Die Kontaktanzeige - Ralf Peter Paul - E-Book

Die Kontaktanzeige E-Book

Ralf Peter Paul

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Beschreibung

Der Berliner Taxifahrer Olaf Morgenstern mag seinen Job und führt ein zufriedenes Leben. Lediglich die richtige Frau an seiner Seite fehlt ihm noch. Er schaltet eine Kontaktanzeige. Die Flut der Zuschriften und die darauf folgenden Treffen mit den Frauen lassen Morgenstern in eine ihm bisher fremde Welt weiblicher Bedürfnisse eintauchen. Doch inmitten dieses Strudels erotischer Momente wird er plötzlich mit einem unerwarteten Ereignis konfrontiert, das alles verändert. Die Abgrenzung zwischen Realität und Fantasie ist für ihn nicht mehr erkennbar, obwohl die Wahrheit nur einen Schritt entfernt darauf wartet, entdeckt zu werden. "Ein tiefgründiger Erotik- und Mystery-Roman, der durch seine unvorhersehbaren Wendungen besticht und auch in dieser Hinsicht dem Leser ein äußerst abwechslungsreiches Lesevergnügen verschafft." Der "Nord-Reporter" "»Die Kontaktanzeige« ist ein witzig und unterhaltsam erzählter Roman mit viel Tiefgang... Dem Autor gelingt es, seine Leser bis zur letzten Seite in Spannung zu halten und mit einem unvorhersehbaren Ende zu überraschen." M. Heinrich, M. A. (Lektor)

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Weitere Publikationen von Ralf Peter Paul:

Die letzte gute Tat

Thriller

ISBN 978-3991078944

Ausgabe 2021

Inhaltsverzeichnis

Hombres

Elvira

Eddie

Marlene

Enttäuschung, Zorn und Hoffnung

Regine

Claudia

Die Reise

Die Kündigung

Die Eltern

Wechselgeld

Pavel

Das Geständnis

Die Kontaktanzeige

Der Krankenhausaufenthalt

Der Einzug

Die Briefe

Rebecca

Simon

Sandra

Damenwelten

Der Spieler

Babette von Arcacha

Ego

Der Besucher

Lebewohl

Mareike

Schicksale

Der Kuss

Herrmann

Hannah

Barbara

Frust und Lust

Finia

Begehren

Wellentäler

Herr Lehmann

Erfüllung

Aufarbeitung

Tante Ursula

Ulrike

Lichtblicke

Der Koch und Morgensterns Entschluss

„Wenn die Wahrnehmung uns die Wahrheit vermittelt

und unsere Einstellung das Handeln bestimmt,

dann braucht es Träume,

die den Raum zwischen Realität und Fantasie füllen.“

Ralf Peter Paul

Hombres

Es war kurz nach zweiundzwanzig Uhr, als der Auftrag von der Funkzentrale hereinkam.

„Gentleman-Eck, wer übernimmt das Gentleman-Eck?“

Olaf Morgenstern, der mit seinem Taxi gerade in Höhe des Bismarckplatzes fuhr, meldete sich sofort.

„Taxe 2009 am Bismarckplatz in Fahrt.“

„2009, übernehmen Sie das Eck“, bestätigte die Dame aus der Funkzentrale.

Das Gentleman-Eck war eine prachtvolle im Jugendstil erbaute Grunewald-Villa mit dezenter Außenbeleuchtung und einem parkähnlichen Eingangsbereich. Morgenstern wusste, welche Anschrift hinter diesem Pseudonym stand. Es handelte sich um Berlins exklusivste Adresse, wenn es um zu bezahlende Liebesdienste ging. Hier verkehrten in der Regel nur Menschen mit entsprechenden Bankkonten. Allein für den Eintritt wurde ein unterer dreistelliger Betrag fällig. Kundendiskretion stand an oberster Stelle, was auch den ein oder anderen Promi veranlasste, diesem besonderen Ort gelegentlich einen Besuch abzustatten und die außergewöhnlichen Talente der Damen in Anspruch zu nehmen. Der Betreiber hatte vor Jahren mit einer Klage gedroht, falls die Zentrale sein Etablissement weiterhin über Funk als Bordell ausrufen würde. Um ihn nicht als Kunden zu verlieren, gaben die Verantwortlichen nach und suchten nach einer für alle Beteiligten adäquaten Lösung.

Als die beiden Männer, sichtlich beschwingt, den Kieselsteinweg entlang in Richtung Straße gingen, wartete Morgenstern bereits im Taxi auf seine Fahrgäste. Diese öffneten mit Schwung die hinteren Türen und nahmen auf der Rückbank Platz. Nach kurzer Angabe des Fahrziels – „Palace-Hotel“ – tauschten sie sich ungeniert über das gerade Erlebte aus.

„Ottmar, wo bist du eigentlich geblieben?“, fragte einer der Männer mit starkem bayerischen Dialekt. „Du wolltest doch nur zum Klo gehen, kamst aber nicht zurück.“

„Das sind nicht solche Klos wie bei uns. Ich war kaum drin, da wurde mir alles abgenommen, nur pinkeln musste ich alleine. Der reine Wahnsinn, sage ich dir“, antwortete Ottmar immer noch hochgestimmt. „Du warst kaum weg, da setzte sich so eine karibische Schönheit direkt neben mich auf den Barhocker. Ruck, zuck war ihr Oberteil unten und meine Hände klebten an ihren Brüsten. Ich dachte, wenn jetzt ein anderer Gast dazukommt …“

„Selbst wenn, lass doch jemanden dazukommen. Was sollte schon passieren? Eine Nummer zu dritt ist hier Standard“, erklärte Ottmar und ergänzte, „wobei ich eine weitere Dame einem Kerl vorziehen würde.“ Ottmar schüttete sich fast aus vor Lachen.

„Kostet das nicht extra?“

„Sei nicht naiv, Albert. Hier kostet eigentlich alles extra. Außer du begnügst dich mit dem einfachen Herrengedeck und einer Handentspannung im Videoraum.“

„Ich fand das Zimmer recht geschmackvoll eingerichtet, und das Bier hat auch geschmeckt“, gestand Albert kleinlaut.

„Ich habe mir noch mal das ganze Programm gegönnt“, tönte Ottmar. „Wer weiß, ob ich jemals wieder hierherkomme? Ende des Jahres ist Schicht im Schacht, da ziehen meine Frau und ich nach Moreira an die Costa Blanca und führen ein solides Leben als glückliches Rentnerehepaar.“

Albert wirkte überrascht. „Bist du wirklich schon so alt? Das hätte ich nicht gedacht.“

„Bin ich auch nicht, aber verhandeln kann ich gut“, antwortete Ottmar und erwartete, dass Albert sogleich nachfragen würde. Tat er aber nicht. Es war offensichtlich, dass Ottmar die Geschichte loswerden wollte. Er begann zu erzählen.

„Wenn du es unbedingt wissen willst, meinetwegen. Für uns wird es ohnehin das letzte gemeinsame Seminar gewesen sein. So gesehen kommt es darauf jetzt auch nicht mehr an.“ Ottmar lehnte sich selbstzufrieden in seinem Sitz zurück und genoss die angestrebte Aufmerksamkeit seines Gegenübers. „Ich habe mit der Sekretärin des Personalchefs gevögelt, geradewegs in seinem Arbeitszimmer. Das kam bei ihm nicht gut an, doch eine große Sache konnte er daraus nicht machen, weil er vor einem Jahr selbst ein Verhältnis mit ihr hatte. Zuerst wollte er mich von Hannover in unser Werk nach Göttingen versetzen. Doch das wären für mich jeden Tag über dreihundert Kilometer Autobahn gewesen, oder ich hätte mit der Bahn fahren müssen.“

„Immer noch besser, als wenn du zu uns nach Regensburg hättest kommen müssen“, unterbrach Albert.

„Nix da Regensburg. Ich habe ihm das Angebot gemacht, mich unter Beibehaltung meiner Grundbezüge in den Vorruhestand zu entlassen. Auf die jährlichen Boni-Zahlungen konnte ich verzichten. Das muss ihn überzeugt haben.“

„Dass du klug bist, war mir schon auf unseren Veranstaltungen nicht entgangen, aber deine Abgebrühtheit schlägt alles.“

Ottmar ließ seinem Kollegen ein großtuerisches Grinsen zukommen.

„Dann bin ich mir sicher, dass du da, wo wir eben waren, auch nicht den vollen Preis bezahlt hast.“

„Albert, da irrst du dich gewaltig. Mit dem Tod und den Nutten wird nicht verhandelt. Da wird nach deren Regeln gespielt und bezahlt, was gefordert ist.“ Ottmars Statement war eindeutig und vollkommen humorfrei. Für einen Moment war Ruhe im Taxi.

„Ich habe jetzt nur noch eine Frage an dich“, kam es verschüchtert von Albert. „Wie kannst du diese Ausgabe zu Hause erklären? Allein für den Eintritt ging fast mein gesamtes Bargeld drauf, und wenn ich jetzt etwas von unserem gemeinsamen Konto abheben würde, müsste ich meiner Frau eine Erklärung abgeben.“

Ottmar blieb seiner souveränen Art treu.

„Ich habe heute ganz einfach mit meiner Kreditkarte bezahlt und morgen kaufe ich meiner Liebsten ein Geschenk, welches ich ebenfalls mit Karte begleiche. Die Sollbuchungen kommen erst Wochen später. Und sollte sie wirklich einmal nachfragen, was sie noch nie getan hat, dann präsentiere ich einen Kontoauszug mit einer Abbuchung und zwar den für ihr Geschenk.“ Das Taxi erreichte den Eingang des Palace-Hotels.

„Das sind dann fünfzehn Euro und vierzig Cent“, sagte Morgenstern und schaute das erste Mal nach hinten.

„Einen Augenblick, bitte“, bat Ottmar und wandte sich noch mal an Albert.

„Du musst dir ein zweites Konto anlegen, für deine ganz persönlichen Spesen, sonst bist du irgendwann einmal in den Arsch gekniffen.“ Albert hatte verstanden und bedankte sich artig bei seinem Kollegen. Ottmar überreichte Morgenstern zwanzig Euro und konnte sich einen Schlusssatz nicht verkneifen.

„Stimmt so! Vielleicht war auch etwas für Sie dabei. Man lernt ja nie aus, selbst wenn man in der Hauptstadt Taxifahrer ist.“ Ottmars Nase triefte nur so vor Überheblichkeit. Für Morgenstern stellte das kein Problem dar. Er blieb gelassen und schaute auf das Trinkgeld. Zu sehr ähnelten sich die Erlebnisberichte von Männern, die aus Freudenhäusern kamen und ihre Taten begeistert feierten. Nur kurze Zeit später würden sie wieder am heimischen Herd als brave Spießer jeden Eid schwören, und dass ihnen ihre Familie das Allerwichtigste auf der Welt sei. Morgenstern verurteilte niemanden für sein Handeln, er hatte nur aufgehört, weiter darüber nachzudenken.

Elvira

Das Palace-Hotel verfügte vor dem Haupteingang über einen großzügigen An- und Abfahrtsbereich. Morgenstern suchte sich einen Platz, an dem er andere Fahrzeuge nicht behinderte, um eine kleine Fahrpause einzulegen. Sein Taxischild ließ er eingeschaltet. Er war gerade dabei, es sich auf seinem Sitz bequem zu machen, als er durch eine lautstarke Diskussion zwischen einer Frau und einem Mann aufgeschreckt wurde. Die Frau rief dem Mann noch etwas zu, bevor sie geradewegs in Morgensterns Taxi stieg. Als Fahrziel gab sie Halker Zeile 14 in Lichtenrade an.

„Entschuldigung“, sagte die Frau auf dem Rücksitz mit schwachem ausländischen Akzent und beugte sich so weit vor, wie es der Sicherheitsgurt zuließ. „Es ist nicht meine Art, Fremde anzusprechen, doch Sie sind Taxifahrer und höchstwahrscheinlich werden wir uns auch nie wiedersehen. Deshalb frage ich Sie und bitte um eine ehrliche Antwort: Glaubt ihr Männer immer noch, ein Promi-Restaurant und eine Schickimicki-Hotelbar reichen aus, um eine Dame mit Niveau gleich beim ersten Date ins Bett zu kriegen? Das war vielleicht früher einmal so, doch diese Zeiten sind längst vorbei.“ Morgenstern kannte diese Art von Gesprächen, insbesondere wenn Alkohol im Spiel war, und das war hier der Fall. Es genügte ein winziger Moment zum Luftholen, und der Fahrgast würde dort weitermachen, wo er aufgehört hatte, ohne eine Antwort abzuwarten. Und so kam es auch.

„Der Herr Vorstand hat doch glatt geglaubt, dass ich nicht merke, wie er mein Glas jedes Mal nachfüllte, wenn ich zur Toilette ging. Doch nicht mit mir. Ich habe nur an meinem Cocktail genippt und ließ ihn trinken, bis er in dem Zustand war, in dem er mich gerne gehabt hätte.“ Die Frau sank zurück in ihren Sitz. Für einen Augenblick hatte es den Anschein, dass sich das letzte Getränk und die Müdigkeit bei ihr durchsetzen und sie für den Rest der Fahrt schweigen würde; doch weit gefehlt. Es dauerte keine Minute, bis sie den Sicherheitsgurt löste und ihren Mantel auszog. „Sie haben es hier mächtig warm im Auto“, waren dabei ihre erklärenden Worte. Ein hellblauer Blazer und ein tief ausgeschnittenes weißes Shirt kamen zum Vorschein. Bevor Morgenstern seinen Fahrgast auf die Anschnallpflicht hinweisen konnte, war der Gurt wieder geschlossen und das Warngeräusch verstummt. Durch den abgelegten Mantel war es der Frau möglich, noch etwas näher an den Fahrersitz zu rücken. Für Morgenstern genügte nur ein kurzer Blick nach hinten, um bei ihr ein prächtiges Dekolleté auszumachen. Na klar, machte er sich bewusst, sie hat sich mit einem Mann getroffen, um ihm zu gefallen. Hat nur nicht so geklappt, wie erhofft. Auf jeden Fall schade für ihn. Ein kurzes Grinsen breitete sich über sein Gesicht aus. Ihm blieb allerdings keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken.

„Doch das Allerbeste“, fuhr die Dame fort, „geradezu der Klassiker, war seine Frage, ob er mich nach Hause fahren könnte. Worauf ich ihm sagte, dass ich in Lichtenrade wohne und auf dem Weg dorthin jede Menge Polizeikontrollen sein könnten. Ich riet ihm, sich das Ganze noch einmal zu überlegen. Danach blieb dem feinen Herrn erst einmal die Spucke weg. Mit so viel Schlagfertigkeit hatte er wohl doch nicht gerechnet.“ Ihre Empörung steigerte sich. „Er ließ nicht locker, und beim Verabschieden vor dem Hotel kam ihm dann die Megaidee. Ich bringe Sie mit dem Taxi nach Hause und nehme noch einen Absacker bei Ihnen. Danach können wir entscheiden, wie es mit uns weitergehen soll“, zitierte sie ihren Begleiter. Die Frau atmete tief durch. „Können Sie sich vorstellen, was ich dem Möchtegern-Casanova daraufhin gesagt habe?“ Morgenstern blieb ihr wieder die Antwort schuldig. „Wissen Sie, ich hatte mich wirklich auf den Abend gefreut und gehofft, dass es diesmal anders werden würde als die letzten Male. In den vorangegangenen Telefonaten hatte er sich mir als charmanten Mann dargestellt, mit guten Manieren und Format. Davon war heute nichts mehr übrig. Wann werden die Männer es endlich verstehen? Eine Frau will erobert werden und nicht überfallen! Dann habe ich dem Herrn noch eine gute Nacht gewünscht und bin zu meinem Retter ins Taxi gestiegen. Sie sind doch mein Retter, oder?“ Dabei berührte sie Morgenstern leicht am rechten Oberarm. Er registrierte die Berührung und fühlte sich veranlasst, ihr Antwort zu geben.

„Retter gibt es viele. Ich denke da besonders an unsere Polizei und Feuerwehr. Aber natürlich auch wir Taxifahrer sind hilfsbereite Menschen. Was meine Kollegen mir da schon alles berichtet haben, von der Babygeburt bis zur Schlichtung von Ehestreitigkeiten. Gerade letzte Woche, es stand auch in der Zeitung, hat ein Kollege aus seinem Taxi ein brennendes Haus entdeckt und sofort die Feuerwehr alarmiert. Dadurch wurde womöglich eine Frau mit ihrem kleinen Kind vor dem sicheren Tod gerettet.“

„Kannten Sie den Kollegen?“

„Nein, nur seine Funknummer. Die war mir schon früher aufgefallen, weil er sie immer mit einer besonders tiefen Stimme spricht: Hier ist die blanke Vier!“

„Sie sind so süß,“ unterbrach ihn die Frau. „Ich will Ihnen ein Kompliment machen, und Sie merken das nicht einmal, sondern erzählen so selbstlos von anderen. Wie alt sind Sie? Oh, ich vergesse meine gute Erziehung, aber ich kann Sie nur von der Seite sehen.“

„Sechsunddreißig, ich bin sechsunddreißig Jahre alt“, antwortete er trocken. Olaf Morgenstern war ein mittelgroßer Mann mit leichtem Bauchansatz und dünnem Haar. Kein Typ für den ersten Blick. Jemand, der Eitelkeit bei Männern für affig hielt und Markenklamotten nur trug, wenn sie ihm von seiner Lieblingstante Ursula geschenkt worden waren. Ursula war die Stiefschwester seines Vaters und führte ein ausschweifendes Singleleben. Bei ihren seltenen Besuchen im Hause Morgenstern schwärmte sie regelmäßig von Woodstock und spielte dabei auf ihrem alten Kassettenrecorder den Song Summer of '69 von Bryan Adams ab. Sie hatte fast immer gute Laune, außer, wenn sie mit ihrem Vornamen angesprochen wurde, den sie nicht leiden mochte. Morgenstern genoss ihre Anwesenheit. Seine Eltern, der Vater in Berlin, die Mutter in der Nähe von Danzig geboren, missbilligten ihren Lebensstil und legten eher Wert auf eine konservative Erziehung ihres Sohnes. Morgenstern schwärmte für James-Bond-Filme und vermied Fremdwörter, deren Gebrauch er in Gesprächen als hinderlich empfand. Seine Freundlichkeit und zurückhaltende Art kamen bei den Fahrgästen gut an. Wann immer es ging, überließ er das Reden den anderen. Wofür er sich nicht begeistern konnte, war aktiver Sport.

„Meine Tochter wird in zwei Monaten dreißig. Nun können Sie sich ungefähr vorstellen, mit was für einer alten Frau Sie es zu tun haben, wobei ich Mel in einem jungen Alter bekommen habe.“ Ihr Handgriff an seinem Oberarm wurde fester. Das Erreichen der Wohnadresse in der Halker Zeile kam Morgenstern wie ein Befreiungsschlag vor. Es war eine ruhige Seitenstraße mit Kopfsteinpflaster, die mit Ein- und kleineren Mehrfamilienhäusern bebaut war sowie einer Reihenhausanlage, an der er vor der Nummer 14 hielt. Er blickte auf sein Taxameter.

„So, das müsste es sein; zweiunddreißig Euro sechzig bitte.“ Die Frau öffnete ihre Handtasche, um das Portemonnaie herauszunehmen. Sie reichte Morgenstern einen Fünfzig-Euroschein. „Geben Sie mir fünfzehn Euro wieder. Es war ein angenehmes Gespräch mit Ihnen. Darf ich Ihnen vielleicht noch eine Frage stellen?“ Morgenstern hatte den Blick nach unten auf seine Geldbörse gerichtet, um das Wechselgeld herauszugeben und antwortete gleichgültig mit „Na klar“.

„Dann komme ich aber kurz zu Ihnen nach vorne. Ist das okay für Sie?“

Keine Chance für Morgenstern zu reagieren. Blitzartig stieg die Frau aus dem Auto, öffnete die Beifahrertür und setzte sich mit Schwung neben ihn. Dabei rutschte ihr der zum Kostüm gehörende Rock weit nach oben. Olaf Morgenstern sah sich einer sehr attraktiven Erscheinung gegenüber. Irritiert hielt er ihr das Geld entgegen.

„Hier Ihre fünfzehn Euro. Was wollten Sie mich noch fragen?“, kam es stockend aus ihm heraus. Sie nahm die beiden Scheine, behielt allerdings seine Hand in ihrer.

„Übrigens, mein Name ist Elvira. Doch außer meiner Mutter sagen alle Elfi zu mir. Sind Sie der hier?“ Sie zeigte auf das Emaille- Schild über dem Handschuhfach, auf dem Morgensterns Name und Adresse standen.

„Ja, das ist mein Taxi“, antwortete er stolz.

„Sie wohnen also in der Kantstraße. Das ist in Charlottenburg, nicht weit entfernt von meinem Friseur am Adenauerplatz. Vielleicht sind wir uns dort schon begegnet und haben es nicht einmal gemerkt“, witzelte Elvira und lächelte ihn dabei an. Obwohl sie inzwischen seine Hand losgelassen hatte, spürte Morgenstern eine Erregung in der Lendengegend. Sein Blick streifte über ihre makellosen Oberschenkel. Sie schien seine Aufmerksamkeit zu genießen. Dennoch rückte sie den Rock wieder gerade und bedeckte ihre Beine zusätzlich mit dem Mantel. Gleichzeitig öffnete sie die beiden oberen Knöpfe des Blazers und streckte sich, wodurch die wohlgeform-ten Konturen ihres Busens besonders zur Geltung kamen.

„Sie sind noch recht jung und eine andere Generation als meine Verabredung von eben. Wie haben Sie Ihrer Frau oder Freundin den Hof gemacht? Sicher nicht, wie ich es heute erleben musste, oder?“ Morgenstern blieb stumm und schaute verstohlen zur Seite. Elvira bemerkte die Verunsicherung ihres Gegenübers und sprach zu ihm wie eine Mutter zu ihrem pubertierenden Kind.

„Ich habe Sie jetzt verlegen gemacht. Das war nicht meine Absicht. Natürlich sind Mann und Frau füreinander bestimmt, und ich möchte nicht leugnen, dass es mir gefällt, von einem Mann begehrt und geliebt zu werden.“ Dabei schloss sie ihre Augen und ließ sich rücklings in den Sitz gleiten. Welch eine Schönheit, ging es Morgenstern durch den Kopf. In diesem Moment stellte er sich vor, näher an sie heranzurücken, um sie zu berühren. Doch die Angst, zurückgewiesen oder beschimpft zu werden, ließ es nicht zu. Stattdessen verdrängte er den Gedanken, erinnerte sich an Elviras Frage und antwortete so nüchtern, wie es nur ging.

„Ehrlich gesagt, es ist schon eine Weile her, dass ich mich in einer solchen Situation befunden habe. Beim Kennenlernen kommt es doch nur darauf an, dass beide das Gleiche wollen. Dann wird es meistens auch gut.“ Tatsächlich lebte Olaf Morgenstern seit Jahren als Single ohne nennenswerte Liebesbeziehung. Lediglich eine Urlaubsbekanntschaft mit Doris, einem zwölf Jahre jüngeren Mädchen aus Bad Brückenau in Unterfranken, konnte er in jüngster Zeit vorweisen. Er hatte sie auf dem Markt von Benalmádena, einem Ferienort an der Costa del Sol, kennengelernt. Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick gewesen und fortan hatten die beiden jede Minute miteinander verbracht. In der ersten Woche wohnten sie noch getrennt, danach zog Doris zu ihm in das Haus seiner Eltern, die bereits seit Jahren in Spanien lebten und dort ihren Altersruhesitz gefunden hatten. Am Tag des Abschieds versprachen sie, den Kontakt aufrecht zu erhalten und sich baldmöglichst zu besuchen. In den ersten Wochen schrieben und telefonierten sie noch fast täglich miteinander. Wenige Tage bevor Morgenstern Doris in Bayern besuchen wollte, sagte sie ihm, dass sie jemanden kennengelernt hatte und er mit dem Besuch besser noch warten solle, sie würde ihm Bescheid geben. Es kam kein Bescheid und der Besuch fand nie statt. Als Folge dieses Erlebnisses versteifte Morgenstern sich auf den Gedanken, dass es ohnehin schwierig wäre, wenn nicht sogar unmöglich, einer jungen und noch unerfahrenen Frau den Wert wahrer Liebe nahezubringen. Er begründete seine These mit der Vielzahl von Versuchungen, denen junge Menschen täglich ausgesetzt waren, verbunden mit der Neugier, sich sexuell auszuprobieren. Dabei unterstellte er den Menschen über dreißig, dass sie diese Phase bereits überwunden hätten. Fortan galt seine Aufmerksamkeit nur Frauen, die mindestens so alt waren wie er, besser sogar noch älter. Als er dann im Fernsehen den Thriller Solo für Klarinette mit Corinna Harfouch sah, war seine Idealfrau gefunden. Morgenstern informierte sich mit Hilfe von Wikipedia über ihren Lebenslauf, schaute sämtliche Filme, in denen sie mitspielte und träumte davon, ihr irgendwann in Berlin zu begegnen.

„Natürlich erlebe ich jeden Tag Paare in meinem Taxi. Manche sind so sehr ineinander verliebt, dass sie es kaum bis nach Hause aushalten können. Dann geht es hier auf der Rückbank schon heftig ab. Das können Sie sich bestimmt nicht vorstellen“, sprudelte es auf einmal aus Morgenstern heraus. Für Elvira schienen die Worte ein Hallo-Wach-Signal gewesen zu sein. Sie rückte wieder näher an ihn heran, umfasste mit ihrer linken Hand seinen rechten Arm und sprach mit leiser Stimme.

„Das muss doch schrecklich für Sie sein. Immer nur zusehen, wenn Liebe und Leidenschaft gelebt werden.“ Ihre Hand rutschte auf seinen rechten Oberschenkel. Beide schauten sich auf eine sinnliche Art und Weise an, wie es nur Liebende tun, die kurz vor dem Ausbruch ihrer Gefühle stehen. Plötzlich begann Elvira ein heftiger Schluckauf zu quälen.

„Maiko mila. So ein Mist. Ich muss jetzt unbedingt ein Glas Wasser trinken und dabei die Luft anhalten. Ein altes Hausmittel, welches mir schon meine Großmutter in Bulgarien verabreicht hat. Sie haben nicht zufällig Wasser in Ihrem Taxi?“ Morgenstern schüttelte entschuldigend seinen Kopf. „Tut mir leid. Cola und ein, zwei Büchsen Bier müssten noch im Kofferraum sein.“

„Damit ist mir leider nicht geholfen. Dann werde ich wohl meinen Abendretter verlassen müssen und in mein kleines Heim zurückkehren.“ Sie stieg aus dem Wagen, ließ die Tür offen und zog ihren Mantel über. Danach beugte sie sich noch mal ins Taxi und stützte sich dabei mit den Armen auf dem Beifahrersitz ab. Morgenstern konnte seine Augen kaum von den ihm entgegenwippenden Brüsten lassen. Sie schienen jeden Moment aus dem Shirt zu rutschen.

„Bitte geben Sie mir eine Quittung. Vielleicht ist sie noch für irgendetwas zu gebrauchen. Finanzamt oder so; man weiß ja nie. In meiner Heimat gibt es ein Sprichwort: Wenn du überlegst, ob du es probieren sollst oder nicht, dann probiere es, ein Nein hast du jetzt schon.“

Mit zittriger Hand stellte Morgenstern die Quittung aus und gab sie ihr. Dabei schaute er genierlich auf den Sitz. Elvira fühlte sich geschmeichelt und lächelte ihn auffordernd an.

„Ich habe Sie schon wieder verlegen gemacht. Doch diesmal nicht ganz unbeabsichtigt. Sollten wir uns noch einmal wiedersehen, darf ich dann Olaf zu Ihnen sagen?“ Morgenstern hob den Kopf, lächelte zurück und nickte. „Sicher dürfen Sie das, gerne.“

„Ich werde jetzt gehen und später noch einen Rakia auf unsere Begegnung trinken. Weiterhin eine gute Fahrt und wenn Sie später Feierabend haben, träumen Sie schön, vielleicht auch von unserer Begegnung.“ Sie drehte sich um und ging. Er schaltete den Motor ab und verfolgte jede ihrer Bewegungen, bis sie hinter der Eingangstür verschwunden war. Überwältigt von dem Eindruck, den diese Frau bei ihm hinterlassen hatte, blieb er noch einige Minuten vor ihrem Haus stehen. Kurz schoss ihm der verwegene Gedanke durch den Kopf, dass sich Elvira noch einmal zeigen würde, um ihn zu sich zu bitten, doch es blieb ein unerfüllter Gedanke.

Ein Blick auf die Uhr und die sinkende Temperatur in seinem Wagen holten Morgenstern in die kalte Dienstagnacht zurück. Es war ein Uhr morgens. Eine Zeit, die für ihn in der Woche oftmals das Schichtende bedeutete. Die Tour zum südlichen Stadtrand Berlins hatte zwar fünfunddreißig Euro in die Kasse gespült, doch befand er sich in einem Außenbezirk, wo die Straßen wie leergefegt waren und es kaum eine Aussicht gab, mit Fahrgästen wieder Richtung City zu kommen. Eine Leerfahrt kostet Sprit, den mir keiner bezahlt. Und selbst wenn mich jemand anhält, kann es passieren, dass ich umkehren muss und wieder in dieser gottverlassenen Gegend lande. Ach was soll's, ich bleibe hier und warte auf meinen Heimatschuss, waren Morgensterns Überlegungen. Er startete den Motor und fuhr in die Bahnhofstraße zum Halteplatz. Es stand kein Taxi vor ihm. Glück gehabt, dachte er. Rufsäule und Funkauftrag gehören mir. Morgenstern holte ein Kissen aus dem Kofferraum, stellte die Rückenlehne herunter und verriegelte die Türen. Den Motor ließ er wegen der Heizung noch laufen. Er drehte sich zur Seite und kuschelte mit seinem Kissen, wie es Kinder mit ihrem Lieblingsschmusetier tun. Dabei kreisten seine Gedanken um Elvira. Würde sie gleich zu Bett gehen oder, wie angekündigt, noch etwas trinken und dabei an den jungen Taxifahrer denken? Ein wohliges Gefühl durchzog seinen Körper. Realität und Fantasie begannen ihre Plätze zu tauschen.

Eddie

Morgenstern erschrak. Ein heftiges Klopfen ließ ihn aus seinem Sitz hochschnellen.

„Hallo, sind Sie frei? Hier draußen ist es ziemlich ungemütlich.“ Die Umrisse eines Mannes wurden durch die beschlagende Seitenscheibe sichtbar. Morgenstern betätigte die Zentralverriegelung und rief: „Es ist offen!“ Sogleich wurde die hintere rechte Tür geöffnet und eine Frau mit langen dunklen Haaren stieg bibbernd ein.

„Rutsch ein Stück herüber, Tessa“, bat der Mann. Tessa schwieg und rückte nicht einen Zentimeter von der Stelle. Sie schien steif gefroren. Der Mann schlug die Tür zu, ging um das Taxi herum und setzte sich hinter den Fahrersitz. „Könnten Sie ein wenig vorrücken?“, fragte er in höflichem Ton. „Kein Thema“, antwortete Morgenstern. „Wo soll es denn hingehen?“

„Nach Schöneberg, in die Welserstraße. Das Haus neben der Schauspielerin.“

„Die Straße kenne ich, aber welche Schauspielerin?“, fragte Morgenstern interessiert nach.

„Ich komme gerade nicht auf den Namen. Ihr Sohn ist wohl auch im Filmgeschäft.“ Morgenstern gab sich mit der Antwort zufrieden und fuhr los. Die Frau hatte sich zur Türseite gelegt und begann leise zu schnaufen. „Sehr viel weiter wäre ich mit ihr nicht gekommen. Welch ein Glück, dass Sie hier waren.“ Inzwischen hatte sich Tessas Schnaufen zu einem echten Schnarchen entwickelt. „Hey, Tessa, was soll nur der gute Taxifahrer von dir denken?“, bemerkte der Mann und rüttelte an ihrer Jacke. Sie reagierte nicht. „Es ist immer das Gleiche mit den Mädels“, spottete der Mann. „Trinken wie die Großen und vertragen wie, na, Sie wissen schon.“ Der Fahrgast schien auch nicht ganz nüchtern zu sein und so vermutete Morgenstern, einen endlosen Monolog über Frauen und den Rest der Welt ertragen zu müssen. Doch dieses Mal sollte er sich irren.

„Wie lange haben Sie schon am Halteplatz gestanden? Sicher erst seit kurzem, denn wir hatten bereits mehrfach die Nummer der Rufsäule gewählt. Hat aber niemand abgenommen.“

Morgenstern schaute auf die Uhr und stutzte. Es war kurz vor vier.

Ich muss wirklich tief eingeschlafen sein, ging es ihm durch den Kopf, fast drei Stunden. Doch das werde ich dem Typen nicht erzählen. Womöglich ist er so ein Grüner, der sich noch wegen des laufenden Motors und der geschädigten Umwelt aufregt. Diesen Vortrag kann ich jetzt zum Feierabend nicht gebrauchen.

„Sie haben recht. Ich bin vor ein paar Minuten angekommen und wollte mich nur kurz zur Seite legen“, schwindelte er. Da der Fahrgast direkt hinter ihm saß, konnte dieser seine sich sofort einstellende Farbe im Gesicht nicht sehen. Das Lügen lag Morgenstern noch nie.

„Ich war auf einem Junggesellinnenabschied. Eigentlich sind dort nur Frauen zugelassen. Doch Tessa, meine Freundin, hatte die tolle Idee, mich als Chauffeur zu engagieren. Gegen Mitternacht rief sie mich an. Ich Idiot fuhr hierher, um sie abzuholen, anstatt ihr das Taxi zu bezahlen, was ich nun sowieso machen muss.“

„Soll das heißen“, mischte sich Morgenstern ein, „Ihr Wagen steht noch in Lichtenrade?“

„Richtig. Es ist unmöglich, als Einziger bei den Feierbiestern nicht mitzutrinken. Beim ersten und zweiten Versuch, mir etwas anzubieten, war ich noch standhaft. Ganz eisern und habe jegliches Getränk abgelehnt. Aber als mich dann die Braut in ihr ehemaliges Kinderzimmer lotste, gab es kein Halten mehr. Erst der Sekt und dann …“

„Sie haben doch nicht etwa mit ihr –“, Morgenstern unterbrach sich und vermied es, den Satz zu beenden.

„Nein, habe ich nicht. Nur geknutscht was ging. Vielleicht noch ein wenig gefummelt. Es wird ohnehin für eine gewisse Zeit das letzte Mal gewesen sein, dass sie mit einem fremden Mann rummachen konnte“, rechtfertigte sich der Mann, ohne echte Schuldgefühle zu zeigen. Tessa war fest eingeschlafen und bekam von alledem nichts mit. Morgenstern wollte sich nicht als Moralapostel aufspielen, zumal ihm die direkte Art der Erzählung seines Fahrgastes gefiel. Gleichzeitig machte er sich bewusst, dass es schon eine Ewigkeit her war, ausgelassen gefeiert und geküsst zu haben. Das letzte Mal wohl mit Doris in Spanien. Wehmütig erinnerte er sich an diese Zeit. Für einige Minuten wurde es still im Taxi.

Morgenstern fuhr mit leicht überhöhter Geschwindigkeit die gut beleuchteten Straßen entlang. Es war eine einfache Route. Den Tempelhofer Damm geradeaus und am alten Flughafen links ab. Wo sich sonst die Autos in endlosen Staus Meter für Meter voranquälten, gab es nun freie Fahrt mit durchgehend grüner Welle. Der Mann beugte sich vorsichtig zu Tessa herüber und streichelte ihr zärtlich die Wange. Dabei berührte er auch ihre Lippen, aus denen es immer noch vernehmbar herausprustete.

„Sie hören sicherlich oft allerlei Geschichten. Wahrscheinlich könnten Sie ein ganzes Buch damit füllen.“

„Sie haben recht. Vielleicht tue ich das auch einmal“, antwortete Morgenstern, ohne jemals darüber nachgedacht zu haben.

„Meine Freundin ist betrunken, und ich habe drei Achten im Turm. Gibt es eigentlich auch nüchterne Menschen, die nachts in Ihr Taxi steigen?“, wollte der Mann noch wissen.

„Gibt es. Wenn Sie nicht gekommen wären, hätte ich die Vorbestellung um halb fünf zum Flughafen Tegel genommen. Aber so ist es auch in Ordnung.“

„Noch eine Frage: Fahren Sie auch tagsüber?“

„Selten. Der Verkehr ist inzwischen so dicht, dass man trotz Busspur kaum von der Stelle kommt. Außerdem lassen wir Nachtfahrer die Tagesschicht den Familienvätern und Kolleginnen“, erklärte Morgenstern mit einem Hauch von Großmut.

„Dann gehören Sie nicht zu den Familienvätern, wo Frau und Kind zu Hause warten. Habe ich das richtig verstanden?“ Das war Morgenstern nun doch zu persönlich. Er vermied es zu antworten, zumal das Fahrziel nur noch wenige hundert Meter entfernt war.

„Wir sind gleich da, welche Hausnummer sagten Sie noch?“

„Gleich hinter dem kleinen Bäckerladen können Sie halten. Es ist das Haus mit dem imposanten Eingangsportal.“

Tatsächlich standen in der gesamten Straße überwiegend im Jugendstil gebaute Wohnhäuser aus dem neunzehnten Jahrhundert mit herrlichen Stuckfassaden. Morgenstern hielt mit seinem Taxi, wegen der belegten Parkplätze, in der zweiten Reihe. Der Mann versuchte, seine Freundin mit Worten und leichtem Zerren an der Jacke zum Aufwachen zu bewegen. Als Tessa nicht reagierte, ging er um den Wagen herum und öffnete ihre Tür. Er hob sie aus dem Sitz, nahm sie fest in den Arm und platzierte sie auf die untere Stufe des Hauseinganges, wo sie sich am Geländer anlehnen konnte. Eilig kehrte er zum Taxi zurück, um die Fahrt zu bezahlen. Dabei setzte er sich auf den hinteren Sitz, auf dem seine Freundin gesessen hatte.

„Was bin ich Ihnen schuldig?“

„Genau sechsundzwanzig Euro.“

Der Mann griff in seine Brieftasche. „Hier sind dreißig; stimmt so! War nicht so einfach mit uns. Und, wie lange geht Ihre Schicht noch, oder war's das für heute Nacht?“

Morgenstern drehte sich zur Seite, um seinem Fahrgast das Geld abnehmen zu können. „Ende der Schicht, terminado!“, war seine kernige Antwort. Als die beiden Männer sich ansahen, fielen sie in einen Zustand starrer Bewegungslosigkeit. Es dauerte einen Moment, bis der Fahrgast als Erster seine Verblüffung überwunden hatte.

„Ich kenne nur einen Menschen, der seine Sätze mit terminado beendet. Bist du es wirklich, Sternchen?“

Morgenstern strahlte über das ganze Gesicht. Es war Eddie. Immer noch so stattlich und verdammt gutaussehend.

„Oh Gott, wie lange ist es her, dass mich jemand Sternchen genannt hat. Eddie, wo bist du gewesen? Ich dachte, du wärst tot!“ Die Aufregung der Männer über die unverhoffte Begegnung war ihnen deutlich anzumerken. Sie fassten sich an beiden Händen und pressten ihre Oberkörper zwischen den Sitzen zu einer Umarmung zusammen.

„Eddie, ich friere!“ Tessas schrille Stimme tönte durch die ruhige Nacht.

„Vorschlag, Sternchen: Ich bringe sie schnell ins Bett, und wir feiern unser Wiedersehen. Du kennst sicher den richtigen Laden dafür.“ Morgenstern brauchte keine Sekunde zu überlegen.

„Claro, so machen wir das!“

Eddie eilte mit großen Schritten zu seiner Freundin, packte sie gekonnt unter die Arme und bugsierte sie durch die große Eingangstür. Das Haus hatte keinen Aufzug, und die Wohnung lag im zweiten Stock. Tessas Zustand ließ kein zügiges Vorankommen zu. Jede Treppenstufe musste mit gutem Zureden gemeinsam genommen werden. Spätestens jetzt wurde Eddie klar, dass es noch etwas dauern würde, bis er sie schlafen legen konnte. Unterdessen war Morgenstern in die Vergangenheit abgetaucht. Er erinnerte sich genau an den Tag der ersten Begegnung mit Eddie.

Es war nach den großen Ferien und zu Beginn des dreizehnten Schuljahres. In schon vier Monaten sollten die schriftlichen Prüfungen zum Abitur beginnen. Morgenstern war eher ein Einzelgänger ohne nennenswerten Freundeskreis, wenn man einmal von Patrick, einem gleichaltrigen Schüler aus der Nebenklasse absah, mit dem er gelegentlich etwas Zeit an dessen Computer verbrachte. Beim Lernen für die Schule war er allerdings auf sich alleine gestellt. Ihm fehlte angesichts seiner aktuellen Punktezahl in den relevanten Fächern Mathematik, Physik und Englisch die Überzeugung, das angestrebte Ziel zu erreichen. Lediglich in Deutsch konnte er eine gute Note vorweisen, was auch an seiner Lehrerin, Frau Heike Mar, lag, die er gerne einmal außerhalb der Schule getroffen hätte. Unglücklicherweise war sie, wenn man dem Schul-Buschfunk glauben konnte, mit einem Afrikaner verheiratet und somit für Morgenstern, selbst für ein zwangloses Date, chancenlos ausgeschieden.

Der Klassenlehrer stellte der Klasse den neuen Mitschüler, Eddie, vor und bot ihm an, sich seinen Platz selbst auszusuchen. Obwohl zwei Tische im hinteren Bereich unbesetzt waren, wählte Eddie den Tisch in der ersten Reihe direkt neben Morgenstern, der ihn kurz mit „Ich heiße Olaf“ begrüßte. Eddie war bereits ein ausgewachsener Mann mit breiten Schultern und diesem verschmitzten Lächeln, welches Robert Redford in seinen Filmen so unwiderstehlich macht. Ohne Zweifel ein Frauentyp, jemand, der nicht zweimal für eine Verabredung fragen musste. Schon in der ersten großen Pause sprach Eddie seinen Tischnachbarn an.

„Sag mal, können wir uns nicht gleich nach der Schule treffen? Ich würde gerne wissen, was so abgeht. Bist du hier der Streber, weil du ganz alleine vorne sitzt? Und noch viel wichtiger: Warum gibt es keine Mädels bei euch?“ Tatsächlich war die Klasse ab dem elften Schuljahr nur mit Jungs besetzt worden. Von den anfänglich neunzehn Schülern waren aktuell nur noch fünfzehn dabei. Olaf fühlte sich mit der Fülle der Fragen leicht überfordert und wich aus, zumal ihm das nahe Pausenende bewusst war.

„Hör zu, wir können uns treffen, kein Problem. Nur nicht gleich. Ich habe heute noch echt viel zu tun. Was hältst du vom Wochenende?“ Eddie war sichtlich genervt von Morgensterns vertröstender Antwort, was er ihn auch sofort spüren ließ.

„Geht mir genauso. Meine Streifenhörnchen müssen noch gefüttert werden und die Spendensammlung für die Johanniter steht auch noch an. Also dann am Wochenende oder vielleicht doch besser zum Anfang der Herbstferien!“

Das hatte gesessen. Morgenstern fühlte sich missverstanden, und bevor er etwas entgegnen konnte, ertönte das erwartete Pausensignal. Die nächsten vier Unterrichtsstunden und die zweite große Pause verliefen ohne jegliche Kommunikation zwischen den beiden jungen Männern. Erst nach Schulschluss beendete Morgenstern das gegenseitige Schweigen.

„Eddie, wenn du immer noch willst, dann sehen wir uns heute Nachmittag und quatschen über all die Dinge, die dich interessieren.“ Eddie zögerte nur kurz, bevor er dem Vorschlag zustimmte. Es wurde ein langer Nachmittag, der bis tief in den Abend hineinreichte. Die Themen schienen den beiden nicht auszugehen. Eddies Fragen drehten sich im Wesentlichen um die Schule und darum, welche Lehrer wie tickten. Morgenstern gab sich die größte Mühe, nichts auszulassen. Ihm war es wichtig, dass Eddie die nächsten Wochen gut vorbereitet zur Schule gehen konnte. Natürlich ging es auch um Mädchen. Bei diesem Thema musste Morgenstern passen. Außer zwei, drei Küssen während des diesjährigen Schulfestes mit der Schwester eines Klassenkameraden, konnte er nichts berichten.

Bei Eddie sah die Sache anders aus. Er erzählte, dass er in den Sommerferien, wie auch in den vergangenen drei Jahren, im Süden von England gewesen war. Tagsüber wurde in der Schule gelernt und am Abend der Strand von Bournemouth zur Partyzone erklärt. Eddie war mit sechzehn Jahren das erste Mal von seinen Eltern zum Sprachunterricht nach England verschickt worden. Als einer der jüngeren Reiseteilnehmer war es ihm noch nicht erlaubt gewesen, bei den abendlichen Feiern der älteren Kursteilnehmer mitzumachen. Wenige Tage vor Beendigung seines Aufenthalts schlich er sich nach dem Abendessen aus dem Haus seiner englischen Gastfamilie, um aus sicherer Entfernung das Treiben am Strand zu beobachten. Er sah den Gruppenleiter, Ende zwanzig, Gitarre spielen. Um ihn herum saßen Jungen und Mädchen aus seinem Kurs. Sie sangen und klatschen nach irgendwelchen Folksongs wie Blowin' in the Wind. Dabei machte eine Flasche nach der anderen die Runde. Eddie war klar, dass es sich hier nicht um Traubensaft handeln würde. Nach knapp zwei Stunden verstummten die Lieder. Pärchen hatten sich weitläufig am Strand verteilt und unter Decken zurückgezogen. Er konnte rhythmische Bewegungen und deutlich vernehmbare Geräusche ausmachen. Neben einem Deckenlager lag die Gitarre des Gruppenleiters. Es war kühl geworden. Eddie machte sich auf den Heimweg. Er hatte genug gesehen und einen Entschluss gefasst. Im nächsten Jahr würde er der Typ mit der Gitarre sein und nicht mehr außen vor, sondern mittendrin, mit einem hübschen Mädchen an seiner Seite. Als Eddie wieder zu Hause war, lernte er tatsächlich Gitarre spielen. Der Musiklehrer aus seiner Grundschule gab ihm für zehn Mark die Stunde Privatunterricht. Sein Motiv ließ ihn schnell lernen. Nach fünf Wochen intensiven Übens konnte er sein erstes Lied – Lady in Black – mit zwei Akkorden spielen. Lediglich beim Lernen des Textes tat er sich schwer. Die nächsten Sommerferien verbrachte er, wie im Jahr zuvor, in Südengland. Es war die gleiche Organisation und die Abläufe hatten sich nicht geändert, außer für Eddie. Er nahm zwar immer noch am Sprachunterricht teil, doch war der inzwischen zur Pflichtaufgabe und lästiger Nebensache geworden. Sein Hauptaugenmerk lag bei den Gruppentreffen mit Lagerfeuer und seiner Musik. Er spielte fast jeden Abend am Strand. Zu seinem Repertoire gehörten Cat Stevens, CCR und natürlich Bob Dylan. Die mitgereisten jungen Leute hörten ihm begeistert zu. Das erhoffte Liebesglück ließ auch nicht lange auf sich warten. Mit jeder neuen Eroberung wuchs Eddies Erfahrung im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Nach kurzer Zeit genügte ihm die allabendliche Knutscherei nicht mehr. Er sprach tagsüber Mitschülerinnen an und verabredete sich zum Lernen, um letztendlich mit ihnen zu schlafen oder zumindest Petting zu haben. Nicht immer waren seine Versuche von Erfolg gekrönt, doch wenn eines der Mädchen mitmachte, konnte er die Strandparty umso entspannter besuchen. Als der Englandaufenthalt nach vier Wochen endete, war Eddie entschlossen, sein begonnenes Sexualleben auch in der Heimat fortzuführen. Er verspürte eine unbändige Lust, sich weiter auszuprobieren. Mutig und direkt sein, war seine Devise, sowie Starten statt warten. Bei seinen Verabredungen zum Kino kam es vor, dass er und das Mädchen es nicht zum Film schafften, sondern in einem offenen Hausflur oder einer Parkgarage landeten. Wiederholungstreffen waren selten. Gelegentlich passierte es, dass Eddies Bekanntschaft eine feste Beziehung anstrebte und sich nicht nur mit der schnellen Nummer abfinden wollte. In diesem Fall musste er in die Trickkiste greifen und sich Geschichten ausdenken. Er erzählte zum Beispiel, dass seine Eltern mit ihm in eine andere Stadt umziehen würden oder die Gefahr bestünde, in der Schule sitzen zu bleiben und er deshalb seine Zeit fürs Lernen bräuchte. Eddie war um keine Ausrede verlegen. Ihm fiel immer etwas ein, und er rechtfertigte seine Notlügen damit, dass er niemandem wehtun wollte und letztendlich jeder seinen Spaß bekam.

Eddie war gerade dabei, weitere pikante Details seiner Bekanntschaften preiszugeben, da bemerkte er eine seltsame Stille bei seinem Gegenüber und unterbrach die Ausführungen. „Was ist mit dir? Wie sind deine Erfahrungen mit den Mädels? Oder gehörst du zu denen, die genießen und dann darüber schweigen?“

„Nein, auf keinen Fall. Ich würde schon gerne etwas erzählen. Aber da gibt es nicht viel, außer du interessierst dich für meine diversen Pornohefte. Doch ich glaube, das ist nicht dein Niveau. Du magst es wohl lieber live zum Anfassen“, antwortete Morgenstern wehmütig.

„Wo warst du in den Ferien?“, begann Eddie mit einem anderen Thema und entspannte damit die Situation.

„Spanien, wir fahren immer nach Spanien. Meine Eltern mögen die Costa del Sol und wollen sich dort ein Haus kaufen. Deshalb bereisen wir die Küste und suchen ein geeignetes Objekt. Ich denke nur, hoffentlich ist bald Schluss damit, terminado“, gab Morgenstern zur Antwort.

„Gefällt es dir dort nicht?“, wollte Eddie noch wissen.

„Doch, schon. Es ist nur elendig heiß, sehr heiß, zumindest in den Sommerferien.“

„Was ist mit deinen Träumen? Gibt es Momente, in denen du abtauchst, um jemand ganz anderes zu sein und Dinge zu tun, die dir unmöglich erscheinen?“ Eddie gab sich große Mühe, mehr von seinem neuen Freund zu erfahren, und mit jeder weiteren Frage steigerte sich bei Morgenstern die Zuversicht, dass es doch noch einen Menschen gab, der sich ernsthaft für ihn interessierte. Als Folge davon öffnete er sich und ließ Eddie in sein inneres Ich blicken.

„Immer wenn ich im Kino bin und mir einen fetten Blockbuster mit bekannten Schauspielern ansehe, stelle ich mir vor, dort mitzuwirken. Seltsamerweise sind es nicht die guten Figuren, die Helden, die am Ende gewinnen, deren Rolle ich übernehmen würde, sondern oftmals die Gangstertypen, die häufig sehr raffiniert vorgehen und deren Frauen hübscher, verruchter und unanständiger sind, als die braven Damen der Gesetzeshüter. Selbst wenn ich für meine Taten ins Gefängnis gehen müsste oder angeschossen würde, so hätte ich dennoch meinen Spaß dabei. Aber spätestens nach der Vorstellung lande ich wieder auf dem Boden des alltäglichen Lebens, den ich gelernt habe, zu akzeptieren. Ich bin eben kein Ernst Stavro Blofeld oder Al Capone.“

Die Jungs hätten sicher noch den Rest der Nacht miteinander verbracht, doch morgen standen mit Mathe und Physik nicht gerade die Glanzfächer der beiden auf dem Stundenplan. Als Morgenstern am nächsten Tag die Stufen des Bertha-von-Suttner Gymnasiums hinaufging, sah er Eddie aus einem roten Cabriolet steigen. Zur Verabschiedung beugte dieser sich zu seiner dunkelhaarigen Fahrerin herunter und küsste sie. Das kann unmöglich seine Mutter sein. So küsst man nicht seine Mutter, war sich Morgenstern sicher. Er fing Eddie noch vor dem Klassenraum ab, um ihn nach der Unbekannten im Auto zu befragen. Dieser schmunzelte nur und hauchte: „Später, mein Freund.“ Morgenstern musste bis zur ersten Pause warten, bis Eddie das Geheimnis lüftete.

„Das war Jutta, eine Steuerbevollmächtigte, bei der ich zurzeit wohne. Nichts auf Dauer, aber im Augenblick alternativlos. Es sei denn, du hast für mich ein ansprechendes Appartement mit Blick auf den Tegeler See. Mit ohne Miete versteht sich“, frotzelte Eddie. Morgenstern fragte nach.

„Wenn sie schon voll im Beruf ist, muss sie doch wesentlich älter sein als du, ich meine, als wir. Wo lernt man so Eine kennen?“

„Du bist ziemlich neugierig, mein Freund. Aber weil du es bist.“ Eddie machte eine kleine Kunstpause. „Wir sind beide bei Rot-Weiss im Tennisverein. Sie hat mich mal gesehen, wie ich ein paar Leuten Trainerstunden gegeben habe. Da hat sie mich angesprochen.“

„Soll das heißen, du bringst ihr Tennisspielen bei und darfst dafür bei ihr wohnen? Das kann nicht alles sein, oder?“

„Nein, gelegentlich fährt sie mich auch zur Schule, wenn unsere Morgenandacht wieder etwas länger gedauert hat“, antwortete Eddie und konnte sich dabei ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Ein kurzes lautes Hupen eines vorbeifahrenden Autos erinnerte Morgenstern daran, dass er mit seinem Taxi immer noch in der zweiten Reihe stand und holte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Das war vor achtzehn Jahren, und heute haben wir bereits 2014. Wo ist nur die Zeit geblieben, und wo bleibt eigentlich Eddie?, fragte sich Morgenstern, der inzwischen fröstelnd in seinem Taxi auf die Rückkehr des Jugendfreundes wartete. Nach gut fünfundzwanzig Minuten erschien er dann endlich und setzte sich gehetzt auf den Beifahrersitz.

„Sorry, mein Lieber. Doch Tessa hat sich derart zugeschüttet, dass ich sie dauernd zum Klo begleiten musste. Jetzt liegt sie schnarchend im Bett. Keine Ahnung, wie sie später zur Arbeit kommen will.“

„Was ist mit dir? Musst du nicht schaffen?“, fragte Morgenstern.

„Ich habe heute Nachtdienst.“

„Bist du beim Wachschutz?“

„Nein, bei der Polizei. Das erzähle ich dir aber nachher. Hast du schon überlegt, welcher Laden noch aufhat?“

„Keine Ahnung. Wir können zu mir gehen. Ist nicht weit von hier. Dann kann ich auch etwas trinken. Das ist bestimmt in deinem Sinne, als Bulle sozusagen“, schlug Morgenstern vor und legte ein breites Grinsen für seinen Freund auf. Eddie lächelte zurück und nickte.

Eine halbe Stunde später saßen sich die beiden Männer am Küchentisch gegenüber. Sie tranken Dosenbier und knabberten Nüsse. Morgenstern bot noch das Aufwärmen von Wiener Würstchen an, was Eddie allerdings ablehnte.

„Ich achte schon auf meine Ernährung und da gehört fettes Schweinefleisch nach Mitternacht nicht dazu. Eine Sünde reicht mir.“

„Meinst du den Alkohol?“, fragte Morgenstern.

„Richtig! Das rächt sich immer gleich am nächsten Tag. Ich muss dann doppelt so viele Einheiten machen wie sonst“, sagte Eddie.

„Was für Einheiten?“

„Zirkeltraining, laufen und Gewichte stemmen. Wie sieht es da bei dir aus? Du sitzt doch Stunden in deinem Taxi. Welchen Sport treibst du eigentlich zum Ausgleich?“

Kurzfristig drohte die Stimmung zu kippen. Morgenstern fühlte sich ertappt. Er schaute verlegen an seinem Oberkörper hinunter und betrachtete die mittelgroße Wölbung, die sich unter seinem Sweatshirt abzeichnete. Sport hatte noch nie auf seinem Tagesplan gestanden. Mit dem Weg zum Briefkasten im Erdgeschoss war sein Anspruch auf zusätzliche Bewegung erfüllt. Ansonsten wurden auch die kürzesten Wege mit dem Taxi erledigt. Eddie erkannte, dass er eine empfindliche Stelle seines Freundes getroffen hatte und war sofort um Schadensbegrenzung bemüht.

„Hey Sternchen, nichts für ungut. Ich war auch kein Schwertkämpfer, bevor ich bei der Polizei anfing. Doch nun bin ich in dem Verein und muss lernen, damit umzugehen.“ Die Erklärung hatte Morgenstern gefallen und richtete ihn wieder auf, sodass er gleich nachfragte.

„Wie lange bist du denn schon dabei?“

„Es gab vom Berliner Senat eine besondere Ausbildungsinitiative für lebensältere Dienstanwärter. In dieser Zeit bin ich gerade wieder nach Berlin gezogen und wollte sehen, ob ich mich auch für etwas Ordentliches eigne. Das ist jetzt zwei Jahre her, und in vier Monaten bin ich damit fertig.“

„Wie geht's weiter? Wirst du dann Kommissar?“

Eddie musste kurz lachen. „Nein, kein silberner Stern, nur Polizeimeister. Wahrscheinlich komme ich zum Abschnitt. Das ist der normale Weg und okay für mich.“

Morgenstern nickte und wechselte das Thema. „Spielst du eigentlich noch Gitarre?“

„Ich kann dir nicht einmal sagen, wo ich sie gelassen habe. Es war ohnehin nur eine einfache Wanderklampfe und mehr als fünf bis sechs Lieder konnte ich eh nicht“, gestand Eddie.

„Schade, ich hätte so gerne mein Lieblingslied gehört. Morning Has Broken von Cat Stevens. Das kennst du sicher.“

„Na klar kenne ich das“, bestätigte Eddie. Beide Männer gönnten sich eine kleine Redepause, nippten an ihrem Bier und steckten sich Nüsse in den Mund. Ohne jeden Übergang, als wenn Eddie von seinem Job ablenken wollte, lobte er den ordentlichen Zustand des Kücheninventars, und bemerkte dabei anerkennend, dass kein schmutziges Geschirr herumstand und darüber hinaus die Farbe der Servietten mit dem Stoffbezug der Stühle korrespondierte.

„Beim Reinkommen in die Wohnung habe ich drei oder sogar vier Zimmer gezählt. Wie kommt man zu einem solchen Quartier und das mitten in der City? Vor allem, wie hält man das alles nur so sauber? Hast du eine Freundin dafür?“ Die Frage nach der Freundin hörte Morgenstern nicht das erste Mal, und sie nervte ihn.

„Ich lebe hier schon mein halbes Leben. Als meine Eltern vor Jahren nach Spanien gezogen sind, habe ich die Wohnung von ihnen einfach übernommen. Und nein, ich habe keine Freundin. Doch wenn ich eine hätte, müsste sie hier nicht putzen. Das kann ich auch selbst, wie du siehst. Ich würde sie nur die Dinge machen lassen, die zu ihrer und meiner Freude sind.“ Schöner Spruch, doch so leicht kommst du mir nicht davon, dachte Eddie.

„Jemand wie du, der direkt an der Quelle sitzt, müsste doch in jedem Bezirk mindestens ein Mädel haben, das ihm Frühstück macht. Andere bemühen sich um ein Date und dir wird es fast täglich auf dem Silbertablett serviert.“ Morgenstern stand das fehlende Verständnis für Eddies Vortrag im Gesicht geschrieben. Doch bevor er ihn dazu fragen konnte, klärte dieser seine Worte auf.

„Du hast sie doch alle am Wochenende auf deinem Rücksitz. Die Teenies, wenn sie aufgebrezelt mit ihren viel zu kurzen Röckchen in die Disco strömen oder die reiferen Damen, die es ins Café Keese treibt, um junge Gigolos aufzureißen.“

Morgenstern fuhr dazwischen. „Ja, und was tue ich dabei? Soll ich sie fragen, ob ich mitkommen darf?“ Die Frage war nicht zur Beantwortung gedacht, sondern nur die Einleitung für die Sicht der Dinge, wie er sie bisher erlebt hatte. „Du hast recht damit, dass die Frauen mit teilweise großen Erwartungen zu den Veranstaltungen fahren. Gerade wenn sie zu zweit oder gar zu dritt bei mir einsteigen, geizen sie nicht mit Intimitäten, die der normale Mann nie zu hören bekommt. Nicht selten werden die Erlebnisse der letzten Woche untereinander ausgetauscht. Du kannst dir nicht vorstellen, nach welchen Kriterien wir Männer bewertet werden. Gespräche über Verhütungsmethoden, blaue Pillen und Sex zu dritt gehören inzwischen zum Standard. Ich sitze nur einen Meter von denen entfernt. Doch nicht eine kommt auf den Gedanken, dass ich nicht nur der Fahrer, sondern auch ein Mann bin. Nein, ich gehöre zum Taxi wie Motorblock und Schaltung. Meine Aufgabe besteht lediglich darin, die Damen von A nach B zu kutschieren. Und übrigens: Das Café Keese gibt es schon lange nicht mehr.“ Während Morgenstern seinen ganzen Frust herausließ, grinste Eddie schelmisch und parierte umgehend.

„Und was passiert am Ende des Abends, wenn sich die Träume der Ladies in Luft aufgelöst haben und der Prinz nicht gefunden wurde?“

Morgenstern antwortete sofort. „Sie sind traurig, fahren nach Hause und versuchen es nächste Woche wieder.“

„Du fährst sie nach Hause und bist der letzte Rettungsring, bevor sie in ihren Betten in die Kissen heulen. Da genügt schon ein verständnisvolles Wort, ein einfühlsamer Satz und die Einladung auf den berühmten Kaffee ist dir sicher“, sprach Eddie, lehnte sich gelassen zurück und nahm einen Schluck aus der Bierdose. Morgensterns Reaktion ließ nicht lange auf sich warten.

„So, wie du das beschrieben hast, stand vor vierzehn Tagen erst in der Zeitung, ist es einem Kollegen von mir ergangen. Allerdings mit dem Unterschied, dass der Ehemann unverhofft früher von der Reise kam. Außer, dass mein Kollege von ihm einen auf die Nase bekommen hat, behauptete die Frau noch, dass sie zum Beischlaf gezwungen worden sei. Jetzt darf der gute Taxifahrer bis zum Ende der Ermittlungen kein Taxi mehr fahren und hat natürlich auch den Ärger bei sich zu Hause. Darauf kann ich wirklich verzichten.“

„Dumm gelaufen. So ist das manchmal im Großstadtdschungel. Auch die besten Dompteure dürfen nicht vergessen, dass sie es mit Wildkatzen zu tun haben. Wenn du also das Risiko scheust, gibt es noch die Möglichkeit, über Partnerportale Frauen kennenzulernen. Auf diesem Weg ist mir Tessa begegnet“, outete sich Eddie.

„Meinst du damit Parship?“

„Ja, zum Beispiel, aber es gibt noch einige andere. Was hältst du davon?“

„Irgendwie habe ich zu der gesamten EDV keinen Zugang. Ich bin schon froh, wenn ich auf E-Mails antworten kann.“ Auch für diesen Fall hatte Eddie eine Lösung parat, wie er scheinbar für alles eine passende Antwort aus dem Ärmel schütteln konnte.

„Du kannst eine Kontaktanzeige in der Zeitung aufgeben. Alt, aber bewährt. Schon die Generation vor uns hat sich, wenn nichts anderes lief, darüber kennengelernt.“ Gegen diesen Vorschlag hatte Morgenstern nichts einzuwenden. Er wollte die Sache allerdings auch nicht weiter vertiefen und nickte nur zustimmend, um einen Deckel darauf zu haben. Eddie bemerkte die Abneigung seines Freundes, über Beziehungskram zu reden, und änderte das Thema.

„Bist du eigentlich Fußballfan?“

„Nicht wirklich“, war Morgensterns schlichte Antwort.

„In ein paar Wochen beginnt die Weltmeisterschaft in Brasilien.“

„Oh ja, da sind die Straßen wieder menschenleer und niemand fährt Taxi“, wusste Morgenstern sofort zu berichten. Eddie ergab sich dieser knallharten Analyse und rekelte sich im Küchenstuhl.

Schleichend ereilte beide die Müdigkeit. Die Nachtabsenkung der Heizung ließ sie ins Wohnzimmer wechseln, wo Eddie es sich auf der Couch bequem machte. Morgenstern reichte ihm eine Decke, die er sich kommentarlos überlegte und dabei sofort einschlief. Die lange Nacht und der Alkohol konnten bei ihm nicht mehr geleugnet werden. Morgenstern akzeptierte das abrupte Ende und ging mit dem guten Gefühl, seinen Freund wiedergetroffen zu haben, auch ins Bett. Als er kurz vor elf Uhr aufwachte und ins Wohnzimmer kam, war Eddie schon nicht mehr da. Die Decke war zusammengelegt und auf dem Tisch lag ein Zettel.

Guten Morgen Sternchen,

dieses Mal wird es keine Jahre dauern, bis wir uns wiedersehen. Ich glaube, ich kann dir bei der ein oder anderen Sache behilflich sein. Es war kurz vor acht, als ich mich von dir verabschieden wollte, doch du hast laut geschlafen. Da habe ich es lieber sein gelassen. Ich muss mich jetzt um Tessa kümmern und lege mich danach noch ein wenig hin, um für meine Schicht gut gerüstet zu sein. Du weißt ja, die bösen Jungs schlafen nie.

Wir können uns gerne morgen gegen 18 Uhr im Momo treffen. Das ist eine Kneipe in der Motzstraße. Wenn du sie nicht kennst oder verhindert bist, melde dich.

Freue mich auf dich, alter Freund.

Gruß, Eddie

P.S.: Die nächsten zwei Tage habe ich frei. Also mach dich auf ein sehr, sehr langes Gespräch gefasst.

Morgenstern hielt das Papier noch für einige Momente in der Hand, bevor er es in seine Jackentasche steckte. Er sollte pure Vorfreude auf die bevorstehende Zusammenkunft verspüren, doch das tat er nicht. Etwas störte! Es war der Treffpunkt, das Momo, welches er und natürlich auch jeder andere Taxifahrer in Berlin kannte. Eine alteingesessene Lokalität mit Kultstatus, die für Einheimische und Touristen oft die letzte Station nach einer durchlebten Nacht bedeutete. Hier gab es warmes Essen bis fünf Uhr morgens. Gegen sechs machte es zu und überließ das Frühstücksgeschäft anderen. Morgenstern hatte sich nach den Ereignissen von 2001 vorgenommen, das Momo, mit dem er so viele schmerzliche Erinnerungen verband, nie wieder zu betreten. Doch es war ihm unmöglich, sich dem Rückblick in die Vergangenheit zu entziehen.

Marlene

Morgenstern war dreiundzwanzig und im letzten Ausbildungsjahr zum Verwaltungsfachangestellten beim Bezirksamt Wedding, als er die Ortskundeprüfung für den Taxischein bestand. Sein Arbeitgeber, der Senat von Berlin, hatte ihm die notwendige Ausnahmegenehmigung zur Ausübung dieser Nebentätigkeit erteilt. Er fuhr nur am Wochenende und konnte sich den Wagen immer freitags ab siebzehn Uhr im Taxidepot abholen.

Morgenstern war noch keine drei Stunden mit dem Taxi unterwegs, als ihn ein Fahrgast, der am Momo abgesetzt werden wollte, zu einem Pausenkaffee einlud. Die Theater und Kinos hatten gerade mit ihren Vorstellungen begonnen und auch die Abholfahrten der Wochenendbesuche bei Freunden und Verwandten würden erst nach zweiundzwanzig Uhr einsetzen. Obwohl Morgenstern noch nicht lange dabei war, hatte er die Erfahrung gemacht, dass für die nächsten zwei Stunden eine „tote Zeit“ anbrechen würde. Die charmante Art seines Gastes und ein freier Parkplatz direkt vor dem Momo ließen ihm keine Chance, der Einladung zu widersprechen.

Der Mann, gut gekleidet mit einem hellen Anzug und blauem Hemd, jedoch ohne Krawatte, ging Morgenstern voraus und grüßte mit einem Handzeichen den Wachmann, der ihm sofort die schwere mit Metall verkleidete Tür öffnete. Der Laden war dunkel, fast schwarz, und ohne erkennbare Fenster. Es brauchte eine kurze Zeit bis man Tische sah, die mit kleinen roten Schirmlampen besetzt waren. Lediglich der Tresen des großzügigen Barbereichs, hinter dem sich männliches und weibliches Personal bewegte, war gut ausgeleuchtet.

„Die haben wohl ihre Stromrechnung nicht bezahlt. Man muss ja aufpassen, wohin man tritt“, monierte Morgenstern. Der Mann ignorierte seine Bemerkung und führte ihn stattdessen durch das Lokal an einen der runden Tische.

„Ich glaube, ich habe mich noch nicht vorgestellt: Mein Name ist Mitri. Ich bin hier der Geschäftsführer.“ Mitri machte eine Pause, um seinem Gast die Gelegenheit zu geben, etwas zu sagen. Doch Morgenstern wusste um seinen Fauxpas und blieb stumm.

„Ich habe noch die Chez-elle-Bar in der Fasanenstraße. Sicher kennst du sie auch“, schob Mitri nach. Morgenstern erkannte, dass er nun etwas sagen musste.

„Ganz ehrlich, ich kenne sie nicht und auch das Momo war mir vorher nicht bekannt, was aber nur daran liegt, dass ich Aushilfsfahrer bin und das erst seit ein paar Wochen.“ Für einen Moment war Mitri unentschlossen, wie er mit seinem Gegenüber umgehen sollte. Einerseits erschien ihm Morgenstern einfältig und unbedarft, andererseits sah er auch gerade darin die Gelegenheit, ihn für seine Zwecke zu nutzen.

„Wie heißt du eigentlich?“, wollte Mitri wissen.

„Mein Name ist Olaf Morgenstern.“

„Hör zu, Olaf – ich darf doch Olaf sagen, oder?“ Dieses Mal ließ Mitri keine Pause zum Antworten, sondern sprach ohne Unterbrechung weiter. „Siehst du die beiden Männer dort, in deren Mitte die reizende Dame sitzt?“, fragte er und zeigte mit dem Arm in Richtung eines Tisches, der sich im hinteren Bereich befand. „Kannst du ihre entspannten Gesichter sehen?“ Morgenstern sah angestrengt hinüber, konnte jedoch nichts Auffälliges erkennen und zuckte mit den Achseln.

„Das sind zwei Kollegen von dir. Die haben sich gerade ihre Nachspeise von meiner Mitarbeiterin servieren lassen“, feixte Mitri mit einem Grienen im Gesicht.

„Und dabei setzen sich die Kellnerinnen immer zu den Gästen?“, fragte Morgenstern nichtsahnend. Mitri musste sich beherrschen, um nicht gleich loszulachen.

„Du amüsierst mich. Und ich dachte, ich kenne euch Typen alle. Aber so einen wie dich habe ich noch nie getroffen. Bleib hier sitzen. Ich schicke dir Marlene. Sie wird sich um alles Weitere kümmern“, waren seine letzten Worte, bevor er im dunklen Raum hinter einer Tür verschwand. Morgenstern war die Situation undurchsichtig geworden, und er überlegte zu gehen. Er war gerade am Aufstehen, da erblickte er eine Engelsgestalt, die direkt auf ihn zukam. Sie trug ein langes, bordeauxfarbenes Kleid, welches sich wie eine zweite Haut an ihren schlanken Körper schmiegte. „Sie wollen uns doch nicht schon verlassen?“, hauchte sie Morgenstern dicht gegenüberstehend leise ins Ohr. Es traf Morgenstern wie ein Blitz ohne Donnerschlag. Seine Knie wurden weich und ließen ihn zurück in den Sessel gleiten. „Nein“, kam es stockend aus ihm heraus. „Ich wollte nur kurz zur Toilette. Aber das kann noch warten. Sind Sie Marlene?“

„Ja, und Sie sind Olaf. Der neue Freund meines Chefs,“ antwortete sie und setzte sich neben ihn.

„Nachdem ich die Lichtverhältnisse in seinem Laden kritisiert und das Verhalten seiner Kellnerinnen hinterfragt habe, würde mich das sehr wundern“, warf Morgenstern ein. Marlene ließ einige Sekunden vergehen.

„Wissen Sie, Olaf“, sagte sie mit samtiger Stimme und schlug dabei ihre Beine so übereinander, dass diese durch den langen Schlitz im Kleid fast vollständig freigelegt wurden. „Die meisten Gäste, die zu uns kommen, benötigen nicht viel Licht und Aufmerksamkeit. Es sind Gastronomen, Hoteliers und andere Geschäftsleute, die einen langen und anstrengenden Arbeitstag hinter sich haben. Sie genießen die Stille und das gute Essen. Unsere Steaks sind stadtbekannt. Darf ich Ihnen etwas bringen lassen? Was möchten Sie dazu trinken? Vielleicht ein Bier? Mitri lädt Sie ein.“ Immer noch fasziniert von dieser jungen Frau, würde Morgenstern sogar den Boden putzen, nur um weiter ihre Anwesenheit genießen zu können.

„Gerne, ich nehme Ihre Einladung an. Bitte nur keinen Alkohol, ich bin noch im Dienst. Doch ein kleines Hüftsteak mit Folienkartoffel und Kräuterbutter wäre schon gut, wenn das nicht zu viel verlangt ist.“

„Solange Sie nicht eine Etagere mit japanischen Köstlichkeiten oder seltenen Schalentieren bestellen, kriegen wir das hin“, versicherte Marlene und schickte dabei ihrem Gast ein Lächeln herüber, welches jeden Eisberg in Sekundenschnelle zum Schmelzen gebracht und die Titanic vor dem Sinken bewahrt hätte. Als sie aufstand, um die Bestellung in Auftrag zu geben, drehte sie sich noch einmal zu Morgenstern um. „Ich bin auch im Dienst und gerade deshalb werde ich mir ein Glas Sekt mitbringen. Und noch etwas: Wir beide sind wohl in einem ähnlichen Alter. Du scheinst ein netter Junge zu sein. Lass uns Du zueinander sagen.“ Sie ging in Richtung Tresen und ließ ihren Gast mit einem Schmunzeln zurück. Morgenstern kannte dieses Wort mit E nicht und von japanischem Essen wusste er nur, dass es roh war und man davon sterben konnte. Ansonsten aß er nichts, was aus dem Wasser kam. Das alles interessierte ihn jetzt ohnehin nicht. Sein Augenmerk lag nur bei Marlene, die ihm das Du und damit den ersten Schritt in eine persönliche Beziehung angeboten hatte. So deutete er zumindest ihre Äußerung. Nun drängte sich bei ihm die Frage auf, wieso eine solche Schönheit nachts in diesem düsteren Laden arbeitete. Doch sie gleich danach zu fragen, hielt er für keine gute Idee. Wenn es etwas Dauerhaftes mit Marlene werden soll, dann braucht es Geduld und vor allem Toleranz. Nur nicht mit der Tür ins Haus fallen; das haben sicher schon andere vor mir versucht. Diesen Fehler werde ich nicht begehen. Wir werden uns viel Zeit lassen, um uns richtig kennenzulernen, fantasierte Morgenstern in seinen Gedanken und bemerkte ihre Rückkehr erst, als sie wieder vor ihm stand.

„Einen schönen Gruß aus der Küche von Mr. Spock, unserem Koch. Der muss wohl schon als Baby hier abgegeben worden sein, denn er hat bisher alle Inhaber und Geschäftsführer überlebt und außerdem ist er so etwas wie mein Berliner Vater. Allerdings sieht er nicht aus wie ein Berliner.“ Morgenstern blickte entgeistert.

„Wie sieht denn ein typischer Berliner aus? Heißt er wirklich Mr. Spock, wie der von der Enterprise?“

„Das wirst du verstehen, wenn du ihn einmal zu Gesicht bekommst. Und nein, er heißt nicht wirklich so, aber seine Ohren … Das Essen braucht circa fünfzehn Minuten, solange kann ich noch bei dir bleiben. Worüber möchtest du reden?“

Morgenstern gefiel die direkte Art von Marlene, auch wenn sie ihn kurz vor das Problem gestellt hatte, ein geeignetes Gesprächsthema zu finden.

„Dein Chef hat mir die beiden Taxifahrer gezeigt. Kommen viele meiner Kollegen hierher?“