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Vom Meister der russischen Literatur kommt eine märchenhafte Erzählung über den Sinn des Lebens. Der reiche Waise Olenin verbringt einen letzten Abend in Moskau, bevor er sich auf den Weg in den Kaukasus macht, zu seinem neuen Leben als Junker. Bisher von seinem Leben und dem Mangel an Liebe enttäuscht, erhofft er sich dort einen Neuanfang. Unter dem archaischen Volk der Kosaken lernt Olenin eine neue Lebensphilosophie, gegründet auf Ehre, Mut und Zusammenhalt. Immer tiefer dringt er ein in die inneren Kreise des sagenumwobenen Kriegerstammes, wo er auch auf die bezaubernde Marjanka trifft. Endlich erfährt auch Olenin was lieben bedeutet. Marjanka alerdings ist schon einem Kosaken versprochen...-
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Seitenzahl: 325
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Lew Tolstoi
Erzählung aus dem Kaukasus
Übersezt von August Scholz
Saga
Die Kosaken
Übersezt von August Scholz
Titel der Originalausgabe: Казаки
Originalsprache: Russischen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1862, 2021 SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788728017593
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.
www.sagaegmont.com
Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Alles ist still geworden in Moskau. Zuweilen nur hört man da oder dort das Knarren der Räder auf der hartgefrorenen Straße. In den Fenstern ist kein Licht mehr, und die Laternen sind erloschen. Von den Kirchen erschallt Glockengeläut, das in klangvollen Schwingungen über die schlafende Stadt hinflutet und an den Morgen gemahnt. Die Straßen liegen einsam da. Hier und da gleitet eine Schlittendroschke, deren schmale Kufen den Sand der Straße mit dem Schnee vermengen, zur nächsten Straßenecke, wo der Kutscher alsbald, in Erwartung eines Fahrgastes, sanft entschlummert. Ein altes Weib ist zur Kirche unterwegs, wo bereits einige wenige Wachskerzen, unsymmetrisch verteilt, mit rötlicher Flamme brennen und sich in den Goldbeschlägen der Heiligenbilder spiegeln. Das arbeitende Volk erhebt sich bereits nach der langen Winternacht, um an sein Tagewerk zu gehen.
Bei den vornehmen Leuten aber ist's immer noch Abend.
In einem der Fenster bei Chevalier schimmert, der Polizeivorschrift entgegen, unter den geschlossenen Läden hervor Licht. An der Einfahrt halten, außer einer Kutsche, ein paar Schlitten und Droschken, die mit den Hintergestellen dicht zusammengedrängt sind. Auch ein dreispänniger Postschlitten steht dort. Der Hauswart sitzt ganz vermummt und zusammengekrümmt da, als wolle er sich hinter der Hausecke verstecken.
»Was die wohl noch immer zu schwatzen haben!« denkt der Kellner, der mit müdem Gesichte im Vorzimmer sitzt. »Und ich muß nun gerade Nachtdienst haben!« Aus dem anstoßenden, hell erleuchteten Zimmer lassen sich die Stimmen dreier jungen Leute vernehmen, die dort soupieren. Sie sitzen um einen Tisch herum, auf dem sich noch die Reste des Essens und des Weins befinden. Der eine von ihnen, ein kleines, adrettes Kerlchen, mager und häßlich von Gesicht, sitzt da und sieht mit den guten, müden Augen auf den Freund, der im Begriff ist abzureisen. Der zweite, ein Mensch von hoher Statur, liegt neben dem mit leeren Flaschen besetzten Tische lang auf dem Diwan hingestreckt und spielt mit seinem Uhrschlüssel. Der dritte, in einem nagelneuen kurzen Pelz, geht im Zimmer auf und ab, bleibt bisweilen stehen, knackt zwischen den ziemlich dicken und kräftigen Fingern, deren Nägel sauber geputzt sind, eine Mandel auf und lächelt in einem fort; seine Augen und sein Gesicht glühen. Er spricht mit Leidenschaft und gestikuliert dabei, doch sieht man, daß ihm die Worte fehlen – alle Worte, die er findet, scheinen ihm ungenügend, um alles das auszudrücken, was auf sein Herz einstürmt. Immer wieder lächelt und lächelt er.
»Jetzt kann ich ja alles sagen!« sagt der Abreisende. »Nicht, daß ich mich rechtfertigen will, aber ich möchte doch, daß du wenigstens mich so verstehst, wie ich mich verstehe, und über diese Sache nicht so denkst wie all die Banausen. Du sagst, ich sei ihr gegenüber schuldig,« wendet er sich zu dem Kleinen, der ihn mit seinen guten Augen ansieht.
»Ja, das bist du,« antwortet der kleine Häßliche, und sein Blick scheint bei diesen Worten noch mehr Güte und Abgespanntheit auszudrücken.
»Ich weiß, warum du so sprichst,« fährt der Abreisende fort. »Du meinst, geliebt zu werden sei ein ebenso großes Glück wie zu lieben, und es sei genug für das ganze Leben, wenn man dieses Glückes nur einmal teilhaft geworden.«
»Ja, übergenug ist's, mein Herz! Mehr als genug,« bekräftigt der kleine Häßliche, während seine Augen sich abwechselnd öffnen und schließen.
»Aber warum soll man nicht auch einmal selbst lieben?« sagt der Abreisende, in einen nachdenklichen Ton verfallend, und sieht den Freund mit einer Art Mitleid an. »Warum nicht selbst lieben? Aber sie stellt sich nicht ein, die Liebe. Nein, geliebt zu werden ist ein Unglück, ein Unglück, sobald man dabei fühlt, daß man nicht Gleiches mit Gleichem vergilt oder vergelten kann. Ach, mein Gott,« fuhr er mit einer abwehrenden Handbewegung fort, »wenn das wenigstens alles in vernünftiger Weise vor sich ginge – aber weit gefehlt: es vollzieht sich leider nicht nach unserem Willen, sondern sozusagen nach seinem eigenen. Es ist ja förmlich, als hätte ich dieses Gefühl gestohlen! Auch du hast diese Auffassung; sag's nur ganz offen, du mußt sie ja haben! Und glaubst du mir wohl, daß ich von allen Torheiten und Gemeinheiten, deren ich in meinem Leben nicht wenig begangen habe, gerade diese eine nicht bereue und nicht zu bereuen vermag? Ich habe weder mich selbst noch sie belogen, nicht im Anfang noch auch später. Ich glaubte sie schließlich zu lieben, dann aber sah ich ein, daß es eine Lüge – freilich eine unbeabsichtigte – war, wenn ich es behauptete, und ich konnte nicht weitergehen, während sie es tat. Trifft mich darum eine Schuld, weil ich's nicht konnte? Was hätte ich denn tun sollen?«
»Nun, jetzt ist's ja zu Ende!« sagte der Freund, während er sich seine Zigarre anzündete, um den Schlaf zu vertreiben. »Das aber sage ich dir: du hast noch nie geliebt, und weißt nicht, was lieben heißt.«
Der im Pelz wollte wieder etwas sagen und faßte sich an den Kopf. Aber er brachte das, was er sagen wollte, nicht heraus.
»Noch nie geliebt! Ja, es ist wahr, ich habe noch nie geliebt. Aber ich fühle in mir das Bedürfnis zu lieben, ein Bedürfnis, so stark, wie man es stärker nicht fühlen kann. Doch auf der andern Seite – gibt es überhaupt eine solche Liebe? In allem ist doch schließlich etwas Unvollkommenes. Nun, was hilft alles Reden! Ich habe einen schönen Wirrwarr angerichtet in meinem Leben. Aber jetzt ist's zu Ende, du hast recht, und ich fühle, daß ein neues Leben beginnt.«
»In dem du denselben Wirrwarr anrichten wirst,« sagte der auf dem Diwan Liegende, der immer noch mit seinem Uhrschlüssel spielte, doch hörte der Abreisende ihn nicht.
»Ich bin traurig und froh zugleich, daß ich abreise,« fuhr er fort. »Warum ich traurig bin? Ich weiß es nicht.«
Und er begann von sich selbst zu reden, ohne zu bemerken, daß das, was er sagte, für die andern lange nicht so interessant war wie für ihn. Der Mensch ist niemals ein größerer Egoist, als im Augenblick seelischen Entzückens. Er glaubt, es gebe in solch einem Augenblick nichts Schöneres und Interessanteres auf der Welt als seine kostbare Persönlichkeit.
»Dmitrij Andrejewitsch, der Postillon will nicht länger warten,« sagte ein mit Pelz und Gurtbinde angetaner junger Bauer, der ins Zimmer trat. »Seit Mitternacht warten die Pferde, und jetzt ist es vier Uhr.«
Dmitrij Iwanowitsch betrachtete seinen Wanjuscha. Die Gurtbinde, die Filzstiefel und das verschlafene Gesicht des Burschen gemahnten ihn an ein anderes Leben, das ihn rief – ein Leben der Arbeit, der Tätigkeit, der Entbehrungen.
»Nun heißt es also wirklich Abschied nehmen!« sagte er, während er tastend über die Knöpfe des Pelzes fuhr, um zu prüfen, ob auch alle geschlossen waren.
Er hörte nicht auf den Rat der Freunde, den Postillon durch ein Trinkgeld zu längerem Warten zu bestimmen, sondern setzte seine Mütze auf und blieb mitten im Zimmer stehen. Sie küßten sich einmal, zweimal, hielten dann inne und küßten sich zum drittenmal. Der in dem kurzen Pelz trat an den Tisch, trank ein dort stehendes Weinglas leer, ergriff die Hand des kleinen Häßlichen und errötete.
»Nein, ich will es doch aussprechen ... Ich kann und muß gegen dich offen sein, weil ich dich liebe ... Du liebst sie, nicht wahr? Ich habe es stets vermutet ... stimmt's?«
»Ja,« versetzte der Freund und lächelte noch herzlicher.
»Und vielleicht ...«
»Erlauben Sie, ich soll die Lichter auslöschen,« sagte der verschlafene Kellner, der das letzte Gespräch mit angehört hatte und vergeblich zu erraten suchte, weshalb die Herren nur immer ein und dasselbe reden. »Auf wessen Namen soll ich die Rechnung ausstellen – auf den Ihrigen?« fügte er, zu dem Hochgewachsenen gewandt, hinzu: er wußte schon im voraus, an wen er sich zu halten hatte.
»Schreib alles auf meine Rechnung,« sagte der Hochgewachsene.
»Wieviel macht es?«
»Sechsundzwanzig Rubel.«
Der Hochgewachsene sann einen Augenblick nach, sagte jedoch nichts und steckte die Rechnung in die Tasche.
Die beiden andern setzten inzwischen ihr Gespräch fort.
»Leb' wohl, du bist ein prächtiger Junge,« sagte der kleine Häßliche mit dem sanften Blick.
Die Tränen traten beiden in die Augen. Sie gingen auf die Freitreppe hinaus.
»Ach ja,« sagte der Abreisende zu dem Hochgewachsenen, »die Rechnung hier bei Chevalier begleichst du wohl? Du schreibst mir wohl, wieviel es macht?«
»Gut, gut,« sagte der Hochgewachsene, während er seine Handschuhe anzog. »Wie ich dich beneide!« fügte er dann ganz unerwartet hinzu, als sie auf die Treppe hinausgetreten waren.
Der Abreisende nahm in dem Postschlitten Platz, hüllte sich in seinen großen Reisepelz und sagte: »Nun, so komm doch mit!« Und er rückte sogar im Schlitten zur Seite, um dem andern, der ihn zu beneiden vorgab, Platz zu machen; seine Stimme bebte.
Jener, der ihm das Geleit gab, sagte: »Leb' wohl, Mitja, Gott gebe dir ...« Er wünschte eigentlich nur eins: daß er so rasch wie möglich davonfahren möchte, und so ließ er es unausgesprochen, was ihm Gott geben sollte.
Sie schwiegen. Noch einmal wiederholte jemand: »Leb' wohl!« Irgendwer sagte: »Vorwärts!« – und der Postillon trieb die Pferde an.
»Jelisar, den Wagen!« rief einer der beiden Zurückbleibenden.
Die Droschkenführer und der Kutscher der Equipage gerieten in Bewegung, schnalzten mit der Zunge und zogen die Zügel an. Die angefrorene Kutsche kreischte auf dem Schnee.
»Ein lieber Junge, dieser Olenin,« sagte einer von den beiden Zurückbleibenden. »Aber wie kommt er nur auf den Einfall, nach dem Kaukasus zu gehen, noch dazu als Junker? Ich würde mich dafür bedanken. Ißt du morgen im Klub zu Mittag?«
»Ja.«
Sie fuhren in verschiedenen Richtungen davon.
Dem Abreisenden wurde es gehörig warm in dem Pelze. Er setzte sich auf den Boden des Schlittens und knöpfte den Pelz auf. Das zottige Dreigespann zog langsam den Schlitten durch die dunklen Straßen, an Häusern vorüber, die er nie gesehen. Es schien Olenin, als seien diese Straßen nur für Leute, die abreisen, da. Ringsum war es dunkel, still und traurig; seine Seele aber war voll von Erinnerungen, von Liebe und Mitleid, von Tränen, die ihm so wohl taten und ihn fast erstickten ...
»Ich liebe sie! Von Herzen liebe ich sie! Prächtige Menschen sind es, wirklich famos!« wiederholte er immer wieder und war dem Weinen nahe. Aber was ihn dem Weinen nahebrachte, wer die prächtigen Menschen waren, wen er von Herzen liebte, wußte er selbst nicht zu sagen. Zuweilen richtete er den Blick auf irgendein Haus und wunderte sich, daß es so sonderbar gebaut war; dann wunderte er sich wieder, daß der Postillon und Wanjuscha, die ihm doch so fremd waren, sich so nahe bei ihm befanden und zugleich mit ihm hin und her schwankten, wenn die Seitenpferde die steifgefrorenen Stränge mit heftigem Ruck anzogen. Und wiederum sagte er: »Prächtige Menschen! Ich liebe sie!« – und einmal sagte er sogar: »Wie einen das packt! Ausgezeichnet!« Und er wunderte sich, warum er das nur sagte, und fragte sich selbst: »Bin ich am Ende betrunken?« Er hatte allerdings für seinen Teil zwei Flaschen Wein geleert, aber es war nicht der Wein allein, der diese Wirkung auf ihn ausübte. Er erinnerte sich all der – wie es ihm schien – so herzlichen Freundschaftsworte, die zu ihm vor der Abreise, gleichsam aus dem Stegreif, gesprochen worden waren. Er gedachte der Händedrücke, der Blicke, des Stillschweigens, des Tones, in dem ihm, als er schon im Schlitten saß, der Freund zugerufen hatte: »Leb' wohl, Mitja!« Er gedachte auch seiner eigenen rückhaltlosen Aufrichtigkeit. Und alles das hatte für ihn eine besondere, rührende Bedeutung. Vor seiner Abreise schienen nicht nur Freunde und Verwandte, sondern auch Leute, die ihm sonst gleichgültig oder gar unsympathisch und übelgesinnt waren, sich plötzlich verabredet zu haben, ihn in höherem Maße zu lieben und ihm zu verzeihen, wie vor der Beichte oder vor dem Tode. »Vielleicht kehre ich nicht mehr aus dem Kaukasus heim,« dachte er. Und es schien ihm, als liebe er sie alle, alle, und noch sonst jemanden außer ihnen. Und er tat sich selbst so ungemein leid. Doch nicht die Liebe zu den Freunden war es, die seine Seele so weich stimmte und ihr einen solchen Schwung gab, daß er die unwillkürlich hervorsprudelnden törichten Worte nicht zurückzuhalten vermochte, und auch die Liebe zu einem Weibe war es nicht, denn er hatte noch niemals geliebt. Einzig die Liebe zu sich selbst, eine glühende, hoffnungsvolle, junge Liebe zu allem, was nur Gutes in seiner Seele lag, ließ ihn diese Tränen vergießen, diese unzusammenhängenden Worte stammeln. Daß in seiner Seele wirklich nur Gutes wohnte, davon war er in seinem jetzigen Zustande fest überzeugt.
Olenin war ein junger Mann, der weder einen abgeschlossenen Studiengang durchgemacht hatte, noch eine dienstliche Stellung bekleidete, wenn er auch bei irgendeiner Behörde dem Namen nach mitgezählt wurde. Er hatte die Hälfte seines Vermögens durchgebracht und trotz seiner vierundzwanzig Jahre sich weder für eine bestimmte Karriere entschieden, noch überhaupt irgendeine Tätigkeit entwickelt. Er war das, was man in der Moskauer Gesellschaft einen »angehenden Lebemann« nannte.
Mit achtzehn Jahren war Olenin so unabhängig, wie es nur ein reicher, früh verwaister junger Russe der vierziger Jahre sein konnte. Es gab für ihn weder physische noch moralische Fesseln; er konnte alles tun, an nichts gebrach es ihm, und nichts band ihn. Er kannte weder Familie noch Vaterland, er glaubte an nichts und hatte vor nichts Respekt. Trotz dieser Gleichgültigkeit gegen alles war er jedoch kein griesgrämlicher, gelangweilter, ewig räsonnierender Jüngling, sondern ließ sich vielmehr jeden Augenblick durch irgend etwas begeistern. Er war der festen Überzeugung, daß es keine Liebe gebe, und war doch jedesmal wie benommen in Gegenwart eines hübschen jungen Weibes. Er zweifelte keinen Augenblick, daß alle Ehrenstellen und Würden ein Unsinn seien, und fühlte sich doch sehr geschmeichelt, wenn auf dem Balle Fürst Sergjej an ihn herantrat und ihn einiger freundlichen Worte würdigte. Er ließ sich jedoch von seinen Schwärmereien nur so weit fortreißen, als sie ihn nicht banden. Sowie er zu fühlen begann, daß bei einer Sache, für die er Interesse empfand, Arbeit und Kampf, der kleinliche, alltägliche Kampf des Lebens, unvermeidlich waren, war er instinktiv bemüht, sich von ihr loszumachen und seine Aktionsfreiheit wiederzuerlangen. So hatte er es nacheinander mit dem Leben in der großen Welt, dem Staatsdienst, der Musik versucht, der er eine Zeitlang sich ganz zu widmen gedachte, und schließlich auch mit der Liebe zu den Frauen, an die er nicht zu glauben vorgab. Er sann ernstlich darüber nach, worauf er eigentlich diese Kraft der Jugend, die dem Menschen nur einmal im Leben innewohnt, verwenden solle, ob auf die Kunst, oder auf die Wissenschaft, oder auf die Liebe zum Weibe, oder auf irgendeine praktische Tätigkeit. Nicht um die Kraft des Verstandes, des Herzens, der Bildung handelte es sich hier, sondern eben um jenen sich nie wiederholenden Drang, jene dem Menschen nur einmal gegebene Macht, aus sich selbst und der ganzen Welt alles zu machen, was er nur will, und wie er es will. Es gibt Menschen, die von diesem Drange nie etwas verspüren, die gleich beim Eintritt ins praktische Leben sich das erste beste Joch auferlegen lassen und bis ans Ende ihrer Tage es in Ehren tragen. Olenin jedoch fühlte in sich allzu sehr das Walten dieser allmächtigen Gottheit der Jugend, diese Fähigkeit, ganz in einem Wunsche, einem Gedanken aufzugehen, die Fähigkeit, zu wollen und zu handeln, sich kopfüber, ohne zu wissen, warum und wofür, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen. Er trug dieses Bewußtsein in sich, und es machte ihn stolz und, ohne daß er selbst es wußte, zugleich auch glücklich. Er liebte bis jetzt nur sich allein, und er konnte nicht anders, da er von sich selbst nur Gutes erwartete und in dieser Beziehung noch keine Enttäuschung erlebt hatte. Als er jetzt Moskau verließ, befand er sich in jener naiven, glücklichen Stimmung eines jungen Menschen, der seine früheren Irrtümer erkannt hat und sich plötzlich sagt, daß »alles das« nicht das Richtige war, daß alles, was bisher gewesen, ganz vom Zufall abhing und ohne tieferen Sinn war, daß er zwar bisher von einer vernünftigen Lebensordnung nichts hatte wissen wollen, dafür aber jetzt, da er Moskau den Rücken kehrte, ein neues Leben für ihn beginne, in dem die alten Fehler nicht mehr vorkommen sollten, in dem nicht mehr für die Reue, sondern einzig nur für das Glück Raum und Gelegenheit sein würde.
Man macht bei längeren Reisen die Erfahrung, daß auf den ersten zwei, drei Stationen die Phantasie noch an dem Orte verweilt, von dem die Reise ausging, worauf sie dann plötzlich, mit dem ersten Morgen, den man unterwegs begrüßt, sich dem Reiseziel zuwendet und dort ihre Luftschlösser zu errichten beginnt. Nicht anders ging es Olenin. Als er die Stadt im Rücken hatte und die schneebedeckten Fluren erblickte, empfand er Freude darüber, daß er sich ganz allein inmitten dieser Fluren befand. Er wickelte sich fester in seinen Pelz, ließ sich auf den Boden des Schlittens gleiten und schlief beruhigt ein. Der Abschied von den Freunden hatte ihn rührselig gestimmt, und er erinnerte sich des ganzen letzten Winters, den er in Moskau verlebt hatte: die Bilder dieser jüngsten Vergangenheit traten ungerufen, von unklaren Gedanken und Selbstvorwürfen begleitet, vor seine Seele.
Er gedachte des einen der beiden Freunde, die ihm das Geleit gegeben hatten, und seiner Beziehungen zu dem jungen Mädchen, das der Gegenstand ihrer Unterhaltung gewesen war. Dieses Mädchen war reich. »Wie konnte er sie lieben, obgleich er doch wußte, daß sie mich liebte?« dachte er, und ein häßlicher Verdacht regte sich in seinem Herzen. »Wieviel Ehrlosigkeit gibt es doch in der Welt, wenn man's so recht überlegt! Doch wie kommt es nur, daß ich noch niemals geliebt habe?« drängte eine neue Frage sich ihm auf. »Alle Welt sagt es mir, daß ich noch nicht geliebt habe. Bin ich denn ein moralischer Krüppel?« Und er rief sich das Bild eines andern jungen Mädchens ins Gedächtnis zurück, für das er einmal geschwärmt hatte. Er dachte an sein erstes Auftreten in der Gesellschaft und an die Schwester eines Freundes, mit der er damals die Abende verbracht hatte, am Tische bei der Lampe, deren Licht auf ihre zarten, mit einer Handarbeit beschäftigten Finger und die untere Partie ihres hübschen, feinen Gesichtes fiel, und die Gespräche mit ihr, die sich hinzogen wie das Spiel mit dem brennenden Zündholz, das man weitergibt, und das ewige Unbehagen, der beständige Zwang und der innere Drang, sich dieses peinlichen Zustandes zu erwehren, kamen ihm wieder in den Sinn. Eine innere Stimme hatte ihm zugeflüstert: »Das ist nicht das Richtige, das ist nicht das Richtige,« und es war in der Tat auch nicht das Richtige. Dann fiel ihm ein Ball ein, auf dem er mit der schönen D. die Mazurka getanzt hatte. »Wie verliebt war ich in jener Nacht, wie glücklich war ich! Und wie schmerzlich war es mir, wie ärgerte ich mich, als ich am nächsten Morgen mit der Empfindung erwachte, daß mein Herz frei war! Warum kommt sie denn nicht zu mir, diese Liebe? Warum bindet sie mich nicht an Händen und Füßen?« dachte er. »Es gibt eben keine Liebe, das ist's! Auch die Gutsnachbarin, die mir und Dubrowin und dem Adelsmarschall mit denselben Worten vorschwärmte, wie sehr sie die Sterne liebe, auch sie war nicht ›das Richtige‹.« Und nun fällt ihm sein Versuch ein, sich auf seinem Gute in der Wirtschaft zu betätigen – und auch hier stellt sich keine Erinnerung ein, die ihm Freude machen könnte. »Wie lange sie wohl von meiner Abreise reden werden?« ging's ihm durch den Kopf; doch wer diese ›sie‹ sind, weiß er nicht zu sagen. Gleich darauf aber kommt ihm ein Gedanke, der ihn die Stirn runzeln und irgend etwas vor sich hin murmeln läßt: es ist der Gedanke an seinen Schneider Capelle und die 678 Rubel, die er ihm schuldig geblieben ist. Er erinnert sich der Worte, mit denen er den Schneider bat, noch ein Jahr zu warten, und der bestürzten, fast verzweifelten Miene, die dabei auf dem Gesichte des Schneiders erschien. »Ach, mein Gott, mein Gott!« wiederholt er, die Augen zusammenkneifend, und sucht den unerträglichen Gedanken zu verscheuchen. »Sie hat mich aber doch trotz alledem geliebt,« sagt er sich dann, und denkt an das junge Mädchen, von dem beim Abschied die Rede gewesen war. »Ja, wenn ich sie geheiratet hätte, dann hätte ich keine Schulden – und nun bin ich auch noch Wassiljews Schuldner geworden!« Und er gedachte des letzten Spielabends im Klub, wohin er unmittelbar von ihr gefahren war, und des unglücklichen Spiels mit Wassiljew, und seiner beschämenden Bitte an Wassiljew, doch noch weiterzuspielen, die dieser mit einer kühlen Weigerung beantwortete. »Ein Jahr der Sparsamkeit, und alles wird bezahlt sein – dann mag sie der Teufel holen!« Trotz dieser Zuversicht begann er von neuem die hinterlassenen Schulden zusammenzuaddieren und über die Abzahlungsfristen Berechnungen anzustellen. »Dann habe ich ja, außer bei Chevalier, auch noch bei Morel Schulden,« fiel ihm plötzlich ein; und er malte sich jene Nacht aus, in der er bei diesem so tief in die Kreide geraten war. Es war ein Trinkgelage mit Zigeunern gewesen, das ein paar Petersburger Gäste – Saschka B., der Flügeladjutant, und Fürst D., und jener vornehme alte Herr – veranstaltet hatten.
»Warum sind sie nur so selbstzufrieden, diese Herren?« sagte er sich, an jene zurückdenkend. »Und mit welchem Recht bilden sie diesen besonderen Zirkel, in den aufgenommen zu werden nach ihrer Meinung für jeden andern eine ganz besondere Ehre ist? Etwa darum, weil sie Flügeladjutanten sind? Es ist doch entsetzlich, für wie dumm und gemein sie die andern halten! Ich habe ihnen nun freilich gezeigt, daß mir an ihrem Verkehr nicht das geringste liegt. Mein Gutsverwalter Andrej würde allerdings große Augen machen, wenn er hörte, daß ich mit einem so vornehmen Herrn wie Saschka B., der Oberst und Flügeladjutant ist, auf dem Duzfuß stehe ... Übrigens hat auch niemand an jenem Abend so viel getrunken wie ich; ich habe den Zigeunern ein neues Lied beigebracht, das allgemein gefiel. Mag ich schon Dummheiten genug begangen haben, so bin ich doch trotz alledem ein wackerer, lieber Junge.«
Der Morgen fand Olenin auf der dritten Station. Er trank Tee, legte mit Wanjuscha die Bündel und Koffer um und nahm zwischen ihnen ganz vernünftig und ordnungsgemäß Platz. Er wußte, wo sich jedes Stück seiner Sachen befand, wo das Geld steckte, und wie viel es betrug, wo der Paß, das Reisebillett und die Chausseegeldquittung lag – und alles das schien ihm so praktisch arrangiert, daß er ganz vergnügt ward und die weite Reise ihm wie eine einzige lange Spazierfahrt erschien.
Im Verlauf des Morgens und der Mittagsstunde war er ganz in arithmetische Berechnungen vertieft: wieviel Werst er zurückgelegt hatte, wieviel noch bis zur nächsten Station, bis zur nächsten Stadt, bis zum Mittagessen, bis zum Tee, bis Stawropol übrig blieben, und welchen Bruchteil der gesamten Route die zurückgelegte Strecke ausmachte. Dann berechnete er auch, wieviel Geld er hatte, wieviel die Bezahlung aller Schulden erfordern würde, und welchen Teil seines Gesamteinkommens er monatlich für seinen Unterhalt verwenden könne. Am Abend, nachdem er den Tee eingenommen, stellte er fest, daß bis Stawropol noch sieben Elftel des ganzen Weges übrig blieben, daß seine Schulden etwa ein Achtel seines gesamten Vermögens ausmachten und bei einiger Sparsamkeit in sieben Monaten abgetragen werden konnten – und nachdem er alle diese beruhigenden Feststellungen gemacht hatte, wickelte er sich fest ein, streckte sich auf dem Boden des Schlittens aus und begann wieder zu träumen.
Seine Phantasie beschäftigte sich jetzt schon ganz mit der Zukunft, dem Kaukasus. Alle seine Zukunftsträume waren belebt von den Bildern der Amalat-Beks, der Tscherkessinnen, der Berge und Schluchten, der reißenden Ströme und aller möglichen Gefahren. Alles das stand nur ganz unklar und trüb vor seiner Seele; aber der Ruhm, der ihn lockte, und der Tod, der dort jeden Augenblick drohte, gaben dieser Zukunft ein tieferes Interesse. Jetzt tötete und unterwarf er mit ganz außerordentlicher Tapferkeit und allgemein bewunderter Kraft zahllose Bergbewohner; dann ist er selbst ein Bergbewohner und verteidigt Seite an Seite mit ihnen seine Unabhängigkeit gegen die Russen. Auch seine alten Moskauer Bekannten sind mit dabei. Saschka B. kämpft bald mit den Russen, bald mit den Bergbewohnern, doch immer gegen ihn. Monsieur Capelle, der Schneider, nimmt seltsamerweise gleichfalls an seinen Triumphen teil. Und wenn ihm bei alledem die alten Demütigungen, Schwächen und Verirrungen wieder einfallen, so ist ihm die Erinnerung an sie nur angenehm. Es liegt auf der Hand, daß dort, inmitten der Berge, Ströme, Tscherkessen und Gefahren diese Verirrungen sich nicht mehr wiederholen werden. Er hat sie nun schon einmal vor sich selbst gebeichtet, damit sind sie abgetan.
Noch eine Vorstellung war da, die ihm ganz besonders teuer war und sich in alle seine Zukunftsträume einschlich. Das war die Vorstellung vom Weibe. Dort, inmitten der Berge, erscheint das Weib ihm in der Gestalt einer tscherkessischen Sklavin von schlankem Wuchse, mit langen Haarflechten und treu ergebenen, abgrundtiefen Augen. Er stellt sich eine einsame Berghütte vor, und auf der Schwelle steht »sie« und erwartet ihn, während er müde, mit Staub, Blut und Ruhm bedeckt, zu ihr heimkehrt. Und er vergegenwärtigt sich ihre Küsse, ihre Schultern, ihre süße Stimme, ihre Demut. Sie ist so reizvoll, doch dabei so scheu, ohne Bildung und von groben Sitten. Sie ist aber zugleich klug, gelehrig, begabt und eignet sich rasch alles nötige Wissen an. Mit Leichtigkeit lernt sie fremde Sprachen, liest die Erzeugnisse der französischen Literatur und versteht sie. »Notre dame de Paris« zum Beispiel wird ihr sicher gefallen. Sie kann auch französisch sprechen, und im Salon zeigt sie mehr angeborene Würde als irgendeine Dame der höchsten Gesellschaft. Sie kann singen – einfach, voll Kraft und Leidenschaft.
»Ach, was für Unsinn!« spricht er zu sich selbst. Doch da sind sie eben auf einer Station angekommen, ein Schlittenwechsel erfolgt, und er muß ein Trinkgeld geben. Und von neuem wendet sich dann seine Phantasie jenem »Unsinn« zu, den er vorhin verlassen, und wieder tauchen vor seiner Seele die Tscherkessinnen auf, und er träumt von Ruhm, von der Heimkehr nach Rußland, der Ernennung zum Flügeladjutanten, einer reizenden Frau.
»Aber wie denn – es gibt doch keine Liebe,« sagt er zu sich selbst, »und alle Ehrenstellen sind Unsinn. Doch die sechshundertachtundsiebzig Rubel? ... Nun, das eroberte Land wird mir mehr Reichtum gewähren, als ich in meinem ganzen Leben aufbrauchen kann. Übrigens wird es nicht gut sein, daß ich diesen Reichtum für mich allein verbrauche. Ich werde ihn verteilen müssen. Doch an wen? Sechshundertachtundsiebzig Rubel bekommt Capelle – nun, und dann wollen wir weiter sehen ...« Und dann umnebeln schon vollends unklare Visionen sein Denken, und erst Wanjuschas Stimme und das Gefühl, daß die Fahrt unterbrochen wird, stören wieder seinen gesunden Jugendschlaf; mechanisch steigt er auf einer neuen Station in einen neuen Schlitten und fährt weiter.
Der nächste Morgen bringt ihm genau dasselbe: dieselben Stationen, denselben Tee, dieselben auf und nieder gehenden Kruppen der Pferde, dieselben kurzen Gespräche mit Wanjuscha, dieselben wirren Phantasiebilder und Träume am Abend und denselben tiefen, gesunden Schlaf in der Nacht.
Je mehr Olenin sich von dem Zentrum Rußlands entfernte, desto weiter schienen alle seine Erinnerungen von ihm abzurücken, und je näher er dem Kaukasus kam, desto froher wurde seine Stimmung.
»Für immer fortgehen und nie wieder zurückkehren, sich nie wieder in der Gesellschaft zeigen!« ging's ihm durch den Sinn. »Die Menschen, unter die ich nun komme, sind keine ›Leute von Welt‹; niemand von ihnen kennt mich oder wird je in die Moskauer Kreise kommen, in denen ich verkehrt habe, und von meiner Vergangenheit etwas in Erfahrung bringen. Und ebensowenig wird jemand aus jenen Kreisen zu wissen bekommen, was ich getrieben habe, während ich mich hier unter diesen aufhielt.«
Ein ihm völlig neues Gefühl der Befreiung von allem Vergangenen überkam ihn unter diesen einfachen Wesen, denen er unterwegs begegnete, und die ihm so ganz anders erschienen als die Menschen seiner Moskauer Kreise. Je gröber das Volk war, je weniger Anzeichen von Zivilisation er gewahrte, desto freier fühlte er sich. Stawropol, das er passieren mußte, wirkte förmlich verletzend auf ihn. Die Ladenschilder, darunter selbst solche mit französischer Aufschrift, die Damen in den Equipagen, die Droschken auf den Plätzen, der Boulevard und der Herr im Mantel und Hut, der auf dem Boulevard spazieren ging und die Durchreisenden musterte – alles das berührte ihn höchst peinlich.
»Vielleicht kennen diese Leute jemanden von meinen Bekannten,« dachte er, und der Klub, der Schneider, die Karten, die vornehmen Salons fielen ihm wieder ein. Von Stawropol ab war dafür alles ganz nach seinem Herzen: wild, und überdies schön und kriegerisch. Und immer froher und froher ward Olenin zumute. Alle diese Kosaken und Postillone und Stationsaufseher erschienen ihm als schlichte Menschenkinder, mit denen er ungezwungen scherzen und plaudern konnte, ohne lange zu fragen, zu welcher Kaste sie gehörten. Sie alle gehörten doch zum Menschengeschlecht, das Olenin als solches unbewußt liebte, und alle benahmen sich gleich herzlich gegen ihn.
Noch im Gebiet der Donischen Kosaken hatten sie den Schlitten mit einem Wagen vertauscht; und hinter Stawropol wurde es schon so warm, daß Olenin ohne Pelz fuhr. Es war bereits Frühling – ein unerwarteter, froher Frühling für Olenin. Zur Nacht ließ man ihn nicht mehr fort aus den Kosakendörfern, und am Abend hieß es, es sei gefährlich zu reisen. Wanjuscha wurde ein bißchen ängstlich, und ein geladenes Gewehr lag stets im Wagen bereit. Olenin aber ward immer froher gestimmt. Auf einer Station erzählte der Vorsteher von einer grausigen Mordtat, die kurz vorher auf der Landstraße begangen worden sei. Ab und zu begegnete man bereits Bewaffneten.
»Hier fängt's also an!« sprach Olenin bei sich selbst und erwartete jeden Augenblick, die schneebedeckten Berggipfel zu sehen, von denen man ihm so viel erzählt hatte.
Eines Tages, gegen Abend, zeigte der Postillon, ein Tatar vom Stamme der Nogajer, mit der Peitsche nach den hinter den Wolken hervorlugenden Bergen. Olenin sah begierig hin, doch es war trüb, und die Wolken verhüllten die Berge zur Hälfte. Er sah etwas Graues, Weißes, Gezacktes, und so sehr er sich auch Mühe gab: er vermochte in dem Anblick der Berge, von denen er so viel gelesen und gehört hatte, nichts besonders Schönes zu entdecken. Er dachte bei sich, daß Berge und Wolken überall in der Welt ganz gleich aussähen, und daß die vielgerühmte Schönheit der Schneeberge genau so ins Reich der Einbildung gehöre, wie die Schönheit der Bachschen Musik, oder die Liebe zum Weibe, an die er nicht glaubte. Er war nun nicht mehr so gespannt auf die Bekanntschaft mit den Bergen. Tags darauf aber, ganz früh am Morgen, als die Kühle in seinem Wagen ihn weckte, warf er wie zufällig einen Blick nach rechts. Der Morgen war völlig klar. Plötzlich sah er in einer Entfernung von etwa zwanzig Schritten – so weit schien es ihm im ersten Augenblick – die blendend weißen Bergriesen mit den zarten Umrissen und die gebrochene, scharf gezeichnete Grenzlinie zwischen ihren Gipfeln und dem dahinter liegenden Himmel. Und als er dann den ganzen weiten Abstand zwischen ihm selbst und den Bergen und dem Himmel, die ganze Massenhaftigkeit dieser Riesengipfel begriff und die Unendlichkeit ihrer Schönheit empfand, da erschrak er und glaubte, es sei eine Täuschung der Sinne, ein Traum. Er schüttelte sich, um zu erwachen, die Berge aber blieben unverändert.
»Was ist das? Was ist das dort?« fragte er den Postillon.
»Das sind die Berge,« versetzte der Nogajer gleichgültig.
»Auch ich sehe sie mir schon lange an,« sagte Wanjuscha. »Wie schön das ist! Zu Hause würden sie's nicht glauben!«
Die schnelle Bewegung des Wagens auf der ebenen Straße bewirkte, daß die Berge, deren Gipfel vom rosigen Lichte der aufgehenden Sonne übergossen waren, am Horizonte hinzulaufen schienen. Anfangs riefen die Berge in Olenin nur ein gewisses Erstaunen hervor, dann empfand er bei ihrem Anblick etwas wie Freude; und je länger er auf diese Kette von Schneebergen hinschaute, die nicht aus anderen, dunkleren Bergen, sondern unmittelbar aus der Steppe hervorwuchs und über ihr hinlief, desto tiefer drang er in das Wesen dieser Schönheit ein, und er fühlte die Berge. Von diesem Augenblick an nahm alles, was er nur sah, alles, was er dachte, alles, was er fühlte, für ihn den neuen, streng majestätischen Charakter der Berge an. Alle seine Moskauer Erinnerungen, alle Scham und Reue, alle törichten Schwärmereien vom Kaukasus schwanden in nichts zusammen, um nie wiederzukehren. »Jetzt hat es begonnen,« sprach gleichsam eine feierliche Stimme in ihm. Die Straße, und die in der Ferne sichtbare Tereklinie, und die Kosakendörfer, und die Bevölkerung – alles das erschien ihm jetzt nicht mehr in einem harmlosen Lichte. Er blickt zum Himmel empor und denkt: die Berge! Er sieht sich selbst, sieht Wanjuscha an und denkt wieder an die Berge. Dort reiten zwei Kosaken daher; die Gewehre in den Futteralen hüpfen auf ihren Rücken gleichmäßig auf und nieder, während die braunen und grauen Beine der beiden Pferde wirr durcheinanderlaufen; er aber sieht nichts weiter als die Berge ... Jenseits des Terek steigt der Rauch über einem Aul (Dorf) in die Höhe, aber die Berge ... Die Sonne geht auf und spiegelt sich in den Fluten des Terek, die hinter dem Schilfrohr hindurchschimmern – aber die Berge ... Aus einem Kosakendorfe kommt ein Wagen angerasselt, Frauen, hübsche junge Frauen, gehen vorüber – aber die Berge ... Abreken sprengen über die Steppe dahin – – und ich fahre hier und fürchte sie nicht, ich habe mein Gewehr, meine Kraft, meine Jugend – aber die Berge ...
Jener ganze, etwa achtzig Werst lange Teil der Tereklinie, in dem die Dörfer der Bergkosaken liegen, trägt bezüglich der Örtlichkeit wie der Bevölkerung einen gleichmäßigen Charakter. Der Terek, der die Kosaken von den Bergbewohnern trennt, fließt trüb und rasch dahin; er ist hier schon breit und ruhig und schwemmt beständig einen grauen Sand an dem niedrigen, mit Schilf bewachsenen rechten Ufer an, während er das steile, wenn auch nicht allzu hohe linke Ufer unterspült und die Wurzeln der dort wachsenden hundertjährigen Eichen, der modernden Platanen und des jungen Unterholzes bloßlegt. Auf dem rechten Ufer liegen ruhige, wenn auch noch nicht völlig friedliche Auls; am linken Ufer, eine halbe Werst vom Flußlauf entfernt, sind in Abständen von sieben bis acht Werst die Kosakendörfer verteilt. In früherer Zeit hatte die Mehrzahl dieser Dörfer dicht am Ufer gelegen; aber der Terek, der sein Bett von Jahr zu Jahr weiter von den Bergen weg nach Norden verlegte, hatte sie öfters überschwemmt, und jetzt sah man dort nur noch dicht überwucherte alte Hausruinen, Obstbäume, Pyramidenpappeln und Gemüsegärten, in denen zwischen den Gemüsen Brombeersträucher und verwilderte Weinstöcke wucherten. Kein Mensch wohnte jetzt mehr dort drüben, man sah im Sande nur die Spuren der Hirsche, Wölfe, Hasen und Fasanen, die sich an diesen Stätten mit Vorliebe aufhielten.
Von Dorf zu Dorf zieht sich ein Weg hin, der schnurgerade wie die Bahn einer Geschützkugel durch den Wald gehauen ist. An dem Wege liegen die Wachthäuser, in denen die Kosaken stationiert sind; zwischen den Wachthäusern, auf den Wachttürmen, sind die Posten ausgestellt. Nur ein schmaler, etwa dreihundert Faden breiter Streifen fruchtbaren Waldbodens bildet den Grundbesitz der Kosaken. Nördlich davon beginnen die Sanddünen der Nogajschen oder Mosdokschen Steppe, die sich in nördlicher Richtung weithin ausdehnt und Gott weiß wo in die Truchmenische, Astrachansche und Kirgis-Kaissakische Steppe übergeht. Südwärts, jenseits des Terek, erhebt sich die große Tschetschnja, weiterhin der Kotschkalossowsche Bergrücken, die Schwarzen Berge, noch irgendein Bergrücken und endlich die Schneeriesen, die noch nie ein Mensch bestiegen hat. In diesem fruchtbaren, waldigen und von üppigem Pflanzenwuchs bestandenen Landstrich lebt seit undenklichen Zeiten eine kriegerische, stattliche und wohlhabende russische Bevölkerung, die sich zum altgläubigen Sektierertum bekennt, unter dem Namen der Grebenischen oder Bergkosaken.