Die Kraft des Mentalisierens – Eine Einführung - Joost Hutsebaut - E-Book

Die Kraft des Mentalisierens – Eine Einführung E-Book

Joost Hutsebaut

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Beschreibung

Wie wir unsere Beziehungen verstehen und verbessern Einfache und verständliche Einführung ins Mentalisieren Zahlreiche Fallbeispiele und Reflexionsangebote Für eine bessere Beziehung zu den eigenen Kindern, Partner:innen, Freund:innen, Kolleg:innnen und sich selbst Beziehungen verlaufen oft nicht reibungslos. Es kann schwierig sein, sich auf andere einzustellen, und umgekehrt fühlen wir uns von denen, die wir lieben, missverstanden. Das kann zu Missverständnissen, Frustration und Reibereien führen. Wenn wir mehr und besser mentalisieren, d. h. unseren eigenen Gefühlen, Gedanken, Wünschen und Absichten sowie denen anderer mehr Aufmerksamkeit schenken, werden unsere Interaktionen angenehmer sein und sich sicherer anfühlen. Das gilt für jede Beziehung. Dieses Buch ist eine einfache und verständliche Einführung in das Thema Mentalisieren mit vielen anschaulichen Fallbeispielen und Reflexionsangeboten – nicht nur für psychologische Fachpersonen, sondern für alle, die ihre Beziehung zu ihren Kindern, Schüler:innen, Partner:innen, Kolleg:innnen und zu sich selbst verstehen und verbessern wollen.

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Seitenzahl: 279

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Dies ist der Umschlag des Buches »Die Kraft des Mentalisierens – Eine Einführung« von Joost Hutsebaut, Liesbet Nijssens, Miriam van Vessem

Joost Hutsebaut, Liesbet Nijssens & Miriam van Vessem

Die Kraft des Mentalisierens. Eine Einführung

Emotionen verstehen, Beziehungen verbessern

Aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke

Klett-Cotta

Impressum

Die Übersetzung und Publikation des Bandes ist ein Produkt des von Movetia Schweizer Agentur für Austausch und Mobilität geförderten Projektes «MentEd.ch – Bringing mentalisation-based education to Switzerland» (Projektnr.: 022-1-CH01-IP-0046; Projektleitung: Prof. Pierre-Carl Link) an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik (HfH) Zürich, Schweiz.

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel » De kracht van mentaliseren« bei Boom, Amsterdam

Copyright © 2021 by J. Hutsebaut, L. Nijssens & M. von Vessem

All Rights Reserved

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung einer Abbildung von Valenty/Adobe Stock

Gesetzt von Eberl & Koesel Studio, Kempten

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-96625-1

E-Book ISBN 978-3-608-12269-5

PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20679-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort zu Die Kraft des Mentalisierens

Kapitel 1

Warum dieses Buch?

1.1 Mentalisieren und epistemisches Vertrauen

1.2 Verhalten und was sich dahinter verbirgt

Kapitel 2

Was Mentalisieren genau bedeutet

2.1 Dem Verhalten einen Sinn geben

2.2 Implizites und explizites Mentalisieren

2.3 Eine verletzliche Fähigkeit

2.4 Dimensionen des Mentalisierens

2.5 Eine mentalisierende Grundhaltung

2.6 Das Wiederherstellen eines effektiven Mentalisierens

2.7 Zusammenfassung

Kapitel 3

Die Verletztlichkeit des Mentalisierens

3.1 Psychische Äquivalenz: Was ich fühle oder denke, ist wahr

3.2 Teleologischer Modus: Erst sehen, dann glauben

3.3 Als-ob-Modus: Kein Kontakt zur Gefühlswelt

3.4 Grundlegende Unterschiede zwischen den drei Modi

3.5 Zusammenfassung

Kapitel 4

Erziehung und Bindung

4.1 Bindungsverhalten

4.2 Sichere Bindung und Emotionsregulation

4.3 Spiegeln

4.4 Sichere Bindung und inneres Arbeitsmodell

4.5 Der Einfluss von schlechtem Spiegeln auf die Bindung

4.6 Die Bedeutung elterlichen Mentalisierens

4.7 Zusammenfassung

Kapitel 5

Unsichere Bindung

5.1 Ängstlich-ambivalente Bindung

5.2 Vermeidende Bindung

5.3 Desorganisierte Bindung

5.4 Zusammenfassung

Kapitel 6

Epistemisches Vertrauen

6.1 Epistemisches Vetrauen

6.2 Epistemische Wachsamkeit

6.3 Epistemisches Vertrauen entwickeln

6.4 Aufmersamkeit wecken

6.5 Zusammenfassung

Kapitel 7

Epistemisches Misstrauen, Naivität und erhöhte Hypervigilanz

7.1 Epistemisches Misstrauen

7.2 Erhöhte epistemische Wachsamkeit und Naivität

7.3 Epistemisches Dilemma

7.4 Bindungsstile und epistemisches Vertrauen

7.5 Mit Epistemisch verletzlichen Menschen in Kontakt kommen

7.6 Zusammenfassung

Kapitel 8

Tipps zur Wiederherstellung eines effektiven Mentalisierens

8.1 Tipp 1: Nehmen Sie wahr, wenn Sie selbst weniger gut mentalisieren oder jemand anderes weniger gut mentalisiert

8.2 Tipp 2: Stellen Sie Ihr eigenes Mentalisieren wieder her

8.3 Tipp 3: Mentalisieren Sie laut

8.4 Tipp 4: Begrenzen Sie ineffektives Mentalisieren auf empathische Art

8.5 Tipp 5: Gehen Sie auf andere mit einer mentalisierenden Grundhaltung zu

8.6 Tipp 6: Bieten Sie anderen emotionale Unterstützung an

8.7 Tipp 7: Übernehmen Sie die Führung, um einem anderen zu helfen, mit Anspannungen umzugehen

8.8 Tipp 8: Validieren Sie die Erfahrung einer Person im psychischen Äquivalenzmodus, sodass Raum für andere Perspektiven entsteht

8.9 Tipp 9: Gehen Sie bei einer Person im teleologischen Modus auf die Suche nach dem zugrunde liegenden Bedürfnis

8.10 Tipp 10: Suchen Sie bei einer Person im Als-ob-Modus Kontakt zu den Emotionen

8.11 Zusammenfassung

Kapitel 9

Zusammen an einer mentalisierenden Umgebung arbeiten

9.1 Probleme In der Zusammenarbeit

9.2 Tipp 1: Einigen Sie sich auf eine Vision

9.3 Tipp 2: Sorgen Sie für Sicherheit

9.4 Tipp 3: Erkennen Sie ineffektives Mentalisieren bei sich und anderen

9.6 Tipp 4: Helfen Sie einander, Emotionen zu verstehen

9.6 Tipp 5: Helfen Sie einander, andere Perspektiven in Erwägung zu ziehen

9.7 Tipp 6: Respektieren Sie alle Perspektiven und Meinungen

9.8 Tipp 7: Loten Sie Unterschiede aus

9.9 Zusammenfassung

Kapitel 10

Verletzliche und resiliente Jugendliche in der Adoleszenz

10.1 Die Pubertät

10.2 Verletzliche Pubertierende und das hohe P

10.3 Bindung, Mentalisieren und epistemisches Vertrauen

10.4 Resilienz in der Pubertät stärken

10.5 Resilienz verstärkt sich selbst

10.6 Zusammenfassung

Epilog

Vorwort zu Die Kraft des Mentalisierens

Was heißt »Mentalisieren«? Mentalisieren ist die Fähigkeit, sich Gefühle, Gedanken, Einstellungen (»mental states«) als Motive für Handlungen vorzustellen. Mentalisieren ist auch so etwas wie eine Alltagspsychologie und reicht tief in die Menschheitsgeschichte zurück. Wir alle beschäftigen uns mehr oder weniger gelungen mit Motiven anderer und unseren eigenen. Wir überlegen auch, wie wir auf andere wirken oder was andere über uns denken. Für das Zusammenleben des modernen Menschen (homo sapiens) ist die Kooperation entscheidend für sein Überleben. »Dazu reicht es aber nicht, zu wissen, wo sich Löwen und Büffel aufhalten. Es ist viel wichtiger, zu wissen, wer in der Gruppe wen nicht leiden kann, wer mit wem schläft, wer ehrlich ist und wer andere beklaut […]« (Harari, Y. N. (2013). Eine kurze Geschichte der Menschheit, S. 35). Diese Art zu denken wird auch als soziale Kognition bezeichnet, und Mentalisieren ist ein Teil davon.

Es ist ein großer Verdienst von Joost Hutsebaut, Liesbet Nijssens und Miriam van Vessem, die wissenschaftlichen Erkenntnisse erstmals auch außerhalb wissenschaftlicher Fachzeitschriften, Publikationen oder Kongresse zusammenzufassen und gut verständlich und alltagsnah darzustellen. Die gelungene Darstellung und die vielen Fallbeispiele machen den Mentalisierungsansatz »greifbar« und bringen ihn auf den Punkt. Die direkte Ansprache der Leserin oder des Lesers lädt ein, über sich und andere zu reflektieren.

Damit stellen sie eine Verbindung vom Therapieraum zum Abendbrottisch her. Das ist nicht nur überaus klug und innovativ, denn wesentliche Veränderungen finden nicht allein im Therapiezimmer, sondern zwischen den Psychotherapiesitzungen statt, es spricht auch Familienangehörige, Lehrer:innen, pädagogische Fachkräfte, Kolleg:innen und interessierte Mitmenschen an. Es sind die Beziehungen zu diesen Menschen, die unsere Entwicklung beeinflussen.

Peter Fonagy, Professor für Psychologie in London und einer der Begründer des Mentalisierungsmodells, kritisierte auf einer Tagung in Ludwigsburg im Jahr 2019 die Entwicklungen in Psychotherapie und Psychiatrie insofern, dass sie sich zu stark auf den Patienten oder die Patientin, ihr Innenleben und ihre Probleme konzentrierten und zu wenig die soziale Umwelt, die bedeutsamen Bezugspersonen und alltäglichen Begegnungen miteinbeziehen. Das vorliegende Buch Die Kraft des Mentalisierens füllt nun diese Lücke und schafft eine Verbindung von Wissenschaft und Psychotherapie mit Pädagogik, Bildung und Reflexion im Alltag.

Über seine psychotherapeutische und forschende Tätigkeit hinaus ist Prof. Dr. Joost Hutsebaut Mitglied des internationalen Netzwerks MentEd (steht für Mentalization and Education, siehe www.mented.eu) und hat an der Entwicklung und Durchführung eines Mentalisierungstrainings für pädagogische Fachkräfte und Studierende mitgearbeitet. Die Arbeit dieses internationalen Netzwerks wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG GZ: GI 1274/1-1) ebenso wie von der Europäischen Union (Erasmus+ 2019-1-DE01-KA203-004967) und der Schweizer Agentur Movetia gefördert. Auch hat Movetia die Herausgabe dieses Buches Die Kraft des Mentalisierens finanziell unterstützt. Die Übersetzung ist ein Produkt des von Movetia geförderten Projektes »MentEd.ch – Bringing mentalization-based education to Switzerland« (Projektnr.: 2022-1-CH01- IP-0046). Wir danken Joost Hutsebaut und den Autorinnen Liesbet Nijssens und Miriam van Vessem für ihre innovative, weitreichende und gelungene Arbeit und danken den Organisationen für ihre Unterstützung bei der Weiterentwicklung und Verbreitung des Mentalisierungsansatzes in der Pädagogik, der Sozialen Arbeit, in der Schule, der Prävention und Gesundheitsförderung und wünschen dem Buch, dass »Mentalisierung und epistemisches Vertrauen uns dabei helfen kann, öfter die bessere Version von uns selbst zu sein«.

Für das internationale Netzwerk MentEd

Prof. Dr. Holger Kirsch

Evangelische Hochschule Darmstadt

Prof. Dr. Stephan Gingelmaier

Pädagogische Hochschule Ludwigsburg

Prof. Pierre-Carl Link

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik, Zürich

Kapitel 1

Warum dieses Buch?

Vielleicht merken Sie, dass Sie mit Ihrem Partner, Ihrer Partnerin immer wieder in die gleichen Streitereien geraten. Dabei geht es eigentlich um gar nichts, und Sie haben sich schon öfter gefragt, warum es Ihnen einfach nicht gelingt, damit aufzuhören. Vielleicht fragen Sie sich, warum Sie für Ihre Tochter sehr viel Geduld aufbringen können, nicht aber für Ihren Sohn. Nicht, dass Sie Ihre Tochter mehr lieben würden. Und doch reagieren Sie unterschiedlich auf Ihre beiden Kinder. Vielleicht haben Sie sich als Lehrer:in manchmal machtlos gefühlt. Das Vorgehen, das bei anderen Kindern funktioniert, scheint bei diesem einen Schüler, dieser Schülerin nicht zu greifen. Oder vielleicht kommen Sie mit all Ihren Kolleg:innen gut aus, aber es gibt den einen, der Sie immer wieder auf die Palme bringt.

Und Sie? Sie verdrängen Ihre Verärgerung. Vielleicht schämen Sie sich für manche Gedanken oder Gefühle. Oder Sie haben die Nase voll davon, dass manche Dinge anders laufen als gewünscht. Und doch: Jeder Mensch hat damit zu tun. Der Kontakt mit anderen verläuft nun einmal nicht immer so, wie wir es uns wünschen. Wir sind nicht immer die beste Version von uns selbst. Manchmal überreagieren wir und machen ständig die gleichen Fehler. Oft fühlen wir uns von anderen nicht verstanden. Oder wir haben das Gefühl, dass wir den anderen nicht mehr erreichen können. Das kann zu Missverständnissen, Unverständnis, Frustration, Reibereien und manchmal zu Einsamkeit führen.

Ein wichtiger Grund, warum die Dinge schieflaufen, liegt darin, dass wir die Gedanken und Gefühle von anderen nicht direkt sehen können. Wir können wohl über sie nachdenken, und wir können uns ein Bild von ihnen machen, aber dabei können wir danebenliegen. Und manchmal beschäftigen wir uns nicht mit unseren eigenen Gedanken und Gefühlen. Wir handeln einfach. Warum? Darum!

Denken Sie einmal an den letzten Streit, den Sie hatten. Können Sie sich in Erinnerung rufen, worum es in diesem Streit ging? Wahrscheinlich war der Inhalt nicht einmal so wichtig, und doch ist das Gespräch oder die Diskussion entgleist. Wissen Sie noch, wie Sie sich bei diesem Streit gefühlt haben? Und was denken Sie, wie sich die andere Person gefühlt hat? Oder vielleicht kommen Sie gar nicht so schnell in einen offenen Streit und die Distanz entsteht eher unausgesprochen. Fühlen Sie sich manchmal allein und unverstanden?

1.1 Mentalisieren und epistemisches Vertrauen

In diesem Buch geht es um Menschen, um die Beziehungen zwischen ihnen und darum, wie diese manchmal scheitern können. Der Grundgedanke lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn wir unseren eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Absichten und denen anderer mehr Aufmerksamkeit schenken (d. h. besser mentalisieren), werden unsere Kontakte und Beziehungen angenehmer, sicherer und besser verlaufen, und wir werden einander besser erreichen und helfen können (d. h. es entsteht größeres epistemisches Vertrauen). Dies gilt für die Beziehungen zu Eltern, Partner:innen und Kindern, aber auch für unseren Kontakt zu Freund:innen, Kund:innen und Kolleg:innen.

Mentalisieren ist ein komplizierter Begriff für einen wichtigen und sehr natürlichen Prozess, den wir alle kennen. Es bedeutet, dass wir unser eigenes Verhalten und das anderer Menschen von dem her zu verstehen versuchen, was möglicherweise hinter diesem Verhalten stecken könnte: den Bedürfnissen eines Menschen, seinen oder ihren Absichten, den Gefühlen oder Erwartungen, aus denen heraus Sie selbst oder andere etwas tun. Mentalisieren bedeutet, nicht nur zu sehen, was die andere Person tut, sondern auch zu versuchen, den Hintergrund davon zu verstehen. Wir alle tun das, jeden Tag. Wenn wir sehen, dass unser Partner, unsere Partnerin traurig ist, fragen wir uns, was vor sich geht. Wir denken darüber nach, woran es liegen könnte, ob wir vielleicht selbst etwas getan haben. Manchmal merken Sie vielleicht, dass Sie sehr stark auf jemanden reagieren, und fragen sich, woher diese plötzliche Reaktion kommt. Sie können dann darüber nachdenken, was Sie in diesem Moment so leicht reizbar macht: Hängt Ihnen noch der Streit von gestern nach? Hatten Sie einen schweren Tag auf der Arbeit? Oder … es gibt so viele Gründe zu bedenken, warum Sie auf die andere Person losgehen.

Mentalisieren ermöglicht epistemisches Vertrauen. Epistemisches Vertrauen ist das Vertrauen darauf, dass andere Sie etwas lehren können, dass andere Ihnen etwas bieten können, das wirklich wichtig ist. In der klinischen Praxis sagen wir manchmal, dass sich Menschen »mentalisiert fühlen«: Sie erleben, dass sie in ihrer eigenen Innenwelt verstanden und anerkannt werden. Aufgrund dieser Erfahrung sind sie eher bereit, sich auf die Perspektive des anderen einzulassen. Wenn Sie das Gefühl haben, dass ein:e andere:r Ihre schwierige Situation wirklich von innen heraus versteht, werden Sie auch mehr von dieser anderen Person annehmen. Mentalisieren versetzt Sie also in die Lage, den anderen zu erreichen.

Das klingt vielleicht einfach und selbstverständlich. Doch hinter dieser grundlegenden Aussage steckt eine Menge Theorie und Forschung. Oftmals komplizierte Theorien darüber, wie wir als Menschen aufwachsen und wie dies uns zu der Person formt, die wir heute sind, darüber, wie wir Beziehungen eingehen (Bindung und Bindungsstile), und über das Wissen, das wir in der Beziehung zu anderen gewinnen (epistemisches Vertrauen). Mit diesem Buch wollen wir diese reichhaltigen Theorien zugänglich und überdies für das alltägliche Leben anwendbar machen: in Ihrer Beziehung, Ihrer Familie, Ihrem Freundeskreis und am Arbeitsplatz. Denn wir glauben, dass eine gezieltere Beachtung von Mentalisierung und epistemischem Vertrauen uns dabei helfen kann, öfter die bessere Version von uns selbst zu sein.

Gehen Sie einmal kurz in sich, was Sie von diesem Buch erwarten. Was hoffen Sie zu finden? Wonach verspüren Sie ein Bedürfnis? Denken Sie oft über sich selbst und andere nach? Fällt es Ihnen leicht, mit Emotionen umzugehen? Oder finden Sie das eher Wischiwaschi und soft? Sind Sie eher der Anpacker und Macher?

Bevor Sie weiterlesen, ein Wort der Warnung. Bei diesem Buch handelt es sich nicht um ein klassisches Selbsthilfebuch, in dem Sie konkrete Verhaltensratschläge finden, die es Ihnen ermöglichen sollen, immer richtig zu handeln. Das Buch enthält eine ganze Reihe von Tipps, aber keine Patentlösungen. Die Ratschläge, die wir geben, sind nicht so konkret oder unmittelbar anwendbar, dass Sie sofort wüssten, was Sie in unterschiedlichen Situationen, in denen Beziehungen schwierig verlaufen, sagen oder tun sollten. Wir können Ihnen also nicht sagen, wie Sie Ihre Gereiztheit gegenüber Ihrer Kollegin ändern oder auch für Ihren Sohn mehr Geduld aufbringen können. Wenn solche Ratschläge immer funktionieren würden, wäre Elternschaft ein Kinderspiel, und jede Beziehung würde reibungslos verlaufen. Wir denken aber, dass wir Ihnen den Weg beschreiben können, auf dem Sie die Situation vielleicht selbst besser verstehen und dadurch besser bewältigen können. Dass die Ratschläge nicht sehr konkret sind, kommt nicht von ungefähr. Wir sind nämlich der Ansicht, dass solche verhaltensorientierten Ratschläge zum Scheitern verurteilt sind, weil sie den tieferen Sinn des Verhaltens außer Acht lassen. Denn ein und dasselbe Verhalten kann unterschiedliche Gründe haben. Nehmen wir an, jemand will Ihnen einen Rat dazu geben, wie es Ihnen gelingen könnte, Ihrem Partner, Ihrer Partnerin gegenüber nicht so schnell ausfällig zu werden. Welchen Inhalt dieser Ratschlag hat, hängt vielleicht davon ab, warum Sie ausfallend geworden sind. Handelte es sich um einen einmaligen Ausbruch – beispielsweise weil Ihnen ein Streit vom Vortag noch zusetzt –, ist es vielleicht ratsam, ein klärendes Gespräch über diesen Vorfall zu suchen. Sind Sie aber ausgerastet, weil Sie sich seit Monaten beruflich überlastet fühlen und deshalb zu Hause viel reizbarer sind, liest sich ein angemessener Ratschlag ganz anders. Der Punkt ist: Man kann nur dann den besten Ratschlag geben, wenn man die spezifische Bedeutung des Verhaltens in dieser speziellen Situation kennt. Außerdem wird der Ratschlag in der Regel nur in einer Interaktion angenommen, in der es zu einem echten Kontakt kommt. Bei unseren Tipps in diesem Buch geht es also um den Prozess des Mentalisierens, der notwendig ist, um Verhalten zu verstehen und einen besseren Kontakt zu erreichen. Erst dieser Prozess wird Sie in die Lage versetzen, selbst zu überlegen, was Sie in der jeweiligen Situation anders oder besser machen können.

1.2 Verhalten und was sich dahinter verbirgt

Menschen sind soziale Wesen. Wie wir über uns selbst denken oder wie wohl wir uns in unserer Haut fühlen, hängt oft davon ab, wie angenehm die Kontakte mit anderen verlaufen. Als Elternteil fühlen Sie sich wertvoll, wenn Sie eine gute Beziehung zu Ihrem Kind erleben. Als Partner:in fühlen Sie sich wertgeschätzt, wenn Sie merken, dass sich der/die andere um sie kümmert. Wenn etwas nicht gut läuft, sind wir oft versucht, das Verhalten der anderen Person zu ändern. Das Verhalten ist der sichtbarste, greifbarste Anknüpfungspunkt, um etwas in der Beziehung zu ändern. Ein Mann wünscht sich von seiner Frau, öfter auf ihn Rücksicht zu nehmen, damit er das Gefühl hat, dass sie sich um ihn kümmert. Eine Mutter möchte, dass sich ihr Kind bei einem Besuch benimmt, damit sie stolz sein kann. Wie viele Erziehungsbücher gibt es nicht, die uns lehren, wie wir das Verhalten eines Kindes steuern können? Wie oft haben Sie von Ihrem Partner, Ihrer Partnerin nicht ein gewisses »Verhalten« gefordert?

Die Steuerung von Verhalten ist nicht nur deshalb schwierig, weil Verhalten eine Ausdrucksform ist, hinter der sich unterschiedliche Erfahrungen oder Gründe verbergen können. Noch grundlegender ist, dass wir, wenn wir nur das Verhalten steuern, etwas Wesentliches übersehen, das viel wichtiger ist als das Verhalten, das eine Person zeigt. Lassen Sie uns diesen Punkt anhand von zwei Beispielen näher verdeutlichen.

Bernd und Denise

Bernd unterrichtet in der 6. Klasse. In seiner Klasse ist auch Denise. Sie stört regelmäßig den Unterricht, weil sie sehr wütend werden kann und sich mit ihren Mitschüler:innen zankt. Ihre Mitschüler:innen haben Angst vor ihr, und niemand sitzt gerne neben ihr.

Nehmen Sie sich einen Moment Zeit, um über dieses Beispiel nachzudenken. Welche Gedanken haben Sie dazu? Was löst es in Ihnen aus? Wie würden Sie selbst reagieren, wenn sich Denise zum x-ten Mal wütend und feindselig äußert? Was veranlasst sie, so zu reagieren?

Das Verhalten von Denise ist in der Klasse schwer zu händeln. Sie stört den Unterricht, andere Kinder haben Angst vor ihr. Andere Eltern haben sich beschwert, weil ihre Kinder von Denise geschlagen oder getreten werden. Dem Verhalten von Denise muss Einhalt geboten werden.

Bernd hat deshalb ein Belohnungssystem für die Gruppe entwickelt. Nach zwei Monaten Arbeit mit diesem System scheint es Wirkung zu zeigen. Die Gruppe ist ruhiger geworden, und Denise macht auch im Unterricht besser mit. Das Verhalten von Denise hat nicht aufgehört, aber es nimmt allmählich ab. Denise hat gelernt, ihr Verhalten besser zu kontrollieren. Dies ist ein ausgezeichneter Ansatz, der im Allgemeinen sowohl für Denise und Bernd als auch für die Mitschüler funktioniert. Aber manchmal kann Denise sich wirklich nicht mehr zurückhalten und rastet dann immer noch aus. Eigentlich bleibt sie ein bisschen ein Problemkind, und die anderen Kinder halten doch etwas Abstand zu ihr. Denise hat auch das Gefühl, dass sie weiterhin etwas anders mit ihr umgehen, aber sie versteht nicht wirklich, warum: Sie hält sich doch fast immer zurück?

Der verhaltenstherapeutische Ansatz hat zwar zu einer gewissen Beruhigung geführt, und auch Denises Verhalten hat sich geändert, dennoch ist etwas Wesentliches unverändert geblieben, die Art und Weise, wie sich Denise fühlt und wie sie sich selbst sieht. Auch andere haben vielleicht nicht begonnen, sie wesentlich anders zu sehen oder zu erfahren, obwohl sich ihr Verhalten verbessert hat. Denise sieht sich weiterhin als »Problemkind«, das niemand wirklich mag. Andere betrachten sie weiterhin als »schwierig« und unberechenbar. Das Verhalten ist zwar unter Kontrolle, aber die zugrunde liegenden Vorstellungen bleiben bestehen. Kurz gesagt, wie wichtig dieser Ansatz für die Erziehung oder die Arbeit mit einer Klasse auch ist, es fehlt ihm doch etwas: etwas, das Denise und ihre Beziehungen zu anderen wesentlich verändern kann.

Bevor Sie weiterlesen, denken Sie einen Moment darüber nach, wie es für Denise ist, in der Klasse zu sein. Wie fühlt sie sich wohl? Wie sehen sie die anderen? Wie erlebt sie, wie sie von den anderen gesehen wird?

Bernd hat nun etwas mehr Ruhe in die Klasse gebracht, merkt aber, dass sich Denise immer noch nicht wohlfühlt. Er hat das Gefühl, dass sie bei Gruppenarbeiten oft nicht ganz dazugehört. Die anderen Schüler:innen reagieren ein wenig anders auf sie. Während einer Gruppenarbeit ärgert sich Denise, weil Mira aus ihrer Gruppe nicht auf ihre Beiträge eingeht. Denise beginnt lauter zu reden, aber dadurch scheint sie noch weniger ernst genommen zu werden. Plötzlich stößt sie den Tisch weg und brüllt, dass die anderen Gruppenmitglieder Idioten seien. Bernd beobachtet dies aus einem gewissen Abstand und merkt dabei, dass er sich nicht nur darüber ärgert, wie die Dinge aus dem Ruder laufen, sondern auch etwas von Denises Traurigkeit spürt. Er sieht, dass Denise dem Anschein nach rebellisch und ärgerlich wird, wenn sie sich übergangen fühlt. Möglicherweise vertraut sie ohnehin schon wenig darauf, dass sie dazugehört. Und wenn die anderen Gruppenmitglieder ausgerechnet ihr gegenüber dann vorsichtiger und distanzierter sind, wird sie in diesem Gefühl noch weiter bestätigt. Indem Bernd auf diese Weise über sie nachdenkt, entwickelt er mehr Empathie für die möglichen Gründe und Gefühle, aus denen heraus Denise manchmal so unangenehm reagiert. Er beschließt, sie nach dem Unterricht zu sich zu rufen:

»Du erwartest vielleicht, dass ich jetzt wütend auf dich bin, weil es gerade schiefgelaufen ist, aber ich würde gerne mit dir darüber reden, was genau passiert ist. Darüber, warum es so schiefgelaufen ist. Denn ich habe auch gesehen, wie du dich anfangs wirklich bemüht hast, dazuzugehören und mitzumachen. Ist das richtig?«

Wie könnte das auf Denise wirken? Vielleicht ist sie etwas überrascht, weil der erwartete Rüffel ausbleibt. Vielleicht fühlt sie sich sehr gesehen, weil Bernd über ihr Verhalten hinaus auf ihre Beweggründe schaut.

Bernd: »Ich habe das Gefühl, dass es für dich besonders unangenehm war, als Mira nicht auf deinen Vorschlag eingegangen ist.« »Dann tut sie so, als dürfe ich nicht mit den anderen mitmachen«, fügt Denise hinzu, während sie auf ihre Füße schaut. Bernd nickt: »Ich weiß nicht, ob das Miras Absicht ist, aber ich habe bemerkt, dass dich ihre Bemerkung getroffen hat.« »Ja, sie haben mich einfach ausgeschlossen!« Bernd spiegelt: »Das klingt sehr traurig, wo du doch wirklich dein Bestes geben wolltest. Und es war für dich wohl sehr schmerzhaft, dass die anderen das nicht zu sehen schienen.« Denise schaut auf: »Ja, dann komme ich mir so dumm vor, dass ich nur noch wütend reagieren kann.«

Hier geht Bernd weiter, als Denise in ihrem Verhalten einzuschränken. Natürlich darf sie sich in der Klasse so nicht gehen lassen. Aber er geht darauf ein, warum sie es tut. Und er bringt sie dazu, selbst darüber nachzudenken. So hilft er ihr, ihr eigenes Verhalten besser zu verstehen. Und besser zu verstehen, welche Wirkung das auf die anderen Kinder in der Gruppe hat. Und wie diese aufgrund dieser Wirkung wieder auf Denise reagieren …

Was in diesem Beispiel geschieht, ist, dass Bernd begonnen hat, über Denise zu mentalisieren. Das schafft so etwas wie Verständnis in ihm selbst und zwischen den beiden. Er gibt Denise die Sicherheit, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Er schafft eine Verbindung zu Denise und hilft ihr, sich selbst und ihre Beziehungen zu anderen besser zu verstehen und zu regulieren. Natürlich nicht durch ein einmaliges Gespräch, sondern indem er sie immer wieder ermutigt, auf das zu achten, was jenseits des Verhaltens mit den Kindern in der Klasse geschehen könnte, und die Auswirkungen davon auf sich selbst wahrzunehmen.

Über das Belohnungssystem lernt Denise, ihr Verhalten zu kontrollieren. Das ist wichtig und angenehm: für Denise, weil sie nun seltener als »störend« oder »lästig« empfunden wird, und für Bernd und den Rest der Klasse, weil sie den Unterricht nicht mehr stört und sich auch anderen Kindern nicht mehr aggressiv nähert. Indem mentalisierend auf sie eingegangen wird, fühlt sich Denise in ihrer Angst und Traurigkeit darüber, wie es in der Klasse abläuft, gehört. Denise lernt so nicht nur, ihr Verhalten zu kontrollieren. Sie lernt auch, ihr Verhalten und damit auch ihre Emotionen besser zu verstehen und dadurch besser zu regulieren.

Ein mentalisierendes Vorgehen wirkt sich auf die Qualität der Beziehung zwischen Bernd und Denise aus. Es wirkt sich auch auf Denises Selbstbild aus – sie selbst war zu der Überzeugung gelangt, dass sie ein schwieriges und lästiges Kind ist. Und das kann sich auf das Bild auswirken, das die anderen in der Klasse von Denise haben. Neben der Kontrolle ihres Verhaltens lernt Denise also viele wichtige Dinge, die ihr auch in ihrem gesamten Leben weiterhelfen können: Statt ein schwieriges Kind zu sein, ist sie jemand mit Emotionen und Verhaltensweisen, die sie verstehen lernen und mit denen sie daher auch besser umgehen lernen kann. Und gerade das ist für den Rest ihres Lebens so überaus wertvoll.

Nehmen wir ein zweites Beispiel hinzu, mit dem wir noch näher verdeutlichen können, worum es uns geht.

Jan und Saskia

Jan und Saskia sind seit 12 Jahren zusammen. Letztes Jahr haben sie eine schwere Krise durchgemacht. Jan ist damals mit einer Arbeitskollegin fremdgegangen. Sie haben sich kurz darauf getrennt, sind dann aber doch wieder zusammengekommen. Jan hat den Job gewechselt. Seit diesem Vorfall ist er besonders aufmerksam. Er ist darauf bedacht, regelmäßig pünktlich nach Hause zu kommen, er bringt Blumen mit und sagt Saskia viel öfter als früher, dass er sie liebt. Trotzdem bleibt Saskias Misstrauen bestehen. Sie sprechen auch nie wieder richtig über das, was passiert ist. Jan findet es frustrierend, dass Saskia nicht über den Vorfall hinwegkommen kann. Tut er denn nicht alles, was er kann, um ihr klarzumachen, dass er falschgelegen hat? Wann wird es für sie wieder gut sein? Saskia ihrerseits merkt, dass sie Jan nicht mehr vertraut. Warum kann es nicht noch einmal passieren?

Jan und Saskia befinden sich in einer Sackgasse. Seit dem Vorfall ist Jans Verhalten tadellos. Doch das ändert weder etwas an Saskias Bild noch an dem Misstrauen, das sie ihm entgegenbringt. Für Jan ist das frustrierend: Er verhält sich vertrauenswürdig, aber in Saskias Augen ist er nicht vertrauenswürdig. Wie bei Denise fehlt etwas Wesentliches, um wirklich eine Veränderung herbeizuführen. Man könnte sagen, dass Jans vertrauenswürdiges Verhalten bei Saskia nicht ankommt. Mehr noch, es könnte sie nur noch misstrauischer machen: Warum legt er sich so ins Zeug? Hat er noch mehr zu verbergen? Wie kann sie ihm jemals wieder vertrauen? Das ist auch für Saskia frustrierend: Sie möchte ihm gern wieder vertrauen können, aber es gelingt ihr nicht.

Ob es zwischen Saskia und Jan gut werden wird, wissen wir nicht. Aber was hier passiert, kann vielleicht doch nachvollzogen werden. Wir können auch darüber nachdenken, was Saskia brauchen könnte, damit sie Jan gegenüber weniger misstrauisch sein und ihr verletztes Vertrauen wirklich zu heilen beginnen kann. Könnte es sein, dass Saskia vor allem das Gefühl braucht, dass Jan in jeder Faser seines Körpers versteht, wie schmerzhaft und verletzend der Vorfall für sie gewesen ist? Dass auf diese Weise wieder ein echter Kontakt zwischen ihnen entstehen kann?

Wir alle mentalisieren, aber es gibt viel zu gewinnen, wenn wir dem mehr Aufmerksamkeit schenken. Sich gesehen und verstanden zu fühlen, ist ein wichtiges Grundbedürfnis und mitentscheidend dafür, wie man sich selbst und die Welt wahrnimmt. Dieses Buch fasst zusammen, was wir über gesunde Entwicklung, Bindung, Sicherheit, Resilienz, Vertrauen, Lernen von anderen und Mentalisieren wissen, und ist voller aus dem Leben gegriffener Beispiele. Es bietet Einblicke in die Möglichkeiten, jegliche Beziehung, ob beruflich oder privat, anhand der Erkenntnisse von Bindungs- und Entwicklungstheorien zu verbessern. Wir hoffen, dass es nicht nur reich an Wissen ist, sondern Leser:innen vor allem dabei hilft, von Zeit zu Zeit die etwas bessere Version von sich selbst sein zu können.

Kapitel 2

Was Mentalisieren genau bedeutet

Als Mensch brauchen wir Beziehungen. Ärgerlicherweise verlaufen diese Beziehungen jedoch nicht immer reibungslos. Oft haben unsere Konflikte und Verstimmungen ihre Wurzeln in Missverständnissen. Warum räumt er seinen Dreck nicht weg, obwohl ich ihn jeden Morgen aufs Neue darum bitte? Warum reagiert sie so abweisend, wenn ich ihr zu helfen versuche? Mentalisieren kann der Schlüssel zum gegenseitigen Verständnis sein und damit einen wichtigen Nährboden für Konflikte beseitigen. In diesem Kapitel untersuchen wir den Prozess des Mentalisierens anhand eines Fallbeispiels, das sich in der Sekundarschule abspielt: Mathelehrer Erik versucht, das störende Verhalten des 15-jährigen Tom in den Griff zu bekommen.

Erik und Tom

Erik ist Lehrer. Er hat ein schwieriges Schuljahr hinter sich. Als Klassenlehrer war er für eine Klasse verantwortlich, in der es viele Probleme gab. Sein sanftmütiger Ansatz hat nicht wirklich gut funktioniert. Außerdem war er eine Zeit lang krank und brauchte Zeit, um sich zu erholen, sodass er nicht die Energie in seine Klasse stecken konnte, die vielleicht nötig gewesen wäre. Besonders ärgerlich war, dass er sich dafür auch im Lehrerzimmer missbilligenden Blicken ausgesetzt gefühlt hatte. Seine Kolleg:innen sagten es zwar nicht so deutlich, aber er spürte, dass sie der Meinung waren, er hätte im vergangenen Jahr mit der Klasse strenger sein sollen. In diesem Schuljahr ist er daher auch sehr bemüht, solche Schwierigkeiten zu vermeiden. Ein Kollege sprach ihn darauf an, dass er in diesem Schuljahr besonders auf Tom achtgeben müsse. Der machte seit letztem Jahr immer mehr Probleme – vor allem in Mathe, dem Fach, das Erik unterrichtet.

Der 15-jährige Tom kann zwar recht gut lernen, aber Mathe liegt ihm überhaupt nicht. Auch mit seinem Mathelehrer hat er sich letztes Jahr nicht verstanden. Der machte manchmal Bemerkungen, durch die er sich noch unsicherer und dümmer fühlte. Er ist ohnehin nicht sehr selbstsicher und wurde im letzten Schuljahr von einigen Jungen in seiner Klasse etwas schikaniert. Deshalb sieht er dem Beginn des neuen Schuljahres mit ziemlicher Aufregung entgegen. Zum Glück ist er seinen alten Mathelehrer losgeworden. Über dessen Nachfolger hat er bisher nur gehört, dass er nicht gut für Ordnung sorgen kann.

Schon in den ersten Wochen merkt Erik, wovon sein Kollege gesprochen hat: Während des Matheunterrichts ist Tom oft mit anderen Dingen beschäftigt. Er unterhält sich mit Mitschüler:innen, kritzelt in seinem Übungsheft herum – der Mathe-Stoff scheint ihn wenig zu interessieren. Seine Hausaufgaben macht er oft gar nicht oder nur unvollständig. Schlimmer noch: Wenn Erik ihm Fragen stellt, antwortet er mit Witzen, mit denen er in der Klasse für Lacher sorgt. Erik nimmt sich vor, Tom an der kurzen Leine zu halten. Er will um jeden Preis vermeiden, dass die Dinge dieses Jahr wieder aus dem Ruder laufen. Wie sollte er das dann noch seinen Kolleg:innen erklären?

Tom seinerseits hat sich schon Sorgen gemacht, dass es mit seinem neuen Mathelehrer nicht klappen könnte. Und tatsächlich, gleich in den ersten Wochen spricht Erik ihn strenger und kühler an als seine Klassenkamerad:innen. Wie sein Vorgänger scheint Erik darauf bedacht zu sein, ihn vor der Klasse bloßzustellen. Warum haben es nur alle immer auf ihn abgesehen? Er hat doch ohnehin schon Probleme mit Mathe. Er versucht, cool zu bleiben. Die anderen dürfen auf keinen Fall merken, dass er darunter leidet, denn dann fangen die Schikanen wieder von vorne an.

Als Tom eines Tages wieder einmal seine Hausaufgaben nicht gemacht hat, schickt ihn Erik resolut aus dem Klassenzimmer. Er will ein Zeichen setzen. Tom war schon öfter von ihm gewarnt worden, und jetzt muss er einfach mal die Konsequenzen spüren. Doch es entwickelt sich anders, als Erik erwartet hat. Tom weigert sich, das Klassenzimmer zu verlassen, und sagt, dass andere auch nicht raus geschickt werden, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht machen. Er wirft Erik vor, auf ihm herumzuhacken, und macht ihm deutlich, er solle nicht denken, dass er sich wie ein Trottel behandeln lasse. Für Erik ist das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt … Er schickt Tom nach Hause und sagt, er werde seine Eltern anrufen, um sie über sein Verhalten in der Klasse zu informieren. Tom brauche, was ihn angehe, nicht mehr in seinen Unterricht zurückzukehren, bis er verspreche, das zu tun, was von ihm verlangt wird, und seinem Lehrer gegenüber grundlegenden Respekt aufzubringen.

Nach dem Erlassen dieser Sanktion fühlt sich Erik jedoch schlecht. Er fragt sich, ob er nicht zu weit gegangen ist. Er fühlt sich unsicher und bleibt nach dem Unterricht in seiner Klasse, damit er nicht gleich mit seinen Kolleg:innen sprechen muss. Tom ist natürlich stinksauer auf Erik. Aber auch irgendwie auf sich selbst. Warum hat er sich so gehen lassen? Warum konnte sich Erik nicht normal verhalten? Tom hat Angst vor der Reaktion seiner Eltern: Die haben ohnehin schon den Eindruck, dass er nicht sein Bestes gibt.

Erik beobachtet Toms Verhalten, schätzt es ein und reagiert darauf. Was Erik nach außen hin sieht, ist das physische, sichtbare Verhalten von Tom: Er macht Witze im Unterricht, sitzt verkehrt herum auf seinem Stuhl, redet ständig mit seinen Mitschüler:innen und macht die Hausaufgaben nicht oder nur zur Hälfte. Dieses Verhalten wird von Erik interpretiert: Er sieht es als ein Zeichen dafür, dass Tom den Unterricht nicht ernst nimmt, sich nicht für Mathematik interessiert, hauptsächlich damit beschäftigt ist, seine Freunde zu beeindrucken, und ihn – Erik – vielleicht überhaupt nicht ernst nimmt. Diese Interpretation wird möglicherweise ein wenig davon bestimmt, dass er zuvor von einem Kollegen vor Tom gewarnt worden war. Was aber vor allem hineinspielt, ist seine Angst vor einer Wiederholung des Disziplinproblems, mit dem er sich bereits im Jahr zuvor konfrontiert sah, und vor dem Urteil der Kolleg:innen, das er wahrgenommen hat. Er will sich beweisen. Deshalb ist für ihn auch klar, dass Toms Verhalten Einhalt geboten werden muss. Erik tut, was wahrscheinlich viele Lehrer tun würden: Er behält Tom im Auge, spricht ihn auf sein Verhalten an, droht ihm mit Sanktionen und sanktioniert ihn schließlich tatsächlich. Vielleicht erfolgte die letzte Sanktion, weil Erik inzwischen nicht mehr weiterwusste. Jedenfalls würde Tom ihn nicht noch einmal vor seinen Kollegen blamieren!

2.1 Dem Verhalten einen Sinn geben

Menschen haben eine Innen- und eine Außenseite. Das Äußere können wir direkt wahrnehmen. Das Innere können wir hingegen nicht sehen. Wir müssen es aus dem sichtbaren Teil ableiten. Das ist nicht immer einfach. Schließlich kann ein und dasselbe Verhalten Unterschiedliches ausdrücken. Den Prozess, durch den wir dennoch unserem eigenen Verhalten und dem anderer eine Bedeutung geben, nennen wir Mentalisieren. Dies ist ein fortwährender Prozess. Manchmal bewusst und überlegt, meistens aber automatisch und spontan.