus wie sein Vater.
Also, das war doch wohl gut, so musste Lorna das sehen. Es waren positive Entwicklungen. Nur für sie selbst nicht, dachte sie finster.
Heute Morgen traute sich bei dieser Kälte selbst Struppi nicht ins Wasser, was selten vorkam. Lorna schlug die Kapuze ihrer Jacke hoch und drehte sich wieder zum Hafen hin um. In der Schule war der Advent die stressigste Zeit des Jahres, und sie musste noch so viel organisieren.
Bramble tapste über die Straße, die zum Hotel The Rock führte, zu Colton Rogers’ großem Projekt, das im Moment allerdings vernachlässigt wurde. Und dass Bramble jetzt das Beinchen hob und auf den Eckstein pinkelte, machte die Sache auch nicht besser.
Colton war ein forscher Amerikaner, der nach Mure gekommen war, um in Windparks auf der Insel zu investieren. Dann hatte er sich allerdings in die Insel verliebt, so wie sie war, und sie zu seinem Lebensmittelpunkt gemacht.
Auch er hatte Hunde, es handelte sich aber um lächerliche, reinrassige Huskys, die eher auf Schönheit gezüchtet waren als für Wettrennen durch schneebedeckte Landschaften. Nach zu viel Inzucht waren seine blauäugigen Vierbeiner erschreckend dumm, aber es wurde ja auch nicht viel von ihnen verlangt. Sie mussten lediglich wie große weiße Statuen draußen an der Kieseinfahrt thronen und sich in der Nähe halten, wenn Colton Besuchern erzählte, wie viel Geld er für sie bezahlt hatte.
Das war allerdings vor Coltons Krankheit gewesen. Er hatte Krebs in seiner übelsten Form und wurde von seinem Ehemann, Floras Bruder Fintan, gepflegt.
Um die Hunde kümmerte sich jetzt das Personal, weil Fintans ganze Aufmerksamkeit nun Colton galt. Bislang bestand Coltons palliative Versorgung aus so viel Morphium, wie er nur besorgen konnte – und das war bei einem Milliardär so einiges –, zusammen mit so viel Whisky, wie er nur trinken konnte – wiederum ziemlich viel. Deshalb dämmerte er meistens vor sich hin.
Fintan hatte mehr oder weniger seine Arbeit aufgegeben, um sich um Colton zu kümmern, aber im Grunde gab es nicht viel zu tun. Die komplizierten Sachen übernahmen Krankenschwestern, deshalb musste Fintan einfach nur für seinen Mann da sein, wenn er zu sich kam, sich nie mehr als eine Armlänge von ihm entfernen. Und das war die schwerste Aufgabe seines Lebens.
Bramble marschierte weiter, den Hügel bis zum Hof hinauf, und ignorierte dabei Bran und Lowith. Die beiden jüngeren Hütehunde durften so viel draußen im Grünen herumtoben, wie sie wollten, der Platz vor dem Kamin war aber für Bramble reserviert.
Als Agot, Floras Nichte, noch sehr klein gewesen war, hatte man sie nie vor offenem Feuer warnen müssen. Wenn sie zu nah heranging, schob Bramble sie nämlich einfach ohne viel Federlesens beiseite. Deshalb hatte sich Agot von klein auf daran gewöhnt, sich in Brambles warmes Fell zu schmiegen und ihn wie eine leicht müffelnde Decke zu benutzen.
Inzwischen war Agot zwar schon vier, sie behielt die Angewohnheit jedoch bei, und es schien Bramble auch nichts auszumachen.
Jetzt lief er zwischen frostig knackenden Feldern den schlammigen Pfad entlang. Die Pfützen waren gefroren und die Luft so überwältigend sauber und frisch, dass sie in der Kehle brannte. Die Zeitung immer noch im Maul, stieß Bramble die alte Haustür des Bauernhauses auf und tapste über die ausgetretenen Fliesen.
Eck, Floras Vater, stand am Wasserkessel und drehte sich langsam zum Hund um. An kalten Morgen wie diesem fühlte er sich wie ein alter Motor und schien ewig zu brauchen, um in Gang zu kommen.
Eifrig hob Bramble die Schnauze, damit Eck ihm die Zeitung abnehmen konnte, und jetzt sprang genau im richtigen Moment Mrs Lairds wunderbares Brot aus dem Toaster. Es war der perfekte Augenblick, um es mit Fintans köstlicher Butter vom Hof zu bestreichen und sich dann mit einer Tasse Tee neben den Kamin zu setzen. Eine Scheibe Brot für Eck und eine für Bramble, der sie mit wenigen raschen Happen verspeiste, während die beiden gedankenverloren beieinandersaßen und auf Mure ein neuer Morgen anbrach.
Obwohl gerade erst die ersten Frühaufsteher auf der Suche nach gutem Kaffee und einem Mince Pie zur Tür hereinkamen, war Flora bereits erschöpft.
Solch eine Müdigkeit wie die der letzten Wochen hatte sie noch nie zuvor erlebt. Abends schlief sie innerhalb von Sekunden ein.
O Gott. Wie sollte sie das bloß Joel beibringen?
Es war ja nicht so, als würde er sie nicht lieben, das war ihr klar, auch wenn er die Worte nur schwer über die Lippen brachte. Und Flora wusste auch, dass er sich während seiner Arbeit an Coltons Projekten in den USA eigentlich nur danach sehnte, zu ihr auf die Insel zurückzukehren.
Aber das letzte Jahr war nicht einfach gewesen. Flora hatte endlich Einzelheiten über Joels schwierige Kindheit im Pflegesystem erfahren und begriffen, warum man ihn besser mit Samthandschuhen anfasste. Er hatte niemals ein echtes Zuhause gekannt, war Opfer häuslicher Gewalt geworden und von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht worden, bis er im Alter von zwölf Jahren schließlich ein Stipendium für ein Internat bekommen hatte.
Als intelligenter, gut aussehender und skrupelloser junger Mann hatte er sich im Bereich Unternehmensrecht schnell hocharbeiten können und alle Vorteile der Branche genossen – Hotels, teure Uhren, Frauen. Auf die Idee, sich mit einer blassen Einheimischen auf einer kleinen Insel niederzulassen, wäre er in einer Million Jahre nicht gekommen. Und es überraschte Flora immer noch, dass er sich am Ende darauf eingelassen hatte. Da sie auf Mure geboren und aufgewachsen war, gelang es ihr einfach nicht, die Insel mit seinen Augen zu sehen.
Aber Joel hatte sich für dieses Fleckchen Erde immer mehr erwärmt, je mehr Zeit er hier verbracht hatte. Er hatte begonnen, eine Welt zu schätzen, in der die Jahreszeiten und nicht der Börsenticker den Rhythmus vorgaben, der Bauernkalender und nicht CNN. Auf dieser Insel und an Floras Seite hatte er etwas für sein Leben völlig Neues gefunden: seinen Seelenfrieden.
Und obgleich er im The Rock wohnte und damit etwas Abstand hielt, reizte ihn inzwischen sogar das dazugehörige Familienleben – es gab ja kaum etwas Familiäreres als die Küche in Floras altem Elternhaus, die Truppe ihrer dort zu jeder Tages- und Nachtzeit aus und ein gehenden Brüder, ihren vor dem Feuer dösenden Vater und die Hunde überall.
Joel fand es faszinierend: Flora ahnte nicht einmal, was so ein Zuhause – das Joel selbst nie gehabt hatte – eigentlich wert war. Und am Anfang hatte ihm die ganze Sache furchtbare Angst eingeflößt. Sein Leben lang war er so schnell wie möglich gerannt, um seine Kindheit hinter sich zu lassen. Dabei hatten ihm Dinge wie ein Privatjet oder ein teurer Anzug Sicherheit gegeben.
Aber jetzt fühlte er sich hier auf der Insel sicher, er fühlte sich durch Flora sicher. Damit er das begriffen hatte, war allerdings zunächst ein Nervenzusammenbruch über den Dächern von Manhattan nötig gewesen, und trotz allem fiel es Joel immer noch schwer, seine Gefühle für seine Freundin zum Ausdruck zu bringen.
Deshalb war Flora geduldig gewesen, unendlich geduldig. Sie konnte einfach nicht anders, schließlich hatte sie Joel seit ihrem Vorstellungsgespräch in der Kanzlei bei ihm vor sechs Jahren vergöttert.
Aber jetzt … jetzt hatte sich etwas verändert, obwohl sie natürlich damit hätte rechnen müssen. Im Allgemeinen war diskretes Internetshopping auf einer Insel mit nur tausend Einwohnern ein Segen, der eigentlich nur mit dem Ausbau des Stromnetzes auf Mure vergleichbar war. Aber das hier, das musste ja so kommen, wenn man seine Verhütungsmittel online bestellte und ein reges Intimleben hatte. Was wiederum nur zu erwarten war, wenn die Nächte lang und die Kamine im The Rock so gemütlich waren und man mit jemandem zusammen war, den man schon seit Jahren angehimmelt hatte und der plötzlich jede Menge Sex mit einem haben wollte … Wie es passiert war, war also ziemlich klar. Aber verdammt, Flora wusste doch genau, dass der Zeitpunkt nicht ungünstiger hätte sein können. Blöder hätte die ganze Sache wohl kaum laufen können.
Natürlich hatte sie davon geträumt, mit Joel zusammen ein Kind zu bekommen – aber irgendwann mal! Und dieses Irgendwann hatte in weiter Ferne gelegen, viele, viele Jahre in der Zukunft. Nachdem sie ein Haus gekauft und dafür gemeinsam Möbel ausgesucht und es dekoriert hatten … Okay, tatsächlich konnte sie sich nicht vorstellen, wie Joel mit ihr zusammen Tapeten aussuchte, das schlug sie sich wohl besser aus dem Kopf. Vielleicht würden sie einfach nur zusammen ein hübsches Häuschen kaufen. Viele Häuser standen auf Mure allerdings nicht zum Verkauf, weil es auf der Insel eben nicht viele Häuser gab. Aber irgendetwas Schönes würden sie schon finden. Insgeheim träumte Flora von einem dieser atemberaubenden modernen Ökohäuser aus Große Häuser, große Träume, mit viel Glas und Holz. Dabei machte sie es sich ja eigentlich lieber mit jeder Menge schäbigen Kissen, alten Decken, Büchern und Teetassen gemütlich, wie sie sich eingestehen musste.
Egal, das waren eben ihre Träume, und um mehr war es darin noch nicht gegangen. Nur um Kissen und nach Süden ausgerichtete Fenster, und selbst damit war sie Joel vermutlich um Meilen voraus. Meilen. Sie seufzte. Er hatte sich ja kaum vom Sommer erholt. Und deshalb war es ganz furchtbar, ihm jetzt mit dieser Geschichte zu kommen, wirklich übel. Das hatte sie nun wirklich nicht vorgehabt, ganz und gar nicht. Wenn überhaupt, dann war er selbst schuld daran, schließlich stürzte er sich ja jedes Mal auf sie, wenn sie nur zur Tür hereinkam …
Immerhin gaben Joels Abwesenheit und Floras Arbeit im Café ihr ein wenig Freiraum. So konnte sie sich in Ruhe überlegen, wie sie es ihm am besten beibrachte.
Diese Dienstreise war seit langer Zeit Joels erste größere berufliche Aufgabe – er verkaufte Firmen für Colton, der seine Unternehmen diskret abstoßen wollte, um das Geld so unbemerkt wie möglich an verschiedene Wohltätigkeitsorganisationen zu verteilen.
Aber Flora machte sich dabei große Sorgen um Joel.
Zum Glück hatte er sich kein Hotelzimmer genommen, sondern wohnte vorübergehend bei seinem Therapeuten, Mark.
Mark hatte ihn schon als kleinen Jungen gekannt – war sein Kinderpsychologe gewesen – und war zu einem guten Freund geworden, der Joel immer noch beratend zur Seite stand.
Mark war kinderlos und hatte Flora einmal gestanden, was er im Leben am meisten bereute: dass er damals diesen schlauen, verängstigten Jungen nicht adoptiert und in seinem Zuhause willkommen geheißen hatte. Deshalb verbrachte er nun den Rest seines Lebens damit, diesen Fehler Joel gegenüber wiedergutzumachen.
Mark und seine Frau Marsha waren die herzlichsten Menschen, denen Flora je begegnet war. Wenn irgendwer gut auf ihren Freund aufpassen konnte, während er dort drüben war, dann diese zwei.
Jetzt kam Flora in den Sinn, dass sie sich vielleicht an die beiden wenden könnte, bevor sie mit Joel selbst sprach. Sie würden ihr bestimmt helfen können.
Andererseits erschien es ihr falsch, sie um professionelle Hilfe zu bitten, und wegen der ärztlichen Schweigepflicht konnte Mark mit ihr ja auch über viele Dinge nicht reden. Darüber hinaus fand sie es auch nicht richtig, anderen Leuten noch vor dem Vater des Kindes davon zu erzählen.
Ein Baby! Sie konnte es einfach nicht fassen. Es war wirklich der völlig falsche Zeitpunkt, und sie hatte furchtbare Angst vor dem Gespräch mit Joel. Außerdem konnte sie sich das auch gar nicht leisten, und sie hatte gar nicht genug Zeit, und der Hof war wirklich kein geeigneter Platz für einen Säugling, der über Bramble hinweg in den Kamin krabbeln würde …
Nachdenklich strich sie sich über den Bauch. Und dennoch … ein Baby!
Draußen war es bitterkalt, und Flora lächelte, als der Wind die Tür aufstieß und die nächsten Kunden mit verfrorenen Mienen hereinpustete.
»Es liegt Schnee in der Luft«, warnten die alten Damen, die immer vor Schnee warnten, obwohl es selten welchen auf Mure gab. Die weißen Flocken fielen zwar, blieben aber meist nicht liegen, weil der Wind einfach nicht lange genug Ruhe gab. Auf Mure war Schnee etwas Lebendiges, ein Wirbelwind, der über die Berge und Täler der Highlands stob.
Flora konnte sich noch daran erinnern, dass ihre Mutter sie einmal nachts tanzend draußen im Schnee gefunden hatte. Damals hatte sie ihr auch die Geschichte von den Schneegeistern erzählt, die kleine Kinder mitnahmen. So blau gefroren war Flora selbst schon ein halbes Schneekind, und ihre Mutter erklärte warnend, dass Kinder des Meeres sich von Schneekindern besser fernhalten sollten. Dann nahm sie Flora mit ins Haus, um sie mit einer sahnigen heißen Schokolade wieder aufzuwärmen, was allerdings Fintan weckte. Als er sich lautstark beschwerte, bekam er natürlich auch eine Tasse. Schließlich wurden die Geschwister wieder ins Bett gesteckt, und zwar mit einer Wärmflasche, einem schmatzenden Kuss und einer Umarmung von ihrer Mutter, die nach Schokolade und Mehl und Geborgenheit roch.
Es lag nicht am Schnee, dass sie heute an ihre Mutter denken musste, so viel war Flora klar. Mit kräftigen Armen rührte sie den zähen Teig für das Früchtebrot, während Isla und Iona wie am Fließband Scones und Sandwiches für die morgendliche Kundschaft produzierten.
Flora sah sich um. Mrs Johanssen schaute gerade herein. Sie war vermutlich auf dem Weg zu Saif, bei dem sie sich gerne jede Woche einen Termin holte, um über sich und ihre Zipperlein zu sprechen. Dabei war sie für ihre achtundsiebzig Jahre noch so gut beieinander, dass es einem medizinischen Wunder gleichkam. Mrs Johanssen hatte ihr Leben lang jede Menge Fisch und Rüben gegessen und schwere körperliche Arbeit verrichtet. Sie war stark wie ein Ochse.
Man musste Saif wirklich zugutehalten, dass er auf Mrs Johanssen genauso aufmerksam einging wie auf alle anderen Patienten auch, obwohl er wirklich viel zu tun hatte.
In Annies Küche bestellte Mrs Johanssen immer einen Scone ohne alles und fragte noch dreimal nach, ob da auch wirklich keine Rosinen drin waren, weil die angeblich schlecht für ihre Verdauung waren.
Heute war auch die Strickgruppe da. Die Strickerinnen gaben nie viel Geld aus und kamen vor allem, um zu Hause nicht heizen zu müssen, aber das nahm Flora ihnen nicht übel. Weil ihre zauberhaften Kleidungsstücke mit den komplizierten Mustern immer noch als lokale Handarbeit durchgingen, halfen die Frauen bei zu vielen Bestellungen den Fair-Isle-Strickerinnen aus dem Süden. Die Damen aus der Gruppe teilten sich eine Kanne Tee und ein paar Scones und setzten sich direkt an die Heizung, um ihre arthritischen Hände warm zu halten, die nach vielen Jahren an den Stricknadeln ganz krumm und schief geworden waren. Das rhythmische Klicken der Nadeln war bei der Arbeit eine angenehme Begleitmelodie und passte auch zum Murmeln von BBC Radio nan Gàidheal, das den ganzen Tag im Hintergrund lief.
Draußen wirbelte die eine oder andere Schneeflocke durch die Luft, und Geoffrey, der die zauberhaften Tassen und Teller fürs Café töpferte und außerdem selbst ein treuer Kunde war, stand mit betrübter Miene vor der Tür. Er schaute zu Flora hinüber.
»Nein!«, rief sie.
»Ich meine doch nur …«
»Ich hab dein Gesuch gelesen«, fiel ihm Flora ins Wort. »Aber wenn ich erst Hunde ins Café lasse, was kommt dann als Nächstes? Löwen? Büffel?«
»Auf Mure gibt es aber nicht viele Büffel.«
»Und wenn Hundehaare in meine Scones geraten? Was ist dann mit den Leuten, die allergisch sind?«
»Ich wollte doch bloß …« Geoffrey kniff die Augen zusammen. »Du hast heute Morgen aber schlechte Laune.«
»Das stimmt doch gar nicht. Ich hab nur die Nase voll davon, den Leuten neunhundertneunundvierzig Mal am Tag erklären zu müssen, warum hier keine Hunde reindürfen.«
»Das machst du nur, weil du Hunde nicht magst.«
»Geoffrey! Wie kann man denn Hunde nicht mögen? Ich hab doch selber einen, ich will bloß keine Pfotenabdrücke im Mehl!«
Geoffreys Ruffalo war ein riesiger Beagle-Terrier-Mischling, der selbst aber keine Ahnung hatte, wie groß er war. Er stieß ein tiefes Heulen aus.
»Wenn du ihn nicht so verwöhnen würdest, dann würde ihm ein bisschen Schneeregen auch nichts ausmachen«, rügte Flora Geoffrey.
»Es ist schlimm, einen Welpen so leiden zu sehen«, erwiderte Geoffrey fürsorglich.
»Der wiegt doch mehr als ein Kleinwagen!«, rief Flora aus. »Außerdem zwinge ich dich ja auch nicht zum Besuch meines Cafés.«
»Doch, indem du immer diese Käsescones machst!«, widersprach Geoffrey, woraufhin Flora zufrieden nickte.
Bald darauf öffnete sich die Tür erneut und ließ einen kalten Windstoß herein.
Es waren Charlie und Jan, die auf der Insel die Firma Outward Adventures betrieben. Um Geld reinzubringen, richteten sie ihre Abenteueraufenthalte manchmal für Geschäftsleute aus, oft jedoch für sozial benachteiligte Kinder – wobei ihnen Joel gelegentlich zur Hand ging.
»Teàrlach!«, rief Flora. Die meisten Leute benutzten die gälische Form von Charlies Namen.
»An so einem Tag geht ihr mit euren kleinen Kunden aber sicher nicht raus, oder?«
Sie bereitete Charlies Tee so zu, wie er ihn gerne hatte. Der sanfte Hüne stampfte mit den Füßen und pustete sich auf die Finger, dann wackelte er in der angenehmen Wärme damit herum.
Jan tat nichts dergleichen und schaute sich stattdessen mit demselben Blick wie immer in Annies Küche um, als hielte sie die Heizung für sträfliche Extravaganz und Flora für eine verweichlichte Müßiggängerin, die sich hier ein schönes Leben machte.
»Nee, nee«, sagte Charlie und nahm dankbar seinen Tee entgegen.
Jan beobachtete das Ganze mit Adleraugen. Sie traute Flora nicht über den Weg, weil sie Charlie mal etwa zehn Sekunden lang geküsst hatte. Dabei waren Jan und Charlie zu der Zeit nicht einmal ein Paar gewesen.
Dass sie dann wieder zusammengekommen waren und sogar geheiratet hatten, hatte leider nicht, wie von Flora erhofft, zu einem Ende der Spannungen zwischen den beiden Frauen geführt.
»Äh, möchtest du vielleicht auch eine Tasse Tee, Jan?«, fragte Flora verzagt.
»Ich bin bei der Arbeit!«, entgegnete Jan so entrüstet, als hätte Flora ihr einen doppelten Wodka mit Irn-Bru angeboten.
Und als Charlie bezahlte, wurde ihr Blick noch missbilligender, als empöre sie sich darüber, dass Flora in ihrem Geschäft doch tatsächlich Geld annahm.
»Also«, erklärte Charlie fröhlich, der von der angespannten Situation wie immer nichts mitbekam. Er war ein wunderbar unkomplizierter Mann. »Diese Woche haben wir Geschäftsleute da, aus einer Buchhaltungsfirma in Swindon.«
Flora warf einen Blick nach draußen. Obwohl die Uhr inzwischen zehn anzeigte, war es immer noch ganz schön düster. Sie entdeckte eine Gruppe von unglücklich wirkenden Männern und Frauen in riesigen, unvorteilhaften Regenmänteln, die vom seitlichen Wind fast mitgerissen wurden, und musste lächeln. Die waren ja noch schlimmer dran als Ruffalo.
»Jetzt sag doch bitte noch, dass sie für dieses Privileg mehrere Tausend Pfund bezahlen.«
»Allerdings«, antwortete Charlie ernst. »Und vor dem Mittagessen fahren wir noch auf dem Loch Errin Kajak.«
Flora strahlte. »Oh, das werden sie hassen. Haben die denn schon mal in einem Kajak gesessen?«
»Nein.«
»Dann wird das aber eine ganz schöne Tour de Force. Nehmt ihr ein bisschen Tee für sie mit raus?«
»Nein«, wiederholte Charlie.
»Oh, Teàrlach, so fies bist du sonst aber nicht!«
»Ich bin nicht fies, sieh sie dir doch an.«
Die Buchhalter aus Swindon standen eng zusammen und redeten heftig aufeinander ein.
»Siehst du? Die diskutieren gerade, ob sie meutern oder vielleicht einfach verschwinden sollen, und tauschen sich darüber aus, wie sehr sie uns verabscheuen. Die hassen uns wirklich aus vollster Seele.«
Flora nickte. »Das wundert mich nicht.«
»Tja, so läuft das eben«, murmelte Jan. »Das ist Teambuilding. Der gemeinsame Hass auf uns bringt sie enger zusammen.«
Flora zwinkerte. »Ich hätte ja nicht gedacht, dass diese Taktik funktioniert. So ausgedrückt, klingt es allerdings logisch. Aber eure Jungen bekommen von euch doch Wurstbrötchen!«
Charlie zuckte mit den Achseln. »Diese Jungen bekommen von uns, was auch immer wir ihnen geben können … Aber in Ordnung, mach uns mal fünfzehn von euren einfachsten Sandwiches zum Mitnehmen fertig für später. Du kannst auch gerne das Brot von gestern dafür nehmen, wenn du willst.«
»Das werd ich bestimmt nicht!«, rief Flora entsetzt aus.
»… und schlag dafür bitte noch was auf den Preis drauf.«
»Das muss doch nicht sein«, warf nun Jan ein.
»Doch, mach das mal, Yarta«, bestätigte Charlie. Das war eine in der Gegend übliche liebevolle Anrede. Leider bedeutete sie »mein Schatz« und war ihm entschlüpft, bevor er es merkte. Jan starrte ihn an, und Flora verzog gequält das Gesicht, als sie seine Teetasse wieder entgegennahm (die nur für ihn bestimmt war und hinten im Laden an einem Regalbrett hing).
Gegen Mittag sah es draußen immer noch nicht besser aus, deshalb war im Café nicht viel los. Das würde sich erst gegen drei Uhr wieder ändern, wenn jeder, der rund um Mures Hauptstraße arbeitete, plötzlich zur gleichen Zeit große Lust auf ein Stück Früchtebrot bekommen würde. Für Januar befürchtete Flora echte Entzugserscheinungen.
Um vier Uhr nachmittags fuhren dann die Fischer in den Hafen ein und wollten mit jeder Menge Tee und Toast versorgt werden. Sie wurden stets in den hintersten Winkel des Lokals verbannt, damit sie nicht alles vollstanken.
Flora beschloss, die ruhige Mittagszeit zu nutzen, um sich davonzustehlen und Fintan, der bei Colton am Bett sitzen würde, etwas zu essen vorbeizubringen.
Im Sommer hatten die beiden Männer viel Zeit am Strand verbracht, wo jeder mal auf einen Sprung vorbeigekommen war.
Aber jetzt, wo es Colton immer schlechter ging, konnten weniger Leute einfach so reinschauen, und Colton selbst zog sich auch immer mehr zurück. Das war jetzt die Zeit der Familie, nur für sie.
Flora packte ein Brötchen mit Cumbrae-Käse und Speck ein, gewürzt mit einem Preiselbeergelee, an dem sie im Moment arbeitete, und machte sich auf den Weg zum schmuddeligen alten Land Rover ihres Vaters.
Sobald sie durch die Tür getreten war, verstand Flora, warum heute all ihre Kunden so mitgenommen ausgesehen hatten: Das Wetter war seit dem Morgen noch schlechter geworden, und der Wind ging schon beim ersten Schritt nach draußen durch Mark und Bein. Flora erschauderte in ihrer Daunenjacke, die man für das Leben auf Mure unbedingt brauchte, und zog ihren Schal über Mund und Nase. Der seitlich einfallende Regen war mit Schneefetzen durchsetzt. Flora zog sich die Pomponmütze über die Ohren, bekam jedoch eiskalte Hände, als sie zum Hof hinüberlief, um das Auto zu holen.
Es dauerte immer ewig, bis die alte Rostlaube richtig warm wurde, aber es brachte ja sowieso nicht viel, weil hinten der Wind durch das Planenverdeck pfiff. Flora fuhr los.
Coltons Villa war wirklich beeindruckend. Das Gebäude war früher mal ein Pfarrhaus gewesen, dann aber umgebaut und erweitert worden, um es – na ja – eben in das Zuhause eines Milliardärs zu verwandeln, dachte Flora bei sich. Die Sicherheitstore öffneten sich, als sie einer gesichtslosen Stimme ihren Namen nannte. Dann lief sie an übel gelaunten Pfauen vorbei – denen doch sicher eiskalt sein musste – über den perfekt geharkten Kiesweg.
Weil das Grundstück etwas höher lag, fiel hier auch mehr Schnee. Das Haus stand oben am Rand einer Klippe, von der aus man über das Wasser in Richtung Norden schaute – scheinbar ins Unendliche bis zum Pol. Die Aussicht wurde nur von einem futuristisch anmutenden Windpark mit sich wild drehenden Rädern draußen im Ozean unterbrochen, auf dessen Wellen sich weiße Schaumkronen zeigten.
Das würde heute ein langer, harter Tag für die Fischer werden, selbst für diejenigen, die für das Leben auf See geboren waren.
Auf Mure nutzten nur wenige Leute die Haustür, und es wurde auch selten abgeschlossen, daher ging Flora direkt zur Hintertür. Jemand machte ihr von innen auf, und sie wurde von einer Hitze in Empfang genommen, die sie genauso überwältigend fand wie zuvor die Kälte draußen.
Colton hatte das Gebäude schon vor seiner Krankheit gerne auf tropische Temperaturen aufgeheizt, um auch im Winter barfuß über die aus Italien importierten Fliesen tappen zu können.
Flora konnte ihre vier Schichten Kleidung gar nicht schnell genug loswerden. Durch den Flur kam Fintan auf sie zu, der neuerdings nicht so energiegeladen wie sonst war, sondern älter, gedämpfter wirkte.
Flora schaute sich um. »Toll sieht es bei euch aus«, sagte sie.
Tatsächlich war das ganze Haus, obwohl der Dezember gerade erst angefangen hatte, von oben bis unten weihnachtlich dekoriert. In der weitläufigen Eingangshalle hatte man das alte Geländer mit Efeu verziert, und alle Kamine waren von Stechpalmen eingerahmt. In der Bibliothek und im Wohnzimmer flackerte tatsächlich ein Feuer, obwohl sich niemand im Raum befand.
Flora fand das alles herzerweichend traurig. Da hatte man dieses wunderschöne Haus nun durch die Renovierung wieder in einen makellosen Zustand versetzt, genau wie The Rock, Coltons Hotel, das etwas weiter im Osten stand und theoretisch Besuchern und Touristen jeden nur erdenklichen Komfort bieten sollte.
Nur leider war durch Coltons Krankheit alles ganz anders gekommen.
Flora warf einen Blick in die Küche, wo alle möglichen Kräuter und Gewürze in futuristischen Flaschen auf perfekt abgestaubten, frei hängenden Regalbrettern standen.
In diesem Haus hätte eigentlich Trubel herrschen sollen; es war wie gemacht für Feiern und Kinder und Familien und Lebensfreude, weil hier etwas ganz Besonderes passiert war: Colton und Fintan hatten sich gefunden, die Liebe ihres Lebens, und waren frisch verheiratet.
Stattdessen kam Flora das Haus wie ein Mausoleum vor, und sie wusste, dass Fintan ihr diesen Gedanken ansah.
»Du hast ja recht«, räumte er ein und zuckte mit den Achseln. »Das mit der Deko ist wohl etwas übertrieben.«
»Ich hab dir Mittagessen mitgebracht«, sagte Flora. Sie wollte ihren Bruder nicht umarmen, weil ihr das merkwürdig erschienen wäre, irgendwie anmaßend. Außerdem hatten sie so etwas bis zum Tod ihrer Mutter in ihrer Familie auch nicht getan. Also wedelte sie lieber mit ihrer Tupperdose herum.
»Oh, ehrlich gesagt haben wir ja einen Koch«, sagte Fintan zerstreut. »Also …«
»Okay, dann ess ich das eben selbst«, antwortete Flora. »Ich hab nämlich einen Bärenhunger.«
Sie verstummte. In letzter Zeit hatte sie ständig einen Bärenhunger. »Na ja.« Sie wechselte lieber das Thema: »Ist er denn wach?«
Fintan nickte. »Heute sieht’s eigentlich ganz gut aus. Möchtest du mitkommen und Hallo sagen?«
Flora fand den Weg die Treppe hinauf beinahe gruselig, weil kein Laut zu hören war, obwohl sie genau wusste, dass sich im Haus noch andere Menschen befanden. Der dicke, weiche Teppich dämpfte auch ihre Schritte, und die zahlreichen Duftkerzen in weihnachtlichen Varianten wie Feige, Orangenschale oder Glühwein konnten den unverkennbaren Geruch von Desinfektionsmittel nicht völlig überdecken.
Obwohl Flora Colton so oft wie möglich besuchte, machte sein Anblick sie doch jedes Mal betroffen. Sie erinnerte sich eben nur zu gut an den großen, starken, drahtigen Amerikaner, dem sie vor zwei Jahren in einem Konferenzraum in London zum ersten Mal begegnet war – brillant, lebhaft, beinahe unerträglich selbstbewusst.
Beim Gedanken an jenen Moment lächelte Flora traurig, während Fintan sie durch die schwere Holztür in das geräumige Schlafzimmer führte.