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Die Drachen kehren zurück! Und Balbok und Rammar müssen die Welt retten – schon wieder … »Die Krone der Orks« ist der 8. humorvoll-abenteuerliche High-Fantasy-Roman um die unfreiwilligen Ork-Helden von Michael Peinkofer. Endlich ist Erdwelt wieder eins – doch statt der wohlverdienten Heimkehr auf ihre Insel wartet auf die Ork-Brüder Balbok und Rammar nur neuer Ärger. Davon aber dafür jede Menge: Die hinterhältige Lady Aderyn will ein Heer von Drachen aus dem ewigen Eis des Südpols zum Leben erwecken, und aus der alten Welt rückt ein Heer der Menschen in Luftschiffen an. Und da Aderyn auch noch Balboks Erben in sich trägt, begibt sich der Ork auf eine Rettungsmission, die es in sich hat. Währenddessen wird sein Bruder Rammar wider Willen zum diplomatischen Vermittler zwischen Orks und Menschen und gerät mitten hinein ins Mahlwerk politischer Intrigen. Über Erdwelt brauen sich die dunklen Wolken des Schicksals zu einer gewaltigen, alles entscheidenden Schlacht zusammen … Zwischen Vaterfreuden, hinterhältigen Elfen und unfreiwilligen Rettungsmissionen: Michael Peinkofer begeistert mit orkischem Humor! Die humorvolle High-Fantasy-Saga um die unfreiwilligen Welt-Retter ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Rückkehr der Orks - Der Schwur der Orks - Das Gesetz der Orks - Die Herrschaft der Orks - Die Ehre der Orks - Die Welt der Orks - Das Blut der Orks - Die Krone der Orks
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Seitenzahl: 484
Michael Peinkofer
Roman
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Endlich ist Erdwelt wieder eins – doch statt der Heimkehr auf ihre Insel wartet auf die Ork-Brüder Balbok und Rammar nur neuer Ärger: Die hinterhältige Aderyn will ein Heer von Drachen aus dem ewigen Eis des Südpols zum Leben erwecken, und aus der alten Welt rückt ein Heer der Menschen in Luftschiffen an. Und da Aderyn auch noch Balboks Erben in sich trägt, begibt sich der Ork auf eine Rettungsmission, die es in sich hat. Währenddessen wird sein Bruder Rammar unfreiwillig zum diplomatischen Vermittler zwischen Orks und Menschen und gerät mitten hinein ins Mahlwerk politischer Intrigen. Über Erdwelt brauen sich derweil die dunklen Wolken des Schicksals zu einer gewaltigen, alles entscheidenden Schlacht zusammen …
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Karte
Handelnde Personen
Prolog
TOUGAMASH
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
FIRUNN
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
DUM
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Epilog
Nachwort
ANHANG
Wörterbuch Orkisch-Deutsch
Balbok und Rammar, Ork-Brüder
Aderyn, gefallene Kriegsherrin
Advolar Larca, Admiral der Luftflotte von Tirgaslan
Arbogast, Kapitän eines Schlangenfängers
Beeka, Leibwächterin des Drachenkaisers
Drel, eine Baumkreatur
Enok, Drachenkaiser, Herrscher von Anwar
Evan, ein Wechselbalg
Finras, einst Widerstandskämpfer, jetzt Kronrat
Gerrion, Halbgnom, Adjutant Larcas
Glesa, einst Schankwirtin, jetzt Kronrätin
Gullwyn, ein Fischmann
Gwarshyra, eine alte Wächterin
Hirulon, Verstoßener, einst Mitglied im Rat der Ewigen
Kelon, Verstoßener, einst Mitglied im Rat der Ewigen
Laigalan, Ältester der Nevathani
Pyaras, Gesandter des Drachenkaisers
Taithas, Priester der Nevathani
Trunk, ein Troll, Harpunier
Vigoras, Hauptmann der kaiserlichen Garde
Wilhad, sein Stellvertreter
Arbogast war ein erfahrener Kapitän.
Im Lauf der beinahe vierzig Winter, die er bereits zur See fuhr, hatte er schon viele Stürme erlebt und mehr als einmal dabei um sein Schiff und alle Kreaturen an Bord fürchten müssen … doch noch niemals zuvor waren seine Leute und er den Gewalten des Meeres derart schutzlos ausgeliefert gewesen wie dieses Mal.
Ganze zwei Tage lang hatte der Orkan gewütet.
Gleißende Blitze waren aus dem Himmel herabgefahren, als wollten sie das Meer zerteilen, heulende Winde hatten Wellen aufgetürmt, die bis zur obersten Mastspitze reichten – nur um im nächsten Moment wieder einzustürzen und abgrundtiefe Schlünde zu öffnen, die das Schiff und seine Mannschaft um ein Haar verschlungen hätten. Schwarze Fluten waren über das Deck geschwappt, vier brave Seeleute hatten sie mit sich in den Tod gerissen, ein weiterer war gegen den Mastbaum geschleudert und zerschmettert worden.
Mehrmals hatte es so ausgesehen, als würde dies die letzte Fahrt des Schlangenfängers werden, und das, obwohl zunächst alles so gut verlaufen war …
Auf ihrer Fahrt entlang der Südroute hatten Arbogast und seine Leute reiche Beute gemacht, doch das meiste davon war nun verloren. Im Angesicht des drohenden Untergangs war ihnen keine Wahl geblieben, als einen Teil der wertvollen Fracht über Bord zu kippen, doch trotz dieses schmerzhaften Opfers hatte es danach ausgesehen, als würde die Tiefe das Schiff verschlingen. Mit der Kraft der Verzweiflung hatten Arbogast und seine Männer gegen den Wind und die tosenden Wellen angekämpft, und irgendwann hatte der Sturm nachgelassen … und schließlich aufgehört. Und als wollte die Natur Arbogast und seine Männer verhöhnen, lag die See seither völlig still.
Von einer leichten Strömung abgesehen, in der das Schiff dahintrieb, schlagseitig und seit dem Sturm seines Großmasts beraubt, herrschte völlige Flaute.
Nicht länger gab es Wellen, die sich zu Bergen türmten, keine Gischt, die um den Bug schäumte, keine Dünung, die das Schiff wiegte. Bleischwer lag sein Rumpf im Wasser, das nun dickflüssig und zäh anmutete. Was von Mast und Rahe übrig war, reckte sich einem Totengerippe gleich in den fahlblauen Himmel.
Nachdem zwei Tage lang der Sturm gebrüllt und das Tosen der See die Männer fast um den Verstand gebracht hatte, war es nun totenstill. Das Knarren von Tauen und Planken, sonst immerwährender Begleiter bei Tag und bei Nacht, war verstummt, und wenn doch einmal ein Laut zu vernehmen war, dann schien es, als stoße das Schiff stöhnende Laute aus, gleich einem zu Tode Verwundeten, Vorboten eines Grauens, das niemand an Bord benennen wollte und das doch jeder fürchtete.
Seeleute waren an sich schon ein abergläubisches Völkchen, doch auf Schlangenfänger traf dies in besonderem Umfang zu. Und so verbreiteten sich bereits Gerüchte, dass die Fahrt ins Südmeer unter einem schlechten Stern stünde, das Schiff verflucht sei, und noch andere mehr. Gerüchte, die Arbogast zu übergehen versuchte … so gut es sich eben machen ließ.
Zwar waren Zwerge, die zur See fuhren, seit den Tagen Winmars des Schrecklichen keine Seltenheit mehr. Doch es wäre niemandem von ihnen – nicht einmal Arbogast selbst – eingefallen, Wellen und Meer ihr angestammtes Terrain zu nennen. Und so musste ein Zwergenkapitän sich stets mehr als jeder andere Kommandant bewähren, hatte zu jeder Zeit die Übersicht zu behalten und durfte keine Fehlentscheidung treffen. Denn der Zweifel haftete ihm ebenso an wie seine gedrungene Gestalt und der verfilzte rote Bart, der in Arbogasts Gesicht wucherte.
Wie alle Besatzungen, die auf Seeschlangenfängern fuhren, war auch Arbogasts Mannschaft ein bunter Haufen: Ein Schiffskoch und ein Zimmermann gehörten dazu, wie er selbst Söhne Winmars, aber auch eine Handvoll Menschen und ein paar Orks, die sich aus dem Schwarzgebirge irgendwie auf die Planken seines Schiffes verirrt hatten. Arbogast war es gleich, wie hässlich ihre grünen Visagen waren oder wie sehr sie stanken, wenn sie schwitzten … solange sie nur ordentlich arbeiteten.
Sogar ein Troll befand sich in seiner Mannschaft. An den meisten Tagen war der riesige Kerl, der auf den Namen Trunk hörte, an Bord so nützlich wie eine leere Miesmuschel und fiel allenfalls dadurch auf, dass er das Doppelte von dem fraß, was andere verzehrten. Doch wenn es hinausging auf Schlangenjagd, so war er der beste Harpunier, den sich ein Kapitän nur wünschen konnte. Nicht nur dass der Troll den baumlangen Spieß weiter werfen konnte als jeder andere, er traf auch so gut wie immer – die hohe Fangquote, mit der Arbogast und seine Leute gerne in den Hafenspelunken prahlten, hatten sie vor allem ihm zu verdanken.
So unterschiedlich sie alle sein mochten – ihre Arbeit, bei der sie alle Kopf und Kragen riskierten, und die Hoffnung auf Gewinn einte Arbogasts Männer und förderte die Gemeinschaft. Doch war der Gewinn bedroht, bröckelte auch der Zusammenhalt, und die Mannschaft wurde wieder zu dem, was sie eigentlich war: eine zusammengewürfelte Gruppe Glücksritter, Säufer und Verzweifelter aus allen Winkeln des Reiches von Tirgaslan. Und mit jedem Tag, an dem kein Wind aufkam, wuchs diese Verzweiflung …
Zumal Arbogast ein Geheimnis hütete, das er bislang noch mit keinem seiner Leute geteilt hatte: Er hatte die Orientierung verloren und wusste nicht mehr, wo sie waren.
Dass ein Sturm – noch dazu einer, der so lange und heftig wütete – ein Schiff weit von seinem ursprünglichen Kurs abbrachte, war an sich nicht ungewöhnlich. Doch wann immer Arbogast des Nachts versuchte, ihre Position anhand der Gestirne zu bestimmen, scheiterte er, denn weder kannte er diese Sterne noch ihre Konstellationen.
Ganz offenbar hatte der Sturm sie weiter nach Süden getragen, als irgendjemand es hätte voraussehen können, über alle bekannten Gefilde und gültigen Seekarten hinaus.
Weiter, als sich eine Kreatur jemals wagen durfte, war sie nun Zwerg, Mensch, Ork oder Troll …
Arbogast hatte es mehrfach überprüft, doch eine andere Schlussfolgerung war nicht möglich. Und auch wenn er es bislang vermieden hatte, seine Befürchtungen offen auszusprechen, wusste er doch, dass die Besatzung längst ihre eigenen Vermutungen hegte. Sie mochten einfache Seeleute sein und die Gestirne nicht so gut lesen können wie er; doch auch ihnen konnte nicht verborgen geblieben sein, dass sie sich nicht mehr in vertrauten Breiten befanden – und mit dieser Erkenntnis kam eine irrationale, dumpfe Furcht.
Unheil stand bevor, das sagten dem Kapitän nicht nur die fremden Gestirne, sondern auch das Ziehen, das er in seinem rechten Bein verspürte, obwohl er es längst nicht mehr hatte. Ein hölzerner, mit Runenschnitzereien versehener Stumpf prangte dort, wo Fuß und Unterschenkel hätten sein sollen – das Original war im Rachen einer Seeschlange verblieben, die sich mit aller Kraft widersetzt hatte. Es war ein Kampf auf Leben und Tod gewesen, den Arbogast schließlich für sich entschieden hatte, wie so viele andere … doch wie sollte man gegen einen Gegner kämpfen, den man weder sehen noch greifen konnte?
Wie gegen eine dumpfe, gestaltlose Furcht …?
»Sturmfront voraus«, meldete in diesem Moment der Ausguck, der auf den Überresten des Großmasts wachte.
Arbogast zuckte zusammen, auf Deck brach Unruhe aus. Die Männer, die damit beschäftigt gewesen waren, nach den Anweisungen des Maats und des Zimmermanns Reparaturen vorzunehmen und die gebeutelte Schaluppe wieder halbwegs zusammenzuflicken, ließen ihre Arbeit liegen und eilten zur Reling. Auch Arbogast gab seinen Platz auf dem Mitteldeck auf und enterte nach achtern auf, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die bangen Blicke, mit denen die Männer ihn bestürmten, ignorierte er ebenso wie die aufgeregten Rufe, die von allen Seiten auf ihn einprasselten.
»Der Sturm hat uns eingeholt, Käpt’n!«
»Noch einmal überstehen wir das nicht!«
»Wir sind verloren …!«
Arbogast erwiderte nichts darauf. Über das schräge Deck und den steilen Niedergang erklomm er die Achterplattform, wo der Steuermann Wache hielt. Arbogast ließ sich das Fernrohr geben.
Tatsächlich erhob sich tief im Süden eine dunkle Wand am Horizont, die man auf den ersten Blick und mit bloßem Auge tatsächlich für eine neuerliche Sturmfront halten konnte.
Aber dieses Dunkel, das von den Fluten der See bis hinauf zum Himmel reichte und sich am gesamten Horizont erstreckte, war nicht nur einfach eine Zusammenballung von Nebel, Regen oder Wolken, sondern etwas anderes. Etwas, das kein Seemann in seinem Leben je zu erblicken hoffte.
Die einen nannten es die »Große Barriere«.
Andere den »Grauen Wall«.
Wieder andere hatten dieser monströsen Mauer den Namen »Letzte Grenze« gegeben, denn genau das war es, was sie markierte.
Erdwelt endete hier.
Es war der Rand der Welt, jenseits davon lag ein unendlich tieferer Abgrund, der alle Schiffe verschlang, die ihm zu nahe kamen – und der keines davon jemals wieder freigab.
Unter den Seeleuten, die sich ängstlich an Back und Reling drängten, wurden heisere Stimmen laut.
Einige brüllten ihr Entsetzen laut hinaus, die Orks verfielen in finstere Verwünschungen. Der tagelange Sturm, der Tod ihrer Kameraden und die Entbehrungen hatten den Männern bereits alles abverlangt – der Anblick der Barriere, die ihrer aller Ende bedeutete, gab ihnen der Rest.
»Der Graue Wall! Deshalb regt sich hier kein Luftzug!«, brüllte der Schiffskoch. »Alles ist tot!«
»Die Strömung treibt uns direkt darauf zu«, kreischte ein anderer, »wir werden in den Abgrund stürzen!«
»Kuruls Grube wird uns verschlingen!«, schrien die Orks.
»Das ist seine Schuld! Der Zwerg hat uns hergeführt!«
»Seine Art ist nicht dafür gemacht, die See zu befahren!«
»Der Zwerg ist schuld …!«
Es war schwer zu sagen, was es war – die Todesangst, die von den Männern Besitz ergriffen hatte, oder der unwiderstehliche Drang danach, einen Schuldigen zu finden, doch schon im nächsten Moment enterten die Ersten zum Achterdeck auf, und blanke Mordlust blitzte in ihren geröteten Augen.
»Ich sage, werfen wir ihn über Bord!«, schrie der Maat, der die Meute anführte.
»Ein Opfer«, verlangten die Orks. »Wir müssen Kuruls Zorn besänftigen!«
»Nein!«, rief Arbogast. Sein eigenes Entsetzen hatte ihm für einen Moment die Sprache verschlagen, jetzt endlich fand er die Kraft zum Widerspruch. »Haltet ein, Männer, und kehrt auf eure Posten zurück! Ich bin euer Kapitän …«
»Du warst es!«, versicherte der Maat. Er hatte das Achterdeck bereits erreicht, die von harter Arbeit schwieligen Hände zu Fäusten geballt.
»Noch ist nichts verloren«, versicherte Arbogast entgegen seiner eigenen Überzeugung, während er auf seinem Holzbein bis zur Heckreling zurückwich. »Ihr braucht mich, wenn ihr überleben wollt …«
»Aye, weil dein Tod die See vielleicht besänftigen wird«, bestätigte der Maat, und alle anderen, am lautesten die Orks, bekundeten ihre Zustimmung.
»Ich glaube nicht an Menschenopfer«, stellte Arbogast klar.
»Du vielleicht nicht, Käpt’n, aber wir schon«, entgegnete der Maat. »Jedenfalls ist das besser, als nichts zu tun und zu warten, bis wir über den Rand der Welt stürzen … Trunk?«
Arbogast merkte, wie ein Schatten auf ihn fiel.
Seine ganze Aufmerksamkeit war auf seine meuternde Besatzung gerichtet gewesen, sodass er die dunkle Gestalt nicht bemerkt hatte, die das Achterdeck kurzerhand von der Backbordseite erklommen und sich von hinten genähert hatte – die Pranke von Trunk, dem Troll, bemerkte er erst, als sie wie die Axt eines Henkers auf ihn fiel.
Der Schlag schmetterte ihn zu Boden, dann hatte der riesenhafte Harpunier ihn auch schon an seinem gesunden Bein gepackt und emporgerissen. Im nächsten Moment fand sich Arbogast kopfüber über der spiegelglatten See baumelnd, unter ihm die dunkle, unergründliche Tiefe.
»Hinein mit ihm!«, schrie einer.
»Korr! Korr!«, bestätigten die Orks.
»Nein«, begehrte Arbogast noch einmal gegen das düstere Schicksal auf, das seine Mannschaft ihm zugedacht hatte. »So hört mich doch an …«
»Wir haben dir bereits zu lange zugehört, Zwerg!«, blaffte der Maat ihn an. »Nun bringen wir dich dorthin, wo du hingehörst, Sohn der Tiefe!«
In ihrer Verzweiflung, ihrem Hass und ihrer Todesangst brachen die Männer in raues Gelächter aus. Der Anblick der Letzten Grenze, die sie alle nur aus Sagen und Geschichten kannten, hatte sie um den Verstand gebracht, jedes Argument war an ihnen verloren.
Arbogast seufzte.
Er hatte immer angenommen, dass die See eines Tages sein Grab werden würde, aber nicht so bald … und nicht auf so schändliche Weise, seines Kommandos enthoben und verraten von seiner meuternden Besatzung. In Gedanken leistete er Abbitte bei den Vorfahren und ihrer langen Tradition. Indem er zur See fuhr, hatte er ihr entsagt – und bekam nun die Strafe dafür.
»Trunk! Trunk! Trunk!«, begannen die Männer den Namen des Trolls zu rufen. Mit heiseren Stimmen feuerten sie ihn an, damit er den Zwerg endlich loslassen und im Meer versenken sollte.
Arbogast hörte sie kaum noch.
Er hatte die Augen geschlossen und wartete auf den kurzen Fall, den Sturz in die Fluten. Schon merkte er, wie sich die Pranke des Harpuniers um sein Fußgelenk lockerte …
»Seht nur!«, rief in diesem Moment der Ausguck. »Die Wand … sie verschwindet!«
»Was?«, keifte der Maat.
Unruhe brach aus, hektische Schritte auf Deck, alle riefen wild durcheinander.
»Tatsächlich!«
»Seht euch das an …!«
Arbogast zögerte. Er war sich nicht sicher, ob ihm in Anbetracht all des Blutes, das in seinem Kopf zusammenlief, seine Sinne vielleicht einen Streich spielten, und er wagte kaum zu hoffen. Doch dann blinzelte er und riskierte einen Blick – und tatsächlich: Die Barriere am Horizont, die eben noch so düster und unüberwindbar erschienen war, war im Begriff, sich aufzulösen, helle Sonnenstrahlen brachen hindurch.
Kopfüber hängend, zog der Troll seinen Käpt’n wieder nach oben und ließ ihn achtlos aufs Achterdeck fallen, wo Arbogast keuchend liegen blieb. Niemand achtete mehr auf ihn, und so raffte er sich auf die Beine und wankte zur Reling, wo sich seine Männer drängten und sich ungläubig die Augen rieben.
Die Große Barriere, der Graue Wall, die Letzte Grenze … war gewichen!
Dort, wo sich noch vor Augenblicken eine drohende Wand befunden hatte, erstreckte sich nun nichts weiter mehr als unendlich weite, blaue See, die im einfallenden Sonnenlicht verheißungsvoll glitzerte.
Im nächsten Moment kam eine sanfte Brise auf, und es war, als würde das Südmeer nach jahrtausendelangem Schlaf wieder zum Leben erwachen.
Buch I:
(Zweifel)
Sie war nicht mehr die, die sie gewesen war.
Drachenfeuer hatte sie äußerlich verbrannt, hatte ihre Schuppenhaut verzehrt und von ihrem Leib gefressen, sie dabei unsägliche Qualen leiden lassen – doch war sie nicht in Schmerz und Agonie vergangen. Denn das apiron, in das sie gestürzt war – jenes geheimnisvolle Urelement, aus dem die Welt einst entstanden war, hatte sie auf rätselhafte Weise am Leben erhalten … auch wenn die Kreatur, zu der sie geworden war, nichts mehr mit jener Frau von einst gemein hatte. Nichts mehr mit der Elfengenerälin, die ihrem Lehensherrn Curran einst gefolgt war, als dieser einen geheimen Pakt mit dem Dunkelelfen Margok einging.1 Nichts mit der Kronrätin, die sich gegen den Drachenkaiser gewandt hatte, nichts mit der Anführerin der Schwarzen Garden, die sich mit Intrige, List und Grausamkeit zur Herrscherin der Neuen Welt aufgeschwungen hatte2 – wenn auch nur für kurze Zeit.
Denn ihre Kreise waren empfindlich gestört worden, nicht nur von jenem hochmütigen Bastard, der sich der wahre Erbe des Drachenkaisers wähnte und den Thron dreist an sich gerissen hatte, sondern auch von zwei Abkömmlingen der Alten Welt, nichtswürdigen Unholden.
Jeder Schritt, den Lady Aderyn – oder das, was von ihr geblieben war – auf dem kargen Felsboden tat, jede einzelne Bewegung schmerzte und erinnerte sie an die beiden Kreaturen, denen sie ihren elenden Zustand verdankte: zwei Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, der eine groß und hager, der andere breit und fett, Margoks verkommene Kreaturen … oder, wie sie sich selbst nannten, Orks.
Aderyn schrie innerlich auf, wenn sie nur an die beiden dachte. Noch immer sah sie ihre hässlichen Visagen vor sich, vor allem die einfältige Miene des Hageren hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt – denn er war es gewesen, der sie in den Flammen des Drachenfeuers hatte versinken lassen. Doch dies war bei Weitem nicht der einzige Grund, warum sie den hageren Ork, dessen Namen sie aus ihrem dunklen Herzen gerissen und in die hintersten Winkel ihres Bewusstseins verbannt hatte, so abgrundtief hasste.
Sondern auch weil sie einander nahe gekommen waren in den Wogen des kaiserlichen Bades, sehr nahe … und weil ihr, die sie im Lauf ihres langen Lebens unzählige männliche Wesen in ihren Bann gezogen und einer Gottesanbeterin gleich verzehrt hatte, gefallen hatte, was er mit ihr tat. Und weil sie seither in sich trug, was die Saat seiner Lenden bei ihr bewirkt hatte … und weder Drachenfeuer noch die Macht des apiron hatten daran etwas ändern können.
Wie lange es her war, dass sie aus dem Pfuhl gekrochen war und auf dunklen Wegen den alten, einst von Zwergen erbauten Katakomben entkommen war, wusste sie nicht zu sagen. Ebenso wenig, wie lange sie bereits durch die felsige Landschaft zog. Vermutlich wäre es leichter gewesen, den Widerstand aufzugeben und sich in eine der tiefen Klüfte zu stürzen, die das karge Südgebirge durchzogen, und damit nicht nur ihr eigenes Leben zu beenden, sondern auch das des Sprosses, der in ihr reifte …
Doch sie konnte es nicht.
Aus einem Grund, den sie selbst weder zu erkennen noch zu benennen vermochte, schleppte sie sich immer weiter, eine entstellte, geschlagene Kreatur.
Heimatlos und verstoßen.
Ohne Zukunft.
Wann immer sie ein Wasserloch passierte und sich niederließ, um zu trinken, schloss sie die Augen. Sie wollte nicht sehen, was sich im dunklen Wasser spiegelte. Zumindest in ihrer Erinnerung, in dem Bild, das sie von sich selbst hatte, wollte sie von betörender, tödlicher Schönheit bleiben.
Auch wenn diese Schönheit ebenso verloren war wie ihre Herrschaft, hinderte sie doch etwas daran, aufzugeben.
War es der brennende Durst nach Rache? Das Verlangen danach, ihren Feinden noch einmal zu begegnen und ihnen heimzuzahlen, was sie ihr angetan hatten? Oder womöglich das neue Leben, das in ihr heranwuchs? War sie seinetwegen noch nicht bereit, den Kampf aufzugeben trotz aller Niederlagen, die ihr das Schicksal zugefügt hatte?
Je länger sie sich dahinschleppte, auf dünnen Knochenbeinen wankend und auf allen vieren kriechend, wenn ihre Kräfte sie verließen, desto mehr gewöhnte sie sich sowohl an den Schmerz als auch an den Gedanken, dass sie nicht mehr dieselbe war wie einst … und dass sie diese Veränderung akzeptieren musste, wollte sie nicht daran zerbrechen.
Sie verharrte und warf das Haupt in den Nacken, formte ihren Schmerz, ihren Zorn und ihren Hass zu einem grässlichen Schrei, den sie der Welt entgegenschleudern wollte – doch mehr als ein heiseres, kraftloses Keuchen drang nicht aus ihrer Kehle.
Aderyn.
Gedankenverloren betrachtete Balbok seine rechte Klaue – diejenige, die er in die verzehrenden Flammen des Drachenfeuers gehalten hatte, um Aderyn zu retten, um sie davor zu bewahren, in der alles verzehrenden Ursuppezu versinken.
Die Drachenfrau war böse gewesen, von Machthunger zerfressen und das Herz so rabenschwarz, dass es selbst einem Ork davor grausen konnte. Aber sie hatte, bei aller Durchtriebenheit, auch etwas an sich gehabt, dass Balbok beeindruckt hatte. Und da war jener Tag vor, so schien es, undenklich langer Zeit gewesen … als man ihn zu ihr gebracht und sie ihn in ihrem Bad empfangen hatte, ihr aufregender Schlangenkörper ohne eine Spur von Kleidung … Was dann passiert war, hatte Balbok so sehr die Sprache verschlagen, dass er bis zum heutigen Tag kaum ein Wort darüber verlor. Mit den Bienchen und den Blüten, von denen Rammar ihm einst erzählt hatte, hatte es jedenfalls nur sehr entfernt zu tun gehabt.
Sieben Monde waren vergangen, seit das apiron sie verschlungen hatte.
Trotz all ihrer Bosheit hatte Balbok nicht gewollt, dass sie stirbt … und nicht auf solch grausame Weise. Er hatte versucht, sie zu retten, doch das Drachenfeuer hatte begonnen, auch ihn zu verzehren und ihm Haut und Fleisch vom Knochen zu nagen. Er hatte es weiter versucht, bis der Schmerz unerträglich geworden war, dann hatte er seine Klaue zurückgezogen … und Aderyn war versunken.
Die Brandwunden selbst waren inzwischen wieder verheilt. Auf Anordnung Enoks, des Drachenkaisers, hatten sich die besten Heiler von Dragana darum gekümmert. Aber das Drachenfeuer hatte tiefe, hässliche Narben hinterlassen, die noch immer schmerzten … und wann immer Balbok die Augen schloss, sah er Aderyn noch immer vor sich, die Verzweiflung in ihren grünen Augen, als sie im Pfuhl unterging.
Es war der endgültige Triumph über die Drachenfrau gewesen, die Enoks Thron hatte rauben und sich zur Herrscherin hatte aufschwingen wollen, aber Balbok hatte darüber keine rechte Freude empfunden. Noch nicht einmal der bru-mill, der anlässlich des Sieges in einem gewaltig großen Kessel angerührt worden war, hatte ihm recht schmecken wollen.
Zu viel war im Kampf um die Neue Welt verloren gegangen, zu viele Verluste hatten sie erlitten – nicht nur Aderyn, sondern auch viele tapfere Kameraden, die zunächst auf der Seite des Widerstands und später dann in Enoks kaiserlichem Heer gekämpft hatten. Balbok dachte an Kilif Rattenzahn und Logras Narbengesicht sowie an die tapfere Kriegerin Mirra und den heldenhaften General Chulain.
Und er dachte an Alannah …
Entgegen allem, was ein Ork in seinem schlichten Gemüt für möglich hielt, war die Elfenkönigin, mit der zusammen Balbok und Rammar so viele Abenteuer erlebt hatten – ein paar davon freiwillig, die meisten eher weniger –, noch einmal zurückgekehrt. Am Ende hatte sie sich selbst geopfert, um den Bann, den der Dunkelelf Margok einst hinterlassen hatte, zu brechen. Und obwohl sein Bruder Rammar nicht müde wurde zu behaupten, dass sie ohne das Elfenweib sehr viel besser dran seien und vermutlich auch sehr viel länger leben würden, vermisste Balbok sie.
Alannahs Rückkehr hatte ihn an ihre allererste Begegnung im Eistempel von Shakara erinnert, damals, als sie den Auftrag erhalten hatten, eine geheimnisvolle Landkarte zu besorgen, die sich schließlich als die Elfin selbst herausstellte. Ein ganzes Zeitalter schien das zurückzuliegen, die Ork-Brüder waren damals noch jung gewesen und kaum dem bolboug entwachsen – nun fühlte sich Balbok alt und trotz der Echsensülze, von der er eine große Portion verdrückt hatte, innerlich leer.
Anders als sein feister Bruder …
»Bist du endlich fertig?«
Ein harter Schlag gegen die schmale Schulter traf Balbok und riss ihn fast von dem Schemel, auf dem er in ihrem gemeinsamen Quartier im Palast von Dragana kauerte. Rammar kam um ihn herum, die kurzen Arme über dem gewaltigen Wanst verschränkt, und sah mit blitzenden Schweinsäuglein auf ihn herab. Für ihn war es insgesamt besser gelaufen, und er ließ keine Gelegenheit aus, das auch zu zeigen.
Zum einen war das Bad in der Ursuppe für Rammar sehr viel zuträglicher gewesen als für Aderyn, hatte es doch prompt seine vor langer Zeit verlorene Klaue wieder nachwachsen lassen; zum anderen war mit dem Erlöschen von Margoks dunklem Bann auch die Barriere verschwunden, die die Alte und die Neue Welt über ein ganzes Zeitalter hinweg voneinander getrennt hatte, sodass die Rückkehr zu ihrer Insel in greifbare Nähe gerückt war.
»Shnorsh noch mal, wie lange kann ein Ork denn brauchen, um seine paar Habseligkeiten zusammenzupacken?«, raunzte Rammar Balbok an. »Nimm dir gefälligst ein Beispiel an mir! Meinen Kram habe ich längst beisammen, und meine Talismane trage ich sowieso immer bei mir«, fügte er hinzu und nestelte an dem Ledersäckchen herum, dass er an einer Schnur um den angesichts seiner Fülle kaum erkennbaren Hals trug. »Fehlt nur noch der neue saparak, den ich mir von den kaiserlichen Schmieden habe machen lassen …«
»Den du von Enok geschenkt gekriegt hast«, verbesserte Balbok. »Ich hab auch so einen.«
»Na und? Jedenfalls ist damit der Gnom gefressen und alles Zeug beisammen! Nicht mehr lange, und ich werde wieder als König auf meinem Thron sitzen und über meine Insel herrschen!«
»Unsere Insel«, sagte Balbok mit erhobenem Klauenfinger. »Und unser Thron.«
»Sag ich doch! Warum hast du deinen Kram eigentlich noch nicht gepackt und sitzt stattdessen hier und ziehst so einen Flunsch? Man könnte meinen, Borsh der Stinkfisch persönlich hätte dir den Tag versaut.«
Wie immer, wenn Balbok nachdachte, zog sich sein ohnehin schon ziemlich langes Gesicht noch mehr in die Länge. Es stimmte ja, sie hatten den Sieg davongetragen und ihrem Ziehsohn Enok zum Kaiserthron verholfen. Und nach all den überstandenen Gefahren hatten sie sich die Rückkehr auf ihre Insel nun wirklich verdient, das konnte niemand bestreiten. Sicher harrten ihre orkischen Untertanen schon sehnsüchtig ihrer Rückkehr – vorausgesetzt natürlich, sie hatten sich nicht längst im Streit um ihre Nachfolge gegenseitig die klogionn’hai eingeschlagen.
Somit hätte auch Balbok eigentlich allen Grund gehabt, sich auf die Rückkehr nach Hause zu freuen, auf den vertrauten Mief ihres Thronsaals und die mit altgelagertem Blutbier gefüllten Fässer, die dort auf sie warteten …
Die Sache war nur … es ging nicht.
»Ich habe da so ein Gefühl«, erklärte er leise.
»Sag bloß.«
»In meinem Bauch«, führte Balbok genauer aus.
»Ach, das kenne ich.« Rammar machte eine wegwerfende Klauenbewegung. »Das kommt vom bru-mill! Diese umbal’hai von Hofköchen haben sogar für meinen Geschmack zu viele Zwiebeln reingetan – mein Magen fühlt sich an, als würden fünfzig verrückte Gnome darin tanzen.«
»Douk, davon kommt es nicht.« Balbok schüttelte das hängende Haupt. »Das hier ist anders.«
»Wie denn?«
»Ich habe das Gefühl, dass … dass ich hier noch etwas erledigen muss.«
»Aber das kannst du doch!«, versicherte Rammar. »Such dir ein Plätzchen auf den kaiserlichen Latrinen, und tu, was du tun musst. Und danach pack endlich deine Sachen, verstanden?«
»Das ist es auch nicht.« Abermals schüttelte Balbok den Kopf. »Es ist was anderes … etwas, worum ich mich hier noch kümmern muss, ehe ich nach Hause zurückkehre.«
»Korr, aber natürlich!«, rief Rammar aus und warf in einer theatralischen Geste die pfeilerdicken grünen Arme hoch. »Mein Halbhirn von Bruder hat natürlich noch was Wichtiges zu erledigen, ehe er sich auf den Heimweg machen kann! Du weißt schon, wonach sich das anhört, oder?«
»Wonach denn?«
»Nach galoppierendem Größenwahn.« Mit dem Klauenfinger machte Rammar eine kreisende Bewegung vor der breiten Stirn. »Und der wiederum klingt verdächtig nach Mensch. Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du zu viel Zeit mit Milchgesichtern zugebracht hast? Du bist ein Ork aus echtem Tod und Horn, verdammt noch mal, also benimm dich gefälligst auch so – alles andere ist Blödsinn, und das weißt du auch.«
Mit großen Kuhaugen sah Balbok fragend zu seinem Bruder auf. »Weiß ich das?«
»Besser wär’s, Faulhirn«, stieß Rammar zwischen gelben, zusammengebissenen Zähnen hervor. »Andernfalls werde ich nämlich meinen nagelneu geschmiedeten saparak nehmen und ihn als Erstes an dir ausprobieren, indem ich dir damit deinen dämlichen Schädel spalte. Ist das deutlich genug?«
Einen langen Augenblick sah Balbok ihn nur an.
»Korr«, seufzte er dann leise.
Irgendwann war sie zusammengebrochen.
Nicht einmal mehr ihr unbändiger Hass hatte ausgereicht, um Aderyn einen Fuß vor den anderen setzen zu lassen. Der Schmerz hatte überhandgenommen, hatte ihren Willen hinfortgerissen wie eine Springflut, und die bizarren Stümpfe, die als Reste ihrer Beine geblieben waren, hatten vollends ihren Dienst versagt.
Da lag sie nun, auf hartem Felsgestein und losem Geröll, wälzte sich in einem Bad aus Schmerz, während Verzweiflung sie zu überwältigen drohte, hinabzureißen in den dunklen Abgrund, aus dem es kein Entrinnen gab und keine Rückkehr … Verzweiflung nicht nur über die Niederlage, die sie erlitten hatte, über den Triumph ihrer Todfeinde und die Schmach, die sie ihr angetan hatten, sondern auch über das, was aus ihr geworden war.
Wenn sie an sich herabsah, erfasste ihr verschwimmender Blick Fleisch, das seiner geschuppten Haut beraubt war und nun offen lag, durchzogen von Adern, durch die nach wie vor Blut pulsierte, gepumpt von einem Herzen, das hart war wie Stein und kalt wie Eis. Längst hätte es aufgehört zu schlagen, wäre es nicht von etwas am Leben gehalten worden, das jenseits ihres Begreifens und ihres Einflusses lag. Etwas, das in ihr war, in diesem geschwächten, entstellten, zerfallenden Körper, und in ihr heranreifte.
Aderyn konnte es fühlen, das neue Leben, dem das apiron nichts hatte anhaben können …
Ihre Hand glitt hinab zu ihrem Bauch, befühlte das narbige rohe Fleisch und nahm die Regung darunter wahr. Und trotz der unbändigen Wut, die sie erfüllte, trotz des namenlosen Zorns und des Hasses, die so überwältigend waren, dass sie ihr den Verstand rauben wollten, empfand sie für einen Moment etwas wie Bedauern … eine leise Trauer darüber, dass sie nicht in der Lage sein würde, jenes neue Leben zu gebären, dass sie nicht mehr mit eigenen Augen sehen würde, was in ihr gereift war.
Wie lange sie bereits so lag, erschöpft an Geist und Körper und sich wie im Fiebertraum vor Schmerzen windend, wusste sie nicht zu sagen. Aber sie spürte, wie die Kräfte schwanden und sie verließen. Ihr Bewusstsein flackerte wie eine Kerze im Sturm, kurz davor, für immer zu verlöschen. Sie hätte in diesem Moment geschworen, dass sie ihn tatsächlich hörte, den brausenden Sturm, den heulenden Wind, der nur darauf wartete, ihren Verstand und alles, was sie war, davonzutragen und in alle Himmelsrichtungen zu zerstreuen, auf dass nichts von ihr bliebe …
Es war der Moment, in dem das karge Felsenrund von mehreren dunklen Gestalten betreten wurde.
Sie hatten nicht nach ihr gesucht.
Aber sie hatten sie gefunden.
Auch wenn es Balbok nicht gefiel – der Zeitpunkt, da Rammar und er die Neue Welt verlassen und wieder zu altbekannten Gestaden aufbrechen würden, rückte unaufhaltsam näher. Denn das Schiff, zu dessen Bau Enok den kaiserlichen Befehl gegeben hatte, näherte sich seiner Fertigstellung.
Aufgrund der Barriere, die sich jahrhundertelang vor der Küste des Südkontinents erstreckt und das Befahren des Meeres verhindert hatte, war das Drachenreich nie zur Seemacht geworden; lediglich Fischer hatten von kleinen Dörfern aus die Dunkle See befahren, jedoch stets in Nähe der Küste und unter Vermeidung der westlichen, sturmgepeitschten Ufer. Da Margoks Bann gebrochen war, sollte sich all dies ändern.
Am Feuerfluss, der sich östlich von Dragana durch die hügelige Landschaft zum Meer wand und der aufgrund seiner Tiefe und Breite schiffbar war, hatte der Kaiser seine Handwerker, allen voran Zimmerleute, Segelmacher und Schmiede, eine behelfsmäßige Werft errichten lassen, wo man innerhalb nur weniger Monde ein stolzes Schiff gebaut hatte, groß und seetüchtig genug, um von einem Ende Erdwelts zum anderen zu reisen.
Das Kommando über die Unternehmung hatte Enok keinem anderen als Pyaras übertragen, jenem Seefahrer aus der Alten Welt, dem es mittels Elfenmagie gelungen war, die Barriere zu durchbrechen; Margoks Fluch hatte ihm einen hohen Preis abverlangt, hatte ihn nicht nur Jahre seines Lebens gekostet, sondern auch seine gesamte Mannschaft, die sich gegen ihn gewandt und schließlich selbst ein grausames Ende gefunden hatte. Dank der Kraft des apiron hatte Pyaras seine jugendliche Kraft jedoch wieder zurückerlangt, und er brannte darauf, in die Heimat zurückzukehren – nicht länger nur als Kapitän, sondern als Abgesandter des Kaisers von Anwar.
Sein Wissen über Nautik und Schiffsbau hatte er dabei gerne mit den oltorr’hai geteilt, wie Balbok und Rammar die Bewohner der Neuen Welt in Anspielung auf deren blassgrüne Haut genannt hatten – Schimmelinge. Wie die meisten Bewohner der Neuen Welt waren auch sie aus Experimenten Margoks hervorgegangen, längst keine Elfen mehr, aber auch noch keine Orks, mehr etwas dazwischen. Und natürlich gab es noch die anderen … die Wildwüchse, die aus Margoks frevlerischen Versuchen mit dem apiron hervorgegangen waren und zu denen auch das Baumwesen Drel, der Gestaltwandler Evan und der Fischmann Gullwyn gehörten. Sie alle, die sie die Neue Welt mit all ihren Urwäldern, den Sümpfen und wild zerklüfteten Gebirgen bevölkerten, hatten Zeit ihres Lebens nichts von der Existenz des anderen Kontinents geahnt – so wie man in der Alten Welt nichts vom Drachenreich gewusst hatte. Denn die alten Aufzeichnungen waren vernichtet und die Geschichte umgeschrieben worden, um die Erinnerung an jene Ereignisse auf ewig zu tilgen.
Doch wenn Balbok auf seinen Reisen und im Zuge der gemeinsamen Abenteuer mit Rammar eins gelernt hatte, dann dass sich kein Geheimnis auf ewig bewahren ließ. Und nun nahte tatsächlich der Zeitpunkt, da die beiden Welten einander begegnen sollten, zum ersten Mal nach undenklich langer Zeit …
Warum nur, fragte er sich, musste ausgerechnet er dabei sein?
»Es ist ein gutes Schiff«, stellte Pyaras fest, der zusammen mit den beiden Orks am Kai stand und auf die Gorwal II blickte, wie er den Segler zu Ehren seines alten Schiffes genannt hatte. Erst vor wenigen Tagen war das Schiff zu Wasser gelassen worden, jetzt lag es sicher vertäut, während Kolonnen von Arbeitern es beluden und von großen Echsen gezogene Fuhrwerke immer neue Körbe, Kisten und Fässer mit Vorräten heranbrachten.
Karren um Karren verschwand im Bauch des Seglers, der dafür immer tiefer im Wasser lag, zur sichtlichen Erbauung Rammars, der von einem spitzen Ohr zum anderen grinste. »Ein gutes Schiff mag es sein, aber noch wichtiger ist, dass seine Vorratskammern gut gefüllt sind. Wenn ich hungrig bin, werde ich nämlich leicht seekrank.«
»Dazu sollten wir es lieber nicht kommen lassen«, meinte Pyaras grinsend. Die Gesichtszüge des Kapitäns waren wettergegerbt, die Schultern breit, das schulterlange Haar im Nacken zusammengebunden. Noch immer konnten sich die Orks nicht ganz daran gewöhnen, dass sie Pyaras als Greis kennengelernt hatten und er jetzt wieder jung aussah, ein Menschenmann in der Blüte seiner Jahre. Bei allen anderen Milchgesichtern, denen sie auf ihren Reisen begegnet waren, war es mit der Zeit eher umgekehrt gewesen …
Wie ihre Vorgängerin verfügte auch die Gorwal II über drei Masten und eine ähnliche Takelung; allerdings hatte Pyaras seine Erfahrungen im Hinblick auf die hohe See einfließen und den Rumpf des Schiffes schlanker gestalten lassen. Am Bug und achtern gab es Kastelle, die sich im Fall eines Angriffs mit Bogenschützen besetzen ließen; der Laderaum bot ausreichend Platz, um Vorräte für viele Wochen und selbst für zwei gefräßige Orks an Bord zu nehmen und eine weite Reise anzutreten.
Der Auftrag, den Pyaras vom Kaiser erhalten hatte, besagte, zunächst das Eiland der Orks anzusteuern und Balbok und Rammar in ihrem Königreich abzusetzen; sodann sollte er gen Norden weiterfahren und die Gestade von Tirgaslan ansteuern, der Hauptstadt des nördlichen Königreichs … Als einfacher Seefahrer hatte Pyaras die ehrwürdige Metropole einst verlassen, als Gesandter des Drachenkaisers würde er dorthin zurückkehren, unter dem kaiserlichen Flammenbanner, das am obersten Mast flatterte. Den Bug der Gorwal II zierte entsprechend ein kunstvoll geschnitzter Drache, der mit den halb ausgebreiteten Flügeln das Bugkastell stützte und mit den hölzernen Augen verwegen zum Horizont blickte.
»Man hat das Gefühl, als würde das Viech gleich zum Leben erwachen«, meinte Rammar unbehaglich. Für seinen Geschmack war die Schnitzerei entschieden zu realistisch geraten – von Drachen und Echsen hatte er den Rüssel entschieden voll.
Sein einziger Trost war, dass es auf der Insel der Orks weder das eine noch das andere gab – und sollte sich doch mal ein uchl’bhuurz dorthin verirren, würde er es eigenhändig und ohne Schuppenlesens erschlagen, ehe es irgendwelchen Ärger machen konnte. Rammar hatte genug von diesen Dingen.
Ein für alle Mal.
Endgültig …
»Der Gallionsfigur geht es wie uns beiden«, scherzte Pyaras, »sie kann es kaum erwarten, endlich in See zu stechen – nur noch zwei Tage, dann ist es so weit. Bei deinem Bruder«, fügte er etwas leiser und mit einem Seitenblick auf Balbok hinzu, »bin ich mir da allerdings nicht so sicher …«
»Der nun wieder«, meinte Rammar und machte eine abfällige Klauenbewegung. »Das wäre ja auch das erste Mal, dass meinem dämlichen Bruder nicht irgendein pochga quersitzt.«
Balbok seufzte nur.
Auf den Vorwurf, wenn er ihn überhaupt gehört hatte, ging er gar nicht ein. Gedankenverloren starrte er ins dunkle Wasser zwischen Schiffswand und Kai.
»Was ist mit dir, Balbok?«, fragte Kapitän Pyaras. »Freust du dich gar nicht, wieder nach Hause zu kommen? Immerhin seid ihr Könige auf eurer Insel, das habt ihr mir unzählige Male berichtet …«
»Natürlich freut er sich«, antwortete Rammar an Balboks Stelle, ehe dieser etwas erwidern konnte. »Er ist nur manchmal zu dämlich, um zu begreifen, was gut für ihn ist. Nicht wahr, Langer?«
»Korr«, stimmte Balbok mit langsamem Nicken zu.
Besonders überzeugt klang es nicht.
»Faulhirn, nimm dir ein Beispiel an mir!«, fuhr Rammar ihn an. Dass sein Bruder sich derart gehen ließ, noch dazu vor einem Menschen, war ihm peinlich. »Sehe ich vielleicht aus, als ob Koruk der Giftpisser mir auf den Helm gepinkelt hätte? Mache ich ein Gesicht, als hätte Gonz der Fresssack mir meinen bru-mill weggefuttert? Natürlich nicht«, gab er selbst auch gleich die Antwort. »Und weißt du, warum? Weil ich im Gegensatz zu dir genau weiß, was gut für mich ist. Meine Insel, mein Thron, meine Krone – das alles ist gut für mich.«
»Unsere Insel«, sagte Balbok leise.
»Von mir aus. Jedenfalls würde ich nicht am Ufer stehen und wie ein umbal aus der Wäsche gucken! Wir sind Orks aus echtem Tod und Horn, verdammt noch mal!«
»Sagtest du schon.«
»Weil es wahr ist! Ein echter Ork würde sich niemals so gehen lassen, wie du es grade tust«, versicherte Rammar entrüstet – dass es noch gar nicht so lange her war, da er selbst von unheilvollen Ahnungen verfolgt worden war, die ihm nicht nur die Laune, sondern sogar den Appetit gründlich verdorben hatten, überging er geflissentlich.
»Bereits in zwei Tagen«, – er hielt demonstrativ drei Klauenfinger hoch, um zu beweisen, dass er allen Unkenrufen zum Trotz auch zählen konnte –, »sind wir auf See, bis dahin hast du alles andere schon vergessen. Denk an meine Worte … wenn du das mit dem bisschen Hirn in deinem Schädel überhaupt kannst!«
Balboks einzige Antwort war ein weiteres Seufzen.
»Dein Bruder hat recht, Balbok«, sprang Pyaras Rammar bei. »Ein wahrer Seemann richtet seinen Blick stets zum Horizont und denkt an das Ziel, das er erreichen will – niemals denkt er an die Stürme, die es unterwegs zu überstehen gilt …«
Rammars sonst tiefgrüne Züge wurden sichtlich blasser. »Stü-Stürme«, echote er.
»… die Untiefen, auf die unser Schiff jederzeit treffen und an denen es zerschellen könnte …«, fuhr Pyaras unbeirrt fort.
»Untiefen.« Rammars Stimme klang ungewohnt heiser.
»… und auch nicht an die Seeungeheuer, die nur danach trachten, unser Schiff mit ihren Tentakeln zu packen, Rumpf und Masten zu zerbrechen und es auf den Grund des Meeres zu ziehen«, brachte der Kapitän seine Aufzählung zu Ende.
»Seeungeheuer.« Bleich, wie er war, sah Rammar jetzt beinahe selbst aus wie ein Schimmeling.
»Ja, aber das alles schreckt uns nicht ab, nicht wahr?«, fragte Pyaras und ballte die Rechte entschlossen zur Faust.
»Nei-nein, Mensch, natürlich nicht«, bestätigte Rammar tonlos, »schließlich bin ich ein Ork, aus echtem Tod und Ho…«
Weiter kam er nicht mehr – denn der bru-mill, den er tags zuvor verspeist hatte, war plötzlich wieder da und ergoss sich plätschernd in den Fluss.
Aderyn war von Ohnmacht umfangen.
Verfolgt von Träumen, in denen sie wieder und wieder in den brennenden Fluten des apiron versank, wieder und wieder die Qualen litt, die sie fast um den Verstand brachten, schwebte sie im Niemandsland zwischen Leben und Tod.
Sie bekam nicht mit, wie jene, die sie gefunden hatten, sich berieten, wie sie mit ihr verfahren sollten; wie über das Thema Streit entbrannte, den einer der Kontrahenten schließlich mit dem Leben bezahlte. Aus dem toten Gehölz, das den Grund der Schlucht bedeckte, ließ der Sieger eine Trage bauen, auf die sie Aderyns reglosen Körper betteten.
Dann trugen sie sie davon.
Unterwegs hielten sie immer wieder an, weniger um zu ruhen, sondern um sich zu vergewissern, dass Aderyn noch am Leben war. Hätte sie nicht mehr geatmet, hätten sie ihren Körper zurückgelassen und den Aasfressern übergeben, die des Nachts aus ihren Höhlen krochen … doch wann immer die tief vermummten Gestalten innehielten, um nachzusehen, war noch Leben in ihr, und sie gingen weiter.
Wohin ihr Weg sie führte, bekam Aderyn nicht mit, so wie sie nicht mitbekam, wie die Zeit verstrich … Wie die Sonne ihren Zenit erreichte und wieder versank, wie die helle Wärme des Tages der dunklen Nacht wich mit ihrer Kälte und ihren Gefahren. Wie der beschwerliche Marsch am nächsten Tag weiterging, über steile Abhänge und durch schmale Schluchten.
Als Aderyn das nächste Mal die Augen aufschlug, hatte die schweigende Karawane ihr Ziel bereits erreicht, das an einem dunklen Ort tief unter der Erde lag, doch wusste Aderyns fiebriger Verstand Wirklichkeit und Traum nicht zu unterscheiden. Waren es Schamanen, die sich im Schein blakender Fackeln über sie beugten und vergessene Götter um Beistand ersuchten? Oder handelte es sich nach wie vor um die Dämonen der Albtraumwelt, die sie verfolgten und ihren Verstand in den Abgrund zu reißen suchten?
Sie vernahm ihre Stimmen, monotone Gesänge in einer Sprache, die sie nicht verstand und deren Klang ihr doch vertraut war … und sie sah ihre Fratzen über sich schweben, undeutlich und verschwommen, und wusste nicht, ob es Masken oder Gesichter waren oder dämonische Antlitze, so grässlich waren sie anzusehen … oder vielleicht waren auch sie nur Spiegel ihres inneren Selbst, Gestalten aus einem Fiebertraum.
Die Gestalten flößten ihr bittere Tränke ein, die sie widerwillig schluckte, nicht wissend, ob es Gift war oder Medizin. Jeweils nur kurze Zeit vermochte sie die Augen offen zu halten, dann fielen sie wieder zu, und die Erschöpfung trug sie erneut hinfort ins triste Nirgendwo. Dennoch lauschte sie weiter dem Klang der Stimmen, die sie umgaben, ihrem gleichförmigen Gesang, nutzte ihn als ein Signal, an dem sich ihr schwindender Geist orientieren konnte, damit er im Sturm von Irrsinn und Schmerz nicht verloren ging.
Und da war der Herzschlag, der ihr Kraft gab.
Nicht ihr eigener, sondern der des kleinen Wesens, das in ihr reifte und um dessentwillen sie am Leben bleiben musste, auch wenn es allen Gesetzen der Natur widersprach. Ihr Körper mochte nur noch ein Gefäß sein, eine Hülle, aber sie wollte dies zu Ende bringen, wollte, dass etwas von ihr lebte …
Irgendwann legte sich der Schmerz.
Ob es an der gallebitteren Medizin lag oder an jenem zweiten Herzen, das in ihrem Inneren schlug und so viel kräftiger war als ihr eigenes – eine Ruhe überkam sie, wie sie sie lange nicht verspürt hatte, eine Gelassenheit, in der nichts bedeutsam war außer ihr selbst und dem neuen Leben in ihr. Die Phasen, die sie im wachen Zustand verbrachte, wurden ausgiebiger, und allmählich begann sich Traum wieder von Wirklichkeit zu trennen. Doch je länger Aderyn wach war und je häufiger ihr malträtierter Geist ins Hier und Jetzt zurückfand, desto deutlicher ging ihr auf, dass längst nicht alles, was sie in ihrem Traumzustand gesehen hatte, eine Ausgeburt von Fieber und Schmerz gewesen war.
Die meiste Zeit über suchten die Gestalten, die sie in der kargen Wildnis gefunden und ihr offenbar das Leben gerettet hatten, sich unter schäbigen Kapuzen zu verbergen. Doch wann immer sie sich über Aderyn beugten, um nach ihr zu sehen, konnte sie im flackernden Schein der Fackeln kurze Blicke auf ihre ansonsten verhüllten Mienen erheischen.
Es war kein Traum, den Aderyn durchlebte, kein Albdruck, den sie sah, sondern die bittere Wirklichkeit. Und anders als sie vermutet hatte, trugen jene Fremden auch keine Masken.
Es waren ihre wahren Gesichter, in die Aderyn blickte.
Und blankes Grauen starrte ihr daraus entgegen.
Balbok hatte lange keinen Schlaf gefunden.
Ruhelos warf sich der große Ork auf seinem Lager hin und her und versuchte, die Bilder loszuwerden, die vor seinem inneren Auge auftauchten, sobald er die Lider schloss.
Aderyn. Todesangst in ihren schlangenhaften und dennoch so anziehenden Gesichtszügen, die grünen Augen in namenlosem Entsetzen geweitet.
Der Anblick allein war schon entsetzlich, doch noch schlimmer waren die Geräusche, die Balbok zugleich dabei hörte: ihre gellenden Schreie, als das Drachenfeuer sie verschlang, und die Qualen, die darin mitschwangen …
Auch wenn Rammar gerne das Gegenteil behauptete, war Balbok durch und durch ein Ork: Blutbier – am liebsten altgelagert – war sein Lieblingsgetränk, für bru-mill ließ er alles stehen, und sein saparak hatte schon manchen Feind das Fürchten gelehrt und blutige Schneisen in feindliche Heere geschlagen. Er war nicht zimperlich, wenn es darauf ankam, und wie jeder Ork hatte er Schadenfreude gleichsam mit der Muttermilch in sich aufgesogen und betrachtete sie als reinste aller Freuden …
Aber das hier war anders.
Auch wenn sie hinterhältig und durchtrieben gewesen war und mehrmals versucht hatte, Rammar und ihn in Kuruls Grube zu befördern, hatte Aderyns Untergang Balbok keinen Triumph bereitet. Ganz im Gegenteil ertappte er sich dabei, dass ihr Tod in ihm etwas hinterlassen hatte … eine Lücke. Eine Leere, die weder bru-mill noch Blutbier füllen konnte.
Nicht dass Balbok es nicht versucht hätte, aber von heftigen Blähungen und Schädeldröhnen einmal abgesehen, hatte es nicht viel gebracht. Das Gefühl, dass etwas von ihm in jenem Gewölbe tief im Inneren des Berges zurückgeblieben war, wurde er dadurch nicht los. Obwohl er alles gegeben hatte, um Aderyn zu retten, machte er sich Vorwürfe, weil er sie am Ende doch losgelassen und sie dem apiron überlassen hatte. Etwas verband sie miteinander, das stärker zu sein schien als aller Hass und aller Schmerz … und stärker selbst als der grausame Tod, der die Schlangenfrau ereilt hatte.
Gedanken wie diese waren es, die Balbok quälten und ihn schließlich in einen unruhigen Schlaf begleiteten, der durchsetzt war von Träumen. Und als würde Bormod persönlich durch diese Träume watscheln, waren sie durchsetzt von dunklen Bildern, die selbst einem hartgesottenen Ork eisig kalte Schauer über den Rücken jagen konnten.
Und natürlich handelten sie von Aderyn …
Sie war am Leben.
Und sie war allein.
In einem von blakenden Fackeln beleuchteten Gewölbe lag sie auf etwas, das ein Opferstein sein mochte oder auch nur ein seltsam geformter Brocken Fels. Sie war so nackt, wie sie es damals im Bad gewesen war, ihre Reptilienhaut schimmerte im Schein der Fackeln. Ihre Gesichtszüge mit den grünen Augen und den senkrecht stehenden Pupillen waren anmutig und fesselnd wie ehedem, jedoch in Schmerz verzerrt. Die Beine angewinkelt und gespreizt, hatten ihre Klauenhände sich in das alte Gestein vergraben, krallten sich mit aller Kraft daran fest, während sie zugleich wie von Sinnen schrie.
Balbok rief ihren Namen, aber sie schrie nur immer weiter. Schweißperlen standen auf ihrer Stirn, Balbok wollte sie berühren, doch obwohl er unmittelbar neben ihr stand, konnte er sie nicht erreichen. Stattdessen traten nun kleine, schattenhaft wirkende Gestalten hinzu, brachten schäbige Fetzen und Schüsseln mit Wasser … und Balbok begann zu verstehen.
Es war eine Geburt, deren Zeuge er wurde … ein kleines Geschöpf war kurz davor, Luraks Pfuhl zu entsteigen und sich durch die Pforte des Lebens zu zwängen.
Aderyn wurde eine mathorr!
Die Erkenntnis überwältigte Balbok. Gebannt schaute er zu, wie im nächsten Moment tatsächlich ein neues Leben seinen Weg nach Erdwelt fand, wie es dem Schoß der Schlangenfrau entschlüpfte, um von den lautlos huschenden Gestalten aufgenommen und in stinkende Fetzen gehüllt zu werden. Sie ließen es so schnell darin verschwinden, dass Balbok nichts davon erkennen konnte, seine Aufmerksamkeit gehörte Aderyn, deren Schreie zunächst noch in ein heiseres Keuchen übergegangen und schließlich ganz verstummt waren.
Erschöpft lag sie da, während sie mit der letzten noch verbliebenen Kraft verlangend die Klauen nach dem Neugeborenen ausstreckte – doch ihre schattenhaften Helfer schienen nicht gewillt, es ihr zu geben.
»Was soll das?«, ereiferte sich Balbok. »Sie ist eine mathorr, gebt ihr das Kind gefälligst, ihr gnomgesichtigen kleinen Ratten! Das ist so gemein, wisst ihr das?«, schickte er ihnen gehässig hinterher, als ihm klar wurde, dass sie ihn weder hörten noch er irgendetwas tun konnte, um auf sich aufmerksam zu machen. Vielleicht wenn er seinen saparak dabeigehabt hätte, dann …
Doch im nächsten Moment änderte sich ohnehin alles.
Ein Schatten schien von der hohen Höhlendecke herabzufallen, und ein scharfer Luftzug ließ die Fackeln erlöschen. Dass es dennoch nicht vollständig finster wurde in der Höhle, lag an der Kreatur, die plötzlich vor ihnen kauerte. Ihre Augen leuchteten in feurigem Rot, flackernde Flammen züngelten aus ihren Nüstern.
Es war ein Drache – und nicht irgendeiner.
Curran, Balboks in einen drachga verwandelter Urahn persönlich war es, der plötzlich in der Höhle aufgetaucht war und dessen Anblick nicht nur die schattenhaften Helfer, sondern auch Aderyn selbst in Schrecken stürzte.
»Curran, nein!«, rief sie, während sie vor ihm lag, nackt, erschöpft und schutzlos, und so gar nichts mehr mit der Herrscherin gemein hatte, die gegen ihren Herrn intrigiert und ihn feige hinters Licht geführt hatte. »Tu das nicht! Nicht mein Kind …«
Einen bangen Augenblick lang schien der einstige Drachenkaiser zu zögern – ob es Mitleid war oder die Erinnerung an eine andere, längst vergangene Zeit, in der sie treu zu ihm gestanden hatte und sie Seite an Seite kämpften, war unmöglich zu sagen. Doch dann pendelte sein ungeheures Haupt zurück, er riss den Rachen auf – und einen Lidschlag später schoss glühender Feueratem aus der Tiefe seines Schlundes, orangerot lodernde Flammen, die nicht nur Aderyn bei lebendigem Leib verzehrten, sondern auch die kleinen Schatten – und das neugeborene Kind, das sie bei sich trugen.
»Douk!«, hörte Balbok sich selbst brüllen, während Aderyn wieder dasselbe fürchterliche Kreischen wie damals unter dem Berg anstimmte. Doch die Höhle war bereits von heißer Glut erfüllt, die alles und jeden verzehrte …
… und Balbok schoss aus dem Schlaf.
Sein Atem ging stockend, das Herz galoppierte in seiner Brust wie ein wilder Eber, sein dünnes Haar klebte schweißnass an seinem Kopf.
Gehetzt sah er sich um.
Das Drachenfeuer war erloschen, Dunkelheit umgab ihn stattdessen, und statt Aderyns entsetzlichem Geschrei lag Stille in seinen Ohren.
Der große Ork brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen, dass er sich nicht in einer Höhle befand, sondern in seinem Quartier im kaiserlichen Palast von Dragana. Mit der Erkenntnis, dass es nur ein Albtraum gewesen war, beruhigten Pulsschlag und Atmung sich wieder, und er sank zurück auf sein Lager … doch an Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken.
Bis zum Morgengrauen lag Balbok wach, verfolgt von den Bildern aus seinem Traum, und überlegte, was sie bedeuten mochten.
Gewiss, er hatte gemerkt, dass etwas an Aderyn anders gewesen war, vermutet, dass sie ein neues Leben in sich trug – aber zu sehen, wie sie es tatsächlich zur Welt brachte und eine mathorr wurde, hatte ihn doch ziemlich verstört.
Und was hatte die Höhle zu bedeuten? Wer waren die fiesen kleinen Kerle? Und warum war Curran aufgetaucht?
Wäre es nach seinem Bruder gegangen, hätte Balbok nicht groß darüber nachzudenken brauchen, denn für Rammar waren Träume nichts als Unfug, der seine Ursache in zu viel Zwiebeln oder schlecht verdauter Sülze hatte, aber ganz sicher nichts mit dem wirklichen Leben zu tun (es sei denn natürlich, es betraf Rammars eigene Träume). Aber Balbok wurde das Gefühl nicht los, dass es um sehr viel mehr ging …
Vielleicht hatte Rammar ja recht, und er hatte wirklich schon zu viel Zeit in der Gesellschaft von Elfen und Menschen zugebracht. Aber ihm war klar, dass Schmalaugen und Milchgesichter oft vom Schicksal sprachen und dass viele von ihnen daran glaubten. Dass es einzelne Wesen miteinander verband, nicht nur Menschen, sondern auch andere, Zwerge und Orks … etwa so, wie Balbok und Rammar mit der Elfenkönigin Alannah verbunden gewesen waren.
Offenbar, dachte Balbok, gab es auch zwischen ihm und Aderyn eine solche Verbindung, und als im Osten die Sonne über Anwar heraufzog und sich ein neuer Tag ankündigte, da begriff er, worin diese Verbindung bestand. So verwegen und verrückt es klingen mochte, es konnte keine andere Schlussfolgerung geben.
Es war nicht irgendein Kind, das Aderyn in jenem Traum zur Welt gebracht hatte.
Es war seins.
Sein Fleisch und Blut.
Als Aderyn dieses Mal zu sich kam, hatte sie erneut geträumt … und konnte nicht fassen, dass sie von ihm geträumt hatte …
Von dem Barbaren, dessen rohe Körperkraft nur noch durch seine Dummheit überboten wurde.
Von dem grünen Monstrum, das sie im Feuer des apiron hatte versinken lassen.
Vom Vater des Kindes, das in ihr heranwuchs.
Dem Ork …
Weshalb, bei sämtlichen Königen der alten Zeit, begegnete sie ihm im Traum? Hatte sie nicht genug unter seiner Ignoranz gelitten? Hatte er nicht alles getan, um ihr seine Verachtung zu zeigen? Hatte er nicht zuletzt gar ihren Tod gewollt?
Balbok.
Schon der Widerhall dieses Namens in ihrem Bewusstsein verursachte ihr körperliche Schmerzen, und sie verwünschte sich dafür, dass jener Unhold jemals in ihr Leben getreten war, mehr noch, dass sie ihn in ihr Bad und in ihr Bett gelassen hatte. Damals hatte sie es noch nicht geahnt, aber es war der Anfang vom Ende gewesen, eine Entscheidung, mit der sie um eines flüchtigen Vergnügens willen ihren eigenen Untergang heraufbeschworen hatte.
Balbok …
Selbst jetzt, kaum noch am Leben und jeder Fingerbreit ihres einstmals so anmutigen Körpers grässlich entstellt, fühlte sie den Hass in sich brennen und den Durst nach Rache. Tausendmal mochte er der Vater ihres Kindes sein, sein Leben hatte er in dem Augenblick verwirkt, da er sie verraten und dem Drachenfeuer überantwortet hatte.
Als Aderyn das Geräusch von Schritten wahrnahm, die über den Boden schlurften, öffnete sie die Augen.
Das Gewölbe, in dem sie sich befand, hatte eine niedere, rußgeschwärzte Decke und wurde von blakendem Fackelschein beleuchtet. Das Lager, auf das man ihren zerfallenden Körper gebettet hatte, war karg, doch war man bemüht gewesen, es mit allem Komfort auszustatten, der an diesem jämmerlichen, stinkenden Ort zur Verfügung stand.
Die Gestalt, die die Kammer betreten hatte, näherte sich vorsichtig und in unterwürfiger Haltung. Sie trug einen schäbigen Mantel und eine Kapuze, die ihre Züge verhüllte.
»Seid Ihr wach, Herrin?«, drang es aus der Schwärze.
Die Stimme war kehlig und seltsam tonlos, und sie bediente sich der alten Sprache, sodass Aderyn sie gut verstand. Dass der Vermummte sie »Herrin« nannte, beruhigte sie ein wenig. Immerhin schien sie an diesem Ort keine Gefangene zu sein.
Statt etwas zu erwidern, nickte sie nur, worauf der Vermummte näher trat. »Die Medizin der Schamanen wirkt«, stellte er, offenbar mit Zufriedenheit, fest.
»Was für Medizin?«, fragte sie, obwohl sie nicht sicher war, ob sie es wissen wollte. Tatsache war, dass sie sich besser fühlte … noch längst nicht wieder bei Kräften, aber nicht mehr dauerhaft von Schmerz verfolgt.
»Gute Medizin«, versicherte der andere. »Medizin aus alter Zeit …«
»Zeig dich«, verlangte sie.
Der Vermummte wich einen Schritt zurück.
»Ich will sehen, wer mich gerettet hat«, bekräftigte Aderyn mit krächzender Stimme. »Warum verbirgst du dein Gesicht?«
Der Vermummte blieb eine Erklärung schuldig, jedoch schickte er sich an, die Kapuze zurückzuschlagen. Er stellte sich dabei reichlich ungeschickt an, so als wäre es eine Bewegung, die er nicht gewohnt war … Vermutlich hatte er sie schon eine lange Zeit nicht mehr ausgeführt.
Ungelenk und beinahe widerstrebend zog er die Kapuze herab. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war eigentlich keins – es waren zwei. Zwei Hälften verschiedener Antlitze, die durch eine Ironie der Natur im selben Gesicht zusammengefunden hatten; die eine schön und ansehnlich, der edle Blick an einen Elfen gemahnend, die andere grün und grässlich, mit einem blutunterlaufenen, eitrigen Auge und einem spitzen Ohr, das waagrecht vom kahlen Haupt abstand, ein Unhold …
Aderyn starrte den Fremden an. Ihr war klar, dass sie einer solch erbärmlichen Erscheinung noch vor nicht allzu langer Zeit mit beißendem Spott begegnet wäre. Vielleicht hätte sie gar zur Klinge gegriffen und ihr Gegenüber von dessen elendem Dasein erlöst oder einem ihrer Schergen befohlen, es zu tun … doch in diesem Augenblick, in diesem von Fackelschein beleuchteten Gewölbe, sah sie den Fremden mit anderen Augen.
War nicht auch ihr selbst übel mitgespielt worden? Hatte nicht auch sie selbst ihre Schönheit verloren, die einst selbst den großen Curran betört hatte und der zahllose Elfenmänner verfallen waren?
Schönheit, diese Lektion hatte Aderyn gelernt, war vergänglich und folglich nichts wert.
Nur der Hass war von Dauer.
»Sind alle deine Leute von dieser Gestalt?«, fragte sie in Erinnerung an die Fratzen, die sie gesehen hatte.
»Ja, Herrin.«
»Warum?«
»Wir sind die Nevathani«, erwiderte er, als würde dieses eine Wort alles erklären. »Wir sind, was wir sind.«
»Hast du auch einen Namen?«
»Taithas«, kam es mit kehliger Stimme zurück. »Vorsteher im Tempel der Verheißenen.«
Der Klang des Namens bewirkte etwas in ihr … Sie hatte lange keinen elfischen Namen mehr gehört, und an einem Ort wie diesem hätte sie ihn am allerwenigsten erwartet. Doch in diesem Moment fühlte sie eine starke Verbindung zu der elenden Kreatur, die vor ihr stand, und zu ihrem gemeinsamen Schicksal.
»Taithas, Vorsteher im Tempel der Verheißenen«, wiederholte sie, »sage mir, wo ich hier bin und wer du und deinesgleichen seid …«
»Wir sind die Nevathani«, wiederholte Taithas. »Jene, die einst vom dunklen Zauberer verstoßen wurden«, fügte er hinzu, als er Aderyns Verwirrung bemerkte.
»Ein dunkler Zauberer? Du sprichst von Margok …«
»Die Nevathani nennen seinen Namen nicht aus Furcht vor seiner Rückkehr«, erklärte Taithas leise. »Doch dass Ihr ihn ohne Furcht auszusprechen wagt, zeigt, dass ich mich nicht in Euch geirrt habe …«
Sie sind Mutanten, dachte Aderyn. Genau wie die Bewohner von Dragana stammten auch sie von jenen Elfen ab, die der Dunkelelf einst im Zuge seiner Experimente veränderte, als er versuchte, jene neue Art zu erschaffen, die sich später ›Orks‹ nennen sollte …