Die Krone des Schlangenkönigs - Stephanie Domaschke - E-Book

Die Krone des Schlangenkönigs E-Book

Stephanie Domaschke

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Beschreibung

Merle ist dreizehn, als ihr Leben aus den Fugen gerät. Schlimm genug, dass ihre Mutter wieder heiraten will, doch sie verschleppt Merle obendrein noch von der Großstadt in ein stinkendes Kuhkaff. Plötzlich lebt sie unter einem Dach mit einem Mann, der sich als ihr neuer Papa aufspielt, und Adrian, ihrem blöden Stiefbruder, den alle außer Merle ach so toll finden. Zum Glück ist da noch Felix, ein nerdiger Nachbarsjunge, der nur zu gern ihr Freund wäre. Dank ihm ist zumindest die neue Schule erträglich und außerdem ist er ein hervorragender Stadtführer. Als er Merle die neue Heimat zeigt, begegnen sie einem unheimlichen Typen, der sich auf der alten Slawenburg herumtreibt und eindeutig nichts Gutes im Schilde führt. Und dann sind da noch diese Schlangen, die die Kinder regelrecht verfolgen. Schon bald finden sich Adrian, Felix und Merle in einem spannenden Abenteuer voller Gefahren wieder. Wird es ihnen gelingen, sich zusammenzuraufen, dem merkwürdigen Fremden auf die Schliche zu kommen und das Geheimnis um die Schlangen zu lüften? Freu dich auf eine Geschichte voller Rätsel, widersprüchlicher Gefühle und Nervenkitzel, die dich mitten ins Herz einer sorbischen Sage führt.

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Stephanie Domaschke ist Grundschullehrerin aus Leidenschaft. Ihre Kindheit verbrachte sie in einem kleinen, sächsischen Dorf namens Ostro und erlebte dort zahlreiche Abenteuer. Nachdem sie mit ihrer kleinen Familie für 20 Jahre in Frankfurt lebte, ist sie in ihre Heimat, die Lausitz, zurückgekehrt. Das Brauchtum, die Sagen und die reiche Geschichte dieser Region faszinieren sie mehr denn je, und regen ihre Fantasie zu zahlreichen Geschichten an.

Für alle kleinen und großen Abenteurer.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Ein neues Leben

Kapitel 2: Von Bussen und Bahnhöfen

Kapitel 3: Eine seltsame Begegnung

Kapitel 4: Der Streit

Kapitel 5: Der Plan

Kapitel 6: Verzweifelte Maßnahmen

Kapitel 7: Irrwege

Kapitel 8: Bruder und Schwester

Kapitel 9: Auf der Lauer

Kapitel 10: In der Falle

Kapitel 11: Der Fund

Kapitel 12: Im Museum

Kapitel 13: Eine echte Sensation

Kapitel 14: Der Archäologe

Kapitel 15: Aufgeflogen

Kapitel 16: Die Krone des Schlangenkönigs

Kapitel 17: Der Schlangenkönig

Nachwort

Danksagung

Kapitel 1: Ein neues Leben

Merle hasste das Leben auf dem Land. Zwei Minuten und einen Pferdeapfel später war sie sich da ganz sicher. Verglichen mit Frankfurt, wo sie bis heute Morgen gelebt hatte, war Ostro kaum mehr als ein verschlafenes Kuhkaff mitten im Nirgendwo. Und es war voller Pferdedung. In den trat sie, als sie mit wackeligen Beinen aus dem Auto stieg. Die sechs Stunden Autofahrt in Richtung Osten hatten sie scheinbar vergessen lassen, wie man vernünftig lief. Ihren Koffer, samt der dreiundzwanzig Bücher darin, ließ Merle nach dieser stinkig matschigen Katastrophe prompt fallen – direkt auf ihren anderen Fuß. Musste sie noch mehr sagen?

Ihr neuer Stiefbruder Adrian Kral hatte nur gegrinst, bevor er sich mit einem Augenrollen ins Haus verzog. Ihn konnte sie noch weniger als diesen Ort leiden. Wegen ihm und seinem Vater steckte sie überhaupt in diesem Schlamassel. Und ihre Mutter, die Verräterin, war nicht besser.

»Ach komm schon, Hase. Ist doch gar nichts passiert«, sagte die nur, bevor sie den Koffer ihrer Tochter schmunzelnd in Richtung der Haustür schleifte.

Merle blieb schmollend zurück. Hase, pah! Spätestens seit ihr mit sieben Jahren riesige Schneidezähne gewachsen waren, passte dieser blöde Spitzname wie angegossen. Sie hasste ihn genauso wie das rosa Blümchenkleid, das ihre Mutter sie überredet hatte, heute anzuziehen. Als wäre sie irgend so ’ne Tussi. Das dachte Adrian bestimmt auch, nachdem sie ihren Koffer mit einem Kreischen fallengelassen hatte. Aber es interessierte sie nicht, was der über sie dachte.

Schnaubend marschierte Merle auf ihr neues Zuhause zu, angewidert durch das weiche Gefühl unter ihrer Schuhsohle und die schmatzenden Geräusche, welche sie beim Gehen machte.

»Du wirst dich schon daran gewöhnen.« Die Worte ihrer Mutter von gestern Abend klangen ihr noch in den Ohren. Klar war sie dieser Meinung. Schließlich wollte sie ja hierher ziehen. Zu Michael. Wenn sie ihn in acht Wochen heiratete, gab es für sie beide kein Zurück mehr. Vermutlich gab es das jetzt schon nicht. Selbst ihre Oma Tine, die zum Lesen inzwischen eine Lupe brauchte, wurde nicht müde zu wiederholen, dass sie Mama noch nie so verliebt gesehen hatte. Merle konnte sich auch nicht erinnern – ebenso wenig wie an ihren Papa. Woher sollte sie also wissen, wie es als normale Familie gewesen war?

Missmutig warf sie dem großen Fachwerkhaus vor ihr einen düsteren Blick zu. Mit seiner urigen Fassade und dem Schieferdach hatte es fast schon etwas von einem Lebkuchenhaus, nur eben in schwarz-weiß. Diese Häuschen waren scheinbar typisch für die Region. Sie hatte einige davon gesehen, als Mamas Auto die Pflasterstraße entlang durch das Dorf geholpert war. Merle schnaubte. Nicht mal richtige Straßen gab es hier, und schon gar keine Bibliothek oder wenigstens einen Buchladen. Kuhkaff. Sie sagte es ja.

»Da bist du ja.« Michael – Papa würde sie sicher nicht zu ihm sagen. Er wartete mit einem Lächeln an der Tür auf sie. Die war so niedrig, dass er sich beim Eintreten sogar etwas bücken musste.

Als sie ihm unsicher zur offenen Tür folgte, sah sie, dass die Decke im Flur dahinter nicht viel höher war. Ein großer Mensch würde da drinnen nicht mal aufrecht stehen können, dachte sie abfällig.

»Fühl dich ganz wie zu Hause. Ich führ dich herum, wenn du magst, und zeig dir alles.« Michael machte eine ausladende Geste in Richtung seiner schäbigen Hütte.

»Ne, danke. Ich komm schon zurecht«, antwortete Merle, während sie sich ihre stinkenden Schuhe vor der Tür mit den Füßen abstreifte. Dann trat sie in einen langen Flur, an dessen linker Seite eine schmale Holztreppe nach oben führte.

Ihr Stiefbruder war nirgendwo zu sehen. Dafür kam ein riesiger, weiß-brauner Bernhardiner aus dem Flur auf sie zu, begrüßte sie mit einem Bellen und wedelte dabei mit dem Schwanz.

»Bella, nein. Sitz!«

Das Kommando ihres Herrchens völlig ignorierend baute sich die Hündin vor Merle auf, legte ihr die riesigen Pranken auf die Schultern und leckte ihr einmal quer über das Gesicht.

Kichernd wischte Merle den Sabber mit dem Ärmel ihrer Strickjacke ab, während Michael die Hündin von ihr wegzerrte und sich hastig entschuldigte.

»Ich sag ihr ständig, dass sie das lassen soll. Sie hört einfach nicht. Aber du brauchst keine Angst vor ihr zu haben.«

»Hab ich auch nicht.«

»Bella ist eine ganz Liebe, ein echter Kuschelbär,« versicherte er ihr trotzdem und kraulte den riesigen Kopf des Bernhardiners.

Merle lächelte. Einen Hund hatte sie schon immer gewollt, nur war ihre Stadtwohnung dafür bisher zu klein gewesen. Wenigstens ein Gutes hatte der Umzug in dieses verschlafene Nest.

»Ist mein Zimmer oben?«, fragte Merle und blickte sich entnervt um. Ihr Zusammenstoß mit Bella hatte ihre Stimmung kurzzeitig aufgehellt, doch als sie sich nun umsah, fiel ihr sofort wieder ein, dass dies fortan ihr Zuhause sein würde. Irgendwo am Ende des Flurs konnte sie durch die offene Tür die Küche sehen und sie hätte schwören können, dass ihre Mutter darin bereits zu Gange war. Denn neben dem Klappern von Geschirr und Besteck hörte sie auch ein gutgelauntes Summen, das sie so gar nicht nachvollziehen konnte.

»Ja. Direkt rechts neben dem von Adrian«, antwortete Michael und rieb sich den braunen Dreitagebart. »Es ist das größte Zimmer von allen. Heike meinte, du hättest eine Menge Kram.« Heike war der Name ihrer Mutter und mit Kram meinte er wohl die Bücher, welche sie in ihren Koffer und drei der Umzugskartons gestopft hatte. Sie waren ihr kostbarster Besitz, gleich nach ihrem abschließbaren Tagebuch und dem Handy, das Mama ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte.

Merle nickte nur und wandte sich in Richtung der Treppe. »Ich geh dann mal nach oben. Bin echt müde von der Fahrt und so.«

Mit einem zustimmenden Brummen ließ Michael sie gewähren. »Na klar, mach nur. Ich ruf dich dann, wenn’s Abendbrot gibt. So lange kannst du dich erstmal ausruhen oder ein bisschen auspacken. Deine Kisten sind alle schon oben.«

»Hm-hm.« Mit fünf großen Schritten war sie die Treppe hinauf und fand sich in einem ebenso schmalen Flur wie unten wieder. Am Ende des Korridors war ein kleines Fenster zu sehen. Links und rechts gingen jeweils zwei Türen ab. Alle, bis auf eine waren offen. Sie spähte in das Schlafzimmer der Erwachsenen, das Bad und schließlich ihr Zimmer, dessen Tür sie eilig hinter sich verschloss.

Michael hatte nicht gelogen. Der Raum war fast doppelt so groß wie ihr altes Zimmer und hatte gleich drei leere Bücherregale, die nur darauf warteten, gefüllt zu werden. Perfekt! Dazu gab es ein herrlich großes Bett unter der Dachschräge, einen Schreibtisch vor dem Fenster und einen Schrank. Das Beste aber war der gemütliche, quietschgelbe Drehsessel in der Ecke gegenüber.

Seufzend warf Merle ihren Rucksack auf den Boden und setzte sich darauf. Und nun? Ratlos schaute sie sich um. Durch das kleine Fenster hatte man eine gute Aussicht aufs Dorf und die Kirche, die ein Stück den Hügel hinauf stand. Sie sah eigentlich ganz hübsch aus, gestand Merle sich ein, bevor sie ihre Augen weiter durch ihr Zimmer schweifen ließ. Ihr Blick blieb an dem Berg von Umzugskisten hängen, deren Aufschrift »Finger weg« scheinbar ihren Zweck erfüllt hatte. Alle sahen ein wenig zerknautscht, aber unangetastet aus. Sie auszupacken war wirklich keine schlechte Idee. Andererseits blieben ihr dafür noch die nächsten sechs Jahre, denn ungefähr so lange würde sie hier festsitzen, bis sie endlich zum Studium zurück in die Stadt ziehen konnte. Sechs Jahre mitten im Nirgendwo. In einem sächsischen Dorf, in dem kaum mehr als siebzig Häuschen standen. Sie würde eine Menge Zeit zum Auspacken und Lesen haben, denn an Orten wie diesem passierte im Grunde nie etwas.

Merle seufzte. Nein, das Ausräumen der Kisten hob sie sich am besten für später auf. Das gab ihr wenigstens einen Vorwand, sich schnell wieder in ihr Zimmer zu verziehen, anstatt mit Michael und seinem Sohn glückliche Familie spielen zu müssen. Denn glücklich war sie hier ganz sicher nicht.

Kapitel 2: Von Bussen und Bahnhöfen

Hatte Merle es bisher für eine gute Idee gehalten, ihre Ferien noch in Frankfurt zu verbringen und damit den Umzug nach Ostro so lange wie möglich hinauszuzögern, so bereute sie diese Entscheidung spätestens am nächsten Morgen. Denn ihr Wecker klingelte, als es draußen noch stockdunkel war damit sie den Bus in eine viel zu weit entfernte Schule erreichen konnte.

»Warum kann uns dein Vater nicht gleich mit dem Auto nach Bautzen bringen? Wieso fährt er uns nur zur Bushaltestelle?«, fragte Merle, während sie schlecht gelaunt in ihren vollen Joghurtbecher starrte. So früh am Morgen bekam sie nun wirklich noch keinen Bissen runter. In Frankfurt hätte sie jetzt noch gemütlich in ihrem Bett liegen und schlafen können.

»Weil Bautzen von hier aus mit dem Auto zwanzig Minuten entfernt liegt«, erklärte Adrian, während er eilig sein Müsli verdrückte.

Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Aber mit dem Bus dauert es doch bestimmt noch viel länger!«

Ihr Stiefbruder zuckte mit den Schultern. »Und wenn schon. Paps muss um halb acht auf der Arbeit sein und unsere Schule liegt nicht mal annähernd in der Nähe seiner Firma. Außerdem müssen wir jetzt los.« Damit sprang er vom Küchenstuhl auf, schnappte sich seinen Rucksack und hastete aus der Küche. »Komm schon! Sonst verpassen wir den Bus.«

Merle nickte und tat es ihm gleich. Mit einem hastigen »Bis heute Abend« in Richtung ihrer Mama folgte sie ihm nach draußen. Sie dackelte Adrian hinterher wie ein Elefantenbaby seiner Mutter. Zumindest kam sie sich so vor. Denn es war eine Sache von der Großstadt mitten ins Nirgendwo zu ziehen, eine ganz andere aber, morgens weiß Gott wie lange mit dem Bus in eine komplett neue Schule zu fahren. Schon an der Haltestelle, wo noch zwölf andere Kinder mit ihnen auf den Bus warteten, war Merle die Attraktion. Alle starrten sie an, während sie aufgeregt miteinander tuschelten.

Es dauerte keine dreißig Sekunden, bis ein schlaksiger Junge mit wuscheligem braunen Haar ihren Stiefbruder auf sie ansprach. »He Adrian. Wer’s ’n das?«

»Meine Stiefschwester«, antwortete der nur mit einem lässigen Schulterzucken. »Sie geht ab heute auf unsere Schule, aber in die Stufe unter mir. In welche Klasse gehst du noch gleich?«, fragte er dann an Merle gewandt.

»In die 7b«, antwortete sie kleinlaut.

»In der bin ich auch«, meinte der Junge mit einem schüchternen Lächeln. »Ich heiße übrigens Felix. Wir sind sozusagen fast Nachbarn.«

Ihre Mundwinkel zuckten. »Ah, cool. Ich bin Merle. Meine Mutter und ich sind erst gestern aus Frankfurt hierhergezogen,« erzählte sie und bemühte sich dabei um einen möglichst neutralen Tonfall. Sie musste diesem Jungen ja nicht gleich auf die Nase binden, wie doof sie das Dorfleben schon fand – oder ihren Stiefbruder. »Gibt’s hier noch jemanden aus unserer Klasse?«

Felix schüttelte den Kopf. »Nö. Das Gymmi in Bautzen ist das einzige sorbische Gymnasium weit und breit. Daher kommen die Kinder unserer Klasse auch von überall her. Manche fahren morgens über eine Stunde mit dem Bus.« Er zog eine Grimasse. »Sprichst du denn überhaupt sorbisch, wenn du aus Frankfurt kommst?«

Sie bemühte sich um ein lässiges Schulterzucken. »Kein Wort. Bis vor Kurzem ahnte ich nicht mal, dass es sowas wie Sorben überhaupt gibt«, gab sie verlegen zu. Sie hatte erst von ihrer Mutter gelernt, dass in der Lausitz eine Minderheit lebte, die sich die Sorben nannte. Mama erzählte ihr schon die ganzen Ferien lang immer wieder Dinge, von denen sie glaubte, dass sie sie interessierten. So wusste sie jetzt auch, dass es etwa sechzigtausend Sorben gab, von denen etwa vierzigtausend in der Oberlausitz lebten und obersorbisch redeten. Das war die Sprache, die sie nun auch lernen sollte. »Aber Mama sagt, ich habe ein Talent für Sprachen und Adrian soll mir zu Hause Nachhilfe geben. Also werd‘ ich das schon irgendwie lernen.« Als sie an die Nachhilfestunden mit ihrem Stiefbruder dachte, konnte sich Merle eine Grimasse nicht verkneifen. Ihre Mutter dachte wahrscheinlich, dass die Nachhilfestunden die Stiefgeschwister näher zusammenbringen würden. Aber daraus wurde nix. Man musste kein Genie sein, um zu sehen, dass Adrian ihr ebenso sehr aus dem Weg ging, wie sie ihm. Kaum hatte er ihr Felix vorgestellt, verkrümelte er sich zu einer Gruppe Jungs an der anderen Seite der Haltestelle und tat so, als würde es sie nicht geben. Sollte er doch! Merle hielt sich einfach an Felix als sie in den Bus ein- und eine gute halbe Stunde später wieder ausstieg. Der schien zum Glück nichts dagegen zu haben und machte aus dem Fußweg zur Schule prompt eine Stadtführung.

»Wahnsinn. Sogar die Straßennamen sind hier zweisprachig«, staunte Merle, während sie versuchte, die sorbische Übersetzung von Reichenstraße zu entziffern. »Bohata hasa«, las sie.

Felix korrigierte lächelnd ihre Aussprache. »Und schau, das da ist der Reichenturm. Er ist um fast anderthalb Meter zur Seite geneigt und damit der schiefste Turm nördlich der Alpen.« Er grinste stolz. »Er ist natürlich nicht so schick wie der Schiefe Turm von Pisa, aber …«

»Trotzdem cool«, versicherte Merle ihrem selbsternannten Stadtführer, bevor sie den weißen Turm ehrfürchtig ansah.

Dummerweise gab es auf den sorbischen Schildern aber immer wieder Buchstaben, die sie nicht kannte. »Als wäre man in einem anderen Land«, staunte sie. »Da hab ich nicht einmal eine Chance zu erraten, was hier steht.«

Felix brummte zustimmend. »Sorbisch ist eine slawische Sprache. Wenn du also nicht zufällig Russisch, Polnisch oder etwas Ähnliches sprichst, dann wird es schwierig.«

Sie seufzte. »Dann muss ich wohl ganz bei null anfangen.«

»Die Sorben sind sehr stolz auf ihre Kultur und ihre Bräuche. Davon haben sie eine ganze Menge. Du wirst schon sehen«, sagte er, als sie ein großes, eingezäuntes Gebäude erreichten.

Schon von weitem sah Merle Kinder mit Schulranzen darin verschwinden und so war ihr klar, dass sie endlich am Ziel ihrer Reise angekommen waren. »Wow, das Gebäude ist riesig! Was ist das da auf dem Dach?« Sie zeigte auf eine Kuppel.

Felix grinste. »Das ist eine alte Sternwarte. Heute wird sie leider nur noch als Kunstraum genutzt.«

»Ist doch trotzdem cool«, meinte Merle tief beeindruckt. »Kunstunterricht in einer alten Sternwarte. Sowas gab es in meiner alten Schule nicht.«

Felix nickte. »Hier gibt es bestimmt so einiges, was es bei euch nicht gab. Sorbische Klassen zum Beispiel.«

»Sorbische Klassen?«

»Ja. So wie die von deinem Bruder. Er geht in die A-Klasse, was bedeutet, dass die meisten seiner Fächer in Sorbisch unterrichtet werden. Deutsch hat er nur als erste Fremdsprache gelernt.«

Merles Augen weiteten sich vor Staunen. »Im Ernst? Aber wir müssen das nicht, oder? Sonst verstehe ich nämlich kein Wort.«

Ihr selbsternannter Fremdenführer schüttelte den Kopf. »Keine Sorge. Wir gehen ja in die 7b. Bei uns ist alles in Deutsch, außer eben die Fremdsprachen. Da wirst du neben Englisch und einer weiteren Sprache dann auch Sorbisch lernen.«

Sie atmete erleichtert auf und warf einen Blick auf ihre Uhr. Als sie sah, wie spät es war, stöhnte sie überrascht auf. Seit ihrem Aufstehen waren fast zwei Stunden vergangen. Kein Wunder, dass sie so müde war. Wenn das jetzt jeden Tag so ging ...

In den nächsten Stunden hatte Merle keine Zeit, sich über ihren weiten Schulweg Gedanken zu machen, denn genau wie an der Bushaltestelle, war sie auch in der Schule die Attraktion des Tages.

Ihr Klassenlehrer war Herr Bitter. Schon während der Mann mit polternden Schritten den Raum betrat, dachte sie, dass sein Name perfekt zu dem finsteren Gesichtsausdruck passte. Er rief sie nach vorn, kaum dass der Unterricht begonnen hatte, und zwang sie, sich den anderen mit ein paar Worten vorzustellen.

Als ob die ihr nicht sowieso schon in der Pause ein Loch in den Bauch gefragt hätten. Aber es nützte nichts und so setzte sie ein freundliches Lächeln auf, und sagte: »Mein Name ist Merle. Ich bin dreizehn Jahre alt und habe bisher mit meiner Mutter in Frankfurt gelebt. Aber jetzt wohnen wir bei Mamas Verlobtem und dessen Sohn in Ostro.« Sie lächelte tapfer.

»Ach, du bist die Stiefschwester von Adrian aus der 8a? Hast du ein Glück. Der is’ so süß!«, war der Satz, den sie an diesem Tag mit Abstand am häufigsten zu hören bekam. Beim dritten Mal war sie kurz davor, entnervt die Augen zu rollen und sich für Bio neben einen der Jungs zu setzen. Die würden ihr nicht die ganze Zeit über wegen Adrian auf die Nerven gehen und versuchen, sie über ihn auszufragen. Nur war der Platz neben Felix leider schon besetzt und die anderen Jungs ignorierten sie fast so verbissen wie ihr doofer Stiefbruder.

So landete Merle letztendlich neben Emily, einem blonden Mädchen mit Ringellöckchen und Stupsnase, das während der ganzen Schulstunde kaum drei Sätze herausbrachte. Erst nachdem die Biostunde fast vorüber war, stellte Merle die Vermutung an, dass es an der festen Zahnspange und der großen Zahnlücke vorn lag, die Emily beim Reden verzweifelt hinter ihrer Hand zu verstecken versuchte. Die Arme!

Das Schlimmste aber war die Sorbischstunde vor dem Mittagessen. Merle verstand kein Wort von dem, was gesprochen wurde, und sie gab sich reichlich Mühe. Mit gerunzelter Stirn starrte sie auf das Bild der gekrönten Schlange in ihrem Schulbuch und versuchte, den Text daneben zu entziffern. Aber er hätte genauso gut in Latein geschrieben sein können. Frustriert und gelangweilt begann sie, das Bild auf den Rand ihres Heftes abzuzeichnen.

Da ließ die Stimme ihrer Sorbischlehrerin, Frau Nawka, sie plötzlich nach oben schrecken. »Wer von euch kann die Sage vom Schlangenkönig nochmal für unsere neue Schülerin Merve zusammenfassen?«, fragte sie und Merle verkniff sich, sie daran zu erinnern, wie sie wirklich hieß. Sie wollte es sich nicht gleich am ersten Tag mit ihren Lehrern verscherzen. Aus Erfahrung wusste sie, dass viele es nicht mochten, korrigiert zu werden. Daher war es vermutlich besser, erstmal abzuwarten und herauszufinden, ob Frau Nawka zu diesem Schlag unverbesserlicher Pauker gehörte.

Felix hob die Hand. »Die Geschichte handelt vom Schlangenkönig oder auf Sorbisch Wužowy Kral«, antwortete er. »Das ist eine Sage aus dem Spreewald. Laut der kam einmal ein habgieriger, italienischer Graf in die Lausitz. Er fand den Schlangenkönig auf einer Wiese, wo er mit seinen Untertanen spielte. Dafür legte der seine Krone auf ein sauberes Stück Erde. Der Graf war gierig und beschloss, den Schlangenkönig zu überlisten. Am nächsten Tag breitete er ein sauberes, weißes Tuch an der Stelle aus. Als das Reptil seine Krone darauf ablegte, stahl sie der Mann und ritt davon. Man sagt, dass er sich von dem Gold ein Schloss bauen ließ. Hierfür wählte er als Wappen eine Mauer und eine gekrönte Schlange.«

Merle blinzelte, als sie die Geschichte verdaute. »Das ist aber keine schöne Sage«, meinte sie leise. Sie mochte Reptilien zwar nicht besonders, aber das Ende dieser Geschichte fühlte sich trotzdem nicht richtig an. »Der arme Schlangenkönig! Es kommt mir falsch vor, dass dieser gierige Graf damit einfach so durchgekommen ist«, protestierte sie und einige der Schüler um sie herum nickten.

Zweifel an der Ungerechtigkeit in dieser Erzählung waren ihnen scheinbar auch schon gekommen.

Als Frau Nawka den Unterricht auf Sorbisch weiterführte, begann Merle damit, sich ihre ganz eigene Sage vom Schlangenkönig in ihrem Kopf auszumalen. Während die Zeichnung auf ihrem Heftrand immer bunter und detaillierter wurde, stellte sie sich vor, wie eine Gruppe von Schlangen dem gierigen Grafen nach Italien folgte und ihn in seinem protzigen Schloss aufspürte. Am Ende ihrer Version der Geschichte war die Moral ganz klar: Stehlen lohnt sich nicht.

Als Merle sich nach sechs quälend langen Schulstunden auf den Weg nach Hause machte, war sie einmal mehr froh, am Morgen Felix vorgestellt worden zu sein. Adrian hatte nach der Mittagspause noch Sport und sie hätte sonst warten müssen, um mit ihm zusammen nach Hause zu fahren. So aber konnte ihr Nachbar ihr den Rückweg zeigen. Sie gab ihrem Stiefbruder kurz per Handy Bescheid und lief dann mit Felix zusammen los. Ihn mochte sie ohnehin viel lieber als Adrian, den alle so supercool fanden. Dabei wusste sie echt nicht, was so besonders an dem sein sollte.

»Und? Wie fandest du deinen ersten Tag in unserer Schule?«, fragte er, nachdem sie einen Platz ganz hinten im Bus ergattert hatten. Dort zog Felix leise eine Papiertüte mit einer Brezel aus dem Ranzen und bot ihr ein Stück an. Dass man im Bus eigentlich nicht essen sollte, schien ihn dabei nicht zu stören.

Merle grinste, nahm das angebotene Stück und stopfte es sich hastig in den Mund. »Anstrengend«, gestand sie kauend. »Oft hab ich nur Bahnhof verstanden.«

»Bahnhof?« Felix blickte sie irritiert an.