Die Kosaken - Lew Tolstoi - E-Book

Die Kosaken E-Book

Lew Tolstoi

0,0

Beschreibung

Moskau während der 1840er Jahre: Der wohlhabende Waise Dmitrij Andrejewitsch Olenin verbringt einen letzten Abend mit seinen Freunden beim Souper im Restaurant Chevalier. Der Morgen graut bereits, als er endlich mit seinem Diener Wanjuscha die Stadt auf einem Pferdeschlitten in Richtung Kaukasus verlässt. Olenins Truppe wird in ein Kosakendorf an der Grenze zur Tschetschnja, dem Gebiet der Tschetschenen, versetzt. Er quartiert sich mit seinem Diener Wanjuscha bei dem Fähnrich Ilja Wassiljewitsch ein, in dessen Tochter Marjanka er sich verliebt. Au0erdem freundet er sich mit Onkel Jeroschka an, einem vormals berüchtigten und gefürchteten Helden der Kosaken. Von ihm will Olenin lernen ein wahrer Kosak zu werden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 325

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



LUNATA

Die Kosaken

Erzählung aus dem Kaukasus

Lew Tolstoi

Die Kosaken

Erzählung aus dem Kaukasus

© 1863 Lew Tolstoi

Originaltitel Kazaki

Aus dem Russischen von August Scholz

Umschlagbild: Cornelius Krieghoff

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

1

Alles ist still geworden in Moskau. Zuweilen nur hört man da oder dort das Knarren der Räder auf der hartgefrorenen Straße. In den Fenstern ist kein Licht mehr, und die Laternen sind erloschen. Von den Kirchen erschallt Glockengeläut, das in klangvollen Schwingungen über die schlafende Stadt hinflutet und an den Morgen gemahnt. Die Straßen liegen einsam da. Hier und da gleitet eine Schlittendroschke, deren schmale Kufen den Sand der Straße mit dem Schnee vermengen, zur nächsten Straßenecke, wo der Kutscher alsbald, in Erwartung eines Fahrgastes, sanft entschlummert. Ein altes Weib ist zur Kirche unterwegs, wo bereits einige wenige Wachskerzen, unsymmetrisch verteilt, mit rötlicher Flamme brennen und sich in den Goldbeschlägen der Heiligenbilder spiegeln. Das arbeitende Volk erhebt sich bereits nach der langen Winternacht, um an sein Tagewerk zu gehen.

Bei den vornehmen Leuten aber ist's immer noch Abend.

In einem der Fenster bei Chevalier schimmert, der Polizeivorschrift entgegen, unter den geschlossenen Läden hervor Licht. An der Einfahrt halten, außer einer Kutsche, ein paar Schlitten und Droschken, die mit den Hintergestellen dicht zusammengedrängt sind. Auch ein dreispänniger Postschlitten steht dort. Der Hauswart sitzt ganz vermummt und zusammengekrümmt da, als wolle er sich hinter der Hausecke verstecken.

»Was die wohl noch immer zu schwatzen haben!« denkt der Kellner, der mit müdem Gesichte im Vorzimmer sitzt. »Und ich muß nun gerade Nachtdienst haben!« Aus dem anstoßenden, hell erleuchteten Zimmer lassen sich die Stimmen dreier jungen Leute vernehmen, die dort soupieren. Sie sitzen um einen Tisch herum, auf dem sich noch die Reste des Essens und des Weins befinden. Der eine von ihnen, ein kleines, adrettes Kerlchen, mager und häßlich von Gesicht, sitzt da und sieht mit den guten, müden Augen auf den Freund, der im Begriff ist abzureisen. Der zweite, ein Mensch von hoher Statur, liegt neben dem mit leeren Flaschen besetzten Tische lang auf dem Diwan hingestreckt und spielt mit seinem Uhrschlüssel. Der dritte, in einem nagelneuen kurzen Pelz, geht im Zimmer auf und ab, bleibt bisweilen stehen, knackt zwischen den ziemlich dicken und kräftigen Fingern, deren Nägel sauber geputzt sind, eine Mandel auf und lächelt in einem fort; seine Augen und sein Gesicht glühen. Er spricht mit Leidenschaft und gestikuliert dabei, doch sieht man, daß ihm die Worte fehlen – alle Worte, die er findet, scheinen ihm ungenügend, um alles das auszudrücken, was auf sein Herz einstürmt. Immer wieder lächelt und lächelt er.

»Jetzt kann ich ja alles sagen!« sagt der Abreisende. »Nicht, daß ich mich rechtfertigen will, aber ich möchte doch, daß du wenigstens mich so verstehst, wie ich mich verstehe, und über diese Sache nicht so denkst wie all die Banausen. Du sagst, ich sei ihr gegenüber schuldig«, wendet er sich zu dem Kleinen, der ihn mit seinen guten Augen ansieht.

»Ja, das bist du«, antwortet der kleine Häßliche, und sein Blick scheint bei diesen Worten noch mehr Güte und Abgespanntheit auszudrücken.

»Ich weiß, warum du so sprichst«, fährt der Abreisende fort. »Du meinst, geliebt zu werden sei ein ebenso großes Glück wie zu lieben, und es sei genug für das ganze Leben, wenn man dieses Glückes nur einmal teilhaft geworden.«

»Ja, übergenug ist's, mein Herz! Mehr als genug«, bekräftigt der kleine Häßliche, während seine Augen sich abwechselnd öffnen und schließen.

»Aber warum soll man nicht auch einmal selbst lieben?« sagt der Abreisende, in einen nachdenklichen Ton verfallend, und sieht den Freund mit einer Art Mitleid an. »Warum nicht selbst lieben? Aber sie stellt sich nicht ein, die Liebe. Nein, geliebt zu werden ist ein Unglück, ein Unglück, sobald man dabei fühlt, daß man nicht Gleiches mit Gleichem vergilt oder vergelten kann. Ach, mein Gott«, fuhr er mit einer abwehrenden Handbewegung fort, »wenn das wenigstens alles in vernünftiger Weise vor sich ginge – aber weit gefehlt: es vollzieht sich leider nicht nach unserem Willen, sondern sozusagen nach seinem eigenen. Es ist ja förmlich, als hätte ich dieses Gefühl gestohlen! Auch du hast diese Auffassung; sag's nur ganz offen, du mußt sie ja haben! Und glaubst du mir wohl, daß ich von allen Torheiten und Gemeinheiten, deren ich in meinem Leben nicht wenig begangen habe, gerade diese eine nicht bereue und nicht zu bereuen vermag? Ich habe weder mich selbst noch sie belogen, nicht im Anfang noch auch später. Ich glaubte sie schließlich zu lieben, dann aber sah ich ein, daß es eine Lüge – freilich eine unbeabsichtigte – war, wenn ich es behauptete, und ich konnte nicht weitergehen, während sie es tat. Trifft mich darum eine Schuld, weil ich's nicht konnte? Was hätte ich denn tun sollen?«

»Nun, jetzt ist's ja zu Ende!« sagte der Freund, während er sich seine Zigarre anzündete, um den Schlaf zu vertreiben. »Das aber sage ich dir: du hast noch nie geliebt, und weißt nicht, was lieben heißt.«

Der im Pelz wollte wieder etwas sagen und faßte sich an den Kopf. Aber er brachte das, was er sagen wollte, nicht heraus.

»Noch nie geliebt! Ja, es ist wahr, ich habe noch nie geliebt. Aber ich fühle in mir das Bedürfnis zu lieben, ein Bedürfnis, so stark, wie man es stärker nicht fühlen kann. Doch auf der andern Seite – gibt es überhaupt eine solche Liebe? In allem ist doch schließlich etwas Unvollkommenes. Nun, was hilft alles Reden! Ich habe einen schönen Wirrwarr angerichtet in meinem Leben. Aber jetzt ist's zu Ende, du hast recht, und ich fühle, daß ein neues Leben beginnt.«

»In dem du denselben Wirrwarr anrichten wirst«, sagte der auf dem Diwan Liegende, der immer noch mit seinem Uhrschlüssel spielte, doch hörte der Abreisende ihn nicht.

»Ich bin traurig und froh zugleich, daß ich abreise«, fuhr er fort. »Warum ich traurig bin? Ich weiß es nicht.«

Und er begann von sich selbst zu reden, ohne zu bemerken, daß das, was er sagte, für die andern lange nicht so interessant war wie für ihn. Der Mensch ist niemals ein größerer Egoist, als im Augenblick seelischen Entzückens. Er glaubt, es gebe in solch einem Augenblick nichts Schöneres und Interessanteres auf der Welt als seine kostbare Persönlichkeit.

»Dmitrij Andrejewitsch, der Postillon will nicht länger warten«, sagte ein mit Pelz und Gurtbinde angetaner junger Bauer, der ins Zimmer trat. »Seit Mitternacht warten die Pferde, und jetzt ist es vier Uhr.«

Dmitrij Iwanowitsch betrachtete seinen Wanjuscha. Die Gurtbinde, die Filzstiefel und das verschlafene Gesicht des Burschen gemahnten ihn an ein anderes Leben, das ihn rief – ein Leben der Arbeit, der Tätigkeit, der Entbehrungen.

»Nun heißt es also wirklich Abschied nehmen!« sagte er, während er tastend über die Knöpfe des Pelzes fuhr, um zu prüfen, ob auch alle geschlossen waren.

Er hörte nicht auf den Rat der Freunde, den Postillon durch ein Trinkgeld zu längerem Warten zu bestimmen, sondern setzte seine Mütze auf und blieb mitten im Zimmer stehen. Sie küßten sich einmal, zweimal, hielten dann inne und küßten sich zum dritten Mal. Der in dem kurzen Pelz trat an den Tisch, trank ein dort stehendes Weinglas leer, ergriff die Hand des kleinen Häßlichen und errötete.

»Nein, ich will es doch aussprechen ... Ich kann und muß gegen dich offen sein, weil ich dich liebe ... Du liebst sie, nicht wahr? Ich habe es stets vermutet ... stimmt's?«

»Ja«, versetzte der Freund und lächelte noch herzlicher.

»Und vielleicht ...«

»Erlauben Sie, ich soll die Lichter auslöschen«, sagte der verschlafene Kellner, der das letzte Gespräch mit angehört hatte und vergeblich zu erraten suchte, weshalb die Herren nur immer ein und dasselbe reden. »Auf wessen Namen soll ich die Rechnung ausstellen – auf den Ihrigen?« fügte er, zu dem Hochgewachsenen gewandt, hinzu: er wußte schon im voraus, an wen er sich zu halten hatte.

»Schreib alles auf meine Rechnung«, sagte der Hochgewachsene.

»Wieviel macht es?«

»Sechsundzwanzig Rubel.«

Der Hochgewachsene sann einen Augenblick nach, sagte jedoch nichts und steckte die Rechnung in die Tasche.

Die beiden andern setzten inzwischen ihr Gespräch fort.

»Leb' wohl, du bist ein prächtiger Junge«, sagte der kleine Häßliche mit dem sanften Blick.

Die Tränen traten beiden in die Augen. Sie gingen auf die Freitreppe hinaus.

»Ach ja«, sagte der Abreisende zu dem Hochgewachsenen, »die Rechnung hier bei Chevalier begleichst du wohl? Du schreibst mir wohl, wieviel es macht?«

»Gut, gut«, sagte der Hochgewachsene, während er seine Handschuhe anzog. »Wie ich dich beneide!« fügte er dann ganz unerwartet hinzu, als sie auf die Treppe hinausgetreten waren.

Der Abreisende nahm in dem Postschlitten Platz, hüllte sich in seinen großen Reisepelz und sagte: »Nun, so komm doch mit!« Und er rückte sogar im Schlitten zur Seite, um dem andern, der ihn zu beneiden vorgab, Platz zu machen; seine Stimme bebte.

Jener, der ihm das Geleit gab, sagte: »Leb' wohl, Mitja, Gott gebe dir ...« Er wünschte eigentlich nur eins: daß er so rasch wie möglich davonfahren möchte, und so ließ er es unausgesprochen, was ihm Gott geben sollte.

Sie schwiegen. Noch einmal wiederholte jemand: »Leb' wohl!« Irgendwer sagte: »Vorwärts!« – und der Postillon trieb die Pferde an.

»Jelisar, den Wagen!« rief einer der beiden Zurückbleibenden.

Die Droschkenführer und der Kutscher der Equipage gerieten in Bewegung, schnalzten mit der Zunge und zogen die Zügel an. Die angefrorene Kutsche kreischte auf dem Schnee.

»Ein lieber Junge, dieser Olenin«, sagte einer von den beiden Zurückbleibenden. »Aber wie kommt er nur auf den Einfall, nach dem Kaukasus zu gehen, noch dazu als Junker? Ich würde mich dafür bedanken. Ißt du morgen im Klub zu Mittag?«

»Ja.«

Sie fuhren in verschiedenen Richtungen davon.

Dem Abreisenden wurde es gehörig warm in dem Pelze. Er setzte sich auf den Boden des Schlittens und knöpfte den Pelz auf. Das zottige Dreigespann zog langsam den Schlitten durch die dunklen Straßen, an Häusern vorüber, die er nie gesehen. Es schien Olenin, als seien diese Straßen nur für Leute, die abreisen, da. Ringsum war es dunkel, still und traurig; seine Seele aber war voll von Erinnerungen, von Liebe und Mitleid, von Tränen, die ihm so wohl taten und ihn fast erstickten ...

2

I

3

Je mehr Olenin sich von dem Zentrum Russlands entfernte, desto weiter schienen alle seine Erinnerungen von ihm abzurücken, und je näher er dem Kaukasus kam, desto froher wurde seine Stimmung.

»Für immer fortgehen und nie wieder zurückkehren, sich nie wieder in der Gesellschaft zeigen!« ging's ihm durch den Sinn. »Die Menschen, unter die ich nun komme, sind keine ›Leute von Welt‹; niemand von ihnen kennt mich oder wird je in die Moskauer Kreise kommen, in denen ich verkehrt habe, und von meiner Vergangenheit etwas in Erfahrung bringen. Und ebensowenig wird jemand aus jenen Kreisen zu wissen bekommen, was ich getrieben habe, während ich mich hier unter diesen aufhielt.«

Ein ihm völlig neues Gefühl der Befreiung von allem Vergangenen überkam ihn unter diesen einfachen Wesen, denen er unterwegs begegnete, und die ihm so ganz anders erschienen als die Menschen seiner Moskauer Kreise. Je gröber das Volk war, je weniger Anzeichen von Zivilisation er gewahrte, desto freier fühlte er sich. Stawropol, das er passieren mußte, wirkte förmlich verletzend auf ihn. Die Ladenschilder, darunter selbst solche mit französischer Aufschrift, die Damen in den Equipagen, die Droschken auf den Plätzen, der Boulevard und der Herr im Mantel und Hut, der auf dem Boulevard spazieren ging und die Durchreisenden musterte – alles das berührte ihn höchst peinlich.

»Vielleicht kennen diese Leute jemanden von meinen Bekannten«, dachte er, und der Klub, der Schneider, die Karten, die vornehmen Salons fielen ihm wieder ein. Von Stawropol ab war dafür alles ganz nach seinem Herzen: wild, und überdies schön und kriegerisch. Und immer froher und froher ward Olenin zumute. Alle diese Kosaken und Postillone und Stationsaufseher erschienen ihm als schlichte Menschenkinder, mit denen er ungezwungen scherzen und plaudern konnte, ohne lange zu fragen, zu welcher Kaste sie gehörten. Sie alle gehörten doch zum Menschengeschlecht, das Olenin als solches unbewußt liebte, und alle benahmen sich gleich herzlich gegen ihn.

Noch im Gebiet der Donischen Kosaken hatten sie den Schlitten mit einem Wagen vertauscht; und hinter Stawropol wurde es schon so warm, daß Olenin ohne Pelz fuhr. Es war bereits Frühling – ein unerwarteter, froher Frühling für Olenin. Zur Nacht ließ man ihn nicht mehr fort aus den Kosakendörfern, und am Abend hieß es, es sei gefährlich zu reisen. Wanjuscha wurde ein bißchen ängstlich, und ein geladenes Gewehr lag stets im Wagen bereit. Olenin aber ward immer froher gestimmt. Auf einer Station erzählte der Vorsteher von einer grausigen Mordtat, die kurz vorher auf der Landstraße begangen worden sei. Ab und zu begegnete man bereits Bewaffneten.

»Hier fängt's also an!« sprach Olenin bei sich selbst und erwartete jeden Augenblick, die schneebedeckten Berggipfel zu sehen, von denen man ihm so viel erzählt hatte.

Eines Tages, gegen Abend, zeigte der Postillon, ein Tatar vom Stamme der Nogajer, mit der Peitsche nach den hinter den Wolken hervorlugenden Bergen. Olenin sah begierig hin, doch es war trüb, und die Wolken verhüllten die Berge zur Hälfte. Er sah etwas Graues, Weißes, Gezacktes, und so sehr er sich auch Mühe gab: er vermochte in dem Anblick der Berge, von denen er so viel gelesen und gehört hatte, nichts besonders Schönes zu entdecken. Er dachte bei sich, daß Berge und Wolken überall in der Welt ganz gleich aussähen, und daß die vielgerühmte Schönheit der Schneeberge genau so ins Reich der Einbildung gehöre, wie die Schönheit der Bachschen Musik, oder die Liebe zum Weibe, an die er nicht glaubte. Er war nun nicht mehr so gespannt auf die Bekanntschaft mit den Bergen. Tags darauf aber, ganz früh am Morgen, als die Kühle in seinem Wagen ihn weckte, warf er wie zufällig einen Blick nach rechts. Der Morgen war völlig klar. Plötzlich sah er in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten – so weit schien es ihm im ersten Augenblick – die blendend weißen Bergriesen mit den zarten Umrissen und die gebrochene, scharf gezeichnete Grenzlinie zwischen ihren Gipfeln und dem dahinter liegenden Himmel. Und als er dann den ganzen weiten Abstand zwischen ihm selbst und den Bergen und dem Himmel, die ganze Massenhaftigkeit dieser Riesengipfel begriff und die Unendlichkeit ihrer Schönheit empfand, da erschrak er und glaubte, es sei eine Täuschung der Sinne, ein Traum. Er schüttelte sich, um zu erwachen, die Berge aber blieben unverändert.

»Was ist das? Was ist das dort?« fragte er den Postillon.

»Das sind die Berge«, versetzte der Nogajer gleichgültig.

»Auch ich sehe sie mir schon lange an«, sagte Wanjuscha. »Wie schön das ist! Zu Hause würden sie's nicht glauben!«

Die schnelle Bewegung des Wagens auf der ebenen Straße bewirkte, daß die Berge, deren Gipfel vom rosigen Lichte der aufgehenden Sonne übergossen waren, am Horizonte hinzulaufen schienen. Anfangs riefen die Berge in Olenin nur ein gewisses Erstaunen hervor, dann empfand er bei ihrem Anblick etwas wie Freude; und je länger er auf diese Kette von Schneebergen hinschaute, die nicht aus anderen, dunkleren Bergen, sondern unmittelbar aus der Steppe hervorwuchs und über ihr hinlief, desto tiefer drang er in das Wesen dieser Schönheit ein, und er fühlte die Berge. Von diesem Augenblick an nahm alles, was er nur sah, alles, was er dachte, alles, was er fühlte, für ihn den neuen, streng majestätischen Charakter der Berge an. Alle seine Moskauer Erinnerungen, alle Scham und Reue, alle törichten Schwärmereien vom Kaukasus schwanden in nichts zusammen, um nie wiederzukehren. »Jetzt hat es begonnen«, sprach gleichsam eine feierliche Stimme in ihm. Die Straße, und die in der Ferne sichtbare Tereklinie, und die Kosakendörfer, und die Bevölkerung – alles das erschien ihm jetzt nicht mehr in einem harmlosen Lichte. Er blickt zum Himmel empor und denkt: die Berge! Er sieht sich selbst, sieht Wanjuscha an und denkt wieder an die Berge. Dort reiten zwei Kosaken daher; die Gewehre in den Futteralen hüpfen auf ihren Rücken gleichmäßig auf und nieder, während die braunen und grauen Beine der beiden Pferde wirr durcheinanderlaufen; er aber sieht nichts weiter als die Berge ... Jenseits des Terek steigt der Rauch über einem Aul1 in die Höhe, aber die Berge ... Die Sonne geht auf und spiegelt sich in den Fluten des Terek, die hinter dem Schilfrohr hindurchschimmern – aber die Berge ... Aus einem Kosakendorf kommt ein Wagen angerasselt, Frauen, hübsche junge Frauen, gehen vorüber – aber die Berge ... Abreken sprengen über die Steppe dahin – – und ich fahre hier und fürchte sie nicht, ich habe mein Gewehr, meine Kraft, meine Jugend – aber die Berge ...

1Dorf

4

Jener ganze, etwa achtzig Werst lange Teil der Tereklinie, in dem die Dörfer der Bergkosaken liegen, trägt bezüglich der Örtlichkeit wie der Bevölkerung einen gleichmäßigen Charakter. Der Terek, der die Kosaken von den Bergbewohnern trennt, fließt trüb und rasch dahin; er ist hier schon breit und ruhig und schwemmt beständig einen grauen Sand an dem niedrigen, mit Schilf bewachsenen rechten Ufer an, während er das steile, wenn auch nicht allzu hohe linke Ufer unterspült und die Wurzeln der dort wachsenden hundertjährigen Eichen, der modernden Platanen und des jungen Unterholzes bloßlegt. Auf dem rechten Ufer liegen ruhige, wenn auch noch nicht völlig friedliche Auls; am linken Ufer, eine halbe Werst vom Flusslauf entfernt, sind in Abständen von sieben bis acht Werst die Kosakendörfer verteilt. In früherer Zeit hatte die Mehrzahl dieser Dörfer dicht am Ufer gelegen; aber der Terek, der sein Bett von Jahr zu Jahr weiter von den Bergen weg nach Norden verlegte, hatte sie öfters überschwemmt, und jetzt sah man dort nur noch dicht überwucherte alte Hausruinen, Obstbäume, Pyramidenpappeln und Gemüsegärten, in denen zwischen den Gemüsen Brombeersträucher und verwilderte Weinstöcke wucherten. Kein Mensch wohnte jetzt mehr dort drüben, man sah im Sande nur die Spuren der Hirsche, Wölfe, Hasen und Fasanen, die sich an diesen Stätten mit Vorliebe aufhielten.

Von Dorf zu Dorf zieht sich ein Weg hin, der schnurgerade wie die Bahn einer Geschützkugel durch den Wald gehauen ist. An dem Wege liegen die Wachthäuser, in denen die Kosaken stationiert sind; zwischen den Wachthäusern, auf den Wachttürmen, sind die Posten ausgestellt. Nur ein schmaler, etwa dreihundert Faden breiter Streifen fruchtbaren Waldbodens bildet den Grundbesitz der Kosaken. Nördlich davon beginnen die Sanddünen der Nogajschen oder Mosdokschen Steppe, die sich in nördlicher Richtung weithin ausdehnt und Gott weiß wo in die Truchmenische, Astrachansche und Kirgis-Kaissakische Steppe übergeht. Südwärts, jenseits des Terek, erhebt sich die große Tschetschnja, weiterhin der Kotschkalossowsche Bergrücken, die Schwarzen Berge, noch irgendein Bergrücken und endlich die Schneeriesen, die noch nie ein Mensch bestiegen hat. In diesem fruchtbaren, waldigen und von üppigem Pflanzenwuchs bestandenen Landstrich lebt seit undenklichen Zeiten eine kriegerische, stattliche und wohlhabende russische Bevölkerung, die sich zum altgläubigen Sektierertum bekennt, unter dem Namen der Grebenischen oder Bergkosaken.

Vor langer, langer Zeit waren ihre Vorfahren um des Glaubens willen aus Russland geflüchtet und hatten sich jenseits des Terek mitten unter den Tschetschenzen auf dem Grebenj, dem ersten Höhenzug der waldigen Großen Tschetschnja, angesiedelt. Im Zusammenleben mit den Tschetschenzen hatten die Kosaken sich mit letzteren vermischt und die Gebräuche, die Lebensweise und die Sitten der Bergbewohner angenommen; doch hatten sie die russische Sprache und den alten Glauben in ihrer ganzen ursprünglichen Reinheit bewahrt. Eine Überlieferung, die bis auf den heutigen Tag unter den Kosaken lebendig ist, besagt, daß Zar Iwan der Schreckliche an den Terek gekommen sei, die Ältesten vom Grebenj zu sich zu berufen, ihnen diesseits des Flusses Land geschenkt, sie zu friedlichem Zusammenhalten ermahnt und ihnen versprochen habe, sie würden weder zur Unterwerfung noch zu einem Glaubenswechsel gezwungen werden. Bis auf den heutigen Tag glauben verschiedene Kosakenfamilien mit den Tschetschenzen verwandt zu sein, und die Liebe zur Freiheit, zum Müßiggang, zu Raub und Krieg bilden die Hauptzüge ihres Charakters. Der Einfluß Russlands macht sich bei ihnen in recht mißliebiger Weise geltend: durch Beeinflussung der Wahlen, durch Wegnahme der Kirchenglocken und durch die Lasten, die mit der militärischen Besetzung des Landes und den Truppendurchzügen verbunden sind. Der Kosak haßt, einer inneren Stimme folgend, den »Dschigit« aus den Bergen, der seinen Bruder getötet hat, weniger als den Soldaten, der bei ihm im Quartier liegt und sein Dorf beschützen soll, ihm jedoch die Hütte mit seinem Tabak vollqualmt. Er achtet den Bergbewohner, der sein Feind ist, verachtet dagegen den Soldaten, der ihm ein Fremder, ein Bedrücker ist. Der gewöhnliche Russe ist in den Augen des Kosaken im Grunde genommen ein ungesittetes, verächtliches Geschöpf. Muster dieser Art hat er in den russischen Hausierern kennengelernt, die gelegentlich bei ihm vorsprechen, sowie in den kleinrussischen Ansiedlern, die von den Kosaken geringschätzig »Schopfträger« genannt werden. Seine schmucke Kleidung hat der Kosak vom Tscherkessen übernommen. Die besten Waffen bekommt er von den Bergbewohnern, die schönsten Pferde kauft oder stiehlt er in ihrem Aul. Der richtige, schneidige Kosak spielt sich gern als Kenner des Tatarischen auf, und ist er in der rechten Stimmung, so spricht er selbst mit seinesgleichen tatarisch. Gleichwohl hält dieses christliche Völkchen, das in jenen Erdenwinkel versprengt ward und rings von halbwilden mohammedanischen Stämmen und Soldaten umgeben ist, sich für hochzivilisiert und erkennt einzig den Kosaken als Vollmenschen an; auf alles übrige blickt es geringschätzig von oben herab. Der Kosak verbringt seine Zeit zum größten Teil in den Wachthäusern, auf Streifzügen, auf der Jagd oder beim Fischfang. Häusliche Arbeit verrichtet er fast niemals. Sein Aufenthalt im Dorfe ist eine Ausnahme von der Regel; ist er dort, so verbringt er seine Zeit auf höchst vergnügte Weise. Jeder Kosak hat seinen eigenen Weingarten, und die Neigung zum Trunke ist nicht sowohl ein allen anhaftendes Laster, als vielmehr ein Brauch, dessen Nichtbeachtung als Abtrünnigkeit gelten würde. Das Weib betrachtet der Kosak als das Werkzeug, das seinen Wohlstand schafft; nur dem Mädchen gestattet er müßig zu gehen, die verheiratete Frau muß von Anfang an bis ins hohe Alter hinein für ihn arbeiten, und wie der Orientale verlangt er von ihr Gehorsam und Fleiß. Die Folge einer solchen Auffassung ist, daß das Weib, das sich bei seiner Beschäftigung leiblich und sittlich kraftvoll entwickelt, bei aller äußeren Unterordnung doch, wie überhaupt im Orient, weit mehr Einfluß und Ansehen in der Häuslichkeit besitzt als das Weib des Westens. Der Ausschluss der Frau vom öffentlichen Leben und ihre Gewöhnung an schwere Männerarbeit verleiht ihr um so größeres Gewicht im häuslichen Betriebe. Der Kosak, der es für unpassend hält, in Gegenwart Fremder mit seiner Frau ein freundliches oder auch nur ein überflüssiges Wort zu reden, empfindet unwillkürlich ihre Überlegenheit, sobald er mit ihr unter vier Augen zusammen ist. Das ganze Haus, das ganze Vermögen, die ganze Wirtschaft ist durch die Frau erworben und wird einzig durch ihre Arbeit und Fürsorge zusammengehalten. Obschon der Kosak fest davon überzeugt ist, daß die Arbeit für einen Kosaken eine Schmach ist und sich nur für den nogajschen Knecht und für die Frau ziemt, hat er doch das unbestimmte Gefühl, daß alles, was er genießt, und was er sein nennt, ein Erzeugnis ihrer Arbeit ist, und daß es in der Macht der Frau, sei es seine Mutter oder seine Gattin, liegt, ihn alles dessen zu berauben, was ihm Genuss bereitet. Überdies hat die beständige schwere Männerarbeit und die ihr anvertraute Sorge um das ganze Hauswesen der Frau des Grebenj-Kosaken einen ganz besonders selbständigen, mannhaften Charakter verliehen und ihre körperliche Kraft, ihr gesundes Urteil, ihre Entschlossenheit und Charakterfestigkeit in überraschender Weise entwickelt. Die Frauen sind zum größten Teil stärker, klüger und stattlicher als die Männer. Die Schönheit der grebenjschen Frau fällt namentlich dadurch auf, daß sie den reinsten tscherkessischen Gesichtstypus mit dem breiten und kräftigen Körperbau der Frau aus dem Norden verbindet. Die Kosakenfrauen tragen tscherkessische Kleidung: das lange tatarische Hemd, den Beschmet1 und die Tschuwjaks2; doch binden sie sich nach russischer Sitte Kopftücher um. Prunk, Sauberkeit und Schönheit in Kleidung und Wohnungsausstattung sind für sie ein unabweisliches Lebensbedürfnis. Im Verkehr mit den Männern genießen die Frauen, besonders aber die Mädchen, große Freiheit. Das Dorf Nowomlinsk galt als der Stammsitz des grebenjschen Kosakentums. Dort haben sich die Sitten der alten Grebenjzer reiner als sonstwo erhalten, und die Frauen dieses Dorfes waren von jeher ihrer Schönheit wegen im ganzen Kaukasus berühmt. Die Mittel zum Unterhalt der Kosaken liefern die Wein- und Obstgärten, die Melonen- und Kürbispflanzungen, der Fischfang, die Jagd, der Anbau von Mais und Hirse und die Kriegsbeute.

Das Dorf Nowomlinsk liegt etwa drei Werst vom Terek entfernt und ist durch einen dichten Wald von ihm getrennt. Auf der einen Seite des Weges, der durch das Dorf führt, zieht sich der Fluß hin, auf der andern Seite liegen üppig grünende Wein- und Obstgärten, hinter denen die Sanddünen der Nogajschen Steppe sichtbar werden. Das Dorf ist mit einem Erdwall und einer stacheligen Dornenhecke umgeben. Hohe, auf Pfeilern ruhende Torwege mit kleinen, schilfgedeckten Dächern bezeichnen die Einfahrt ins Dorf und die Ausfahrt aus ihm, und neben dem Torweg steht auf einer Holzlafette eine Kanone, ein unförmliches Ding, das die Kosaken irgendeinmal irgendwo erobert haben, aus dem aber seit hundert Jahren kein Schuß abgegeben wurde. Ein Kosak in voller Ausrüstung, mit Säbel und Gewehr, steht zuweilen neben dem Torweg auf Posten, zuweilen auch nicht; das eine Mal macht er vor dem vorübergehenden Offizier Front, das andre Mal nicht. Unter dem Dache des Torwegs steht auf einem weißen Täfelchen mit schwarzer Farbe geschrieben: »266 Häuser, 897 Seelen männlichen Geschlechts, 1012 Seelen weiblichen Geschlechts.« Die Häuser der Kosaken ruhen alle auf Pfählen, eine Elle hoch oder mehr über der Erde; sie sind sauber mit Schilfrohr gedeckt und mit hohen Giebelbalken versehen. Alle sind, wenn nicht neu, so doch gut im Stande und sauber, mit mannigfach geformten Treppen und Aufgängen. Sie sind nicht eng aneinandergereiht, sondern bilden in geräumiger, malerischer Lage breite Straßen und Gassen. Vor den hellen, großen Fenstern vieler Häuser ragen hinter den Zäunen dunkelgrüne Pappeln und zartbelaubte Akazien in duftig weißer Blütenpracht über die Dächer empor; grell schimmernde gelbe Sonnenblumen wachsen ebenda zwischen rankenden Weinreben und Winden. Auf dem geräumigen Marktplatze sieht man drei Läden mit Schnittwaren, Sämereien, Johannisbrot und Pfefferkuchen, und hinter einer hohen Pallisade und einer Reihe alter Pappeln erhebt sich, länger und höher als alle übrigen Häuser, das mit zweiflügeligen Fenstern versehene Haus des Regimentskommandeurs. Nur wenige Menschen sieht man an den Wochentagen, zumal im Sommer, in den Straßen des Dorfes. Die Kosaken sind im Dienst, in den Wachthäusern und auf Streifzügen; die Alten sind auf die Jagd, auf den Fischfang oder mit den Weibern zur Arbeit in die Gärten gegangen. Nur die Allerältesten, die Kinder und die Kranken bleiben daheim.

1Obergewand

2tatarische Schuhe

5

Es war einer jener ganz besonderen Abende, wie sie nur im Kaukasus vorkommen. Die Sonne war hinter die Berge gesunken, doch war es noch hell. Das Abendrot bedeckte wohl ein Drittel des Himmels, und von seinem lichten Hintergrund hoben sich die mattweißen Massen der Schneeberge scharf und deutlich ab. Die Luft war dünn, unbewegt, wie akustisch gestimmt. Der tiefe Schatten der Berge fiel in einer Länge von etlichen Werst auf die Steppe. In der Steppe, jenseits des Flusses, auf den Wegen, überall war es still und leer. Wenn einmal da oder dort eine Gruppe von Reitern auftauchte, blickten auch schon die Kosaken aus dem Wachthause und die Tschetschenzen aus dem Aul voll Verwunderung und Neugier nach ihnen hin und suchten zu erraten, wer die verdächtigen Leute wohl sein mögen. Sobald es Abend geworden, ziehen sich die Menschen aus Furcht voreinander in ihre Wohnungen zurück, und nur das Raubtier und der Vogel schweifen frei, ohne den Menschen zu fürchten, durch die Einöde. Unter munterem Geplauder eilen die Kosakenfrauen aus den Weingärten, wo sie die Ranken angebunden haben, noch vor Sonnenuntergang heim. In den Gärten, wie in der ganzen Umgegend, wird es einsam; im Dorfe dagegen herrscht um diese Stunde ein lebendiges Treiben. Von allen Seiten ziehen die Leute zu Fuß, zu Pferde oder auf knarrenden Wagen dem Dorfe zu. Die Mädchen eilen in aufgeschürzten Hemden, mit Gerten in der Hand, fröhlich schwatzend nach dem Tor, dem Vieh entgegen, das in einer Wolke von Staub und Mücken, die ihm aus der Steppe folgen, dicht gedrängt heranzieht. Die satten Kühe zerstreuen sich in den Straßen, und die Kosakenmädchen in den bunten Beschmets laufen zwischen ihnen hin und her. Man hört ihr lautes Gespräch, ihr munteres Lachen und Kreischen, und zwischendurch tönt das Brüllen des Viehs. Dort kommt hoch zu Pferde ein Kosak in Feldausrüstung, der sich Urlaub erbeten hat, vom Wachthause her nach seiner Hütte, neigt sich zum Fenster und klopft daran. Auf dieses Zeichen erscheint sogleich der hübsche Kopf einer jungen Kosakin, und man hört sie beide lachen und vertraulich miteinander sprechen. Da kommt ein zerlumpter nogajscher Knecht mit scharf vorspringenden Backenknochen auf einem Wagen herangefahren: er hat Schilfrohr in der Steppe geholt, fährt den kreischenden Wagen auf den sauberen großen Hof des Jessauls1, nimmt den die Köpfe bewegenden Ochsen das Joch ab und ruft dem Hausherrn auf tatarisch irgend etwas zu, worauf jener ihm in derselben Sprache antwortet. An der Pfütze, die fast die ganze Straße einnimmt, und neben der die Dorfleute schon seit vielen Jahren mühsam an den Zäunen entlang dahergekrochen sind, geht eine barfüßige Kosakin mit einer Tracht Holz auf dem Rücken behutsam vorüber; sie hebt dabei ihr Hemd über die weißen Waden empor, und ein von der Jagd heimkehrender Kosak ruft ihr scherzend zu: »Heb's doch noch höher auf, Schamlose!« und er legt auf sie an; die Kosakin läßt das Hemd los, und zugleich fällt ihr das Holz auf die Erde. Ein alter Kosak mit aufgestreiften Hosen und offener, grauhaariger Brust kehrt vom Fischfang zurück, über der Schulter ein Netz mit noch zappelnden, silberglänzenden Heringen; um es näher zu haben, klettert er über den verfallenen Zaun des Nachbars, bleibt dabei mit seinem Kittel am Zaun hängen und zerreißt sich ihn. Dort schleppt ein Weib einen trockenen Ast, und um die Ecke erschallen die Schläge einer Axt. Die Kosakenkinder kreischen beim Kreiselspiel, das sie überall auf der Straße, wo nur ein ebener Fleck ist, betreiben. Um sich ein Stück Weges zu sparen, klettern die Weiber über die Zäune. Aus allen Schornsteinen steigt der scharfduftende Rauch des getrockneten Kuhdüngers, der zum Heizen verwandt wird. Auf jedem Hofe erschallt verstecktes Lärmen, das der stillen Nacht vorausgeht.

Mutter Ulitka, die Frau des Fähnrichs und Schulmeisters, ist ebenso wie die übrigen Weiber nach dem Hoftor gegangen und erwartet das Vieh, das ihre Tochter Marianka auf der Straße herantreibt. Kaum hat sie noch das Tor geöffnet, als auch die riesige Büffelkuh, von den Mücken gefolgt, sich brüllend hindurchdrängt; hinter ihr her folgen langsam die satten Kühe, schauen mit den großen Augen die ihnen bekannte Hausfrau an und schlagen sich mit dem Schwänze in gleichmäßigem Takte die Lenden. Die schlanke, hübsche Marianka durchschreitet das Tor, wirft die Gerte fort, schließt den Heckenzaun wieder ab und läuft, so rasch sie kann, mitten unter das Vieh, jagt es auseinander und treibt es im Hofe umher. »Zieh doch die Schuhe aus, du Teufelsmädchen, du hast sie ganz schief gelaufen!« ruft die Mutter laut. Marianka fühlt sich durch die Bezeichnung »Teufelsmädchen« durchaus nicht gekränkt, sie nimmt das Wort vielmehr als Kosenamen und fährt munter in ihrer Beschäftigung fort. Ein Tuch verhüllt Mariankas Gesicht; sie trägt ein rosa Hemd und einen grünen Beschmet. Sie verschwindet unter dem Schutzdach des Hofes hinter dem feisten, stattlichen Vieh, und man hört nur noch von den Ständen her ihre Stimme, die der Büffelkuh zärtlich zuredet: »Nun steh doch endlich still! Seh' nur einer an! Ruhig, Mütterchen! ...« Bald darauf geht das Mädchen mit der Alten aus dem Kuhstall nach der Milchkammer, und jede von ihnen trägt einen großen Topf mit Milch – den Ertrag des heutigen Tages. Aus dem Lehmschornstein der Milchkammer steigt alsbald der Rauch des Kuhdüngers empor, die Milch wird in Kaimak2 umgekocht; das Mädchen schürt das Feuer, und die Alte begibt sich ans Hoftor zurück.

Dämmerung hüllt bereits das Dorf ein. Überall duftet es nach dem Grün der Gärten, nach dem Vieh, dem Rauch des verbrannten Kuhdüngers. An den Hoftoren und auf den Straßen laufen überall Kosakenweiber umher, die in den Händen glühende Läppchen zum Feueranmachen tragen. Auf den Höfen hört man das Schnaufen und ruhige Wiederkäuen des Viehs, das nun abgemolken ist, und Frauen- und Kinderstimmen lassen sich mit gegenseitigem Zuruf vernehmen.

Eine der Kosakenfrauen, ein altes, hochgewachsenes Weib von männlichem Aussehen, kommt vom gegenüberliegenden Hofe zu Mutter Ulitka heran und bittet sie um Feuer; in der Hand hält sie ein Läppchen.

»Na, Mütterchen, seid ihr fertig?« sagt sie.

»Das Mädchen kocht die Milch. Willst wohl Feuer haben?« spricht Mutter Ulitka, ganz stolz darauf, daß sie der anderen gefällig sein kann.

Die beiden Kosakenfrauen gehen ins Haus; die groben, an das Hantieren mit kleinen Gegenständen nicht gewöhnten Hände nehmen zitternd den Deckel von einem kostbaren Schächtelchen mit Zündhölzern ab, die im Kaukasus eine Seltenheit sind. Die Kosakenfrau mit dem männlichen Aussehen setzt sich auf einen Schemel – sie hat offenbar die Absicht, ein wenig zu plaudern.

»Dein Mann ist wohl in der Schule, Mutter?« fragt die Besucherin.

»Immerzu unterrichtet er die Kinder, Mutter. Er schrieb, er werde zum Fest herkommen«, antwortete die Fähnrichsfrau.

»Er muß ein recht kluger Mensch sein ... wirkt viel Gutes!«

»Ja, das tut er wohl.«

»Und mein Lukaschka ist im Wachthaus und darf nicht nach Hause«, sagt die Besucherin, obschon die Fähnrichsfrau das längst weiß. Die andere hat das Bedürfnis, von ihrem Lukaschka zu sprechen, den sie eben erst zum Dienst im Wachthause abgegeben hat, und den sie mit Marianka, der Fähnrichstochter, verheiraten möchte.

»Er hat Dienst im Wachthause?« fragt Mutter Ulitka.

»Ja, Mutter, seit dem Feiertag ist er nicht dagewesen. Neulich hab' ich ihm durch Fomuschkin Hemden geschickt. Es gefällt ihm dort, die Vorgesetzten sind mit ihm zufrieden. Sie sind jetzt wieder auf einem Streifzug gegen die Abreken, sagt er. Und Lukaschka ist wohl und munter, sagt er.«

»Nun, Gott sei Dank«, sagt die Fähnrichsfrau. »Ein ›Greifer‹ mit einem Wort.«

Lukaschka hatte den Beinamen »Greifer« für sein mutiges Verhalten bekommen – er hatte nämlich einmal einen ertrinkenden Kosakenjungen beim Schopf ergriffen und aus dem Wasser gezogen. Die Fähnrichsfrau gebrauchte das Wort, um der Mutter Lukaschkas etwas Angenehmes zu sagen.

»Ja, ich danke Gott, Mutter, es ist ein guter Sohn; ein wackerer Bursche, alle loben ihn«, sagt Lukaschkas Mutter. »Ich möchte ihn nur noch verheiratet sehen, dann will ich ruhig sterben.«

»Nun, gibt's denn so wenig Mädchen im Dorfe?« versetzte die Fähnrichsfrau pfiffig, während sie mit den runzeligen Händen sorgsam den Deckel auf die Zündholzschachtel legte.

»Eine Menge gibt es, gewiß«, bemerkte Lukaschkas Mutter und nickte mit dem Kopfe. »Aber ein Mädchen, wie deine Marianuschka, findet man im ganzen Regiment nicht zum zweiten Mal.«

Die Fähnrichsfrau kennt die Absicht von Lukaschkas Mutter, und obschon Lukaschka ihr ein ganz wackerer Kosak zu sein scheint, sucht sie diesem Gespräche doch auszuweichen, weil sie erstens einmal die Fähnrichsfrau und obendrein reich ist, während Lukaschka der Sohn eines einfachen Kosaken und eine Waise ist. Zweitens möchte sie sich von ihrer Tochter nicht gar zu früh trennen, und endlich drittens erfordert es der Anstand, daß sie in der Sache keine Eile zeige.

»Nun ja, Marianuschka wird heranwachsen, wird ein großes Mädchen werden«, spricht sie zurückhaltend.

»Ich schicke die Brautwerber – ja, ich schicke sie! So wie wir erst die Gärten abgeerntet haben, treten wir vor dich hin, um uns vor deiner Gnaden zu verneigen –« spricht Lukaschkas Mutter. »Wir kommen auch, um uns vor Ilja Wassiljewitsch zu verneigen.«

»Was hat mein Ilja da zu sagen!« sagt die Fähnrichsfrau selbstbewußt – »mit mir muß geredet werden. Alles hat seine Zeit.«

Lukaschkas Mutter sieht an dem strengen Gesichtsausdruck der Fähnrichsfrau, daß es nicht ratsam ist, das Thema jetzt noch weiter zu behandeln; sie setzt daher ihr Läppchen mit dem Zündholz in Brand und sagt, während sie sich von ihrem Platze erhebt: »Vergiß es nicht, Mutter, denk an meine Worte! Ich muß jetzt gehen und die Milch aufkochen«, fügt sie hinzu.

Als sie, das brennende Läppchen in der ausgestreckten Hand hin und her schwenkend, über die Straße schritt, begegnete ihr Marianka, die sie grüßte.

»Ein prächtiges Mädchen, ein arbeitsames Mädchen«, denkt sie, die schmucke Dirne betrachtend. »Was soll die noch viel wachsen? 's ist Zeit, daß sie heiratet und in ein gutes Haus kommt, mein Lukaschka muß sie haben.«

Auch Mutter Ulitka hat ihre Sorgen, sie hat sich auf die Schwelle gesetzt und sitzt und sitzt da, in tiefes Nachdenken versunken, bis die Tochter sie ins Haus ruft.

1Hauptmanns

2Ein dem Kefir ähnliches Getränk

6

Die männliche Bevölkerung des Dorfes verbringt ihre Zeit auf Streifzügen und auf den Wachthäusern oder »Posten«, wie die Kosaken sagen. Eben jener Lukaschka der »Greifer«, von dem die beiden Alten im Dorfe gesprochen hatten, stand kurz vor Anbruch der Nacht auf dem Wachtturm des Postens von Nischne-Protozk. Dieser Posten lag dicht am Ufer des Terek. Mit den Ellenbogen auf die Umgitterung des Wachtturmes gestützt, blickte er bald, die Augen zusammenkneifend, in die Ferne über den Terek, bald hinab zu seinen Kameraden, den Kosaken, und wechselte ab und zu ein paar Worte mit ihnen. Die Sonne näherte sich schon dem schneebedeckten Bergrücken, der in blendendem Weiß über den gekräuselten Wolkenmassen schimmerte. Die Wolken, die seinen Fuß umwogten, nahmen mehr und mehr dunkle Schattentöne an. Die Luft nahm, wie stets gegen Abend, an Durchsichtigkeit zu. Aus dem dicht verwachsenen Walde wehte es frisch herüber, um den Posten selbst jedoch war es noch heiß. Die Stimmen der plaudernden Kosaken klangen heller und blieben gleichsam in der Luft hängen. Der braune, raschfließende Terek hob sich mit seiner ganzen beweglichen Wassermasse immer schärfer von den unbeweglichen Ufern ab. Er begann zu fallen, da und dort sah man den feuchten braunen Sand an den Ufern und Sandbänken. Gerade dem Wachthause gegenüber, auf dem jenseitigen Ufer, war alles still und einsam; nur das niedrige Schilfrohr zog sich in endloser Einförmigkeit bis dicht an die Berge hin. Ein wenig seitwärts sah man an dem niedrigen Ufer die Lehmhäuser, die flachen Dächer und trichterförmigen Schornsteine eines Tschetschenzen-Auls. Die scharfen Augen des Kosaken auf dem Wachtturm verfolgten im abendlichen Rauche des friedlichen Auls die beweglichen Gestalten der von ferne sichtbaren Tschetschenzenweiber in ihren blauen und roten Kleidern.