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Alle Jahre wieder … ein neuer atmosphärischer Weihnachts-Roman von der „Queen of Christmas“, Jenny Colgan!
»Weihnachten in der kleinen Buchhandlung«, der 4. Band der »Happy Ever After-Reihe«, entführt seine Leserinnen und Leser in das festlich geschmückte Edinburgh. In ihrem stimmungsvollen Roman erzählt SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan eine gefühlvolle Geschichte um das schönste aller Feste, die Magie von Büchern und das Glück der Freundschaft.
Als das Londoner Kaufhaus, in dem Carmen gearbeitet hat, kurz vor Weihnachten seine Pforten schließt, zieht sie widerstrebend zu ihrer Schwester nach Edinburgh. Sie soll dort eine kleine Buchhandlung übernehmen. Der Laden hat jedoch schon bessere Tage gesehen, es droht der Verkauf – wenn nicht ein Wunder geschieht. Carmen will schon alles hinwerfen, doch dann lässt sie sich bezaubern: von den verschneiten Straßen der Stadt, vom Charme der altmodischen Buchhandlung – und von dem attraktiven Star-Autor, der dort plötzlich auftaucht. Ob die Magie der Weihnacht ein Wunder wahr werden lässt?
Jenny Colgans gefühlvolle und atmosphärische SPIEGEL-Bestseller sind wie eine Tasse heiße Schokolade – sie wärmen von innen und machen glücklich.
Wie schon »Weihnachten in der kleinen Bäckerei am Strandweg« oder »Weihnachten im kleinen Inselhotel« stimmt auch »Weihnachten in der kleinen Buchhandlung« auf die festliche Jahreszeit ein: mit einer Geschichte voller Heiterkeit, Gefühl, Schneeflocken und weihnachtlichem Glanz.
»Wieder eine großartige Lektüre von Jenny Colgan, die Sie in Weihnachtsstimmung versetzen wird« Bella
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Deutsche Erstausgabe
© Jenny Colgan 2021
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Christmas Bookshop«,
Sphere, an imprint of Little, Brown Book Group,
an Hachette UK Company, London 2021
© der deutschsprachigen Ausgabe:
Piper Verlag GmbH, München 2022
Redaktion: Kerstin Kubitz
Covergestaltung: zero-media.net, München,
nach einem Entwurf von Little, Brown Book Group
Covermotiv: Illustration: Kate Forrester und FinePic®, München
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Epilog
Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Impfstoffentwickler. Mann, ihr habt uns gerettet, ihr großartigen, klugen Forscher.
Und auch für die, die uns geimpft haben.
Danke.
Oh, wie süß und erfreulich ist es doch für das wahrhaft geistige Auge, alle Arten von Gläubigen zu sehen …
Isaac Penington (1616–1679, Quäker)
Aber es ist doch August«, sagte Carmen ins Telefon, während sie ihr Buch zur Seite legte. »August und beinahe sonnig draußen. Eiswagen ziehen durchs Land, ich trage Sandalen und hab letzte Woche Sonnencreme aufgetragen, die ich auch fast gebraucht hätte! Da habe ich doch dafür jetzt keinen Kopf.«
»Ich meine ja nur«, ertönte wieder die sanfte Stimme ihrer Mutter, Irene, »dass es ganz gut wäre, wenn ich es schon früh wüsste.«
Carmen seufzte. Jedes Jahr das gleiche Theater.
»Und natürlich hat Sofia …«
Carmen verzog das Gesicht. »Jaja, sie bekommt wieder ein Baby und trägt damit zur Überbevölkerung der Erde bei, blablabla, ich weiß.«
»Carmen June Hogan, nicht in diesem Ton!«
»Also wirklich, Mum, Sofia kriegt einfach den Hals nicht voll. Sie hat doch schon drei Kinder! Egal, ich weiß jedenfalls noch nicht, was ich an Weihnachten mache. Vielleicht fahre ich auch weg.«
»Mit wem denn?« Ihre Mutter klang skeptisch.
»Womöglich lerne ich ja bis Weihnachten jemanden kennen und entfliehe dann mit ihm nach Barbados! Oder L. A.!«
Sie konnte beinahe spüren, wie ihre Mutter am anderen Ende lächelte.
»Mit dir ist also an Weihnachten nicht zu rechnen, weil du in L. A. sein wirst?«
»Weil ich vielleicht in L. A. sein könnte!«
Carmen fragte sich, ob sie eigentlich als Einzige auf der Welt mit Mitte zwanzig bei Unterhaltungen mit ihrer Mutter immer noch zum patzigen Teenager wurde.
Aber es war doch erst August. Sie wollte noch nicht daran denken, dass der Sommer irgendwann vorbei sein würde, und erst recht nicht an ein weiteres Weihnachtsfest. Während der Feiertage würde sie in ihrem Elternhaus in ihrem früheren Kinderzimmer schlafen, das mittlerweile voll war mit lächerlichem Kram, der nicht ihr gehörte: mit Nähmaschinen und allen möglichen anderen Sachen. Dann würde sie wieder die alten Taschenbücher lesen, die noch bei ihr im Regal standen: die Follyfoot-Reihe, C. S. Lewis und, passend zu Weihnachten, Wintersonnenwende.
Alle würden einen Riesenwirbel um Sofias laute, freche Kinder machen und ihnen so unglaublich viel Zeug schenken (das immer aus Holz und furchtbar teuer sein musste), dass sie kaum das Papier eines Päckchens aufgerissen hatten, bevor sie sich schon auf das nächste stürzten.
Auch Sofias Geschenke für alle wurden von Jahr zu Jahr größer und wertvoller, womit offensichtlich war, wer in dieser Familie es zu etwas gebracht hatte – und wer immer noch Spice-Girls-Bettwäsche benutzte und reduzierte Ware von der Arbeit als Geschenke verteilte.
Irene ließ nicht locker. »Ich meine, Sofia wird zu dem Zeitpunkt sicher ungern reisen wollen und ist ja auch superstolz auf ihr neues Haus … Da dachte ich, dass wir alle zu ihr fahren und ich dann koche …«
Sofia arbeitete als Anwältin in Edinburgh, gut hundertfünfzig Kilometer entfernt von der dahinsiechenden Industriestadt an der Westküste Schottlands, aus der sie stammte. Sie hatte es wirklich zu etwas gebracht – danke der Nachfrage –, mit einem attraktiven, international tätigen Anwalt als Ehemann und all ihren Kindern und den Range Rovern, blablabla.
Carmen hingegen war weiterhin dort angestellt, wo sie schon als Schülerin samstags gejobbt hatte: in einem alten Kaufhaus, das immer schäbiger und heruntergekommener wirkte. Diese Tatsache erwähnte die Familie aber nie, was es irgendwie noch schlimmer machte.
Als könnte sie die Gedanken ihrer Tochter lesen, senkte Irene nun die Stimme und fragte: »Und, wie läuft es bei Dounston’s?«
Carmen verstand genau, was ihre Mum damit sagen wollte, obwohl sie den Tonfall hasste.
»Na ja … mit dem Weihnachtsgeschäft wird es sicher besser«, antwortete sie, was beide so gern glauben wollten.
Am Ende des Telefonats war die Sache mit den Feiertagen immer noch nicht eindeutig geklärt. Zumindest weigerte sich Carmen strikt, sich jetzt bereits festzulegen, obwohl ihre Mutter selbstverständlich mit ihr rechnete.
Denn es würde sich natürlich nichts anderes ergeben, und Carmen würde tatsächlich mit von der Partie sein – in Sofias neuem Haus, wie auch immer das aussehen mochte. Wahrscheinlich würde man ihr das übelste Bett von allen zuweisen. Die Alternative war, dass sie sich am vierundzwanzigsten wieder in ihre Spice-Girls-Bettwäsche kuschelte, und dieser Gedanke deprimierte sie nur noch mehr.
Carmen schaute sich im Personalraum um.
Ihre beste Freundin hier im Laden, Idra, war gerade hereingekommen und beäugte nun die Blümchentasse ihrer Vorgesetzten, Mrs Marsh, die unter Androhung der Todesstrafe nicht von anderen benutzt werden durfte.
»Denk nicht einmal daran!«, warnte Carmen sie.
»Ich werd da reinpinkeln«, antwortete Idra zornbebend. »Die hat mich zurück in die Hutabteilung versetzt!«
Carmen stöhnte mitfühlend. Die Hutabteilung lag direkt neben der Eingangstür. Der Gedanke dahinter war, dass sicher viele dringend eine Kopfbedeckung brauchten, wenn sie aus der Kälte der Einkaufsstraße hereinkamen, in der mittlerweile ein rapider Schwund an Geschäften stattfand.
Wer dort an der Kasse stand, war allerdings dauerhaft eisigen Windstößen ausgesetzt, während gleichzeitig der Lufterwärmer auch noch bei strategischem Lagenlook zu Schweißausbrüchen führte. Immerhin öffnete sich die Tür zunehmend seltener.
Carmen zählte die Tage in Büchern. Man konnte pro Tag schließlich nur eine gewisse Anzahl von Schaufenstern neu gestalten, daher hatte sie für die ruhigen Momente nach dem Überprüfen, Abstauben und Zurechtrücken ausgelegter Ware immer ein Taschenbuch unter dem Tisch.
Als sie damals bei Dounston’s angefangen hatte, war immer viel zu tun gewesen, und Carmen hatte nur während der Busfahrt zur Arbeit und in der Mittagspause lesen können. Mittlerweile schaffte sie einen Roman in drei Tagen und wurde immer schneller, was ihr wirklich große Sorgen bereitete.
»Mich hasst sie am meisten«, kommentierte Carmen zum Thema Mrs Marsh, als sie sich den Dienstplan für die nächsten Wochen anschaute.
Carmen hatte die ungünstigste Kombination von Schichten, die man sich nur vorstellen konnte – eine Frühschicht gefolgt von einer Spätschicht am nächsten Tag und danach sogar eine Früh- und Spätschicht am selben Tag. Trotzdem summierte sich ihre Arbeitszeit nicht auf eine volle Stelle, sodass sie nur über die Runden kam, indem sie auf jegliche Unternehmungen verzichtete, an allen Ecken und Enden knapste und am Sonntagabend zig Tupperdosen von ihrer Mutter mit nach Hause nahm.
»Sie hat gesagt, dass ich wie eine Herumtreiberin aussehe«, murmelte Idra.
»Was hattest du denn an?«
»Ich hab einfach nur meine Strickjacke ausgezogen. Für etwa zehn Sekunden.«
Carmen lachte, verstummte aber, als die Person, über die sie gerade sprachen, lautlos in den Raum glitt.
Obwohl sie untersetzt war, hatte Mrs Marsh über Jahrzehnte das geräuschlose Gleiten durchs Warenhaus perfektioniert – immer auf der Suche nach Übeltätern, Langfingern, Zeitverschwendern und Drückebergern, im Prinzip nach jedem, der so wirkte, als hätte er hier womöglich Spaß.
Ja, ihre Chefin bewegte sich lautlos auf ihren winzigen Füßchen, die immer in schicken schwarzen Pumps steckten. Dabei drückten die doch sicher und trugen wohl auch zu den Jahr für Jahr beharrlich wie Efeu wuchernden Besenreisern bei, die durch ihre Feinstrumpfhosen in einem dunklen Nude-Ton gerade eben zu erkennen waren.
Mrs Marshs Körpermitte war voluminös, und ihr üppiger Busen sah durch das Wäscheteil aus der Übergrößenabteilung so aus, als hätte sie nur eine einzige, durchgehende Brust, die im Laden notfalls als Ablage dienen könnte.
Carmen und Idra waren sich seit langem darüber einig, dass Mrs Marshs Idee von Perfektion in einem absolut sauberen und ordentlichen sowie völlig leeren Geschäft bestand. Kunden, die alles durcheinanderbrachten, deren Kinder Gläser herunterwarfen, die mit ihren matschigen Schuhen den Fußboden beschmutzten oder die die Fahrstuhletikette nicht befolgten, störten da eher.
(Mrs Marsh erinnerte sich nur zu gut an die Zeit, als sie noch einen Fahrstuhlführer gehabt hatten, und erwähnte das oft und gern.)
Die gähnende Leere, die ihre Chefin als Idealzustand erachtete, herrschte in den Abteilungen des Warenhauses leider immer öfter.
Nach und nach waren aus dieser unwichtigen, regionalen Satellitenstadt etliche Läden weggezogen – wie Kegel waren BHS, Next, Marks and Spencer und WH Smith einer nach dem anderen gefallen.
Bei Dounston’s hatten Generationen von Bräuten aus der Gegend ihre Hochzeitsliste hinterlegt und den Stoff für ihr Brautkleid ausgesucht, werdende Mütter hatten Kinderwagen gekauft, Familien Porzellan und ihr Sofa, ihre Wohnungsausstattung und Haushaltswaren.
Seit jeher gab es bei Dounston’s im August Schuluniformen und im Dezember neue Ware in der schicken Parfüm- und der wunderbaren Spielzeugabteilung. Dort leuchteten die Augen der Kinder jedes Jahr vor Begeisterung, wenn sie kamen, um für ein kleines Geschenk und ein Foto mit dem Weihnachtsmann vor einer Winterkulisse anzustehen.
Ja, das war Dounston’s, und alle gingen davon aus, dass es als Nächstes zur Reihe der Ladenleichen an der Einkaufsstraße hinzukommen würde.
Aber Carmen konnte sich eine Pleite des Warenhauses einfach nicht vorstellen – schließlich war es eine zuverlässige Anlaufstelle und so eng mit der Stadt und dem Leben ihrer Einwohner verknüpft.
Seine Buntglasfenster zeigten Szenen aus den Schiffswerften am nahen Clyde, und man würde in seiner hauseigenen Konditorei nicht einmal im Traum daran denken, zum französischen Gebäck und den Scones so etwas Neumodisches wie einen Caffè Latte anzubieten.
Nein, Dounston’s konnte einfach nicht dichtmachen, es war doch das Herz der Stadt.
Aber die Stadt selbst schien ja am Ende, tot. An der Einkaufsstraße blieb wenig außer Secondhandshops und Läden, in denen man Elektromobile mieten konnte. Gelegentlich wurde von der Stadtverwaltung in Geschäften, die aber von vornherein zum Scheitern verurteilt waren, lokales Kunsthandwerk oder Bilder von Malern aus der Gegend angeboten.
Natürlich wollten die Leute gern eine florierende Innenstadt. Aber sie wollten dort nicht fürs Parken bezahlen, wenn es im glitzernden Einkaufszentrum vor den Toren der Stadt umsonst war, wo es auch Wagamama gab.
Ja, sie wollten gern eine florierende Innenstadt, wollten dort aber nicht 17,99 Pfund für eine Porzellantasse mit dem Bild einer Schäferin bezahlen, wenn es für unter fünf Pfund etwas völlig Brauchbares auf Amazon gab.
Und sie wollten auch nicht den ganzen langen Weg ins Stadtzentrum für drei Meter rosafarbenes Dekoband auf sich nehmen, nur um dann festzustellen, dass gerade kein rosafarbenes Dekoband vorrätig war und sie deshalb Weinrot nehmen mussten, obwohl sie doch Rosa wollten.
Schließlich würde es nur zwei Minuten dauern, in einem Onlineshop auf das Band im gewünschten Farbton zu klicken, das schon am nächsten Tag geliefert werden würde.
Das alles konnte Carmen ja nachvollziehen. Obwohl sie jeden Tag ins Zentrum kam, hatte sie es beim Einkaufen auch gern bequem und war damit genauso mitschuldig wie alle anderen.
Und wer benutzte heutzutage schon Serviettenringe? Wie viele Dekokissen konnte ein Mensch, der halbwegs bei Verstand war, in seinem Leben kaufen? Außerdem ließen Brautjungfern ihre Kleider nicht mehr wie früher aus riesigen Lagen rosa- und lilafarbenem Satin anfertigen (oder aus Baumwollsatin, wenn das Geld knapp war).
Stattdessen wurden fertige Kleider im Ausland bestellt. Wenn sie auf den letzten Drücker ankamen, saßen die allerdings so schlecht, dass die Brautjungfern mit roten Wangen bei Dounston’s erschienen, um Rat für Anpassungen und das Kürzen des Saums zu erbitten und vielleicht einen Reißverschluss zu kaufen.
Nur drei Tage nach dem Telefonat war es so weit – man berief die Belegschaft ein, vor der sich nun Mrs Marsh aufbaute, die selbst längst reif für die Rente zu sein schien.
Idra hätte ihr Alter ungefähr auf neunzig geschätzt und zischte jetzt, dass sie am besten Gift in die verdammte Tasse gegeben hätte.
Die Ankündigung, dass man die komplette Belegschaft rauswarf, schien Mrs Marsh mit einer gewissen Genugtuung zu erfüllen. So formulierte sie es natürlich nicht, sondern sprach mit ihrer gewählt vornehmen Vortragsstimme davon, dass man »leider die Arbeitskräfte des Warenhauses freisetzen« müsse.
Sie blickte durch ihre breite Brille mit dem pastellfarbenen Gestell und tätschelte sich die spraygefestigte Kurzhaarfrisur.
»Ich bin mir sicher, dass einige von Ihnen ausgezeichnete Referenzen bekommen und keinerlei Schwierigkeiten haben werden, eine neue Anstellung zu finden«, sagte sie und schaute vielsagend zu ihrem Liebling hinüber, der verdammten Schleimerin Lavinia McGraw.
Genau in diesem Moment begegnete Idras Blick dem von Carmen, die das schreckliche Gefühl beschlich, dass sie gleich an völlig unpassender Stelle in Gelächter ausbrechen würde.
Denn diese Nachricht war natürlich furchtbar, ganz grauenhaft, eine Katastrophe. Aber Carmen hatte so etwas schon kommen sehen, genau wie alle anderen, und hatte trotzdem nichts unternommen. Da brachte es ja auch nichts, dafür jetzt Mrs Marsh die Schuld zu geben.
Sofia d’Angelo, geborene Hogan, musterte den Weihnachtskranz, der draußen an ihrer glänzenden schwarzen Haustür hing, kniff die Augen zusammen und rückte ihn noch einmal zurecht. Dann trat sie einen Schritt zurück und bewunderte die perfekte Symmetrie des Arrangements.
Diesem Haus hatte sie nicht widerstehen können, das hatte Sofia schon bei der ersten Besichtigung gewusst. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Okay, der Keller war ein wenig feucht, schließlich handelte es sich um ein altes Gebäude. Aber Liebe war Liebe, und es war doch niemand perfekt. Heute kam Haus Nummer 10 an der Walgrave Street allerdings nahe an absolute Perfektion heran.
In der Reihe von Gebäuden unterschiedlicher Größe, die an dieser Straße standen, war es das kleinste: Neben Keller und Erdgeschoss verfügte es über zwei weitere Stockwerke.
Das Haus war in der georgianischen Zeit am Rand von New Town gebaut worden (einem Stadtteil, der inzwischen so gar nicht mehr neu war). Die fünf perfekten Fenster mit jeweils zwölf kleinen Scheiben erinnerten an eine Kinderzeichnung, im obersten Stockwerk verlief ein filigraner Balkon vor den Fenstern, und zur Haustür hinauf führten elegante steinerne Stufen mit einem schmiedeeisernen schwarzen Geländer. Im Moment waren um dieses Geländer dicke Stechpalmenranken geschlungen, dekoriert mit Schleifen aus rotem Schottenkarostoff und geschmackvollen gelben Lämpchen.
Das alles erinnerte an ein Haus auf einer Weihnachtspostkarte, aus dem warmes Licht auf den eisigen Gehsteig fiel. Sowohl im Erdgeschoss als auch im ersten Stock stand ein Weihnachtbaum.
Zwei Christbäume! Hochzufrieden schlang sich Sofia die Arme um den Körper. Es war ein langer Weg von der kleinen Sozialwohnung auf der anderen Seite von Schottland bis hierher gewesen, aber sie hatte es geschafft.
Die Bestellung der Lebensmittel für Weihnachten hatte sie bereits im September bei Ocado aufgegeben, und auch das sorgfältig ausgesuchte Holzspielzeug für die Kinder war längst eingepackt, natürlich für jeden mit anderem Geschenkpapier, weil der Weihnachtsmann um die Bedeutung solcher Details wusste.
Die Termine für sämtliche Krippenspiele und Weihnachtskonzerte waren im Kalender vermerkt, genau wie der Ausflug zum überteuerten Weihnachtsmarkt und die Weihnachtsshow im Lyceum.
Und es war ja erst Anfang November. Sie hatten doch kaum die geschmackvollen Halloweenkränze und die orange-schwarze Dekoration rund um die Haustür weggeräumt, die Kürbisse und den großen Korb mit zuckerfreien Süßigkeiten.
In Sofias Welt war also alles in Ordnung – wenn man mal von ihrer Schwester absah.
Ihre Mutter hatte angerufen, weil Carmen jetzt schon seit drei Monaten wieder zu Hause wohnte und keine Aussicht auf eine neue Arbeit hatte.
Deshalb meldete sich ihre Mum jede Woche, bettelte Sofia an, etwas für Carmen zu organisieren, und klang dabei immer verzweifelter.
Dort, wo sie wohnten, gab es einfach keine Arbeit, und erst recht nicht im Handel. Allerdings unternahm Carmen auch nichts, um selbst Abhilfe zu schaffen.
Als ganz kleines Mädchen hatte Sofia gern ihre Puppen nebeneinander aufgereiht und ihnen Vorträge darüber gehalten, wie man sich beim Teetrinken zu benehmen hatte. Alles in ihrer Welt war sauber und ordentlich gewesen.
Sofia war vier gewesen, als ihre Mutter wieder schwanger geworden war, und in jener Zeit hatten so viele Leute zu ihr gesagt, was für eine fantastische große Schwester sie werden würde. Die kleine Sofia war darüber äußerst erfreut gewesen, unter anderem auch, weil sie tolle Geschenke bekommen hatte und die Leute für das Baby nur langweilige blöde Klamotten gekauft hatten. Was für wundervolle Monate sie damals durchlebt hatte! Selbst für so ein kleines Persönchen war Sofia ziemlich schlau gewesen, deshalb hatte sie sich gedanklich darauf vorbereitet, Carmen als Freundin, Vertraute und treue Weggefährtin in allen Lebenslagen willkommen zu heißen.
Leider sah das kreischende Monster mit dem verzerrten roten Gesicht dann gar nicht so aus wie die kleinen Schwestern in Sofias Kinderbüchern.
Und als sie älter wurde, hatte Carmen überhaupt keinen Spaß daran, mit Puppen zu spielen oder neue Kleidchen zu tragen. Tatsächlich mochte sie Kleider überhaupt nicht, und sie hasste die Schule, die Sofia so sehr liebte.
Vom Tag ihrer Geburt an gab es mit Carmen nur Ärger. Sie machte Theater, wenn sie nach drinnen oder draußen oder oben gehen sollte, wollte nicht baden oder sich die Haare waschen oder zum Schwimmunterricht oder Leute besuchen, nicht in den Kinderwagen oder aus dem Kinderwagen raus.
Sofia konnte Carmen nie begreiflich machen, dass braves Mitmachen doch viel einfacher war, selbst wenn man keine große Lust dazu hatte. Oft bekam man von den Erwachsenen, die einem lächelnd den Kopf tätschelten, dann sogar ein Plätzchen zur Belohnung. Das alles war für Sofia immer ganz unkompliziert. Carmen hingegen … war wie ein Dorn in ihrer Selbstzufriedenheit.
Jetzt runzelte Sofia die Stirn. Offenbar waren die Dinge wieder … schwierig, hatte ihre Mutter gesagt. Was erklärte, warum Carmen nicht zur Kommunion ihrer Ältesten gekommen war und nicht einmal eine Karte geschickt oder angerufen hatte.
Generell ließ sie Sofia in keiner Weise wissen, wie es in ihrem Leben aussah.
Na ja, es brachte ja nichts, sich jetzt darüber aufzuregen. Sofia strich sich die Stirn glatt – kein Botox bis nach der Geburt! Und über Carmen würde sie sich erst den Kopf zerbrechen, wenn es nicht mehr zu vermeiden war.
Sie warf einen letzten glücklichen Blick auf ihr hübsches Häuschen, dann machte sie sich mit klappernden Absätzen an gefrorenen Pfützen vorbei auf den Weg zur Arbeit.
Sofia will gar nicht, dass ich komme.«
»Unsinn«, log ihre Mutter. »Ihr befindet euch einfach in unterschiedlichen Lebensphasen, das ist alles. Und die Sache mit Pippas Feier hat eben ihre Gefühle verletzt.«
»Ihre Gefühle?«, echote Carmen. »Ich hocke hier in meinem Kinderzimmer, habe meine Arbeit verloren und nichts zu tun. Aber irgendwie sind die Gefühle unserer hochgeschätzten Sofia trotzdem das Einzige, was zählt.«
»Mein Schatz, also bitte. Du hast nicht einmal eine Karte geschickt!«
»Sofia will mich nicht bei sich haben. Ich bin doch bloß ihre merkwürdige kleine Schwester, die allen leidtut. Weil sie immer noch in einem Geschäft arbeitet, was ich ja nicht mal mehr tue, weil sie Single ist und nicht schwanger und selbstgefällig wie Sofias arrogante Freundinnen aus der großen Stadt.« Zu Carmens Verärgerung begannen ihre Wangen zu brennen.
»Es ist okay, eifersüchtig zu sein«, antwortete ihre Mutter. Dann verzog sie gequält das Gesicht, als ihr klar wurde, dass sie genau das Falsche gesagt hatte.
»Ich bin nicht eifersüchtig!«, protestierte Carmen. »Wer will denn schon einen Haufen Blagen am Hals haben? Allerdings hätte ich nie damit gerechnet, dass Sofia wegen der Angelegenheit so einen Aufstand macht. Hat sie keine anderen Sorgen als die Frage, ob ich zu so einer blöden Feier komme oder nicht?«
»Wichtiger als die Frage, ob die eigene Schwester für ihre Familie da ist oder nicht?«
»Aber das ist doch gar nicht meine Familie! Außerdem gibt es bei denen ja alle zehn Minuten was zu feiern. Eine Hochzeit. Eine Taufe. Eine Geburtstagsfeier. Eine Babyparty. ›Liebe Carmen, gib bitte deine komplette Freizeit auf, um herzukommen und mir zu versichern, wie toll ich bin und wie toll mein Leben ist und wie toll meine Kinder sind! Ach, übrigens, könntest du wirklich teure Geschenke mitbringen, für die du eigentlich das Geld nicht hast? Und dann in Restaurants mitkommen, die du dir auch nicht leisten kannst? Da kann ich nämlich vor aller Augen demonstrativ für meine arme Schwester zahlen. Ach, und guck dir nur mein riesiges Haus an!‹«
Wütend verschränkte Carmen die Arme vor der Brust. Sie trauerte ihrem Zimmer in der WG hinterher, aber sie war eben pleite. Hier und da hatte sie eine Schicht in einem Café oder einer Kneipe übernehmen können, aber es suchte ja die ganze Stadt nach Arbeit.
Dass ihre Eltern ihr so freundlich unter die Arme griffen, machte es auch nicht besser. Carmen wusste genau, was sie dachten und ihr am liebsten ins Gesicht gesagt hätten – dass sie doch so ein schlaues Mädchen gewesen war. Sie hätte gut aufs College gehen und eine Berufsausbildung machen können, oder ein Handwerk lernen. Aber sie war stur geblieben und hatte auf niemanden gehört.
Und jetzt musste sie ihren Frust eben an irgendetwas auslassen.
»Außerdem seid ihr doch alle fünf Minuten da, um vor dem Altar der Enkelkinder Lobpreis zu singen, lasst dafür alles stehen und liegen. Mir kommt es so vor, als wäre diese ganze Familie vor allem Sofias Fanclub. Und seit ich da nicht mehr Mitglied sein will, bin ich die böse Carmen.«
Dazu sagte ihre Mutter erst mal nichts. Denn einerseits war durchaus etwas dran an dem, was Carmen gesagt hatte: Drei Kinder bedeuteten jede Menge Feiern und Geschenke und Trubel. Andererseits waren doch viele Frauen hingebungsvolle Tanten. Bei Carmen war sie nicht einmal sicher, ob sie das genaue Alter von Sofias Sprösslingen kannte.
Irene wünschte sich so sehr, dass ihre Töchter einander näherstehen würden. Sie wollte, dass sich alle gut verstanden, wie es in einer Familie sein sollte.
»Ich glaube, dass sie dich jetzt wirklich braucht«, behauptete Irene, die das so gar nicht dachte.
»Tut sie nicht«, erwiderte Carmen. »Sie hat doch ihr ›supertolles Kindermädchen‹.«
So wie über dieses Kindermädchen hatte Sofia über Carmen bestimmt noch nie geschwärmt.
»Und Federico.«
»Aber der ist wegen der Arbeit ständig unterwegs«, gab ihre Mutter zu bedenken. »Deine Schwester geht ja trotz der Schwangerschaft weiter ins Büro, und drei Kinder sind selbst mit Nanny ganz schön viel. Platz gibt es bei ihr genug, und sie hat mir versprochen, dass sie dir helfen wird.«
»Soll das ein Witz sein, Mum?«, hatte Sofia in Wirklichkeit gesagt, als ihre Mutter es wieder einmal versuchte. »Mir drückst du die alte Nörglerin nicht aufs Auge! Ich habe drei Kinder plus Federico, ein weiteres ist unterwegs, und zusätzlich arbeite ich an einem riesigen Fall, den ich nicht abgeben kann. Und jetzt soll ich mich auch noch um Carmen kümmern?«
»Wenn etwas erledigt werden soll, bitte jemanden darum, der viel beschäftigt ist …«, sagte ihre Mutter hoffnungsvoll. »Hier bleibt uns nichts mehr, Sofia, einfach gar nichts. Diese Stadt ist am Ende.«
»Ich weiß«, sagte Sofia. »Das hat sich durchaus bis zu uns herumgesprochen.«
»Und deine Schwester … Ich finde es einfach furchtbar, sie so traurig zu sehen.«
Jetzt meldete sich bei Sofia das schlechte Gewissen. »Sie wird gar nicht herkommen wollen. In ihren Augen ist Edinburgh doch voll von langweiligen, selbstgefälligen, arroganten Schickimickitanten in roten Hosen.«
»Sie …«
Ja, genau das dachte Carmen über Edinburgh und hatte es des Öfteren lautstark zum Ausdruck gebracht.
»So, wie ich das sehe«, begann Irene wieder, »tut sie einfach nur so, als wäre alles in Ordnung. Aber das ist es nicht, und die Sache macht uns wirklich fertig. Carmen hat keine Arbeit, trifft sich mit niemandem mehr … Ich mache mir solche Sorgen.«
»Und wieso ist Carmen mein Problem?«
»Ist sie ja nicht«, antwortete ihre Mutter. »Sie ist unser aller Problem. Nein, so meinte ich das nicht. Aber ich hab eben gedacht … dass sie so vielleicht eine engere Beziehung zu deinen Kindern entwickeln würde.«
Sofia schnaubte. »Sie weiß ja noch nicht einmal, wie sie heißen!«
»Weiß sie doch!«
»Und sie hat sich nicht dazu herabgelassen, zu Pippas Erstkommunion zu kommen. Beim Empfang ist ein Platz am Tisch leer geblieben.«
»Ich weiß«, sagte ihre Mutter. Das war übel gewesen.
»Vierundzwanzig Stunden später hat sie mir dann ›Sorry!‹ geschrieben. Sorry!«
»Sie weiß einfach nicht, wie das ist«, wandte Irene ein, »wenn man für seine Kinder immer nur das Beste im Sinn hat. Dass die im Leben einer Mutter so eine zentrale Rolle spielen, kann sie eben nicht nachvollziehen.«
»Ich weiß«, seufzte Sofia.
»Aber als Mutter macht man sich nun mal Sorgen. Und wenn eins von diesen Kindern unglücklich ist, würde man einfach alles tun, damit es ihm besser geht …«
»Du trägst ein bisschen zu dick auf, Mum!«
Aber die allzeit geschäftige Sofia hatte sich längst erweichen lassen.
»So, mal ganz im Ernst: Hat sie in ihrem Job denn was getaugt? Oder hat sie da auch nur rumgehangen und sich über alles lustig gemacht, wie in der Schule?«
»Nein, sie war gut«, versicherte ihre Mutter. »Als Bräute ihre Ausstattung noch nicht im Internet bestellt haben, wollten sich alle nur von ihr beraten lassen.«
»Bringt sie eigentlich weiterhin so gruselige Männer mit nach Hause?«
Irene sog Luft durch die Zähne. »Sie hat es eben nicht leicht.«
»Erinnerst du dich noch an den Dichter?«
»Und ob«, murmelte ihre Mutter. »Das sonntägliche Mittagessen, bei dem er vor eurem Vater ein komplettes Sonett über Sex zum Vortrag gebracht hat, ist mir unvergesslich geblieben.«
Beide begannen zu prusten, hörten aber schnell damit auf, weil es fies war, über Carmen zu lachen. Manchmal hatte sie es sich allerdings selbst zuzuschreiben.
»Hm«, kam nun von Sofia.
»Oooh«, machte ihre Mutter. »Das bedeutet, dass du eine Idee hast …«
Sofia überlegte fieberhaft und sagte schließlich: »Aber wenn sie es verbockt …«
»Sie wird das toll meistern!«, versicherte Irene und drückte insgeheim beide Daumen.
Sofia hatte ihrer Mutter nichts versprochen, sich zu nichts verpflichtet, wie sie sich am nächsten Tag in Erinnerung rief.
Es war nur so ein Gedanke gewesen: Sie vertrat als Anwältin einen älteren Herrn, der schon ewig Mandant der Kanzlei war, es lange vor ihrer Zeit gewesen war.
Falls – und das war ein ziemlich großes Falls – Carmen als Verkäuferin etwas taugte, na ja, dann gäbe es vielleicht eine Möglichkeit, für Mr McCredie das Schlimmste abzuwehren und gleichzeitig ihrer Mutter einen Gefallen zu tun. Womöglich würde sogar Carmen selbst sich freuen und ein bisschen Dankbarkeit zeigen. Also.
Das wäre vielleicht ein winziger Hoffnungsschimmer an einem Tag, an dem es für ihren Mandanten sonst nicht viele gute Nachrichten geben würde.
Die meisten Leute, die in Sofias Büro kamen, reagierten begeistert auf ihren Babybauch oder erkundigten sich zumindest höflich nach dem Verlauf der Schwangerschaft und wünschten alles Gute.
Doch Mr McCredie war nicht wie die meisten Menschen. Er vermied vielmehr jeden Blick auf die Körpermitte seiner Anwältin und schien ihren Zustand äußerst unangenehm zu finden.
Sofia lächelte mehr als sonst und versuchte, es nicht persönlich zu nehmen: Der ältere Herr war schließlich ein Exzentriker, außerdem musste sie ihm ja wirklich ein paar unbequeme Wahrheiten nahebringen. Da war es vielleicht von Vorteil, nicht freudestrahlend Glückwünsche zur Schwangerschaft entgegennehmen zu müssen, bevor sie damit herausrückte.
»Also?« Unruhig warf Mr McCredie einen Blick auf seine sehr alte, sehr große Armbanduhr. Er hasste diese Treffen, auf die sich Sofia auch nicht gerade freute.
»Mr McCredie, ich hab alles getan, worum Sie mich gebeten haben. Aber ich muss Ihnen leider mitteilen, dass es jetzt nicht mehr weitergeht, und darüber sollten Sie wirklich auch mit Ihrem Buchhalter sprechen. Der Laden ist beinahe am Ende, weil Ihnen kein Besitz mehr zum Veräußern bleibt.«
Es war wirklich herzzerreißend. Ein Familienvermögen, ein guter Name, ein riesiges Anwesen in den Highlands, das jahrelang ein Einkommen gesichert hatte.
Aber Mr McCredie hatte keinerlei Interesse daran gehabt, diesen Nachlass zu verwalten, hatte alles verlottern und den Bach runtergehen lassen. Das riesige alte Haus war verfallen, und es gab keine Geschwister oder andere Verwandte, die sich darum hätten kümmern können.
Er hatte die Wohnung in Edinburgh und seine Buchhandlung. Aber die machte keinerlei Gewinn, weshalb Mr McCredie mehr und mehr Land verkauft hatte. Einfach nur, um zu überleben, hatte er immer mehr von seinem Erbe, seinem Kapital, ausgegeben.
Inzwischen war der Verkauf des Landguts abgewickelt, der Erlös war allerdings für Kapitalzuwachssteuer und Grundsteuer und alles andere draufgegangen.
Und Sofia blieb nun die unangenehme Aufgabe, ihrem Mandanten zu erklären, dass man ihm ein Vermögen hinterlassen hatte und er es komplett verprasst hatte – nicht durch Spielschulden oder die falsche Ehefrau oder einen extravaganten Lebensstil, sondern einfach dadurch, dass er der Sache keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
Mr McCredies Reaktion darauf verblüffte sie allerdings: »Das ist schon in Ordnung. Mir ist allein der Laden wichtig.«
»Ah ja«, sagte Sofia. »Ja. Der Laden. Ich fürchte, was den angeht, gibt es auch schlechte Nachrichten.«
Jetzt schaute Mr McCredie sie bestürzt an. Er hatte eine uralte Buchhandlung in der Altstadt, das war mehr oder weniger alles, was Sofia darüber wusste. Na ja, mal abgesehen davon, dass dieses Geschäft absolut kein Geld einbrachte.
»Es wird Mieterhöhungen geben«, erklärte sie. »Haben Sie davon nichts gehört?«
Mr McCredie zuckte mit den Achseln.
Sie wusste, dass er Briefe meist nicht einmal öffnete. »Und Ihr Geschäft scheint einfach … kein Geld abzuwerfen.«
Inzwischen zeichnete sich in seiner Miene echte Besorgnis ab. »Na ja … darum geht es ja auch nicht, sondern eher … um die Bücher; wir verkaufen alte, äußerst seltene Exemplare. Wissen Sie, das ist ein sehr spezifischer Markt. Bei uns kann man nicht einfach hereinspazieren und den neuen Ian Fleming kaufen.«
Sofia erwähnte lieber nicht, dass schon seit geraumer Zeit kein neuer Ian Fleming mehr herausgekommen war. »Ja, dessen bin ich mir bewusst«, sagte sie.
»Ich habe in meinem Laden eine wertvolle Sammlung zusammengetragen, sodass man dort zum Beispiel einige der umfassendsten Studien zur Architektur unserer Stadt findet!«
»Das mag sein. Wenn sich diese Buchhandlung nicht rentiert … weiß ich jedoch nicht, wie sie weiter finanziert werden soll.«
»Aber die … gibt es doch schon so lange. An der Victoria Street werden seit zweihundert Jahren Bücher verkauft.«
Sofia nickte. »Ich habe mich mal umgehört«, erklärte sie. »Sie könnten den Laden als laufendes Unternehmen veräußern.«
Er starrte sie an. »Himmel, das möchte ich nun wirklich nicht.«
Sie verzog das Gesicht. »Nein, damit möchte ich sagen, dass es sich um die einzige mögliche Lösung handelt. Wenn das Geschäft nicht anfängt, Geld abzuwerfen, werden Sie es irgendwann sowieso verlieren und dann gar nichts mehr dafür bekommen.«
Der alte Mann kniff die Augen zusammen.
»Dazu noch die steigende Miete …«
»Ich verstehe nicht, was Sie mir damit sagen wollen.«
Wie sollte er auch, wenn er sich geweigert hatte, ihre vielen diesbezüglichen Briefe zu lesen?
Damit würde Sofia ihn aber nie im Leben konfrontieren. Jedenfalls lag es nicht an ihr, dass plötzlich alles knapp wurde. Sofia konnte es nicht ertragen, wenn etwas so knapp wurde.
»Sie müssen Profit nachweisen können«, erklärte sie. »Und zwar am besten innerhalb der nächsten zwei Monate, also einschließlich der Weihnachtszeit und noch vor der Mieterhöhung. Wenn Sie das schaffen, finden Sie vermutlich einen Käufer. Aber wenn Sie kein Geld verdienen … werden Sie alles verlieren.«
Als sie wieder zu ihm aufschaute, standen ihm Tränen in den Augen.
Sie seufzte. Offensichtlich hatte sich das Universum mit ihrer verdammten Mutter verschworen.
»Bis … Weihnachten? Der Laden muss bis Weihnachten rentabel werden?«
»Ich denke«, erklärte Sofia schnell, »dass ich da jemanden kenne, der Ihnen helfen kann.«
Es scheint unmöglich zu sein, aber in Edinburgh geht es immer bergauf. Wirklich, und das trifft vor allem auf Waverley Station zu. Der Bahnhof liegt nämlich völlig unpassend auf dem Grund eines trockengelegten Sees, an einer Stelle mitten im Zentrum, an der sich bei anderen, vernünftigeren Städten Flüsse und Brücken und viel zweckmäßigere Dinge befinden.
In der dumpfen Kälte eines dunklen Nachmittags schulterte vor dem grauen Bahnhof, wo Pfiffe und Kaffeegeruch in der Luft hingen, eine kleine, wütende Gestalt einen Rucksack und blickte gereizt nach oben.
Nein, du brauchst kein Taxi zu nehmen, es ist nicht weit.
hatte Sofia ihr geschrieben.
Bei der vor ihr liegenden Steigung und dem heulenden Wind würde sich aber auch ein kurzer Fußweg wohl ziemlich lang anfühlen, und Carmen hatte nicht die geringste Lust aufs Laufen.
Für die Schönheit der Stadt, die sich auf allen Seiten ringsumher erhob, hatte sie keinen Blick übrig. Sie ärgerte sich vielmehr über die Tausenden von Touristen, die mit riesigen Rucksäcken im Weg herumstanden.
Abgesehen davon war sie natürlich schon mal in Edinburgh gewesen, bei Schulausflügen oder wegen des Festivals, aber gut kannte sie die Stadt nicht.
Als sie sich gegen den Wind wappnete und sich in Bewegung setzte, bemerkte sie vor dem Bahnhof als Erstes eine riesige, im Freien aufgebaute Bar mit Lichterketten und Liveband.
So weit das Auge reichte, erstreckte sich in der Abenddämmerung in alle Richtungen ein Weihnachtsmarkt, an dessen Ständen Würstchen, Glühwein, heiße Schokolade und Schnaps verkauft wurden. Offensichtlich fing man hier früh an.
Und überall drängten sich Menschen: kleine Kinder mit blinkenden Turnschuhen und großen Augen, laut lachende Teenager, die sich gegenseitig anstießen, junge Mädchen mit Trägertops, denen das Wetter egal zu sein schien.
Für all das hatte Carmen aber kaum einen Blick übrig, denn jetzt musste sie erst einmal den Weg finden und starrte unentwegt aufs Handydisplay mit der Karte.
Beinahe wäre sie deshalb überfahren worden. Und zwar, wie sie erschrocken feststellte, als sie endlich aufschaute, von einer wütend bimmelnden Straßenbahn.
Hier gibt es Straßenbahnen?, dachte sie, während sie einen Satz zurück machte. Wer hätte das gedacht?
Während sie durch die Straßen ging, musste sie wieder an den Moment denken, in dem ihre Eltern ihr am Küchentisch mit angespannter Miene die Neuigkeit unterbreitet hatten. Ihre Mutter hatte so liebevoll wie möglich erklärt, dass Sofias Anwaltskanzlei einen Ladenbesitzer vertrat, der für die Weihnachtszeit eine Aushilfe suchte.
»Ihr habt Sofia dazu gebracht, einen Job für mich zu suchen?«, fragte Carmen verstört.
Das hätte sie doch durchaus selbst erledigen können. Gut, tatsächlich hatte sie in letzter Zeit vor allem schlechte Nachrichten im Internet gelesen, Netflix geguckt und ihre ganzen Anne-auf-Green-Gables Bücher noch einmal gelesen. Aber damit wollte sie sich im Moment einfach nur etwas Gutes tun, weil sie noch ihrer verlorenen Arbeit und ihrem alten Leben hinterhertrauerte. Wieso gestand man ihr das nicht zu?
»Sofia weiß es also wieder mal am besten?«
Ihre Eltern sahen einander an.
»Deine Schwester versucht doch nur zu helfen«, sagte ihre Mutter.
»Sie gibt an, das ist alles. Und wenn ich diesen Job hasse?«
Carmen war sich durchaus dessen bewusst, dass sie sich wie ein verwöhntes Blag benahm, wenn sie einfach nur zu Hause herumsaß, wo jemand anders für sie die Wäsche wusch und kochte.
Selbst Rod, ihr sanfter Vater, der seinen Töchtern fast nie Vorwürfe machte, zog jetzt die Augenbrauen hoch.
Ihre Stimme brach. »Ich meine … Ihr wisst doch, was für eine schwierige Zeit ich gerade durchmache.«
Sie hatte sich auf so viele Stellen beworben, aber ohne Studium oder irgendwelche Qualifikationen war einfach nichts zu bekommen, außer vielleicht als Stripperin oder Lieferfahrerin. Carmen war sich nicht hundertprozentig sicher, für welchen dieser Jobs sie weniger geeignet wäre.
Eigentlich wartete sie jetzt darauf, dass ihre Eltern sie wie üblich verteidigen, nachsichtig kommentieren würden, dass ihr Durchhänger ja verständlich war. Die Schließung des Kaufhauses sei nun nicht ihre Schuld gewesen, und sie verdiene durchaus ein bisschen Zeit, um sich von diesem Schlag zu erholen.
Doch keiner von beiden sagte etwas.
Rod starrte zu Boden.
Ihre Mutter saß zwar kläglich da, aber auch sie machte den Mund nicht auf.
»Ihr findet, dass ich mich wie eine verzogene Göre aufführe«, stellte Carmen fassungslos fest.
»Nein, Chica«, sagte ihre Mutter. »Wir möchten einfach nur … dass du wieder auf eigenen Füßen stehst und …«
»Ihr denkt, dass ich mein Leben vergeude.«
»Kein Leben ist je vergeudet«, sagte ihr Vater, aber das klang in der winzigen, ordentlichen Küche wie eine hohle Phrase.
Ich werde nett sein. Ich werde mich wirklich dankbar zeigen, ermahnte Carmen sich, während sie in die Straße ihrer Schwester einbog.
Die hatte ihr Fotos vom Haus geschickt, Carmen hatte sie sich aber gar nicht richtig angeschaut und einfach angenommen, dass es riesig und schickimicki und dämlich sein würde. War es auch, gleichzeitig aber herzzerreißend allerliebst, womit sie gar nicht gerechnet hatte.
Aufgeregt und ein bisschen ängstlich ging Sofia zur Tür. Ihre Nervosität war im Prinzip albern, schließlich war es ihre Schwester, und der sollte sie eigentlich nahestehen. Andere Leute hatten doch ein enges Verhältnis zu ihren Schwestern! Sofia wünschte, Federico wäre hier und nicht in Hongkong.
Ihr Mann kam mit Carmen gut klar. Er zog sie auf und schaffte es, ihre lustige Seite zum Vorschein zu bringen, statt wunde Punkte anzusprechen, wie zum Beispiel ihre Geldknappheit und generelle Lebenssituation im Vergleich zu Sofias.
Immerhin würde Carmen dieses eine Mal dünner sein als sie. Sofia achtete peinlichst auf Ernährung und Sport, während Carmen viel Pizza mampfte und dann darüber klagte, dass Sofia ja »so ein Glück« mit ihrer Figur hatte.
Ihre Mutter war natürlich begeistert darüber, dass Sofia Carmen bei sich aufnahm. Sie hatte allerdings gelobt, dass sie sich nicht einmischen, sich nicht einmal bei ihnen melden würde.
Dabei ging es ihr im Grunde um ihr eigenes geistiges Wohlbefinden: Irene würde es nicht ertragen können, die beiden alle fünf Minuten an der Strippe zu haben, um sich ihre Klagen über die jeweils andere anzuhören.
Natürlich würde sie ihre Enkel vermissen – die sie vergötterte –, aber vielleicht würde die ganze Sache Carmen endlich dazu bringen, ihre eigene Familie etwas besser kennenzulernen.
Sie hoffte es wirklich.
Wie so viele andere Mütter konnte Irene nicht so recht glauben, dass ihre Kinder längst erwachsen waren. In ihren Augen waren sie einfach kleine Mädchen, die die Kleider (oder in Carmens Fall eher die zerrissenen Jeans) erwachsener Frauen trugen.
Sie erinnerte sich noch daran, wie sich Sofia einst bei einem Ausflug nach Ayr darum bemüht hatte, dass sich Carmen mal fünf Minuten gut benahm, weil ihre Mutter ihnen dann ein Eis kaufen würde.
Obwohl in schneller Folge Leute mit Softeis plus Schokostückchen oder einem Eis in muschelförmiger Waffel aus dem italienischen Eisladen kamen, schien die Schlange endlos, und Carmen steigerte sich trotz der Beruhigungsversuche von Sofia in einen immer schlimmeren Wutanfall hinein.
Irgendwann kam es zum Desaster, als Carmen beim wilden Herumfuchteln einem anderen Kind das Eis aus der Hand schlug. Und als ihre Mutter dann dem fremden Kind ein neues Eis kaufte, flippte dessen Geschwisterchen aus.
Schließlich verkündete Irene, dass Carmen kein Eis bekommen würde, weil sie sich so aufgeführt hatte.
Daraufhin starrte Sofia ihr eigenes Eis an und bot Carmen an, mal dran zu lecken. »O nein, Mum, jetzt isst sie einfach alles auf! Die isst mein ganzes Eis!« Damit war der Ausflug mehr oder weniger gelaufen.
Aber die beiden waren doch Schwestern, und Schwestern rauften sich am Schluss immer zusammen, oder?
In der Schule war Sofia eine Überfliegerin gewesen, was es auch nicht leichter gemacht hatte.
Carmen hatte immer so gern gelesen, aber als sie dann in die Schule kam, hielt sie es nicht aus, mit ihrer genialen Schwester verglichen zu werden. Sie hinkte zunehmend hinterher, fast, als würde sie das mit Absicht machen.
»Ruf sie nicht an«, mahnte Rod, der wie üblich die Gedanken seiner Frau lesen konnte. »Lass sie das unter sich ausmachen. Die packen das schon.«
Irene hob die Hände, um ihm zu zeigen, dass sie die Finger vom Telefon ließ. »Okay, okay.«
Sofia setzte ein strahlendes Lächeln auf und öffnete die Tür. »Hey!«
Ausnahmsweise war Carmen beinahe sprachlos. »Dein Haus!«, murmelte sie. »Mein Gott, das ist ja Wahnsinn!«
Jetzt musste Sofia ihr Lächeln nicht mehr vortäuschen. Sie fand es toll, wenn Leute ihr Haus so sehr liebten wie sie. »Komm erst mal rein, es ist ja total kalt draußen!«
»Aber ich möchte noch eben … Ich meine, das sieht ja aus wie eine Bilderbuchzeichnung. Gott. Und seid ihr darin womöglich … immer glücklich und zufrieden?«
Carmens Tonfall war wehmütig, die Frage jedoch durchaus ernst gemeint. Es war, als hätte sie ein Puppenhaus in groß vor sich, so wunderschön und unerreichbar, dass sie nicht einmal neidisch sein konnte. Das wäre ja ungefähr so, als wäre man auf Amal Clooney eifersüchtig.
Sofia lächelte. »Na los, komm schon rein.«
Im eleganten Flur gab es einen Garderobenschrank für Mäntel und Stiefel, und Carmen nahm ihren Rucksack ab, während sie den glänzenden Parkettboden betrachtete, der zu einem großen, offenen Küchenbereich mit einer gläsernen Falttür als Rückwand führte. Man blickte auf einen quadratischen kleinen Reihenhausgarten mit Fußballtor.
Auf der linken Seite des Flurs konnte man durch eine offene Tür ein wunderschönes kleines Fernsehzimmer sehen, das in modischem Schwarz und Grautönen gehalten war. Alles war einfach umwerfend.
Plötzlich war sich Carmen ihrer schäbigen Lederjacke und schlammbespritzten Jeans überdeutlich bewusst. Sie hatte das Gefühl, dass sie diesen makellosen Ort durch ihre bloße Anwesenheit befleckte.
»Hättest du vielleicht eine Tasse Tee?«, fragte sie und hoffte eigentlich, ihre Schwester würde sagen: »Ach, was soll’s, lass uns doch eine Flasche Wein aufmachen!« Allerdings war Sofia ja schwanger, Mann! Wie langweilig!
Carmen zog sich die Schuhe aus und folgte ihrer Schwester in die riesige Küche.
Als Sofia fragend die Augenbrauen hochzog, war sich Carmen nicht sicher, was sie damit andeuten wollte. Dann warf sie einen Blick zurück zur zauberhaften Treppe, deren metallenes Geländer einen hölzernen Handlauf hatte.
Ganz oben stand in einem grünen Samtkleid ein kleines Mädchen mit dem gleichen entschlossenen, willensstarken Gesichtsausdruck wie Sofia.
Sie war hübsch und adrett, hatte nach hinten gekämmtes schwarzes Haar, das ihr auf die Schultern fiel, eine durch Ballettunterricht geschulte Haltung und einen direkten Blick.
»Oh, hallo …«, sagte Carmen und geriet direkt ins Schleudern. »… Phoebe?«
»Nein, ich bin Pippa. Phoebe ist noch oben. Dabei sollte sie eigentlich auch hier sein, oder, Mummy? Das ist doch unhöflich.«
Sofia nickte, während ein kleines Papierflugzeug an Pippa vorbeisauste.
»HI!«
»Jack«, sagte Carmen mit mehr Bestimmtheit, da es sich bei ihm um den einzigen Jungen handelte. Er war etwa acht, hatte ein fröhliches rundes Gesicht voller Sommersprossen und trug einen kurzen Bürstenhaarschnitt.
»Hallo, wie geht’s dir?«, rief Jack und verschwand mit einem Fußball unter dem Arm schnell im Garten, bevor es dunkel wurde.
»PHOEBE!«, rief seine größere Schwester laut und schrill.
Carmen war immer noch nicht sicher, was sie sagen sollte, als Pippa die Treppe herunterkam und sie mit verblüffend missbilligendem Blick von Kopf bis Fuß musterte.
»Du hast meine Erstkommunion verpasst«, brachte Pippa dann in anklagendem Tonfall vor. »Die war im Oktober. Daddys Bruder hat mir dieses Kleid geschickt.«
»Oh«, machte Carmen.
»Pippa, mein Schatz, könntest du bitte …?«
»Ich meine ja nur. Also, ich bin in der sechsten Grundschulklasse, tanze gern und mag Pferde, aber keinen K-Pop, deshalb schenk mir keine K-Pop-Sachen.«
»Äh, okay«, sagte Carmen.
»PHOEBE!«
»Schrei bitte nicht so herum«, mahnte Sofia. »Also einen Tee?«
»Ich mach das schon«, sagte Carmen, der sich nun die Tatsache aufdrängte, dass Sofia eine riesige Kugel vor sich herschob. Außerdem würde sie ja mietfrei hier wohnen und sollte sich im Gegenzug ein bisschen nützlich machen, wie ihre Mutter ihr immer wieder eingebläut hatte.
Noch war die Stimmung etwas steif.
»Nein, nein, unterhalt du dich besser mit den Kindern, ihr habt sicher einiges nachzuholen«, sagte Sofia und füllte den Kessel mit Wasser.
Der Kessel sah teuer aus, dachte Carmen. Wie konnte man nur so viel Geld für einen Kessel ausgeben?
Gefolgt von Carmen ging Pippa in die Küche hinüber und setzte sich. »Meine Lieblingsserie ist Das geheimnisvolle Kochbuch. Aber wir sehen nicht viel fern, weil Skylar sagt, dass es nicht gut für die Augen ist, auf einen Bildschirm zu starren. Und für die Seele auch nicht.«
»Wer ist denn Skylar?«
»Das Kindermädchen«, antwortete Pippa im selben Moment, in dem Sofia sagte: »Sie geht uns hier ein bisschen zur Hand.«
»Und wo steckt sie?«
»Oh, sie studiert und ist jetzt an der Uni. Du lernst sie später noch kennen … PHOEBE!«
Alle blickten auf, weil von der Treppe her stampfende Schritte erklangen.
Eine weitere Miniaturversion von Sofia erschien, die allerdings so gar nicht auf Hochglanz poliert war. Vielmehr hatte sie wirres, verwuscheltes Haar und war etwas pummelig. Ihr Gesicht sah klebrig aus, und ihre Unterlippe stand ein wenig vor, als würde sie schmollen.
»Hast du geschlafen, mein Schatz?«, fragte Sofia und schaute zu ihr hinüber.
»Nein«, antwortete Phoebe mit grummeliger Stimme.
»Du erinnerst dich doch sicher noch an deine Tante Carmen.«
Wenig beeindruckt betrachtete Phoebe Carmen.
»Ich weiß, dass sie uns keine Geburtstagsgeschenke schickt«, sagte Pippa. »Trotzdem müssen wir nett zu ihr sein. Nettigkeit siegt!«
Gequält verzog Carmen das Gesicht.
Phoebe fixierte sie immer noch mit einem Blick, der alles andere als freundlich war. »Hast du uns was mitgebracht?«, fragte sie schließlich.
Auf die Idee war Carmen gar nicht gekommen. Als sie in Gedanken den Inhalt ihres Gepäcks durchging, fiel ihr eine Tüte Chips von Kettle ein. Die hatte sie sich eigentlich mit Sofia bei einer Flasche Wein teilen wollen, aber Sofia konnte natürlich nichts trinken. Himmel!
»PHOEBE!«, rief Pippa aus. »Das ist unhöflich. Das ist doch unhöflich, oder, Mummy?«
Sofia wedelte nur ein wenig wegwerfend mit der Hand.
»Doch, ist es.«
»Halt den Mund!«, knurrte Phoebe.
Unbehaglich musste sich Carmen eingestehen, dass sie hier ein ziemlich kleines Kind einerseits gut verstehen, zugleich aber auch nicht ausstehen konnte.
»Äh«, sagte sie und holte ihren großen Reiserucksack. Da sie am Morgen auf den letzten Drücker aufgestanden war, hatte sie beim Packen einfach alles hineingeworfen. Als sie den Rucksack jetzt aufmachte, quoll er in der Küche quasi über, womit er wohl das Unordentlichste im ganzen Haus war.
»Wow«, sagte Pippa.
Mühsam kramte Carmen die Chips hervor.
»Bitte sehr«, sagte sie und warf die Tüte in die ungefähre Richtung der Kinder. »Teilt ihr euch die?«
Als würde er auf einen Pfiff reagieren, den nur er hören konnte, kam plötzlich mit Volldampf Jack in die Küche gesaust. »CHIPS!«
Phoebe riss die Tüte bereits auf. »Geh weg – die sind für mich.«
»Nein, die sind für uns alle, zum TEILEN!«, protestierte Pippa, wollte aber den Eindruck erwecken, sie sei über die ganze Sache erhaben. Gleichzeitig versuchte sie bereits verzweifelt, die größten Chips aus der Tüte zu angeln.
»Aber ich habe ALS ERSTE gefragt!«
Krümel flogen durch die Luft, als Jack rief: »Mann, das sind ja GANZ NORMALE, keine besondere Sorte.«
Sofia saß kerzengerade da und riss die Augen auf. »Wir essen doch gleich zu Abend! Da könnt ihr jetzt keine Chips in euch hineinstopfen!«
Mit Krümeln um den Mund starrten die Kinder sie über die offene Chipstüte hinweg an.
»Aber unsere TANTE ist doch da.«
»›Zu Abend essen‹? Wie redest du denn? Bei uns gab es doch immer ›Abendbrot‹«, schnaubte Carmen.
Während Sofia ihre Schwester mit gerunzelter Stirn anblickte, ging die Haustür auf, und eine der strahlendsten Personen kam herein, die Carmen je gesehen hatte.
Skylar – um die es sich wohl handeln musste – hatte langes blondes Haar, perfekte Haut, einen yogagestrafften Körper und leuchtend blaue Augen.
Als sie in die Küche trat, schien sie angesichts des überquellenden Rucksacks am Boden und der sich um eine Tüte Chips kabbelnden Kinder nicht sicher zu sein, ob sie hier im richtigen Haus gelandet war.
Sofia wirkte ein wenig angespannt. »Oh, hi, Skylar!«, flötete sie übertrieben. »Das ist meine Schwester, Carmen.«
Und da tat Skylar etwas Verblüffendes. Sie hob einen Finger, um Sofia – die ach so wichtige Anwältin – zum Schweigen zu bringen.
»Hallo, Kinder!« Sie sprach auf eine Art und Weise, bei der die Stimme am Ende des Satzes hochging.
Augenblicklich ließen sie von den Chips ab, und Pippa stand sogar auf, um einen Schritt vorzutreten. »Namaste, Skylar«, sagte sie rasch.
»Namaste«, murmelten auch die anderen beiden, die nur ungern von den Chips ablassen wollten.
Skylar setzte ein strahlendes Lächeln auf und wandte sich an Carmen. »Hallo!«
»Äh, ja, hi.«
Ihre Schönheit war wirklich hypnotisch.
»Also … Sofia lässt die Kinder normalerweise nichts zwischendurch essen, vor allem kein Fast Food. Und erst recht nicht direkt vor dem Essen, weil das wirklich schlecht für sie ist. Das würde ich schon gern klarstellen, wenn wir jetzt zusammenarbeiten.«
»Äh, wir arbeiten aber nicht zusammen«, entgegnete Carmen und merkte noch im selben Augenblick, dass auch ihre Stimme am Ende des Satzes hochgegangen war.
Sofia stöhnte und tat lieber so, als sei sie mit der Teekanne beschäftigt.
»Oder etwa doch?«, fragte Carmen und wandte sich an ihre Schwester.
»Also, ich dachte … weil Skylar ein paarmal in der Woche abends zur Uni muss … könntest du vielleicht … Das ist natürlich kein Muss, aber eventuell könntest du dann … kochen und die Kinder ins Bett bringen?«
Das führte bei den Kindern zu einem genauso skeptischen Blick wie bei Carmen.
»Aber ich werde doch auch arbeiten!«
»Entschuldigung, und könntest du diesen Rucksack hier wegräumen?«, ertönte nun Skylars Stimme. »Ich möchte nämlich den Recyclingmüll rausbringen und damit dem Planeten helfen. Wusstest du, dass man Chipstüten nicht recyceln kann?«
Carmen hatte den Fehler gemacht, den Reißverschluss des Rucksacks nicht vernünftig zuzuziehen. Als sie nun danach griff, fielen ihr Kulturbeutel und etliche Slips heraus.
»UNTERHOSEN!«, rief Jack und brach in lautes Gelächter aus.
Phoebe lachte ebenfalls, während Pippa die Lippen schürzte und missbilligend dreinblickte.
Für Sofia schien es eine echte Qual zu sein, dass sich all diese furchtbaren Dinge in ihrer Martin-Moore-Küche abspielten.
Mit hochroten Wangen kniete sich Carmen hin und begann, alles wieder in ihren Rucksack zu stopfen, dessen Reißverschluss jetzt erst recht nicht zugehen würde.
Es dauerte ewig, den ziemlich schmuddeligen Kulturbeutel erneut herauszuziehen. Aus den Augenwinkeln meinte sie gesehen zu haben, wie Skylar bei dessen Anblick lautlos etwas hauchte.
Carmen schob sich den Beutel sowie ein paar Pullover unter den Arm und setzte sich auf den Rucksack, um den Reißverschluss zuziehen zu können.
Das alles wurde von drei krümeligen Kindern mit offen stehendem Mund beobachtet.
»Ich zeige dir mal, wo du schläfst«, sagte Sofia und erhob sich unter Schwierigkeiten von ihrem Stuhl. »Am besten machen wir dann auch gleich eine Führung durchs ganze Haus.«
»Dann kümmere ich mich solange um den Couscous«, sagte Skylar. »Ich hoffe, ihr habt euch nicht völlig den Appetit verdorben.«
Im ersten Stock gab es ein riesiges Wohnzimmer, das Elternschlafzimmer mit Ankleideraum und zwei Bädern sowie ein makelloses Gästezimmer.
Im zweiten Stock befanden sich unter dem Dach die wunderschönen Kinderzimmer mit Dekoration im maritimen Stil, Wimpeln und Lichterketten von White Company.
Carmen setzte ein angespanntes Lächeln auf, als es zurück ins Erdgeschoss ging, von wo aus die Treppe weiter nach unten führte.
Mit entschuldigender Miene führte Sofia ihre Schwester nach unten, Richtung Souterrain. »Also, ich hab mir überlegt …«
Diesen fröhlichen Tonfall kannte Carmen nur zu gut aus ihrer Kindheit. Mit so einer Stimme hatte Sofia immer schon schlechte Nachrichten überbracht, zum Beispiel, dass sie nur eine Eins minus statt ihrer üblichen Eins plus bekommen hatte oder dass Carmen die auf der Straße entdeckte Katze nicht behalten durfte, weil sie jemand anders gehörte.
»… dass du am besten hier unten schläfst. Hier hast du dein eigenes Bad und bist weit weg von den Kinderzimmern. Es gibt auch einen separaten Eingang, sodass du kommen und gehen kannst, wie du möchtest.«
Es klang so vielversprechend, dass die Sache wohl einen Haken haben musste. Und welcher das war, wurde offensichtlich, als sie das zauberhafte, lichtdurchflutete warme Falttür-Paradies der Küche hinter sich ließen und im Untergeschoss ankamen.
Vor ihnen lagen drei winzige Schlafzimmer, die offenbar einst Dienstbotenunterkünfte gewesen waren, und ein Bad mit Dusche, aber ohne Wanne.
Der Rest des Souterrains bestand aus einem riesigen Allzweckraum voll mit dem ganzen Kram, den die allermeisten Menschen irgendwo anders im Haus unterbringen mussten – Bügelbrett, Waschmaschine, Gummistiefel und Schneejacken.
Kein Wunder, dass es oben so ordentlich aussah, dachte Carmen, wenn die Familie überflüssiges Zeug einfach die Treppe runterwerfen konnte.
»Und weil ihr dann Zimmer direkt nebeneinander habt, könnt Skylar und du euch auch gleich besser kennenlernen.«
»So unter Hausangestellten!«
Sofia seufzte. Sie gab sich wirklich Mühe, aber irgendwie brachte das bei Carmen nie etwas.
»Hör mal«, sagte sie, »es geht doch nur darum, dass du mir an ein paar Tagen ein bisschen hilfst. Manchmal komme ich eben spät von der Arbeit, und morgens bräuchte ich gelegentlich auch Unterstützung.«
»Na ja, vielleicht komme ich ja auch spät von der Arbeit«, wandte Carmen ein. »Was für ein Job ist das überhaupt? Mum hat nur ganz allgemein gesagt, dass es um Verkauf im Einzelhandel geht.«
Das stimmte zwar nicht, Carmen hatte allerdings nicht richtig zugehört.
Aber auch Sofia war nicht hundertprozentig ehrlich gewesen. Wie schlecht es tatsächlich um den Laden stand, hatte sie ihrer Mutter lieber nicht erzählt, damit Carmen nicht gleich wieder absprang.
»Es ist eine Buchhandlung«, erklärte Sofia, »die einem unserer Mandanten gehört, Mr McCredie. Er braucht jemanden, der ihm in der Weihnachtszeit zur Hand geht.«
»Das klingt ja ganz okay.«
»Und du liest doch gern, oder?«
Sofia war nie so eine Leseratte gewesen wie Carmen: Sie hatte vor allem Schulbücher durchgeackert und fleißig gelernt, und jetzt blätterte sie gelegentlich in einer Zeitschrift für Inneneinrichtung.
Carmen hingegen ließ sich von ihrem Herzen leiten und las, worauf immer sie Lust hatte: Bücher über das Weltall, Geschichte, Liebesromane, ganz egal, was. Sie flatterte von Blüte zu Blüte wie ein Schmetterling.
Sie zuckte mit den Achseln.
»Also«, sagte Sofia.
»Okay. Sag mal, was studiert Skylar eigentlich?«
»Irgendwas im künstlerischen Bereich?«, antwortete Sofia. »Ich bin nicht sicher.«
»Sie scheint ja sehr … organisiert zu sein.«
In der Familie waren schon so einige Au-pairs gekommen und gegangen, mit wechselndem Erfolg. Einige von Skylars Vorgängerinnen hatten sich vor Heimweh die Augen ausgeheult, den Kühlschrank geplündert, in ihrem Zimmer geraucht, mit Federico zu flirten versucht oder direkt geklaut.
Daher war Skylar für Sofia unantastbar, und sie sagte nur: »Sie ist toll, und ich brauche sie wirklich. Leg dich also bitte nicht mit ihr an.«
Carmen wollte eigentlich schnippisch erwidern, dass sie sich doch nie mit jemandem anlegte, ließ es aber gut sein, weil das so ja nicht stimmte. »Okay«, versprach sie. »Ich werde brav sein.«
Sofia lächelte. »Du brauchst nicht brav zu sein«, sagte sie in einem Tonfall wie in ihrer Kindheit, wenn sich Carmen wieder einmal in Schwierigkeiten gebracht hatte. »Es muss bloß für die Erwachsenen so aussehen.«
Das war eine Art Friedensangebot und gut genug für ihre Mutter, als Sofia sie anrief, um ihr alles zu erzählen.
Leider sollte dieser Frieden kaum mehr als vierundzwanzig Stunden anhalten.
Na gut, dachte Carmen am nächsten Morgen, als sie in dem seltsam stillen, schäbigen Zimmerchen aufwachte und sich umsah.
Der Rest des gestrigen Abends war schwierig gewesen: Zunächst einmal hatte sich Phoebe rundheraus geweigert, den Couscous zu essen, wofür nach der Chipsgeschichte natürlich jeder Carmen die Schuld gab.
Dann hatte Sofia Pippa aufgefordert, etwas auf dem Fagott vorzuspielen, was die sehr laut und ohne jeden Charme getan hatte.
Als Sofia allerdings Phoebe gebeten hatte, doch etwas vorzusingen, war ihr Vorschlag etwa auf die gleiche Begeisterung gestoßen wie der Couscous.
Außerdem hatte Jack mehrmals gegen die Tischbeine des teuren Küchentisches getreten, woraufhin sich Carmen lieber früh in ihr Zimmer zurückgezogen hatte.
Und heute hatte sie ihren ersten Tag bei der neuen Arbeit. Wow!
Vielleicht würde das ja ganz gut laufen. Sie stellte sich eine hübsche, ruhige Buchhandlung vor, in die die Leute kamen, um zu schmökern. Vielleicht würde auch sie sich ein Buch schnappen und sich mit einer Tasse Tee in eine Ecke setzen können, bis jemand sie brauchte. Dann blieb nur noch, zwischendurch ein paar Regale abzustauben.
Ja, das wäre bestimmt ganz okay, vielleicht sogar schön. Jedenfalls einfacher als in der Kurzwarenabteilung mit den gestressten Bräuten und ihrem Getue rund um Spitzenstoffe. So wichtig waren Bücher ja nicht.
Und der junge Mr McCredie, wie Sofia ihn genannt hatte, war wohl »nett, wenn auch etwas still«. Das klang doch ganz gut. Schlimmer als Mrs Marsh konnte er jedenfalls nicht sein, so viel war klar.
Carmen hätte gern gefragt, wie alt er denn genau war. Aber sie wollte um jeden Preis dieses dämliche Lächeln vermeiden, mit dem Sofia immer auf Neuigkeiten in ihrem Liebesleben reagierte, wenn sie ganz aufgeregt tat und vorgab, Carmens jeweiligen Freund zu mögen.
Dabei war doch offensichtlich, dass neben Federico mit seiner perfekten Frisur, seinem perfekten Anzug und der perfekten Arbeit alle anderen in ihren Augen dem Pöbel angehörten.
Es machte die Situation nicht besser, dass das auf Carmens Freunde tatsächlich manchmal zugetroffen hatte.
Na ja, so etwas konnte durchaus passieren, weil da draußen nun mal viel Pöbel unterwegs war.
Als Carmen zum Frühstücken nach oben ging, traf sie in der Küche ihre Schwester, Skylar und die beiden jüngeren Kinder an: Jack saß in einem altmodischen kleinen Schlafanzug mit Knöpfen am Tisch, Phoebe in einem ziemlich überkandidelten Nachthemd. Ihre Haare standen in alle Richtungen ab, und auf ihren Zügen lag ein leicht bedrohlicher Ausdruck. Einer älteren Person hätte Carmen angesichts dieser Miene erst einmal einen Kaffee gebracht.
Als Carmen sich erkundigte, wie sie denn zur Arbeit kommen würde, erklärte Sofia ihr mit gerunzelter Stirn, dass man hier in der Stadt die Wege am besten zu Fuß zurücklegte. Die Busse waren um diese Uhrzeit wohl proppenvoll, und die Straßenbahn fuhr zum Flughafen und sonst nirgendwohin.
»Nirgendwohin?«, fragte Carmen fassungslos.
»Nirgendwohin.«
»Hm. Und mit dem Fahrrad?«
»Kannst du Treppen hochradeln?«, fragte Sofia.
»Oder dein Auto, kann ich mir das ausleihen?«, fragte Carmen, während sie das Laub betrachtete, das draußen von heftigem Wind durch den Garten gewirbelt wurde.
»Ein Auto?«, fragte Sofia. »Im Zentrum von Edinburgh?« Sie klang, als hätte Carmen vorgeschlagen, auf einem Drachen zur Arbeit zu fliegen. »Die werden dich umbringen.«
»Wer?«
»Die … Politessen.« Plötzlich wirkte Sofia so angespannt, als würde man diese Schreckgestalten schon durch ihre Erwähnung heraufbeschwören. »Riskier das bloß nicht, ich bitte dich. Und du gehst am besten die Princes Street entlang. Es gibt noch einen anderen Weg, allerdings müsstest du da Straßen nehmen, bei denen man sich zwischen dem oberen und dem unteren Bereich entscheiden muss. Und nimm’s mir nicht übel, aber ich glaube nicht, dass du das schon hinkriegst.«
Da musste Carmen ihr beipflichten.
Ende der Leseprobe