Die Kreutzersonate - Lew Tolstoi - E-Book

Die Kreutzersonate E-Book

Lew Tolstoi

0,0

Beschreibung

Ein faszinierendes und packendes Bild der Ehe! Posdnyschew sitzt in einem Zug und hört den anderen Reisenden bei einer Diskussion über die Grundbedingungen einer Ehe zu. Schließlich erzählt er die Geschichte seiner eigenen Ehe, in der keine vertrauensvolle Partnerschaft entstand. Sein krankhafte Argwohn gegenüber seiner Frau sammelte sich immer mehr an, bis er schließlich in einem Eifersuchtsanfall endete...-

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 178

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Lew Tolstoi

Die Kreutzersonate

 

Saga

Die Kreutzersonate ÜbersetztAugust Scholz Coverbild/Illustration: Shutterstock Copyright © 2002, 2020 Lew Tolstoi und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726619065

 

1. Ebook-Auflage, 2020

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.

 

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk

– a part of Egmont www.egmont.com

1.

Es war Frühling. Zwei Tage schon reisten wir. An kleineren Haltestellen stiegen beständig Leute aus und ein; nur drei Reisende saßen gleich mir von der Abgangsstation an im Abteil: eine weder hübsche noch junge Dame mit müdem Gesichtsausdruck; sie rauchte Zigaretten, trug einen fast männlichen Paletot und eine Mütze; ein ihr bekannter Herr, sehr gesprächig, in den vierziger Jahren, äußerst gut gekleidet, und dann noch ein anderer Herr, mittelgroß, nervös, noch nicht sehr alt, aber doch schon mit ergrautem Haar und auffallend lebendigen Augen, die unruhig von einem zum andern Gegenstand sprangen. Er saß etwas abseits und hielt sich auch von allen anderen sehr zurück. Er trug einen bereits etwas abgetragenen Mantel mit einem Lammfellkragen und eine ebensolche Mütze. Der Mantel war aber zweifellos von einem sehr guten Schneider gearbeitet. War der Mantel nicht zugeknöpft, so kam eine Joppe und ein russisches besticktes Hemd darunter zum Vorschein. Mitunter stieß er eigentümliche Töne aus, die man für ein Hüsteln oder abgebrochenes Lachen hätte halten können.

Die ganze Fahrt über vermied er es aufs sorgfältigste, mit den übrigen Fahrgästen irgendeine Bekanntschaft anzuknüpfen. Wagte es wirklich einmal jemand, ihn anzureden, so antwortete er unwillig und kurz. Entweder las er in einem Buche, rauchte oder sah zum Fenster hinaus. Zuweilen entnahm er auch seiner alten Tasche Eßwaren und trank Tee dazu. Mir war es, als litte er unter seinem Alleinsein. Ich versuchte daher verschiedene Male, eine Unterhaltung mit ihm anzufangen; begegneten sich aber unsere Blicke, was häufig vorkam, da wir uns schräg gegenübersaßen, so vertiefte er sich entweder sofort wieder in sein Buch oder schaute weiter der Landschaft nach.

Als wir am Abend des zweiten Tages in einer größeren Station hielten, holte sich dieser Nervöse heißes Wasser und bereitete neuen Tee. Der gutgekleidete Herr aber, ein Rechtsanwalt, wie ich später erfuhr, ging mit seiner Begleiterin, der Dame im halb männlichen Paletot, nach dem Warteraum, um dort Tee zu trinken.

Während der Abwesenheit dieser beiden bestiegen neue Fahrgäste unser Abteil; darunter auch ein alter Herr mit glattrasiertem faltigen Gesicht, der den Eindruck eines Kaufmannes machte. Er war in einen Iltispelz gekleidet und trug eine Tuchmütze mit einem überaus großen Schirm. Er setzte sich auf den Platz der Dame gegenüber und dem Rechtsanwalt und fing sofort eine Unterhaltung mit einem jungen Menschen an, der ein Handungsgehilfe zu sein schien und gleichfalls mit ihm eingestiegen war. Ich saß ihnen schräg gegenüber und konnte, da der Zug stand und sonst keine allzu großen Geräusche waren, Bruchstücke ihres Gespräches vernehmen. Ich hörte zunächst, daß der Kaufmann auf sein Gut fahren wolle, das nur eine Station entfernt sei. Dann sprachen sie, wie üblich, über Preise und Geschäftsfragen, über die Geschäftslage in Moskau und endlich von der Messe in Nishnij-Nowgorod. Der Handlungsgehilfe versuchte zunächst, von irgendwelchen tollen Streichen eines ihnen beiden bekannten Kaufmannes zu erzählen, die jener während der Meßzeit begangen haben soll. Der Alte schnitt ihm aber seine Erzählung ab und tischte nun selbst Berichte von Zechgelagen auf, denen er persönlich beigewohnt hätte.

Er bildete sich scheinbar viel darauf ein und erzählte mit großer Freude, daß er einst in Kunawino mit demselben Bekannten einen ganz wüsten Streich ausgeführt habe, den er nur flüsternd berichten könnte. Der Handlungsgehilfe bog sich vor Lachen, in das schließlich auch der Alte einstimmte. Da mich ihre Erzählungen nicht interessierten, wollte ich ein wenig bis zum Abfahren des Zuges auf dem Bahnsteig auf und ab gehen. In der Tür begegnete ich dem Rechtsanwalt und der Dame, die in ein äußerst lebhaftes Gespräch vertieft waren.

„Es ist keine Zeit mehr,“ sagte mir höflich der Rechtsanwalt, „es wird sogleich das zweite Mal läuten.“

In der Tat, ich hatte kaum den letzten Wagen erreicht, als das Signal ertönte. Als ich meinen Platz wieder eingenommen hatte, waren die beiden immer noch mit ihrem Thema beschäftigt. Der alte Kaufmann saß ihnen schweigsam gegenüber, sah mürrisch vor sich hin und bewegte hin und wieder mißbilligend seine Lippen.

„Sie erklärte also ihrem Manne unumwunden,“ hörte ich den Rechtsanwalt lächelnd erzählen, als ich an ihm vorbeiging, „daß sie weder mit ihm zusammen leben könne noch wolle, da . . .“ Das weitere verstand ich nicht mehr durch die Geräusche anderer vorbeigehender Fahrgäste. Als es wieder ruhig geworden war und ich wieder die Stimme des Rechtsanwalts vernehmen konnte, war das Gespräch schon allem Anschein nach auf allgemeine Betrachtungen übergegangen.

Der Rechtsanwalt erörterte, daß die öffentliche Meinung Europas sich gegenwärtig sehr stark mit der Frage der Ehescheidung befasse und daß auch bei uns solche Fälle immer häufiger aufträten. Da er gewahr wurde, daß man nur seine Stimme allein im Wagen vernähme, unterbrach er seine Rede und wandte sich an den Alten.

„Früher waren wohl solche Probleme den Menschen fremd?“ fragte er freundlich lächelnd. Der Alte wollte etwas erwidern, aber im selben Moment setzte sich der Zug in Bewegung. Der Alte zog die Mütze, bekreuzigte sich und murmelte ein Gebet. Der Rechtsanwalt sah diskret weg und wartete ab. Als der Alte das Gebet gesprochen und sich noch dreimal bekreuzigt hatte, setzte er seine Mütze tief ins Gesicht, streckte sich bequem aus und begann: „Das beschäftigte auch früher schon die Menschen, mein Herr, wenn auch nicht in so vielen Fällen wie heute. Das bringt eben die Zeit mit sich, denn die Menschen von heute sind doch zu gebildet.“

Da der Zug immer schneller fuhr und immer geräuschvoller über die Weichen hinpolterte, konnte ich das Gespräch weiterhin nur sehr schwer vernehmen. Da es mich aber interessierte, rückte ich näher heran. Selbst mein Nachbar, der nervöse Herr, schien Interesse an diesem Gespräch zu haben und lauschte, ohne aber seinen Platz zu verändern, gespannt auf die Unterhaltung.

„In welcher Weise aber soll denn Bildung schädlich sein?“ sagte die Dame mit einem leisen Lächeln. „Sollte es vielleicht besser sein, heute noch zu heiraten, wie es früher üblich war, da Braut und Bräutigam sich vor ihrer Heirat nicht einmal ansehen durften?“ fuhr sie fort, ohne auf die Antwort ihres Partners einzugehen, was ja typisch weiblich ist, sondern auf das antwortend, was er ihrer Meinung nach hätte antworten sollen.

„Sie wußten ja gar nicht, ob sie sich liebten und lieben könnten. Sie heirateten blindlings, um sich dann ihr ganzes langes Leben lang zu martern. Das also erscheint Ihnen die bessere Lösung?“ fragte sie, sich mehr an mich und an den Rechtsanwalt wendend, als an den Alten, mit dem sie doch eigentlich dies Gespräch führte.

„Die Menschen von heute sind eben doch zu gebildet“, sagte der Alte, während er die Dame verächtlich ansah, ohne auf ihre Frage einzugehen. Es würde mich interessieren zu hören, wie Sie den Zusammenhang zwischen Bildung und Disharmonie in der Ehe erklären wollen“, fragte der Rechtsanwalt, kaum wahrnehmbar lächelnd. Der Alte wollte antworten, die Dame aber unterbrach ihn. „Gott, diese Zeit ist doch längst vorbei!“ Der Rechtsanwalt aber schnitt ihr das Wort ab: „Lassen Sie doch erst mal den Herrn seine Ansicht aussprechen.“

„Alle Dummheiten entspringen der Bildung“, sagte der Alte kurz und schroff.

„Man verheiratet Menschen miteinander, die sich nicht lieben, und dann begreift man nicht, wenn sie sich gegenseitig aufreiben“, erwiderte eiligst die Dame, mich, den Rechtsanwalt und selbst den Handlungsgehilfen scharf anblickend, der sich erhoben hatte und auf die Lehne gestützt der Debatte lächelnd zugehört hatte.

„Nur Tiere werden ja nach dem Willen ihres Herrn so gepaart; Menschen aber haben doch ihre eigenen Neigungen und Empfindungen“, sagte die Dame, die scheinbar den Alten damit reizen wollte.

„Sie irren sich, meine Dame,“ versetzte der Alte, „ein Tier ist eben ein Vieh, dem Menschen aber ward ein Gesetz gegeben.“

„Gut, wie aber soll man mit einem Menschen zusammen leben können, den man nicht lieben kann?“ erwiderte die Dame, die sich einbildete, ihre Ansicht sei eine unerhörte Neuigkeit.

„Früher dachte man so etwas nicht,“ sagte der Alte eindringlich, „erst heutzutage besteht diese Mode. Ereignet sich heute irgend etwas, so schreit die Frau sofort: ,Ich lasse mich scheiden von dir.‘ Selbst bei den Bauern ist das zur Mode geworden. ,Da, nimm dein Zeugs, ich geh mit Wanjka, denn er hat schönere Locken als du.‘ Was soll man aber noch viel Worte machen? Die Frau muß eben in erster Linie Furcht haben.“

Der Handlungsgehilfe blickte den Rechtsanwalt, die Dame und mich an, während er ein Lächeln zu unterdrücken versuchte. Er war zweifellos bereit, über die Ansicht des Alten zu lachen oder sie zu billigen, je nachdem wie wir uns zu ihr stellen würden.

„Was für eine Art Furcht meinen Sie denn?“ fragte die Dame.

„Die, von der gesagt wird, daß die Frau Ehrfurcht haben soll vor ihrem Manne, die, die meine ich damit“, antwortete der Alte gelassen.

„Diese Zeiten waren einmal, mein Herr“, erwiderte erregt die Dame.

„Nein, nein, meine Gnädigste, diese Zeiten waren nicht; sie bleiben ewiglich. Wie Eva aus der Rippe des Mannes erschaffen wurde, so wird es auch durch alle Zeiten hindurch bleiben“, sagte der Alte, so streng und siegesgewiß den Köpf schüttelnd, daß der Handlungsgehilfe, den Sieg des Alten vorausfühlend, laut auflachte.

„Ja, so urteilt ihr Männer“, sagte die Dame, die ihre Ansicht noch nicht aufgeben wollte, uns alle musternd. „Euch selbst habt ihr die Freiheit gegeben, während ihr uns Frauen hinter Schloß und Riegel halten wollt. Euch selbst erlaubt ihr alles.“

„Kein Mensch hat uns etwas zu erlauben; aber der Mann bringt nichts ins Haus; die Frau dagegen ist ein zerbrechliches Gefäß.“

Der eindringliche Ton des Alten schien die Zuhörenden auf seine Seite zu ziehen, und selbst die Dame fühlte sich unterlegen, wollte sich aber noch immer nicht ergeben. „Ja, aber Sie werden doch zugeben müssen, daß auch die Frau ein Mensch ist und auch Gefühl und Empfinden hat wie der Mann. Was aber soll sie tun, wenn sie ihren Mann nicht liebt?“

„Nicht liebt?“ wiederholte streng der Alte, Augenbrauen und Lippen verziehend. „Sie muß ihn eben lieben!“

Dieses unerwartete Argument deckte sich vollkommen mit der Ansicht des Handlungsgehilfen, der dies in einem zustimmenden Tone bezeugte.

„Nein! Niemals wird sie ihn lieben,“ gab die Dame zurück, „wo Liebe nicht ist, läßt sie sich nicht erzwingen.“ „Und wenn die Frau ihrem Manne untreu wird, was dann?“ fiel der Rechtsanwalt plötzlich ein.

„Dazu darf es nicht kommen,“ antwortete der Alte, „man muß eben achtgeben.“

„Und wenn es nun dennoch geschieht, was dann? Es kommt doch oft genug vor.“

„Es mag vielleicht vorkommen, aber bei uns nicht“, sagte der Alte.

Alle schwiegen. Der Handlungsgehilfe rückte näher und begann, um hinter den andern nicht zurückzubleiben, zu lächeln.

„Auch bei einem meiner Bekannten ist es einmal zu solch einem Skandal gekommen. Wer schuldig war, war nicht festzustellen. Er geriet in die Arme einer leichtsinnigen Frau, die ein schlechtes Spiel mit ihm trieb. Der Mann war anständig und gebildet. Zuerst trieb sie es mit einem Buchhalter. Der Mann versuchte sie durch Güte zu überreden. Sie ließ nicht ab und trieb weiter ihre dunklen Erlebnisse. Sie stahl ihrem Manne Geld. Da schlug er sie. Immer wüster aber trieb sie es. Sogar mit einem Ungetauften, mit einem Juden, mit Verlaub zu sagen, ließ sie sich ein. Was sollte er tun? Er ließ sie laufen. Seitdem lebt er allein, und sie treibt sich weiter von Mann zu Mann.“

„Weil er ein Dummkopf ist,“ schrie der Alte, „hätte er sie von Anfang an scharf angefaßt und die Zügel ergriffen, so lebte er noch heute mit ihr zusammen. Man darf eben von Anfang an der Frau nicht volle Freiheit lassen. Traue nicht dem Fohlen auf dem Felde, dem Weibe nicht im Hause.“

Da kam der Schaffner, um die Fahrkarten nachzuprüfen.

Der Alte gab ihm seine.

„Ja, ja, frühzeitig die Frauen kurz halten, sonst ist alles verloren!“

„Aber Sie haben ja eben selbst noch erzählt, wie sich die Ehemänner auf der Messe in Nishnij-Nowgorod mit hübschen Mädels eingelassen haben“, wandte ich mich an ihn; ich konnte nicht mehr länger schweigen.

„Das ist ein Kapitel für sich“, gab der Alte mir schroff zur Antwort und verstummte.

Als das Signal ertönte, stand er auf, nahm seine Reisetasche unter der Bank hervor, knöpfte seinen Pelz zu, lüftete die Mütze und verließ den Wagen.

2.

Kaum war der Alte weg, so entspann sich ein äußerst lebhaftes Gespräch.

„Einer vom vorigen Jahrhundert!“ meinte der Handlungsgehilfe.

„Der leibhaftige ,Domostroj‘!“ 1 ) fügte die Dame hinzu.

„Kuriose Ansichten über Frau und Ehe!“

„Stimmt! Wir sind noch sehr weit zurück hinter der europäischen Einstellung über das Problem der Ehe“, meinte der Anwalt.

„Das Wesentlichste dabei ist ja das, daß diese Menschen nicht einsehen wollen, daß eine Ehe ohne Liebe unhaltbar ist,“ fuhr die Dame fort, „daß einzig und allein die Liebe die Ehe heiligt und nur eine solche eine wahrhaftige ist.“

Der Handlungsgehilfe lauschte mit lächelnder Miene und bemühte sich, sich diese klugen Ansichten einzuprägen, um sie gegebenenfalls einmal anwenden zu können.

Mitten in das Gespräch der Dame fiel plötzlich der Laut eines abgerissenen Lachens, das sich wie ein Seufzen anhörte. Als wir uns daraufhin umsahen, gewahrten wir. daß der nervöse Herr aus Interesse am Gespräch unbemerkt näher zu uns gerückt war. Die Arme auf die Lehne gestützt, stand er da. Er machte einen sehr aufgeregten Eindruck. Sein Gesicht hatte sich gerötet, und in seinen Gesichtszügen spielte ein nervöses Zucken.

„Was soll denn das für eine Liebe . . . für eine Liebe . . . sein, die die Ehe heilige?“ fragte er verwirrt.

Die Dame, die seine Erregung erkannt hatte, versuchte, ihm möglichst freundlich und klar zu antworten.

„Wahre Liebe . . . Besteht zwischen Mann und Frau wirklich eine solche, dann ist auch eine Ehe zwischen ihnen möglich“, sagte die Dame.

„Gut! Was aber versteht man unter wahrer Liebe?“ fragte der Herr ängstlich und lächelte verlegen.

„Aber ein jeder weiß doch, was Liebe ist“, erwiderte darauf die Dame, die allem Anschein nach jetzt gern das Gespräch abgebrochen hätte.

„Ich aber weiß es nicht“, versetzte ihr der Herr. „Bitte, sprechen Sie sich näher darüber aus.“

„Höchst einfach“, meinte die Dame, mußte aber doch genauer darüber nachdenken. „Mit Liebe — Liebe bezeichnet man die Bevorzugung einer oder eines anderen gegenüber.“

„Und wie lange soll eine solche Bevorzugung bestehen bleiben? Einen Monat, zwei Monate, eine halbe Stunde?“ fragte der Grauhaarige und lachte verschmitzt.

„Verzeihen Sie, mir scheint es aber, Sie sprechen von etwas anderem?“

„Aber nein, ich spreche durchaus von nichts anderem.“

„Die Dame meint,“ mischte sich der Anwalt ein, „eine Ehe müsse sich erstens auf einer innerlichen Zuneigung, meinetwegen Liebe, wenn Sie das Wort besser finden, aufbauen, dann, nur dann könne sie etwas Geheiligtes darstellen; ferner, daß alle Ehen, denen diese innerliche Zuneigung, ,Liebe‘, fehlt, keine moralischen Verpflichtungen in sich bergen. So meinen Sie es doch?“ wandte er sich an die Dame.

Die Dame bestätigte durch Kopfnicken, daß sie seine Auslegung ihrer Gedanken billige.

„Ferner . . .“, wollte der Anwalt fortfahren, aber der nervöse Herr, dessen Augen jetzt aufglühten und der nur schwer seine Erregung meistern konnte, schnitt ihm das Wort ab.

„Wir wollen nicht abschweifen von der Frage der Bevorzugung eines oder einer vor anderen. Ich möchte ja eben wissen, wie lange eine solche Bevorzugung anhalten soll?“

„Wie lange? Sehr lange, oft zeitlebens“, antwortete achselzuckend die Dame.

„Im Roman — ja — nie aber im Leben. Im Leben hält diese Bevorzugung höchstens einige Jahre, öfter einige Monate, meist aber doch nur Wochen, Tage oder Stunden an“, sagte er. Man fühlte, daß er uns mit dieser Ansicht verblüffen wollte, und er war auch sichtbar zufrieden darüber.

„Aber erlauben Sie! Nein, nicht doch!“ riefen wir alle drei plötzlich auf einmal. Selbst der Handlungsgehilfe stieß irgendeinen Laut von sich.

„Ich, ja, ja, ich weiß es!“ überschrie uns alle der grauhaarige Herr. „Sie alle sprechen von dem, was als feststehend gilt, ich aber von dem, was feststeht. Jeder Mann empfindet das, was Sie mit Liebe bezeichnen, für jede hübsche Frau.“

„Nein, das ist ja schrecklich, was Sie da sagen! Es wohnt doch im Menschen ein Gefühl, das man Liebe nennt, und das nicht Monate und Jahre — sondern die ganze Lebensdauer beherrscht.“

„Nein, das stimmt nicht! Zugegeben, daß ein Mann für die ganze Zeit seines Lebens eine bestimmte Frau allen andern vorzieht, so ist doch mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß diese Frau einem anderen den Vorzug geben wird. Von jeher war das so und wird auch immer so bleiben“, bekräftigte er, nahm eine Zigarette aus seinem Etui und begann zu rauchen.

„Das Gefühl kann doch aber auch von beiden Seiten ein gleiches sein“, bemerkte der Anwalt.

„Nein, das kann es nicht sein,“ erwiderte jener, „das ist ebenso undenkbar wie die Möglichkeit, daß in einem Wagen voller Erbsen zwei vorher bezeichnete Erbsen nebeneinander zu liegen kämen. Auch daher wäre das schon gänzlich unmöglich, weil dann unbedingt eine Übersättigung sich einstellen würde. Von einem Manne oder einer Frau verlangen, das ganze Leben hindurch einen einzigen Menschen zu lieben, ist gleichbedeutend, von einer Kerze zu erwarten, ein ganzes Leben hindurch brennen zu können.

„Sie sprechen ja doch aber immer nur von der sinnlichen Liebe. Erkennen Sie denn keine Liebe an, die auf Gleichheit der Ideale, auf Wahlverwandtschaft fundamentiert ist?“ entgegnete die Dame.

„Wahlverwandtschaft, Gleichheit der Ideale!“ wiederholte er, einen seltsamen Laut von sich gebend. „Aus welchem Grunde soll man denn aber dann, verzeihen Sie den vulgären Ausdruck, zusammen schlafen? Legen sich die Menschen vielleicht aus Gleichheit der Ideale zusammen ins Bett?“ fragte er nervös lächelnd.

„Halt! Erlauben Sie,“ bat der Anwalt, „die Tatsachen widersprechen dem, was Sie sagen. Jeder weiß doch, daß Ehen bestehen, daß die Menschheit, oder doch zum mindesten ein Teil dieser, im Eheverhältnis lebt und daß auch sehr viele ehrlich zeitlebens miteinander verheiratet leben.“

Der nervöse Herr lachte von neuem auf.

„Sie sind der Ansicht, die Ehe sei auf Liebe aufgebaut; wenn ich aber meine Bedenken an der Existenz einer anderen als der sinnlichen Liebe ausspreche, so wollen Sie mir die Existenz der Liebe durch die Existenz der Ehe beweisen. In heutiger Zeit aber ist das ganze Eheleben doch weiter nichts als Lug und Trug.“

„Bitte, erlauben Sie,“ sagte der Anwalt, „ich spreche ja doch nur von der Tatsache, daß es Ehen gibt.“

„Gibt! Gut, warum aber? Sie bestanden und bestehen noch heute bei den Menschen, die in der Ehe ein Sakrament erblicken; ein Sakrament, das den Menschen eine Pflicht Gott gegenüber auferlegt. Solche Menschen besitzen allerdings eine Ehe. Wir andern aber heiraten und betrachten die Ehe einzig und allein nur als Paarungsfaktor. Das, was daraus entsteht, ist ja doch nur Betrug oder Vergewaltigung. Bleibt es nur beim Betrug, dann läßt es sich noch ertragen. Mann und Frau betrügen ihre Mitmenschen, daß sie vortäuschen, in Monogamie zu leben, während sie in Polygamie oder Polyandrie dahinvegetieren. Übel ist das, aber es ist ertragbar. Wenn aber, wie dies das Vorherrschende ist, Mann und Frau, die die gesetzliche Verpflichtung auf sich genommen haben, ihr ganzes Dasein gemeinsam zu durchleben, sich schon im zweiten Ehemonat einander hassen und das Verlangen haben, wieder voneinander zu gehen, dennoch aber weiter nebeneinander herleben, so entsteht daraus jene unerträgliche Hölle, die einen zum Trunk, Selbstmord oder Verbrechen treibt.“

Er hatte sich selbst so in Erregung geredet, daß sich seine Worte überstürzten und keiner auch nur ein Wort dazwischenwerfen konnte.

Es trat eine peinliche Stille ein.

„Gewiß gibt es im Eheleben kritische Episoden“, sagte der Anwalt. Ihm lag viel daran, dieses indiskrete Gespräch, das so hitzige Formen angenommen hatte, endlich abzubrechen.

„Ich habe das Gefühl, Sie haben mich erkannt“, sagte der nervöse Herr leise und ruhig.

„Nein, ich habe nicht das Vergnügen.“

„Ein Vergnügen ist es wohl nicht. Posdnyschow ist mein Name. Ich bin die Person mit der kritischen Episode, auf die sie soeben angespielt haben, der Episode, in der der Mann seine Frau ermordet hat“, sagte er, während er uns alle mit einem pfeilschnellen Blick streifte.

Keiner von uns konnte etwas darauf erwidern.

„Übrigens ist es ja ganz belanglos“, meinte er und stieß wieder seinen eigentümlichen Ton aus. „Verzeihen Sie übrigens! Ich möchte mich Ihnen nicht weiter aufdrängen.“

„Aber nein, bitte sehr . . .“ erwiderte der Anwalt, ohne recht zu wissen, was das ,bitte‘ eigentlich bezeichnen sollte. Posdnyschow achtete aber nicht darauf, wandte sich um und nahm wieder seinen alten Platz ein. Der Herr und die Dame tuschelten miteinander. Ich saß neben Posdnyschow und schwieg. Ich wußte nichts zu reden. Da es zum Lesen zu dunkel war, schloß ich die Augen und tat, als ob ich schlafen wollte. Schweigend fuhren wir so bis zur nächsten Station. Hier stiegen der Herr und die Dame, wie sie dies bereits vorher mit dem Schaffner besprochen hatten, in ein anderes Abteil. Der Handlungsgehilfe streckte sich lang auf der Bank aus und schlief ein. Posdnyschow rauchte weiter und trank seinen Tee, den er sich noch auf der letzten Station zubereitet hatte. Als ich die Augen öffnete und zu ihm hinblickte, wandte er sich plötzlich energisch und stark erregt an mich:

„Sollte es Ihnen vielleicht unheimlich sein, mit mir zusammenzusitzen, jetzt, wo Sie wissen, wen Sie vor sich haben, so kann ich ja hinausgehen?“

„Aber wieso! Durchaus nicht!“

„Darf ich Ihnen vielleicht einen Tee anbieten? Er ist zwar etwas stark.“

Er füllte ein Glas für mich.

„Alles das Gerede! Alles Lug und Trug . . .“ sagte er.

„Von was sprechen Sie, bitte?“ fragte ich ihn.

„Noch immer vom gleichen Thema. Was die mit Liebe bezeichnen. Wollen Sie nicht schlafen?“

„Nein, noch nicht!“