In unseren Träumen ist immer Sommer - Jenny Colgan - E-Book

In unseren Träumen ist immer Sommer E-Book

Jenny Colgan

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Beschreibung

Voller Romantik, Inselflair und Sommersonne: »In unseren Träumen ist immer Sommer« ist der neue atmosphärischen Urlaubsroman von SPIEGEL-Bestsellerautorin Jenny Colgan! Nie war Schottland unwiderstehlicher als in diesem Roman! Willkommen im idyllischen Carso! Hier glitzert die Sonne auf dem türkisfarbenen Meer, und der Himmel erstreckt sich weit über dem Strand. Viele, die hier geboren sind, wollen niemals weg. Die schüchterne Gertie dagegen träumt von Abenteuern in der Ferne, während sie ihr Leben zwischen den Treffen des örtlichen Strickkreises und ihrem langweiligen Job im örtlichen Supermarkt verbringt. Doch ein Wiedersehen mit zwei früheren Mitschülerinnen verändert alles. Voller Herzklopfen ergreift Gertie ihre Chance auf einen neuen Job, neue Freunde und vielleicht sogar eine neue Liebe. Ist dies der Beginn ihres großen Abenteuers? Und führt ihr Weg sie weg von dem, was sie kennt, oder lässt die Veränderung sie das Vertraute mit neuen Augen sehen?  Jenny Colgans Romane sind der Inbegriff von Wohlfühllektüre! Die Bestsellerautorin hat Millionen Fans weltweit – gehören Sie auch schon dazu? »In unseren Träumen ist immer Sommer« erzählt eine warmherzige Geschichte vom Glück, seinen Träumen zu folgen. Eine Geschichte um Neuanfang, den Wunsch nach Freiheit und die Sehnsucht nach Liebe! »Ich habe jede Seite genossen.« SPIEGEL-Bestsellerautorin Sophie Kinsella

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Aus dem Englischen von Sonja Hagemann

© Jenny Colgan 2024

Titel der englischen Originalausgabe:

»Close Knit«, Hodder & Stoughton Limited, An Hachette UK company 2024

© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Kerstin Kubitz

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: FinePic®, München

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Vorbemerkung zum schottischen Schulsystem

Prolog

Teil 1

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Teil 2

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Fehler beim Stricken gehören zu den wenigen Verfehlungen im Leben, die keine negativen Konsequenzen haben.

Stephanie Pearl-McPhee

Vorbemerkung zum schottischen Schulsystem

In Schottland wird man in dem Jahr eingeschult, in dem man seinen fünften Geburtstag feiert, und geht dann sieben Jahre lang zur Grundschule. Dort werden die Schulklassen bis sieben durchgezählt; danach fängt man an der weiterführenden Schule in dem Jahr, in dem man zwölf wird, wieder bei eins an. Daher schließen die achtzehnjährigen Absolventen die sechste Klasse ab.

Prolog

Der kleine Ort Carso im hohen Norden von Schottland kann kaum als Stadt bezeichnet werden, die Einwohner wären aber tödlich beleidigt, wenn man von einem Dorf sprechen würde.

Schließlich gibt es dort sogar eine – winzige, aber doch waschechte – weiterführende Schule. (Die nächste befindet sich etwa hundertzwanzig Kilometer weit weg in Kinlochbervie, was sowohl Liebeleien als auch Fehden mit Schülern von dort schwierig macht.) Carso hat auch ein paar Lebensmittelgeschäfte, unter anderem Supermärkte von Co-op und ScotNorth (aber leider keinen so coolen wie Tesco oder Greggs).

Es handelt sich um eine hübsche Ortschaft mit niedrigen, lang gezogenen, weiß getünchten Häuschen, die an einer Hauptstraße mit Kopfsteinpflaster liegen, mit kleinen Pubs und einer schönen alten Kirche. Dass die auf dem Gelände des alten Friedhofs nach und nach immer weiter absackt, ignorieren die Bewohner gegenwärtig noch.

Die Westseite von Carso geht aufs Meer hinaus. Der Ort selbst liegt am äußersten Ende von Schottland, wo die Wasser von Arktis und Atlantik brodelnd und sprudelnd aufeinandertreffen, miteinander ringen.

Draußen auf dem Meer ist eine Gruppe winziger Inseln – Cairn, Inchborn, Larbh und Archland – zu erkennen, die sich wie Perlen an einem Armband aneinanderreihen und sich in der Ferne verlieren.

Die Sonne steht hier an der Nordküste tief und wirft oft breite goldene Strahlen über das Land. Auf dem Meer, wo sich die strudelnden Wasser treffen, kann man nach Westen und über den gewaltigen atlantischen Ozean hinwegblicken oder hinüber zur Nordsee und zu den skandinavischen Vettern der Schotten. Das Wetter schlägt hier oft dramatisch schnell um, huscht von den nördlichen Highlands von hinten heran und kann jeden Tag zu jedem erdenklichen Zeitpunkt mit Nebel, Regen oder auch glasklarem, strahlendem Sonnenschein überraschen.

Das Seegras wogt, und der Strand ist lang und breit und weiß, das Meer allerdings immer gefährlich und unbarmherzig kalt. Deshalb kann man darin höchstens ein bisschen herumplanschen. Aber das saubere Wasser der darin mündenden Flüsse ist perfekt zum Baden, wenn man kein Problem damit hat, gelegentlich von einer großen Forelle gestreift zu werden oder den – Menschen gegenüber argwöhnischen – Ottern nahe zu kommen.

Natürlich sind an der Küste auch überall Seehunde zu Hause, die einander so einiges zu sagen haben und auch dir ordentlich was erzählen werden, wenn du dich an ihren Fischen vergreifen willst. Tatsächlich ist die Fischerei die Haupteinnahmequelle des kleinen Ortes, der einst die Heringhauptstadt der Welt war. Darüber hinaus gibt es viele in der flachen Landschaft verstreute Milchbauernhöfe. Es machen aber auch Touristen bei ihrem Weg auf der North 500 halt, um den nördlichsten Zipfel des Landes zu bestaunen.

Das Wasser und die Luft sind hier sauber, die Menschen sind freundlich und leben in einer verschworenen Gemeinschaft. Viele, die diese Gegend ihre Heimat nennen, erachten sie als einen der angenehmsten, sichersten, besten Orte der Welt, vor allem wenn man eine Familie gründen will. (Okay, an ein bisschen Regen darf man sich nicht stören, aber warum sollte man, wenn man dafür Turmfalken ihre Kreise ziehen oder Reiher über den Strand staksen sehen kann, wenn kleine Lämmer über Frühlingspfützen springen und man einfach nur eine vernünftige Jacke und Mütze braucht.)

Die Gegend wird regelmäßig von einer fahrenden Buchhandlung besucht, und ein winziges Flugzeug steuert die Inseln im Norden an. Wenn man sich mal ganz weltläufig fühlt, kann man sogar nach Glasgow oder London fliegen. Jedenfalls handelt es sich um einen ganz besonderen, einzigartigen Landstrich, in dem es mehr Tiere als Menschen gibt und der nicht nach jedermanns Geschmack sein mag, den viele aber als befreiend empfinden. An diesem Ort kann man den Trecker vor sich auf der Straße eben nicht zur Eile antreiben, und es hat ja auch etwas für sich, die gedrungenen Highlandkühe mit ihrem unfassbar prächtigen Fell zu betrachten, den wandernden Sand der Dünen oder die vielen, vielen Burgen, die in allen Buchten versteckt sind. Überall finden sich Hinweise auf eine jahrhundertealte Geschichte voller Könige und Clans und Schlachten und Festungen, aus einer Zeit, in der dieses raue Land von Blut getränkt war.

Heutzutage ist es so friedlich, wie eine von Amazon gerade eben noch belieferte Gegend nun einmal sein kann. Viele Menschen haben ihr ganzes Leben hier verbracht und sind nie über Glasgow hinausgekommen. Warum sollte man auch?

Gertie Mooney ging am Meeresufer entlang nach Hause und träumte wie üblich mit offenen Augen vor sich hin.

Dass sich Gertie in Tagträumen verlor, war nichts Neues – das kannte ihre Mutter, Jean, nur zu gut, und auch ihre Lehrer hatte es früher in der Schule nicht überrascht, genauso wenig wie ihren Chef beim ScotNorth Supermarkt, Mr Wainwright. Vor dem hatte Gertie furchtbare Angst, weil er so ein knurriger Typ war, dabei war er selten ihr gegenüber knurrig (mal abgesehen von den Momenten, in denen er sie eben wegen ihrer Tagträumereien rügte) und nahm auch an Autorennen für wohltätige Zwecke teil.

Gertie konnte es nicht gut haben, wenn Männer ihr gegenüber laut wurden, da sie mehr oder weniger komplett von Frauen großgezogen worden war.

Sie lebte zusammen mit Jean und ihrer Großmutter, Elspeth, in einem der kleinen geweißten Häuschen am Shore Close in der Nähe des Strandes. Die wirkten von außen so winzig, dass manche Leute als Bewohner eher Hobbits vermuteten als Menschen.

Heute drehten sich Gerties Tagträume um eine neue Wohnung, da ihr Zuhause momentan voller Wolle war. In dem Häuschen wohnte nämlich nicht nur ihre Familie, es war auch das Hauptquartier eines von Carsos Strickzirkeln, bekannt als »die Strickdamen«. Diese Truppe wurde nicht bloß wegen ihrer Fähigkeiten im Umgang mit 2-mm-Nadeln und einem Knäuel Angorawolle bewundert und gefürchtet, sondern auch wegen ihrer spitzen Zunge.

Gerties Vater hatte sich aus dem Staub gemacht, als sie noch ein Baby gewesen war, und lebte mittlerweile mit einer jüngeren Frau zusammen, worüber Jean nur äußerst ungern sprach. Jedenfalls waren Jean und Elspeth deshalb für Gertie ihr Ein und Alles, und die Strickdamen hatten ebenfalls bei jedem Schritt des Weges hilfreich zur Seite gestanden. Sie waren dabei gewesen, als Gertie (ganz in Gelb gekleidet) einst laufen gelernt hatte. (Das entsprechende Outfit hatten vermutlich die Zwillinge Tara und Cara gestrickt, die diese Farbe so sehr liebten.) Sie hatten auch ihre erste Schuluniform bewundert und kratzige Strickjacken dazu beigesteuert, die Gertie aus ganzer Seele gehasst hatte. Wenn sie sich diesbezüglich beschwert hatte, war aber nur missbilligend mit der Zunge geschnalzt und verkündet worden, dass sie sich ganz schön anstellte. Und als sie zum ersten Mal auf einem Fahrrad gesessen hatte, hatte die resolute Majabeen sie angeschoben.

Aber mittlerweile wurde Gertie alles ein bisschen viel, und seit der Pandemie schien die Wolle in ihrem Haus wie eine Schlingpflanze nach und nach alles zu überwuchern. Obwohl sich die Leute doch ums Klopapier gerissen hatten, nicht um Black-Isle-Wolle, stapelte die sich noch immer ein wenig provokant in Gerties winzig kleinem Schlafzimmer.

Und deshalb träumte sie heute von einer eigenen Wohnung. Also, mal sehen. Irgendein gut aussehender Millionär ist hierhergezogen und hat beschlossen … an unserer kalten, wilden Küste Luxuswohnungen bauen zu lassen. Rein theoretisch könnte das doch passieren. Und in die tollste davon, das Penthouse mit Whirlpool, zieht er selbst ein, um mal alles hinter sich zu lassen. Aber er ist furchtbar einsam und begegnet eines Tages dann der liebreizenden Gertrude …

Gertie seufzte. Sie hasste ihren Namen, der so gar nicht sexy oder romantisch war. Vielmehr garantierte er doch bereits im Voraus, wie sie Jean gegenüber oft klagte, dass sie nie jemanden kennenlernen würde. Da Jean ihr Leben lang Jean geheißen hatte, fand sie »Gertrude« ganz zauberhaft und exotisch, außerdem war es doch ein bisschen kauzig und passte deshalb perfekt zu ihrer Tochter. Bei solchen Kommentaren verzog Gertie nur finster das Gesicht und wollte wissen, was das denn nun bedeuten sollte. Dann sagte Jean rasch: »Ach, nichts«, weil das Haus wirklich zu klein war, um sich darin mehr zu streiten als unbedingt nötig.

Die Dämmerung brach bereits herein, als Gertie in ihre Straße einbog, und durch die kleinen Fenster fiel Licht nach draußen, was Gertie wirklich hübsch fand.

Sie kniff die Augen zusammen, bis – wie einst vor langer Zeit – weder Mülltonnen der Gemeinde noch Ford Fiestas zu erkennen waren … und verlor sich plötzlich in einem Traum. Die moderne Welt um sie herum verschwand, und sie fand sich in alten Zeiten wieder, in denen sich attraktive Fischer zu den Strickerinnen gesellten, um ihre Netze zu flicken …

Im Sommer saßen die Frauen draußen und strickten in den langen Nächten, in denen es bis Mitternacht hell war. Und wenn die Männer nicht unterwegs waren, setzten sie sich mit auszubessernden Segeln dazu. Dann flogen Komplimente und spitze Bemerkungen hin und her, es wurde starker Tee und bei besonderen Anlässen auch mal ein Schlückchen Whisky getrunken. Schürzen flatterten im Wind, man konnte jenseits der Gärten einen Blick aufs Meer erhaschen, und auf einen jungen Burschen … vielleicht den feschen Iain, dachte Gertie, der ein tief ausgeschnittenes Kilthemd trug – O ja! Und der flirtete mal wieder mit … mal sehen. Da musste ein hübscher Name her. Rosamund? Nein, von denen hatte es in alten Zeiten in den Highlands wohl nicht viele gegeben. Was dann? Ah, vielleicht Maggie, die Tochter des Pferdebauern. Ja, genau, die schöne Maggie. Maggie warf lachend den Kopf in den Nacken, während sie sich ein Stück trockenen Käse teilten, und dachte, dass das nun wirklich keine schlechte Art war, einen Abend – oder vielleicht sogar ein ganzes Leben – zu verbringen: in einem Häuschen am Meer zu wohnen und im Garten zu stricken, während von den Pfeifen der Männer Rauch herüberzog. Früher oder später begann in einer Ecke jemand, die Fiddle zu spielen, weil es sich mit ein bisschen Rhythmus gleich viel leichter strickte.

Reiher flogen über die Bucht, und Gertie konnte die beiden beinahe vor sich sehen. Mittlerweile hatte der schöne junge Iain die Arme um Maggies Taille geschlungen, seine Hände berührten ihr Kleid aus rauem Leinen und ihre dienstagssaubere Schürze. Wie nett und adrett sie war! Die beiden tanzten, drehten sich im dunstigen Abendlicht, den süßen Geruch von frischem Gras in der Nase. Gelächter erklang, und die Nadeln klimperten. Als er sie im Kreis herumwirbelte, lösten ein paar der älteren Damen den Blick von ihrer Handarbeit und schauten zu. Es war einfach wunderschön, an diesem Abend hier zu sitzen, während die Vögel zurückkehrten, riesige Schwärme von Schwalben und Spatzen über die Köpfe hinwegzogen und sich im Meer so viele Fische tummelten, dass man auf ihren Rücken von hier bis zur Neuen Welt hinüberlaufen könnte. Noch bevor die Kälte zurückkehren würde, würden Maggie und Iain in der Kirche gemeinsam vor den Altar treten, und Maggie würde einen Kranz aus späten Sommerrosen im Haar tragen …

Einerseits musste sich Gertie selbst eingestehen, wie hart das Leben damals gewesen war, keine Frage. Andererseits würden die Menschen das später vielleicht auch über diese Generation sagen: »Oh, in den 2020ern hatten die Menschen es wirklich nicht leicht. Damals hat es einen ganzen Tag gedauert, nach Australien zu fliegen, und es sind noch Leute bei Autounfällen gestorben!«

Während sie sich der kleinen Haustür näherte, die direkt auf die Straße hinausging, dachte Gertie, dass manches schon unkomplizierter gewesen war: Damals hatte man eben mit siebzehn festgestellt, dass man eine Person vom anderen Ende der Straße furchtbar gern mochte, hatte sie geheiratet und war dann für immer zusammengeblieben. Auch das war nicht einfach gewesen, aber verglichen mit einem Leben voll unerwiderter Schwärmereien, Instagram, übler Apps und Verabredungen in den heutigen Zeiten … Oft sagte sich Gertie, dass sie persönlich ja lieber bei einer Geburt sterben würde, statt sich mit der Hölle modernen Datens auseinanderzusetzen. Damals hatte man auch für weniger als ein Vermögen ein Haus kaufen können, um darin tatsächlich zu leben, statt das zu machen, was die Leute heute taten: einen ordentlichen Batzen Geld für eine Wohnung an einem halbwegs schönen Ort zu bezahlen, um dann einmal im Jahr für vierzehn Tage herzukommen, über das Wetter zu klagen und sich darüber zu wundern, dass die Einheimischen über ihr Auftauchen nicht begeisterter waren.

Wenigstens, dachte Gertie, die sich immer noch in das Carso von früher zurückträumte, war damals der Wechsel der Jahreszeiten mehr oder weniger vorhersehbar und die Luft nicht verschmutzt. Die Menschen aßen frische, saubere Lebensmittel vom eigenen Land und hatten noch nie von Instagram oder Promis gehört, hatten sich zum Teil ja noch nicht einmal selbst im Spiegel gesehen. Es gab ein altes gälisches Sprichwort, das noch immer benutzt wurde: Èist ri gaoth nam beann gus an traogh na h-uisgeachan. Wörtlich bedeutete es: Lausch dem Wind in den Hügeln, bis das Wasser zurückgeht, und gemeint war damit: Auch das wird wieder vorbeigehen, was einfach hieß: So ist es jetzt nun mal.

Teil 1

Kapitel 1

»So ist es jetzt nun mal«, murmelte Jean Mooney, als eine immer noch von romantischen Highlandern aus alten Zeiten träumende Gertie durch die niedrige Haustür eingetreten und nach oben gegangen war, um ihren Arbeitskittel auszuziehen, und dort auf zweiunddreißig Pakete melierte Mohairwolle in unterschiedlichen Farben gestoßen war.

»Mum!«, brüllte Gertie wütend. »Am Ende muss ich hier noch auf einem Bett aus Wolle schlafen!«

Das Wohnzimmer des Häuschens ging nach vorne raus und hatte einen großen Kamin. Der Raum selbst war klein und der Fußboden uneben, aber rund um den offenen Kamin waren große Holzscheite gestapelt, die vor einiger Zeit aus einer Schiffswerft ihren Weg hierhergefunden hatten.

Vor Jahren hatten sie mal in Erwägung gezogen, auf eine Gasheizung umzusteigen. Die Idee hatten sie irgendwann aber wieder verworfen, worüber Gertie mittlerweile froh war. Sie blickte gern in die tanzenden Flammen.

»Das klingt doch toll«, erwiderte Jean.

»Du hamsterst.«

Jean schniefte. »Ich bin einfach nur vorsichtig. Wolle wird schließlich teurer.«

Sie blickte durch eins der rückwärtigen Fenster nach draußen, wo auf den Wiesen Schafe fröhlich smaragdgrünes Frühlingsgras mampften, das nach mehreren Wochen mit heftigem Regen üppig und köstlich spross.

»Obwohl ich wirklich nicht verstehe, warum. Bis hierher muss sie doch nur einen kurzen Weg zurücklegen.«

»Hast du mit der Wolle etwa krumme Geschäfte vor?«

»Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.«

»Du willst sie an das Wollgeschäft verkaufen, wenn die Preise noch weiter steigen, oder?«

Jean und die Dame aus dem Wollladen verband eine weithin bekannte Feindschaft, an deren Gründe sich längst niemand mehr erinnerte.

»Ich hab echt keine Ahnung, wie du auf so etwas kommst.«

Gertie starrte die Wolle finster an, zog dann die Zimmertür hinter sich zu und stapfte nach unten. »Man könnte fast denken, dass du nicht nur Profit machen, sondern nebenbei auch noch mich loswerden willst.«

»Was denn, glaubst du etwa, ich will mein einziges, geliebtes Kind aus dem Haus haben, damit es etwas von der Welt sieht, die Flügel ausbreitet und sich ein selbstständiges Leben als erwachsene Frau jenseits dieser winzig kleinen Stadt aufbaut? Was für ein lächerlicher Gedanke!«, sagte Jean, während sie den Wasserkocher anstellte.

»Hm«, machte Gertie mit gerunzelter Stirn.

Jetzt klingelte es an der Tür, und die Strickdamen eilten in den engen Flur, in dem man eine stets in Strick gehüllte Gertie auf jeder Menge Schulfotos heranwachsen sehen konnte. Ihre sanften schwarzen Locken waren auf den Bildern mal zu Rattenschwänzen gebunden, mal zu Zöpfen geflochten.

»Hey, Gertie«, sagte Cara (oder Tara, da man sie nur schwer auseinanderhalten konnte, wenn sie die gleiche Strickmütze aufhatten). Cara und Tara waren Zwillinge, die einander hassten und aus irgendeinem Grund mit dieser lebenslangen Abneigung umgingen, indem sie den Großteil ihrer Zeit miteinander verbrachten, unter anderem die meisten Abende. Sie arbeiteten beide im Büro des Gemeinderats und gehörten in der Kirche dem Ältestenrat an. Dort meckerte eine wie die andere konstant über ihre Schwester bei der Geistlichen, die es als ihr auferlegte Buße und als Zeichen ihrer unendlichen Geduld sah, dass sie diese Dynamik nicht unterband. Dieses Arrangement funktionierte also für alle ganz gut. Die Zwillinge strickten viele leuchtend gelbe Mützen für die »Babys in Afrika«. Niemand traute sich, ihnen zu sagen, dass dieser boomende Kontinent für Wollmützen im Moment eher wenig Verwendung hatte. Falls sie traurig darüber waren, dass sie nie eigene Babys zum Bestricken gehabt hatten, dann hatten die beiden es zumindest nie zum Ausdruck gebracht.

»Na, was geht dir denn heute so im Kopf herum?«

Tara und Cara waren davon überzeugt, dass Gerties Tendenz zur Tagträumerei ein Zeichen enormer Intelligenz war, während es in der Schule tatsächlich eher ein Problem dargestellt hatte. Gertie fand es aber nicht schlimm, im ScotNorth zu arbeiten. Es war keine anstrengende Tätigkeit, die Kollegen waren nett, und sie hatte jede Menge Zeit, um ihren Gedanken nachzuhängen.

»Vor allem die Frage, wie ich mein früheres Zimmer am besten zu einem Nest umgestalte«, schnaubte Gertie.

Als Nächste kam Marian zur Tür herein, bei der das mit dem Stricken nicht so gut klappte, weil sie so große Hände hatte. Auch beim Schminken hatte sie aus diesem Grund gewisse Schwierigkeiten. Aber das alles war für sie ja auch noch relativ neu, weil sie viele Jahre auf Fischerbooten gearbeitet hatte, bevor sie sich in Bezug auf sich selbst über gewisse Dinge klar geworden war, deshalb fand das niemand schlimm.

Außerdem würde jeder ordentlich was zu hören kriegen, der auf diese Dinge hinwies, sich womöglich daran störte, sonst irgendetwas darüber zu sagen hatte oder auch nur so aussah, als wollte er den Mund aufmachen. Das lief eigentlich ganz gut, mal abgesehen davon, dass gelegentlich Passanten unbeabsichtigt ins Starren gerieten und es dann mit Jean zu tun bekamen, was schon unter idealen Umständen heikel war.

»Hey«, sagte Marian. »Ich hab gehört, dass ein neuer Mann im Lande ist.«

Alle spitzten die Ohren und drehten sich zu Gertie um, außer Majabeen, die gerade erst zur Tür hereinkam.

Majabeen liebte zauberhafte Kaffe-Fassett-Strickprojekte, die akribisch genaues Arbeiten erforderten. Generell hätten die anderen ihre Werke mehr bewundert, wenn sie nicht ohne Unterlass davon schwärmen würde, wie unglaublich ihre Kinder und Enkel waren und wie weit sie es im Leben gebracht hatten. Ein gewisses Maß an Prahlerei war nicht nur akzeptiert, sondern wurde geradezu erwartet – wenn zum Beispiel Marians Tochter befördert oder der Cousin der Zwillinge früher als erwartet aus dem Knast entlassen wurde –, aber Majabeens Nachkommen erhielten ständig irgendwelche Stipendien und Auszeichnungen. So toll das auch war, irgendwann hatte man von diesen Geschichten einfach die Nase voll. Majabeen stellte es außerdem so hin, als sei das alles eine furchtbare Last, und klagte den anderen ihr Leid darüber, dass eins ihrer Enkelkinder womöglich nicht Kardiologe, sondern nur Kieferorthopäde werden könnte. Dass Jean Gertie die ganze Tagträumerei durchgehen ließ, fand Majabeen absolut lächerlich.

»Jetzt hört schon auf!«, murmelte Gertie und vergrub das Gesicht in ihrem Strickzeug.

Jean liebte Mohair und extravagante Oberteile, auf die sie riesige selbst gestrickte Blumen nähte, um ihnen das »gewisse Etwas« hinzuzufügen, während sich bei Elspeth alles um Fair-Isle-Muster in dunklen Grün- und Blautönen drehte. Die Zwillinge blieben bei Gelb, und Majabeen bevorzugte leuchtende Farben wie Smaragdgrün und Rubinrot, die sie nach Belieben miteinander kombinierte. Marian war nicht nur eher Strickanfängerin, sondern auch farbenblind. Weil sie außerdem eine große Abneigung gegen die Idee hegte, dass Mädchen Rosa und Jungen Blau tragen sollten, war ihre Farbwahl oft eher exzentrisch.

Es erinnerten sich noch alle gut an den Gesichtsausdruck der jungen Eltern, die hier in die Gegend gezogen waren und als Willkommensgeschenk eine Babyerstausstattung ganz in Schwarz bekommen hatten.

Gertie liebte sanfte Farben, ganz helle Blau- und Grautöne, die zum sich ständig wandelnden Himmel passten. Manchmal fügte sie einen feinen Streifen einer leuchtenden Farbe hinzu – Gold oder ein helles Rosa, das die Morgendämmerung nachzuempfinden schien. Sie arbeitete mit erdigen, zarten Schattierungen, die die Landschaft und das Wasser widerspiegelten, von denen sie ihr Leben lang umgeben gewesen war. Manchmal drehten sich ihre Fantasien darum, dass ihre Entwürfe weithin gefeiert und auf der ganzen Welt getragen wurden. Im wahren Leben äußerte sich vor allem Jean dazu, die fand, dass ihre Tochter ihre Projekte mal ein wenig »aufpeppen« sollte.

Stricken war für Gertie nicht einfach nur eine Technik, mit der man Gegenstände herstellte, es war viel mehr. Durchs Stricken kam sie wieder zur Ruhe, wenn sie einen schwierigen Tag hinter sich hatte, weil ihr Chef knurrig gewesen war oder die Kunden ungeduldig. Das Stricken bot ihr auch die Gelegenheit, ihre kreative Seite auszuleben (was im Supermarkt beim Auffüllen von Regalen eher schwierig war, aber sie kümmerte sich dort zumindest um die Dekoration zu besonderen Anlässen). Mit unendlicher Sorgfalt wählte Gertie die Farben und Wollstärken aus, entschied sich oft für federleichtes Garn und experimentierte zum Beispiel mit einem Pillbox-Hut oder damit, wie in einer Anleitung aus den 1940ern die Schultern gestrickt wurden.

Sie erfreute sich an der Erfahrung, etwas durch die Arbeit der eigenen Hände entstehen zu sehen, das ganz und gar von ihr selbst erschaffen worden war. Darüber hinaus hatten die vertrauten Bewegungen, die sie einst auf dem Schoß ihrer Großmutter gelernt hatte, so etwas Beruhigendes an sich: reinstechen, durchziehen, abheben.

Wenn sie gestresst oder besorgt war, brauchte sie nur nach ihrem Strickbeutel zu greifen und die Nadeln in die Hand zu nehmen. Sobald sie sich im beruhigenden Rhythmus des Klick-klick-klick verlor, wurden ihre rasenden Gedanken langsamer, und die Anspannung fiel von ihr ab. Dann konnte ihre Fantasie die Flügel ausbreiten und fliegen, wohin auch immer sie wollte. Allerdings wurde ihre Anspannung, wie sie ein wenig kleinlaut dachte, ja oft von den anderen Mitgliedern des Strickzirkels hervorgerufen, vor allem wenn sie mal wieder eine Lasst-uns-Gerties-Liebesleben-regeln-Phase hatten.

»Was für ein neuer Mann?«, fragte Jean jetzt übereifrig.

Jeder Mann, der in ihrem kleinen Ort auftauchte, wurde ausgiebig diskutiert.

»Callum Frost ist zurück«, erklärte Marian selbstzufrieden. »Er hängt wieder am Flughafen rum.«

»Oh!«, sagte Jean zu Gertie. »Dann solltest du dich da auch mal blicken lassen. Aber kämm dir besser vorher die Haare.«

»Jetzt sei doch nicht dämlich, Mum!«, sagte Gertie.

Callum Frost war ein norwegischer Luftfahrtmagnat, dem – neben vielen anderen Dingen – auch die kleine Airline gehörte, die von Carso aus die Inseln ansteuerte. Nachdem die Firma im Sommer zuvor ein Flugzeug verloren hatte, hatte Frost sie, sehr zum Kummer der örtlichen Pilotin, Morag MacIntyre, übernommen. Im Prinzip arbeitete Morag – genau wie ihr Großvater, Murdo – für Callum Frost. Sie führte sich allerdings immer so auf, als wäre das gar nicht so, und Callum ließ sie weitestgehend gewähren.

»Was soll ich denn am Flughafen?«

»Du könntest ein Flugzeug nehmen«, sagte Jean.

»Und wohin, etwa auf die Inseln?«, erwiderte Gertie. »An Orte, an denen es noch weniger zu tun gibt als hier?«

»Oder nach Glasgow!«

»Mach ich, Mum«, antwortete Gertie, weil sie wusste, dass sie ihre Mutter damit am schnellsten zum Schweigen bringen würde.

Tatsächlich meldete sich jetzt Majabeen zu Wort und begann mit einer langen, komplizierten Geschichte über irgendwelche Stipendien. So konnte Gertie zum Klang der klappernden Stricknadeln ins Feuer starren und sich in Gedanken verlieren …

Es wäre doch schön, jemanden zu haben, für den sie gemütliche Strümpfe stricken könnte – einfach schöne große Strümpfe ohne Schnickschnack; so ein Paar geräumige Strümpfe war doch nett. Sie träumte von jemandem – konnte sein Gesicht aber noch nicht genau erkennen. Es brauchte niemand Superschickes zu sein, schließlich war sie auch nicht so schick. Einfach nur jemand, der nett war, der jeden Abend aus der Kälte in ihr warmes Häuschen kommen würde – ah, nein, das nicht! In diesem Häuschen würde sie dann bestimmt nicht mehr wohnen. Okay, na ja, vielleicht in einem anderen Häuschen, aber einem nur für sie beide, mit einer besseren Aufteilung und einem von diesen tollen Wintergärten, den viele Leute nach hinten hinaus hatten anbauen lassen. Dorthin kehrte er nach einem kalten Tag zurück, an dem der Wind an ihm gezerrt hatte. In einem Topf wartete eine schöne Hühnersuppe mit Lauch auf ihn, und er freute sich so, sie zu sehen und wieder zu Hause zu sein, umarmte sie am Herd von hinten und sagte: »Ganz ehrlich, ich wüsste nicht, was ich heute ohne diese Mütze gemacht hätte.« Sie konnte die kalte Luft spüren, die ihn umgab, und drehte sich zu ihm um, um ihn willkommen zu heißen …

Gertie fand, dass das eigentlich nicht zu viel verlangt war, aber es schien meilenweit von ihrer Realität entfernt zu sein.

Kapitel 2

Ganz anders sah es beim Thema Liebe bei Pilotin Morag MacIntyre aus, die zusammen mit ihrem Großvater Murdo (und dem Geld von Callum, auch wenn sie das lieber nicht erwähnte) die örtliche Fluglinie leitete. Sie hätte mit ihrem Freund, Gregor, kaum glücklicher sein können, denn sie war von Tag zu Tag nur noch faszinierter von diesem klugen, neugierigen, zurückhaltenden Mann. Noch hatten sie es mit der frühen Phase der Beziehung zu tun, mit dem Abfärben von Marotten auf den anderen, mit viel Sex, Staunen und Bewunderung sowie Diskussionen über unterschiedliche Methoden beim Abwasch. Sie konnten einfach nicht genug voneinander bekommen, und Morag hatte den Eindruck, als würde das auch in Zukunft so bleiben.

Gregors Wohnort war allerdings, gelinde gesagt, ein Problem: Er lebte auf Inchborn, einer ansonsten unbewohnten Insel, die zweimal am Tag von einer Fähre angesteuert wurde. Dorthin mit dem Flugzeug zu pendeln, war weder praktisch noch finanziell machbar, daher blieben ihnen nur ihre freien Tage, wenn Morag denn irgendwie dort hinkommen konnte. Ansonsten waren sie auf Funkkontakt angewiesen, aber auch das war nicht ideal, weil die Hälfte der Bevölkerung von Carso (vor allem die männliche Hälfte) dabei ihr Funkgerät einschalten und zuhören konnte.

Das wäre alles nicht so schlimm gewesen, wenn Morag nicht bei ihrem Großvater, Murdo, gewohnt hätte. Sie hatte durchaus genug Geld, um sich was anderes zu suchen. Aber im Ort wurden leider nur teure Feriendomizile vermietet, und auch Eigentumswohnungen waren nicht billig. Viele Häuser hier in der Gegend waren leer stehende Zweitwohnsitze, was alle total ätzend fanden, weil es echt unfair war. Nur weil sie an so einem wunderschönen Ort zur Welt gekommen waren, würden sich viele Einheimische hier nie etwas leisten können.

Morag liebte ihren Großvater und hatte ja auch ein eigenes Zimmer. Es war der Raum, den sich ihr Bruder und sie früher während der Sommerferien geteilt hatten. Damals hatte sich Morag immer wie verrückt darauf gefreut, bei ihrem Großvater mitfliegen zu können, während Jamie viel glücklicher am Strand gewesen war, wo er Krebsen hinterhergekrochen war und alle möglichen anderen Schalentiere beobachtet hatte. Mittlerweile war er ein renommierter Wildtierfotograf und -illustrator. Dass er sich ein Stipendium für eine unglaublich berühmte Kunsthochschule gesichert hatte und in der von ihm gewählten Branche äußerst erfolgreich geworden war, hatte seiner Familie das Herz gebrochen (handelte es sich bei dieser Branche eben nicht um das Steuern von Flugzeugen). Unterhaltungen mit Morag begann er normalerweise mit der Frage, wie viele Enten sie diesen Monat schon so umgebracht hatte.

In Morags Zimmer lagen immer noch lauter alte, ein wenig zerfledderte Taschenbücher mit Eselsohren herum, natürlich Harry-Potter-Bände, aber auch welche von Garth Nix und eine Gesamtausgabe der Abenteuer von Pilot Biggles. Durch das viktorianische Fenster mit Einfachverglasung blickte man hinaus auf die stürmische See und konnte auch den Flugplatz sehen. Ja, es war ziemlich heruntergekommen, doch das weitläufige, gemütliche Haus war für Morag immer ein tröstlicher Rückzugsort gewesen.

Eine Einschränkung gab es allerdings, und die war rundlich und ernst und hatte immer einen furzenden Hund im Schlepptau: Peigi.

Als Morag noch unten im Süden gelebt hatte, hatte sie an Peigi kaum einen Gedanken verschwendet. Sie war einfach nur froh gewesen, dass Murdo jemanden gehabt hatte, der sich ein bisschen um ihn kümmerte. Peigi war als »Haushälterin« bei ihm eingezogen, und zwar nicht lange nach dem Tod von Murdos geliebter Ehefrau, Morags Großmutter. Wie so viele Männer seiner Generation hatte Murdo nach diesem einschneidenden Erlebnis einfach stoisch weitergemacht und weigerte sich, darüber zu sprechen, was allen Sorge bereitet hatte. Nachdem mitfühlende Nachbarinnen die Lieferung von Lasagnen irgendwann eingestellt hatten, war Peigi auf der Bildfläche erschienen, um zu putzen und zu kochen. Da sie auch Witwe war, war das keine so schlechte Idee gewesen, und Morag hatte gedacht, dass Gramps so wenigstens Gesellschaft hatte.

Als Morag im letzten Sommer hergekommen war, um beim Familienunternehmen einzuspringen, hatte Peigi sie zwar genervt, aber sie hatten nicht viel miteinander zu tun gehabt.

Jetzt lebte Morag allerdings dauerhaft hier und bezahlte Miete. (Murdo hatte von ihr eigentlich nichts annehmen wollen, aber Morag hatte auf einem symbolischen kleinen Betrag beharrt. Den Rest ihres Einkommens zahlte sie auf ein Sparkonto ein, für … na ja, irgendwann mal. Vielleicht.) Jedenfalls passte Peigi die Sache gar nicht, weshalb sie jedes Mal eine finstere Miene aufsetzte, wenn Morag in die Küche kam, um sich eine Tasse Tee zu machen. Sie polterte laut herum, wenn sich Murdo und Morag am Abend zusammensetzten, um den Flugplan und die Wetterlage zu besprechen, und war erst recht darüber wütend, dass Morag Murdo zu Weihnachten einen tollen Simulator gekauft hatte und sie Stunden gemeinsam damit verbrachten, komplexe Routen für den anderen zu entwerfen, oder versuchten, auf dem Dach eines Wolkenkratzers zu landen.

Und Peigi ließ Morag nicht an den Herd. Morag war keine tolle Köchin – das war Gregors Domäne –, aber sie wünschte sich manchmal eben ein bisschen Abwechslung von Peigis faden Aufläufen und Eintöpfen mit sehnigem Fleisch. Murdo war das egal: Er gehörte zu den Menschen, für die Lebensmittel nichts weiter als eine Energiequelle waren. Morag hingegen fand das alles öde und schwer verdaulich. Es war wirklich nicht das, worauf sie nach einem langen Tag mit schwierigen Landungen oder knappen Bodenzeiten zum Beladen Lust hatte, bei einer Rückkehr mit Armen voller Schmierfett, weil sie bei einem mechanischen Defekt nicht auf den Techniker hatte warten können und deshalb selbst im Regen am Flugzeug herumhantiert hatte.

»Also, wie lange bleibst du noch?«, frage Peigi immer mal wieder mit einem Schniefen.

Wenn Morag allerdings das Wochenende bei Gregor verbrachte oder ihre Eltern besuchte, machte Peigi auch Theater, weil sich Murdos Enkelin ihrer Meinung nach benahm, als sei das hier ein Hotel. Als sie das letzte Mal nach ein paar Tagen zurückgekehrt war, hatte Peigi sie sich vorgeknöpft. Wie immer war ihr dabei ihr Hund nicht von der Seite gewichen, der bei jedem Schritt seiner kurzen Beinchen furzte. Er hatte auch mal wieder eine Bindehautentzündung, deretwegen er sich ständig mit den Pfoten über die eitrigen Augen kratzte, während er röchelte wie ein Kettenraucher. Das ganze Haus roch nach nassem Köter.

»Ich muss das jetzt einfach wissen«, sagte Peigi. »Dein Großvater ist zu höflich, um es anzusprechen, deshalb mache ich das jetzt für ihn, damit er endlich Gewissheit hat. Wann gehört sein Haus wieder ihm?«

Morag hatte das Problem Gregor gegenüber erwähnt und gehofft, er könne vielleicht vorschlagen, dass sie sich gemeinsam etwas suchten. Leider hatte er sanft zu bedenken gegeben, dass ihre Beziehung ja noch frisch war und sie besser nicht nur wegen unterdurchschnittlicher Eintöpfe übereilt zusammenziehen sollten. Dass Gregor so ein umsichtiger Mann war, gehörte ja zu den Dingen, die Morag so an ihm liebte. Trotzdem war es nervig.

Dieses Problem ging Morag also im Kopf herum, und dann gab es da noch ein weiteres Thema, nämlich dass Nalitha, die Mitarbeiterin ihrer Fluggesellschaft, wieder schwanger war. Natürlich war das toll, ganz klar, aber auch problematisch, weil ihre Freundin Nalitha jetzt schon so lange für das Familienunternehmen arbeitete und sich dort um einfach alles kümmerte. Früher oder später würde Ersatz für sie nötig sein. In den Highlands gab es viel Arbeit, daher war Morag nicht sicher, wie sie jemanden finden sollte, der gern für sie den Check-in übernehmen und Gepäck schleppen würde, der am Schalter in der zugigen Wellblechhütte, die Carso stolz als Flughafengebäude bezeichnete, alles im Griff haben würde. Mal abgesehen davon musste sie sich auch noch mit ihrem neuen Chef, Callum Frost, herumschlagen. Als der die Firma übernommen hatte, hatte Morag eigentlich gehofft, dass er sich weitestgehend aus allem raushalten würde. Aber es war eher das Gegenteil der Fall, weil er von Carso äußerst angetan schien. Egal, das größte Problem war für sie weiterhin, eine Wohnung zu finden.

Kapitel 3

»Sir! Sir! Moss kaut schon wieder auf der Clarsach rum!«

Mit einem Seufzen legte Struan McGhie vorsichtig die Gitarre zur Seite und rief: »Moss, hör auf!« Der Junge ließ von der kleinen alten Harfe ab, bei der die oberste E-Saite fehlte, die ansonsten aber perfekt gestimmt war.

»Okay«, sagte Struan langsam, damit ihn alle verstanden. »Jetzt probieren wir es noch einmal. Ihr sollt einfach nur klatschen, und wenn ihr könnt, singt ihr links und ihr rechts beide eure eigene Melodie, aber GLEICHZEITIG.«

Vor Konzentration machten die Kinder ganz große Augen. Die allgemeine Ansicht war, dass mehrstimmiger Gesang mit Kindern unter zwölf nicht klappen würde, wenn sie nicht besonders begabt waren. Struan hielt das für Unsinn. Er arbeitete nun schon seit fünf Jahren als Musiklehrer und versuchte seitdem, diese Theorie zu widerlegen.

Chaidh mo lothag air chall.

O hù gur h-oil leam.

Sanft, leise und verhalten begannen die Kinder zu singen. Er nickte.

Um den anderen Schülern zu helfen, hatte Struan die guten Sänger gleichmäßig unter den beiden Gruppen aufgeteilt und ließ sie hemmungslos schmettern. Unter den Mädchen auf der rechten Seite befand sich zum Beispiel Anna-Lise O’Faoilan, die genau auf den Punkt und ohne Hemmungen loslegte. Okay, leider klang es ein bisschen wie eine gefolterte Katze. Mit den Engelsstimmen, die in Struans Vorstellung am Ende des Schuljahrs bei einem Solo den Eltern Tränen in die Augen trieben, hatte das wenig zu tun. Aber Anna-Lise war als Einsatzgeberin für die anderen einfach zu gut, um sie zu bitten, etwas leiser zu singen.

Auf der linken Seite kniff Moss, dem wie üblich ein Rotzfaden unter der Nase hing, die Augen hinter seinen dicken Brillengläsern fest zusammen. Angestrengt versuchte er, sich auf seine eigene Melodie zu konzentrieren und nicht auf die der anderen Gruppe zu achten.

Struan schloss sich normalerweise der Gruppe an, die die größeren Probleme hatte.

Chaidh mo lothag dhan fhèithidh ’S mòr am beud dhi dhol ann …

Wenn es nach ihm ginge, würde er die Klasse in vier oder sogar fünf Gruppen unterteilen, aber er wusste, dass er bei den Sechstklässlern der St-John’s-Grundschule den Bogen nicht überspannen sollte. Und auch so klang es recht hübsch. Was den Kindern an Technik fehlte, machten sie durch ihre reinen Stimmen wieder wett.

Nun gut, Hugh McSticks, bekannt als »Shugs« (oder als »Shugs junior«, um ihn von seinem Vater zu unterscheiden), hatte am Anfang eher rumgegrunzt und war nicht dazu in der Lage gewesen, mehr als einen Ton zu singen. Und der hatte ein wenig an das Nebelhorn eines Schiffes erinnert. Aber selbst Shugs’ Stimme war im Laufe der Zeit weicher geworden, und er hatte sich genug entspannt, um die Melodie erkennbar zu singen. Es machte auch nichts, dass er mal bei den Terzen seiner eigenen Gruppe mitsang und mal bei denen der anderen.

Genau in dem Moment, als dem zufriedenen Struan diese Gedanken durch den Kopf gingen, wurde Shugs’ Stimme plötzlich mittendrin eine halbe Oktave tiefer, was er selbst gar nicht zu bemerken schien. Dadurch klang das Finale dieses hübschen, sanften Liedes leider wie ein Zusammenstoß mit einem Elefanten.

Trotz Shugs kamen die Kinder zumindest mehr oder weniger gleichzeitig zum Ende. Manche von ihnen hatten sogar daran gedacht, auf die Dirigierbewegungen ihres Lehrers zu achten und zum Schluss hin nach und nach leiser zu werden. Mit breitem Grinsen blickte Struan die Kinder an und schielte dann kurz zu Neuankömmling Oksana aus der Ukraine hinüber. Darauf angesprochen hatte er sie nie, aber es entging ihm natürlich nicht, dass sie nie ein einziges Wort sang.

»Echt super!«, sagte Struan. »Ich denke, das Osterkonzert geht klar. Mit eurem Auftritt werdet ihr die aus der Siebten ganz schön in Verlegenheit bringen – die können wirklich einpacken.«

Das gefiel den Kindern, und sie fingen an zu strahlen.

»Was ist denn mit denen aus der Zweiten?«, fragte Khalid, dem das Thema am Herzen lag, weil er in dieser Klasse eine unerträgliche kleine Schwester hatte.

»Was das angeht, bin ich mir nicht so sicher«, sagte Struan mitfühlend. »Ich glaube, die wollen sich als Kaninchen verkleiden, herummümmeln und zu einem Disneysong niedlich durch die Gegend hopsen.«

Wie aus einem Munde stöhnten alle auf.

»Das ist total unfair!«, protestierte Khalid.

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, nickte Struan. »Ich würde jetzt gern behaupten, dass das Leben kein Wettkampf ist …«

»… aber es ist einer«, murmelte Khalid betrübt.

»Vom musikalischen Standpunkt her werdet ihr auf jeden Fall die Besten sein. Und ich hab mir da was überlegt …« Er zog den Flyer eines Mòd hervor, eines lokalen gälischen Musikfestivals. »Langsam werdet ihr so gut, dass wir vielleicht sogar an einem Festival teilnehmen könnten!«

Es war das ein oder andere »Oh!« zu hören, und der Flyer weckte reges Interesse.

»Na ja, dafür müsst ihr aber am Ball bleiben und beim Singen auch gut auf die Betonung achten: Chaidh MO …«

In diesem Moment klingelte die Schulglocke, und alle sprangen augenblicklich auf, um zur Tür zu rennen.

»An ein paar anderen Aspekten müssten wir auch noch feilen, aber mir hört ja keiner mehr zu«, murmelte Struan, während die wilde Meute mit fliegenden Rucksäcken davonstürmte. Es gelang ihm gerade eben noch, die Clarsach aufzufangen, die Moss auf dem Weg nach draußen umwarf. Theoretisch sollten sich die Kinder unter seiner Anleitung in einer Reihe aufstellen und leise in ihren Klassenraum zurückkehren, aber das gelang ihm irgendwie nie.

Nach der Schule hatte Struan Bandprobe und dann noch einen Auftritt mit seiner Band in einem Pub, wobei es ziemlich spät wurde.

Als er nach Hause kam, schlief seine Freundin, Saskia, tief und fest oder tat zumindest so.

Struan wusste, wie sehr Saskia es hasste, wenn er einen Gig hatte und spät zurückkam. Dabei hatte es ihr am Anfang doch gerade so gut gefallen, dass er Musiker war und in einer Band spielte. Mittlerweile konnte sie es aber nicht mehr ertragen. Vor allem weil er sich durch seine Musikerkarriere nicht den Lebensunterhalt verdienen konnte und zusätzlich zu unterrichten begonnen hatte. Er liebte die Arbeit als Lehrer, durch die er seine Rechnungen bezahlen konnte, wirklich, konnte sich dadurch allerdings nicht kreativ ausleben. Deshalb lud er sich am Ende immer ein bisschen zu viel auf und trank dabei auch noch zu viel Bier. Darum war er ständig erschöpft. Saskia kam auch nicht mehr gern zu seinen Auftritten, um sich dort im Hintergrund zu halten und mit bewunderndem Lächeln immer wieder die gleichen Songs zu hören. Das alles kannte Struan längst.

Sie war weiterhin die Schönste weit und breit, ihr Lächeln sah er aber nur noch selten. Inzwischen musste er sich hingegen oft Bemerkungen darüber anhören, dass sie dieses Loch langsam mal hinter sich lassen sollten. (Er war nicht ganz sicher, ob sie damit Carso oder seine Wohnung meinte.) Selbst war er auf seine Wohnung, die zwei Schlafzimmer hatte und wirklich schön war, eigentlich sehr stolz. Weil sie über einem Antiquitätengeschäft lag, konnte er die ganze Nacht üben oder laut Musik hören, wenn er wollte. Struan mochte Carso und hatte hier seine regelmäßigen Auftritte, daher könnte er es auch nicht nachvollziehen, falls sich Saskia auf den Ort beziehen sollte. Aber die Bemerkung wurde mit immer mehr Nachdruck vorgebracht.

Struan war achtundzwanzig und hatte das alles schon des Öfteren mitgemacht. Frauen fanden die Vorstellung einer Beziehung mit einem Musiker meistens total romantisch, bis sie zum vierten Mal beim Weg vom Bad zurück im Dunkeln über eine Gitarre stolperten. Außerdem konnte man mit ihm zusammen im Sommer nicht groß etwas unternehmen, weil er am Wochenende immer für Hochzeiten, Ceilidhs und andere Tanzveranstaltungen gebucht war. Saskia war auch von seinem Job als Lehrer nicht begeistert – er brachte nämlich jede Erkältung der Kinder mit nach Hause. Einmal hatte er sich auch Läuse eingefangen, weil er am Schlagzeug mit den Haaren zu nah an Shugs Junior herangekommen war. Das vermied er bei seinen Schülern seitdem tunlichst. Na ja, jedenfalls kamen dazu auch noch viele Andeutungen über größere Bands und größere Touren in Städten, womit Saskia in die gleiche Kerbe schlug wie seine Familie.

Struan ging in die Küche und machte ein Bier auf, das er allein trinken würde, obwohl er am nächsten Tag zur Schule musste.

O Mann! Wenn man von allen Seiten zu hören bekam, dass man ein Versager war und es im Leben zu nichts gebracht hatte, sollte man dann darauf hören? Sollte Struan Saskias Rat befolgen und Carso verlassen? Ja, die Wohnung war wirklich schön, aber womöglich hatte sie dieses Mal recht. Sollte er es vielleicht noch ein letztes Mal versuchen, bevor es für den Durchbruch zu spät war?

Kapitel 4

»Darüber haben wir doch schon so oft gesprochen«, knurrte Mr Wainwright.

Gertie saß hinter der Kasse und hielt die Hände still – mit denen sie gerade noch heimlich gestrickt hatte.

»Wenn nichts los ist, dann machen Sie im Laden sauber.«

Gertie biss sich auf die Lippe.

Eine ihrer Kolleginnen mischte sich zu ihrer Verteidigung ein: »Aber Gertie hat doch für uns alle Mützen gestrickt, als Sie wegen gestiegener Kosten die Heizung runtergedreht haben, wissen Sie nicht mehr?«

»Genau«, sagte eine andere Kollegin, Barb. »Ich meine, die Farbe war zwar ziemlich fade …«

»Der Farbton hieß Sandstein«, wandte Gertie leise ein. »Und ich fand den wunderschön.«

»… trotzdem war es eine gute Lösung.«

Auf solche Situationen bereitete das Handbuch zur Betriebsführung nicht vor, und Mr Wainwright setzte eine genervte Miene auf. »So, Gertie, Sie gehen jetzt die Schaufenster putzen!«

Das war eindeutig als Strafe gedacht, und so schlurfte die junge Frau mit hängendem Kopf davon.

Man hatte ihr durchaus schon mal eine Stelle im Wollgeschäft des Ortes angeboten, doch Jean hatte verkündet, dass sie diese Arbeit auf keinen Fall annehmen durfte, falls sie ihre Mutter nicht früh ins Grab bringen wollte. Gertie überlegte auch schon seit Ewigkeiten, vielleicht mal Handarbeitskurse am College zu belegen. Aber dann war die Pandemie dazwischengekommen, und plötzlich war es so schwierig geworden, sich zu irgendetwas zu motivieren … Sie dachte wirklich nicht gern darüber nach, wie lange sie bereits hier im Supermarkt arbeitete.

Als sie mit dem Eimer am Schwarzen Brett im Eingangsbereich vorbeikam, warf sie einen Blick darauf. Seit sie zum letzten Mal geguckt hatte, waren neue Sachen dazugekommen. Hundespaziergänger, Hundefriseure, Hundesitter – es war so einiges an Hundesachen dabei. Mittlerweile war ScotNorth offiziell der letzte Laden im Ort, den man nicht in Begleitung seines Vierbeiners betreten durfte, worauf etliche Herrchen und Frauchen immer wieder wütend hinwiesen, wenn man sie am Eingang stoppte. Da brachte es auch nichts, wenn Gertie ihnen erklärte, dass es Hunden gegenüber nicht fair war, angesichts von Brötchen auf niedrigen Regalbrettern Disziplin von ihnen zu erwarten.

Am Schwarzen Brett hingen auch ein paar Zettel mit Angeboten von Yoga/Aromatherapie/Homöopathie/Kristall/Tarot-Typen aus. Carso war nicht groß. Wenn man auf der alternativen Schiene unterwegs war, war es also eine gute Idee, ein bisschen was von allem anzubieten. Und dann entdeckte Gertie doch tatsächlich … du meine Güte, war das etwa eine Anzeige für eine Wohnung? Die bekam man heutzutage eigentlich nie zu sehen. Vielleicht hatte ja einer von diesen Yogalehrern eine wirklich tolle Wohnung, so ein geschmeidiger, wunderschöner Mann, der ein bisschen wie Joe Wicks aussah. Wahrscheinlich hatte er es eigentlich nicht nötig, einen Zettel an das Schwarze Brett in einem Kleinstadtsupermarkt zu hängen. Aber dieser Typ suchte vielleicht bewusst bodenständige Mitbewohner, die auf dem Teppich geblieben waren und zugleich immer schon Yoga hatten ausprobieren wollen, aber zu schüchtern gewesen waren, um bei einem Gruppenkurs mitzumachen. Er würde ihr in seinem zauberhaften, sonnendurchfluteten Wohnzimmer behutsam ein paar Übungen zeigen, durch die sie ganz schlank und straff werden würde und …

Plötzlich erhaschte Gertie aus den Augenwinkeln einen Blick auf zwei Personen, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Während die Frauen plaudernd und lachend näher kamen, dachte Gertie an ihre Jugend zurück, aus der sie die beiden nur zu gut kannte. Es waren Morag MacIntyre und Nalitha Khan.

Kapitel 5

Morag war noch nicht lange wieder in Carso und kaufte nur selten Lebensmittel. Wenn sie sich mal selbst etwas holte, dann meistens bei Post & Pantry, einem schicken Laden, in dem es Sauerteigbrot und Taramosalata und kleine Gläschen mit eingelegten Artischocken gab, weil sie (Peigi zufolge) einen »Londoner Schickimickigeschmack« hatte.

Und Nalitha kam eigentlich auch nie in den ScotNorth. Das war heute wirklich eine Ausnahme.

Schon seltsam, dachte Gertie, dass das Gefühl immer noch da war. Es war doch schon so lange her. Warum schmerzten die Kränkungen der Jugend wie eh und je, wenn sie nicht einmal mehr wusste, was sie gestern zu Mittag gegessen hatte? Ihr stieg augenblicklich wieder der seltsame Geruch aus der Schulaula in die Nase, eine Mischung aus Lynx Africa und Haarspray und Turnschuhen. Gertie sah die beiden genau vor sich, Nalitha mit großen goldenen Ohrringen und Morag, die ihre schwarzen Locken gnadenlos geglättet hatte. Selbstbewusst standen die beiden kerzengerade da und lachten zusammen mit den Jungen, na ja, insbesondere mit einem bestimmten Jungen. Selbst so viele Jahre später konnte sie es kaum ertragen, daran zurückzudenken.

Und jetzt marschierten die beiden hier vorbei, sahen besser aus als je zuvor und waren offensichtlich, wie Gertie ein wenig bitter feststellte, immer noch gute Freundinnen. Nalitha trug nicht nur einen fetten Verlobungs- und einen Ehering, sondern war eindeutig auch schwanger.

»Hier will ich mir lieber nichts zu essen holen«, sagte Morag gerade. »Die haben doch nur frittierte Eier und Zwiebelringe.«

»Und was ist daran auszusetzen?«

»Wie wär’s denn mit irgendeinem schönen Bistro oder so? Irgendwas, wo wir uns hinsetzen können?«

»Aber ich muss JETZT was essen. Ich meine, JETZT SOFORT. Das gehört zu den seltsamen Phänomenen der Schwangerschaft.«

Während Gertie ihren Eimer anstarrte und darauf hoffte, dass die beiden sie im Vorbeigehen nicht erkennen würden, musste sie sich eingestehen, dass sie mit gespitzten Ohren lauschte.

»Hey«, sagte Nalitha zu Morag. »O mein Gott, guck mal!« Sie deutete auf das Schwarze Brett.

»Oh, da verkauft jemand kleine Katzen!«, sagte Morag und las die Anzeige mit gerunzelter Stirn. »Ach, das wäre wirklich schön, oder? Aber Gregor und Katzen … Dieses Thema will ich gar nicht erst in Angriff nehmen, Ornithologen und Katzen sind nämlich quasi Todfeinde.«

»Wissen die Katzen das auch?«

»Äh, nein«, antwortete Morag. »Aber es schürt die Feindschaft doch nur noch, wenn man seine Feinde ignoriert.« Sie überlegte einen Moment. »Abgesehen davon würde das wohl wie ›WIR HABEN JETZT EIN GEMEINSAMES HAUSTIER!‹ rüberkommen.«

»Okay«, sagte Nalitha. »Na ja, das meinte ich sowieso nicht. Jetzt guck doch mal!«

»Was soll ich mir denn angucken?«

»Ich dachte, deine Sehstärke wäre 20/20?«

»Sie ist sogar noch besser!«, entgegnete Morag stolz.

Nalitha beugte sich über ihren Babybauch und klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die neuste Anzeige, die mit blauem Kuli handgeschrieben war: Wohnung mit zwei Schlafzimmern zu vermieten, Nähe Hauptstraße. Eine Telefonnummer war auch angegeben.

Morag starrte den Zettel an.

»Die könntest du vorübergehend mieten«, schlug Nalitha vor, »während Gregor und du euch überlegt, was ihr machen wollt.«

»Ich glaube kaum, das man da eine Ziege mitbringen darf.«

Gregor war zwar perfekt, hatte allerdings eine Ziege als Haustier. Also war er vielleicht nur fast perfekt.

Nalitha verdrehte die Augen. »Komm schon. Guck mal, hier steht explizit, dass die Wohnung nicht auf Airbnb ist!«

»Noch nicht«, murmelte Morag, während Nalitha mit dem Handy ein Foto vom Zettel machte.

»Das könnte genau das Richtige für dich sein. Und jetzt komm – ich muss unbedingt was essen.«

Die beiden betraten den Supermarkt, ohne Gertie zu bemerken, was die einerseits mit Erleichterung erfüllte, sie andererseits erneut unangenehm an ihre Jugend erinnerte.

Eine Wohnung mit zwei Schlafzimmern, dachte Gertie verträumt, während sie das Schaufenster putzte. Ganz für sie allein. Das musste man sich mal vorstellen! Vermutlich würde man sich dort beim Durchschreiten der Haustür nicht bücken müssen, und vielleicht gab es sogar eine Badewanne. In ihrem kleinen Häuschen am Shore Close war dafür nicht genug Platz. Im Schuppen stand ein Zuber, in dem einst Elspeth als Baby vor dem Kamin gewaschen worden war und der jetzt … äh, voller Wolle war, dachte Gertie gereizt.

Aber man musste sich mal vorstellen …

Rasch holte sie ihr Handy hervor und machte ebenfalls ein Foto von der Anzeige.

Während sie den Eimer zurück in den Laden brachte, hoffte Gertie, die beiden Frauen würden schnell finden, was sie suchten, und wieder verschwinden. Es gefiel ihr gar nicht, daran erinnert zu werden, wie ihre Fantasiewelt zum ersten Mal mit der Wirklichkeit kollidiert war, und zwar mit einem lauten Knall.