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Seien Sie gewarnt! Sollten Sie sich von der in diesem Buch abgedruckten Gebrauchsanweisung inspiriert fühlen und tatsächlich zur Schere greifen, um die Doppelseiten aus dem Korsett der Fadenheftung zu befreien, müssen Sie sich auf einige Überraschungen gefasst machen.
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Seitenzahl: 42
Wie alles begann
Der Galerist
Der Vorschlag
Kinder hüten
Nachtrag
Kurzgeschichten und Fotografien
Es war nicht so, dass ich schon schreibend zur Welt gekommen wäre. Obschon es eine reizvolle Vorstellung ist, wie ich bereits kurz nach der Geburt, gestärkt durch meine erste Mahlzeit an Mutters Brust, angefangen hatte, meinen bisherigen Lebensweg zu beschreiben: die neun Monate im Bauch meiner Mutter, das Schwimmen in diesem zunehmend enger werdenden Ozean, die plötzlich auftretenden Erdbeben, die Flutwellen, den Sog, das Rutschen, das Gepresstwerden, das Auftauchen, das Luftschnappen, das Schreien.
Lag ich in meiner Wiege, vermeintlich in tiefem Schlaf, konnte ich es kaum erwarten, dass meine Mutter das Zimmer verliess. Ich öffnete die Augen, grapschte nach dem kleinen Notizheft und dem Bleistiftstummel, die ich beide geschickt am Rande der kleinen Matratze versteckt hatte – und begann mit der Arbeit. Ich beschrieb mein Befinden, mein Verhältnis zur Mutter, die mich mit Milch versorgte, mich anlächelte, mit mir sprach, mir Liedchen vorsang, mir den Po säuberte. Aber leider kann ich das »Heft der ersten Wochen« nicht mehr finden. Vielleicht hat es meine Mutter voller Entsetzen verschwinden lassen. Wer will schon ein frühreifes Baby. Wenn ich sie heute darauf anspreche, sagt sie, ich würde träumen, hätte immer schon eine blühende Phantasie gehabt.
In aller Deutlichkeit erinnere ich mich jedoch an die im Wind schaukelnden Blätter des Baumes vor unserem Haus. Meine Mutter hatte mich im Kinderwagen ins Freie hinausgestellt. Ich lag auf dem Rücken und schaute hinauf in das wogende Blätterdach, hinter dem die Sonne immer wieder mal kurz aufblitzte. Doch wusste ich etwas von einem Baum, geschweige denn von einem Ahorn, wusste ich, was Blätter sind, was die Sonne ist? Wusste ich, was Farben sind, zu was sie gehören, was sie bedeuten? Hatte ich Kenntnis von der Photosynthese, von Sonnen- und Mondphasen, erkannte ich im Klopfen den Specht, im Bellen den Hund, im Wiehern das Pferd? Ich konnte noch nicht sprechen, konnte die Dinge nicht benennen, doch ich beobachtete völlig unvoreingenommen das Schauspiel vor meinen Augen. Und wenn meine Mutter zurückkam, um mich zu holen, veränderten sich während der kurzen Kinderwagenfahrt ins Haus die Dinge. Andere Formen tauchten auf, es wurde dunkler und wieder heller. Und nachts, wenn ich in meinem Bettchen lag, huschte ab und zu eine helle Bahn, ein Lichtkegel durch das Zimmer, wurde grösser, wurde kleiner, begleitet von einem ratternden Geräusch. Es rührte von den Traktoren anderer Bauern her, welche die frische Kuhmilch in Milchkannen in die Käserei brachten. Aber wusste ich, was Bauern oder gar Traktoren sind?
Der Geruch nach Kuhdung und Heu, nach Motorenöl und Sägemehl, nach Milchkaffee und Schweineschmalz steigt mir wieder in die Nase, wenn ich an meine früheste Kindheit zurückdenke. Ich höre das Schnauben von Max und Moritz, unserer zwei hellbraunen Pferde, deren fast weisse Mähnen mich faszinierten. Wie flatternde Segel. Aber wusste ich, was ein Segelschiff ist, hatte ich je eins gesehen? Ich vermute, nicht mal mein Vater, der damals noch nie bis ans Meer gekommen war, hätte mir erklären können, was unter Windjammer, Schoner oder Klipper zu verstehen war, geschweige denn was Stengen, Rahen, Wanten oder Stagen sind. Unser Bauernhof lag nicht an der Wasserkante, er wurde durch kein Ufer begrenzt, sondern lag tief im Innern des Landes, eingebettet in sanfte Hügel. Der Wind trieb hier keine haushohen Wellen an, er hatte es auf den Wald abgesehen, den er während der Herbststürme in ein schrecklich brausendes Meer verwandelte.
Im Sommer waren die zwei Pferde wegen der lästigen Bremsen oft unruhig, stapften auf den Boden und schwangen den Schweif. Um die Viecher abzuhalten, hatte ihnen Vater ein Kübelchen mit einer schwarzen Flüssigkeit umgehängt, die widerlich roch. Ab und zu setzte mich Vater auf den Rücken eines der Pferde, das er am Halfter auf dem Platz vor der Scheune im Kreis herumführte. Ich sass tatsächlich auf dem breiten und warmen Rücken eines Pferdes, war ein stolzer Reiter. Von da oben sah die Welt vollkommen anders aus.
Während meine älteren Geschwister bereits durch den Wald ins Dorf hinunter die Schule besuchten, wurde mir der Wald zur Heimat. Ich kannte den lehmigen Abhang hinunter zum Bach, den Geruch von stehendem Wasser, ich kannte die seichten Stellen, wo grosse gelbe Blumen mit riesigen Blättern wuchsen. Dort konnte ich den Bach problemlos überqueren. Ich kannte aber auch die trockenen Plätze, etwa jenen unter der uralten Tanne, deren Äste bis auf den Boden reichten. Dort konnte mich niemand sehen, niemand konnte mich finden. Wenn ich durch den Wald schritt und eines Rehs ansichtig wurde, wenn die Sonne durch die Zweige und Blätter der Buchen ein Spiel von Licht und Schatten auf den Waldboden zauberte oder wenn der Regen eine leise Melodie erzeugte, war ich in einem Raum, wo mein Inneres und das Äussere seltsam durchlässig waren, gerade so, als gäbe es da keine wirkliche Grenze.
Fünfundzwanzig Jahre später. Eine Tasse mit Grüntee dampfte vor mir, als das Telefon klingelte.
»Wollen Sie Ihre Werke nicht in meiner Galerie ausstellen?«, fragte mich ein mir nicht ganz unbekannter Galerist.