Merles mystische Abenteuer - Stephanie Domaschke - E-Book

Merles mystische Abenteuer E-Book

Stephanie Domaschke

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Beschreibung

Das neue Schuljahr beginnt. Alles könnte perfekt sein, wenn Schulrüpel Marvin nicht sitzengeblieben wäre, sodass er nun in Merles und Felix' Klasse geht. Und dann ist da noch die Neue, die sich immer wieder zwischen die beiden drängt: Als wäre es nicht schlimm genug, dass Gwendolyn Sommer einen Keil zwischen Merle und Felix treibt, ist ihr Vater auch noch für den Bau des riesigen Windrades zuständig, das die Dörfler in zwei Lager spaltet. Die Sache spitzt sich zu, als bei einer Demo jemand einen Stein durch Gwendolyns Scheibe schmeißt. Anscheinend ist Merle nicht die Einzige, die die Sommers schnell wieder loswerden will. Nur ist den anderen dazu jedes Mittel recht.

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Stephanie Domaschke zog zum Studium in die Großstadt Frankfurt. Hier lebte sie neunzehn Jahre lang, bevor es sie mit ihrer kleinen Familie zurück in ihr Heimatdorf Ostro zog. Dort widmet sie einen Großteil ihrer Freizeit dem Lesen und Schreiben von Büchern. Schon als Kind träumte sie sich in ihre Abenteuer hinein und schrieb diese auf. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Für alle, die zu Hause keinen sicheren Hafen finden: Sucht weiter, gebt nicht auf! Ihr verdient einen Ort, an dem ihr euch sicher und geborgen fühlt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Das Grollen in der Ferne

Kapitel 2: Die Neuen

Kapitel 3: Beste Freunde

Kapitel 4: Widerstand

Kapitel 5: Gegenwehr

Kapitel 6: Die Strafe

Kapitel 7: Hoch hinaus

Kapitel 8: Familie

Kapitel 9: Klette

Kapitel 10: Der wütende Wirbelwind

Kapitel 11: Schlag auf Schlag

Kapitel 12: Merles Geheimnis

Kapitel 13: Alte und neue Freunde

Kapitel 14: Gewitter im Bauch

Kapitel 15: Ultimatum

Kapitel 16: Wichor

Kapitel 17: Rätselraten

Kapitel 18: In der Klemme

Kapitel 19: Donnerwetter

Kapitel 20: Überraschung

Kapitel 21: Lichter in der Nacht

Kapitel 22: Eine unmögliche Entscheidung

Kapitel 23: Ende und Anfang

Nachwort

Danksagung

Mit wem geht ihr auf Abenteuer?

Merle

Merle ist inzwischen vierzehn. Sie hat noch immer ihren eigenen Kopf und mit dem will sie durch die Wand. Ihre Freizeit verbringt sie am liebsten mit lesen und zeichnen oder damit, die Augen nach dem nächsten Abenteuer offenzuhalten.

Felix

Felix ist auch vierzehn, aber er besitzt die Weisheit und Gutmütigkeit eines alten Mannes. Deswegen lässt er sich auch viel zu viel gefallen und geht Streitigkeiten aus dem Weg. Er hat eine Vorliebe für Bücher, Technik und Kekse.

Adrian

Adrian ist Merles Stiefbruder. Mit fünfzehn Jahren ist er der Älteste der Truppe. Wenn er nicht gerade mit seinen Kumpels Fußball spielt, übt er auf seiner Gitarre oder versucht, Merle aus Schwierigkeiten herauszuhalten. Als ob das so einfach wäre!

Kapitel 1: Das Grollen in der Ferne

»Geht’s dir gut da hinten?« Michaels Stimme drang nur gedämpft durch den Helm zu Merle hindurch. Der Wind rauschte so laut, dass sie ihren Stiefvater kaum verstehen konnte.

Sie nickte, obwohl sie wusste, dass Michael es nicht sehen konnte, und krallte die Finger noch ein wenig fester in seine Lederjacke. Das Herz schlug ihr bis zum Hals und ließ das Blut in ihren Ohren beinahe so laut rauschen wie die Luft, die an ihr vorbeizischte. Warum noch mal hatte sie zugestimmt, Michael auf einer Spritztour mit dem frisch aufgemotzten Motorrad zu begleiten?

Ich muss vollkommen irre gewesen sein, dachte sie, zwang sich dann aber, die Augen zu öffnen. Als sie den Blick vorsichtig zur Seite richtete, brauste die Landschaft nur so an ihr vorbei. Bäume und Büsche neben der Straße verschwammen zu einem grünen Schleier.

»Gut festhalten.«

Merle blinzelte bei Michaels Worten. Dann sah sie die enge Rechtskurve vor ihnen.

»Versuch, mit dem Motorrad mitzugehen. Wir fallen nicht um, versprochen.«

Sie biss die Zähne zusammen und nickte. Zeit zum Nachdenken blieb ihr keine, denn schon spürte sie, wie sich das Motorrad unter ihr zur Seite neigte. Michael passte sich seiner Bewegung an und sie, dicht an seinen Rücken geschmiegt, tat dasselbe. Für drei panische Herzschläge hingen sie in der Schwebe, dann war es auch schon geschafft. Eine Welle der Euphorie strömte durch ihren Körper und entlockte ihr ein freudiges Jauchzen, während ihr der Fahrtwind die Haare zerzauste. Freiheit. Fliegen. So musste sich das anfühlen.

»Ich reite auf dem Wind!« Die Worte hallten laut innerhalb ihres Helmes wider. Was nach außen drang, wurde sofort nach hinten getragen. Michael hatte es sicher nicht gehört. Musste er auch nicht. Die Worte waren nicht für ihn, oder für irgendjemanden bestimmt. Vielmehr wollte Merle sie einfach sagen, oder noch besser: die Arme ausbreiten und abheben, um zwischen den sich auftürmenden Wolken durch den Himmel zu tanzen wie ein Vogel.

Das wäre doch was!

Noch bevor sie sich in dieser Vorstellung verlieren konnte, hielt Michael an. Sie hatten eine Haltebucht an der Straße erreicht, die genauso gut ein Aussichtspunkt hätte sein können. Mit wackeligen Beinen stieg Merle vom Motorrad und streifte sich den Helm ab. Hier oben war die Luft erstaunlich frisch für einen Spätsommerabend. Und die Aussicht war einfach herrlich! Staunend ließ sie den Blick in die Ferne schweifen.

Waren das da drüben Kühe? Pferde? Merle runzelte die Stirn. Da sah sie einen schwarzen Schweif durch die Luft peitschen.

Pferde, eindeutig. Das müssen mindestens zwanzig sein. Lächelnd glitt ihr Blick weiter, über die sanften, bewaldeten Hügel, die sich weiter hinten über das Land erhoben. An manchen Tagen, so wie heute, konnte sie immer noch nicht glauben, dass es sie an so ein wunderschönes Stückchen Erde verschlagen hatte.

»Sieht ganz so aus, als würde ein Gewitter aufziehen.« Mit gerunzelter Stirn deutete Michael in die Ferne. »Schau, da hinten regnet es schon.«

Tatsächlich schoben sich weiter hinten dunkle Wolken über den Horizont. Merle schauderte. Sie war nicht scharf darauf, in ein Gewitter zu geraten. Im Auto war das schon schlimm genug, aber auf dem Motorrad…

»Heißt das, wir müssen zurück?« Sie war selbst überrascht darüber, wie wenig ihr der Gedanke gefiel. Ursprünglich hatte sie der kleinen Spritztour nur zugestimmt, um Michael einen Gefallen zu tun. Sie mochte ihren Stiefvater, auch wenn sie das vielleicht nie laut zugeben würde.

»Nicht sofort«, beruhigte er sie. »Ostro liegt in der entgegengesetzten Richtung. Schau.«

Konzentriert blickte sie in die Richtung, in die er zeigte. Ostro, das nun schon seit über vier Monaten ihr Zuhause war, konnte sie zwar nicht entdecken, dafür aber andere verschlafene Dörfchen, abgeerntete Felder, Wiesen und Wälder. Dazwischen immer wieder Ansammlungen von Windrädern, die sich gemächlich drehten. »Ich seh nichts.«

Michael nickte. »Nein, dafür sind wir zu weit weg. Das ist nur die grobe Richtung. Aber wenn wir’s drauf anlegen, sind wir in fünfzehn Minuten zu Hause.«

»Na dann.« Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch beobachtete Merle die heranziehenden Wolken. Die sahen wirklich ungemütlich aus.

»Bist du bereit für morgen?«

»Was meinst du?«

»Na, die Schule. Für mich war das Ende der Sommerferien immer ein ziemlicher Absturz.« Das Schmunzeln auf Michaels Lippen wollte nicht so recht zu seinen Worten passen.

Merle zuckte mit den Schultern. »Ach, das wird schon. Dieses Jahr kann ich ja neben Felix sitzen, darauf freu ich mich schon. Als ich neu in die Klasse kam, stand die Sitzordnung ja schon fest. Aber jetzt …«

»Er ist ein netter Kerl, vielleicht zu nett.« Michael rieb sich das stoppelige Kinn.

»Wie meinst du das?«, fragte sie, auch wenn sie die Antwort bereits ahnte.

»Menschen wie er lassen sich viel zu viel gefallen und werden nur zu gern ausgenutzt. Nicht von dir«, schob er hastig hinterher. »Du tust ihm gut, ohne Zweifel.«

»Ach ja?« Ungefragt stahl sich ein zufriedenes Schmunzeln auf ihre Lippen.

»Ihr könntet gegensätzlicher nicht sein, wenn man mal von der Leserei absieht. Aber das ist vielleicht ganz gut so. Erst letzte Woche, bei deinem Geburtstag, ist mir aufgefallen, dass er jetzt viel fröhlicher aussieht. Früher hat man ihn kaum draußen gesehen. Jetzt streift ihr zusammen durch die Gegend, macht Lagerfeuer und zeltet im Garten oder am Steinbruch. Der Junge hat über den Sommer richtig Farbe bekommen. Wenn ihr nur nicht ständig in Schwierigkeiten geraten würdet.«

Merle nickte, während sie sich den Felix von früher vorstellte. Es fiel ihr leicht, denn noch heute hatte er manchmal diesen traurigen Schimmer in den Augen. Wie kam es, dass ein lieber Kerl wie er keine Freunde hatte? Hatte er sich damals wirklich nur in seinem Zimmer vergraben, zu schüchtern, jemanden anzusprechen?

»Wir sollten los.« Michaels Worte wurden von einem Grollen in der Ferne begleitet.

Das Geräusch verursachte ihr ein unsicheres Grummeln in der Magengegend. Sie hasste Gewitter. Schnell streifte sie sich den Helm über. Kaum war Michael aufgestiegen, kletterte sie hinter ihn auf den Sitz. Die Wolken hatten sich zu einer dunklen Wand aufgetürmt, die sich ihnen unerbittlich näherte. Merle schauderte. Sie konnte gar nicht schnell genug nach Hause kommen. »Bilde ich mir das ein, oder dreht sich das Windrad am Rand in eine andere Richtung? Es sieht aus, als zeige es direkt auf uns«, murmelte sie, während Michael den Motor startete. Wenn er etwas antwortete, dann gingen seine Worte im Röhren der Maschine unter. Stattdessen blies der Wind ein trockenes Blatt gegen das Visier ihres Helmes. Als Merle es ärgerlich fortwischte, hätte sie schwören können, ein Paar schelmischer Augen in der Luft vor ihr aufblitzen zu sehen. Doch kaum hatte sie geblinzelt, waren sie verschwunden.

Wenn es etwas gab, was Merle in den Sommerferien nicht vermisst hatte, dann waren es das frühe Aufstehen und die lange Fahrt zur Schule. Doch daran, im Bus noch einmal die Augen zuzuklappen, war nicht zu denken. Es herrschte ein Höllenlärm und das lag nicht nur an den Fünftklässlern, die alle gleichzeitig redeten und hin und wieder ein aufgeregtes Quietschen ausstießen. Für sie war es der erste Tag auf dem Gymnasium und so waren sie so aufgedreht wie Kinder nach einer Halloween-Party. Dabei mussten die doch wissen, dass es in der Schule nicht mal halb so lustig werden würde.

»Hey Merle. Lange nicht gesehen.« Marvin. Der schwarzhaarige, breitschultrige Schulhofrüpel, der sich immer einen Spaß daraus machte, Felix zu ärgern. Sie hatte ihn auch ›das Lama‹ getauft, da er die blöde Angewohnheit hatte, auf den Boden zu spucken, wohin er auch ging. Igitt. Diesen Idioten hatte sie auch kein bisschen vermisst.

»Was willst du?« Wenig enthusiastisch hob sie eine Augenbraue. Sie würde nicht einmal versuchen, freundlich zu ihm zu sein.

Felix, der neben ihr saß, vergrub sich noch tiefer in seinem Buch. Sie konnte es ihm nicht verübeln. Alle wussten, dass Marvin es genoss, ihn zu ärgern.

»Wollt’ nur mal hallo sagen. Immerhin sind wir jetzt Klassenkameraden.« Das Lama grinste selbstgefällig.

»Was? Wieso? Bist du sitzengeblieben?« Fassungslos blickte Merle ihn an.

Jedem anderen wäre das Ganze wohl peinlich gewesen. Marvin zuckte jedoch nur gleichgültig mit den Schultern. »Meine Mutter wollte ’s so. Sie meinte, ich würde sonst nicht hinterherkommen. Was auch immer.«

Darauf wusste sie beim besten Willen nichts zu sagen, obwohl die garstige Stimme in ihrem Kopf ein paar gute Vorschläge machte. Allein der Gedanke daran, diesen Idioten jetzt jeden Tag in der Schule sehen zu müssen, ließ ihren Magen ärgerlich grummeln.

Zum Glück schien das Lama keine Antwort zu erwarten. Anscheinend war Marvin nur gekommen, um seine Neuigkeiten zu verkünden, denn er zog sich nach einem arroganten Grinsen zu seinen Kumpels zurück. Zu denen gehörte dummerweise auch Adrian, ihr Stiefbruder. Ob der von seinem Klassenwechsel gewusst hatte? Prüfend warf sie einen Blick zu den Jungs. Sie unterhielten sich lautstark, während sie lässig auf den Sitzen fläzten. Alles wirkte wie immer.

»Idiot.« Grummelnd wandte sich Merle an Felix. Der starrte weiter in sein Buch, doch irgendetwas sagte ihr, dass er nur so tat, als würde er lesen. Sorge und Unsicherheit waren ihm förmlich ins Gesicht gemeißelt. »Machst du dir Sorgen, wegen ihm?«

Seufzend schloss er die Augen und ließ den schweren Wälzer in den Schoß sinken. So verharrte er für einige Sekunden, bis er Merle aus müden braunen Augen ansah. »Das wird ätzend, ohne Frage. Die Sache am Steinbruch hat ihm einen kleinen Dämpfer verpasst, mehr aber auch nicht.«

»Mach dir keinen Kopf. Dieses Jahr sitzen wir zusammen und ich passe auf dich auf. Ich lasse nicht zu, dass dieser Blödmann auf dir herumtrampelt«, versprach sie und drückte seine Hand.

Die Geste entlockte ihm ein sanftes Lächeln. »Du musst nicht auf mich aufpassen. Ich komme schon klar. Mir ist egal, was Marvin und die anderen über mich sagen.«

»Mir aber nicht«, brummte Merle und warf dem Lama einen düsteren Blick zu. »Der soll dich bloß in Ruhe lassen. Sonst bekommt er’s mit mir zu tun.«

»Hm.« Als Felix ihren Blick suchte, waren seine Augen voller Zweifel.

»Du weißt, ich hab keine Angst vor dem.«

»Und genau das bereitet mir Sorge.«

Kapitel 2: Die Neuen

Auch in der Klasse herrschte Chaos. Alle hatten etwas aus den Ferien zu erzählen. Überall bildeten sich kleine Grüppchen. Die Mädchen standen kichernd und quietschend beieinander, während die Jungs offensichtlich pöbelnd und rempelnd klärten, wer gerade der Coolste war.

Ratlos blickte Merle sich um. Marvin war zum Glück noch nirgendwo zu sehen. Dafür entdeckte sie weiter hinten ein ihr unbekanntes, schwarzhaariges Mädchen. Gleich zwei Neue auf einmal? Das würde spannend werden.

»Wollen wir uns nach hinten setzen? Oder …«

»Wie wär’s mit dem hier?« Felix steuerte einen Tisch in der ersten Reihe an. »Von hier aus haben wir einen guten Blick und –«

»Bitte nicht nach ganz vorne. Von mir aus können wir in die zweite Reihe, aber ich will dem Bitter nicht direkt unter der Nase sitzen.«

Felix runzelte die Stirn, nickte aber. »Wie du meinst. Kein Problem, komm.« Er schnappte sich ihre Hand.

»Besen? Besen, bist du das?« Eine viel zu schrille Mädchenstimme ließ Merle zusammenzucken. Sie gehörte zu der Neuen, die sich gleich darauf vor sie und Felix schob.

»Gwen?« Ihr Freund musterte das Mädchen mit schiefgelegtem Kopf. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist in den USA.«

»Nicht mehr«, antwortete die Neue. Ihr Grinsen entblößte zwei Reihen perfekter, strahlend weißer Zähne. Überhaupt war sie mit ihrem schwarzen Haar und den blauen Augen wunderschön. Wie Schneewittchen. »Wir sind vor Kurzem zurück nach Ostro gezogen. Ich dachte, das hätte sich schon rumgesprochen.« Sie verzog die Lippen zu einem Schmollmund. »Hast du mich vermisst?«

Merle blinzelte irritiert, während Felix von einem Fuß auf den anderen trat. Merkte diese dumme Kuh nicht, dass sie ihn total in Verlegenheit brachte?

Anscheinend nicht, denn bevor sie sich’s versah, fiel Schneewittchen ihm um den Hals und drückte ihn an sich. Fehlte nur noch, dass sie ihm einen feuchten Kuss auf die Wange drückte.

Merle ballte eine Hand zur Faust. Wenn diese Schnepfe nicht sofort –

»Natürlich hab ich dich vermisst«, murmelte Felix so leise, dass Merle es beinahe überhört hätte. Als er dann noch die Hände um den Rücken der Neuen schlang, spürte sie, wie sich ihr Magen vor Eifersucht zusammenkrampfte. Wer war dieses Mädchen? Und woher kannte sie Felix?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wandte sich Felix an sie und erklärte mit roten Ohren: »Gwen und ich sind zusammen in den Kindergarten und die Grundschule gegangen.«

»Und waren dort beste Freunde«, fügte Schneewittchen mit einem zuckersüßen Lächeln hinzu. »Ich weiß noch, wie du mich einmal durch eine Wiese voll mit Brennnesseln getragen hast. Das war so süß von dir.«

Felix starrte nur verlegen auf seine Schuhspitzen.

»Klingt, als wärst du ein ganz schöner Angsthase gewesen«, meinte Merle trocken und schnappte sich Felix’ Hand. »Wollen wir jetzt an unseren Platz? Die Stunde geht gleich los und …«

»Ja, sicher.« Felix nickte Schneewittchen zu, bevor er Merle an den letzten freien Tisch zog. Während seiner Plauderei mit dieser Tussi hatten ihnen die anderen aus der Klasse alle guten Plätze vor der Nase weggeschnappt. Nun mussten sie doch in der ersten Reihe sitzen, wenn sie sich nicht aufteilen wollten.

Grummelnd stellte Merle ihre Tasche ab und setzte sich zum Fenster.

Felix sank wortlos neben ihr auf den Stuhl und zog Mäppchen und Notizblock aus der Tasche. Dann starrte er wie betäubt auf die Hände in seinem Schoß.

»Alles okay bei dir?« Sie wusste, es war eine blöde Frage. Selbst ein Blinder konnte sehen, dass ganz und gar nichts okay war.

Wie erwartet schüttelte Felix den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass sie zurück ist. Wir waren mal beste Freunde, weißt du? Aber dann ist sie plötzlich weggezogen und ich hab nie wieder von ihr gehört.«

»Warum nicht? Wenn ihr so dick befreundet wart, hättet ihr euch doch wenigstens schreiben können«, murmelte Merle und hätte sich am liebsten sofort auf die Zunge gebissen, als sie den traurigen Ausdruck in seinen Augen bemerkte. »Ich meine …«

Das Unterrichtsläuten bewahrte sie davor, sich um Kopf und Kragen zu reden. Die Aufmerksamkeit der Klasse richtete sich nach vorn, wo sich Herr Bitter vor dem Pult aufbaute. Mit seiner gemütlichen Statur und dem grauen Haarkranz hätte er wie ein netter Opa aussehen können. Doch seine gewitterumwölkte Stirn und die zusammengezogenen Augenbrauen ließen ihn immer so wirken, als hätte er schlechte Laune. »Guten Morgen, Achtklässler. Die Ferien sind vorbei. Jetzt geht der Ernst des Lebens weiter. Für die unter euch, die alles gerne aus dem Ärmel geschüttelt haben, wird es dieses Jahr ein böses Erwachen geben. Also setzt euch auf den Hosenboden und lernt.« Damit erstickte er Merles letztes bisschen Ferienstimmung im Keim. »Wie ihr seht, gibt es zwei neue Gesichter in unseren Reihen. Kommt nach vorn, ihr beiden. Stellt euch vor.«

Murmeln in der Klasse, dann Stühlerücken. Schließlich schritt das Schneewittchen mit selbstbewusstem Lächeln und einem Zwinkern in Felix’ Richtung nach vorn. Ihr folgte Marvin, der so übellaunig guckte, wie Merle sich fühlte.

»Hallo zusammen. Mein Name ist Gwendolyn Sommer. Ich habe mit meinen Eltern für drei Jahre in den USA gelebt, genauer gesagt in New York. Aber jetzt muss mein Vater dieses Projekt hier in der Gegend übernehmen und Tada! Da bin ich wieder.« Das breite Lächeln, das sie in die Runde warf, wirkte von vorn bis hinten aufgesetzt. Trotzdem wurde es von Etlichen herzlich erwidert. Julia und Nora steckten bereits die Köpfe zusammen und tuschelten aufgeregt miteinander. War ja klar, dass Schneewittchen bei diesen oberflächlichen Schnepfen punkten konnte. Nur zu! Sollten sie beste Freundinnen werden, hielt sich die Neue wenigstens von Felix fern.

»Sehr schön. Das klingt, als hättest du ein paar aufregende Jahre gehabt. Ich bin sicher, deine Klassenkameraden können es nicht erwarten, mehr darüber zu erfahren. Vielleicht ergibt sich daraus ja das eine oder andere interessante Gespräch – in der Pause.« Er warf einen strengen Blick in die Runde, bevor er sich wenig enthusiastisch an Marvin wandte. »Jetzt zu dir.«

Das Lama rollte mit den Augen. »Ich bin Marvin. Ich wiederhole die Klasse, weil… Meine Mutter wollte ’s so, okay?« Er wirkte fast ein wenig verlegen, wie er da so mit in den Taschen vergrabenen Händen stand. Wäre er im Sommer nicht so gemein zu Felix gewesen, hätte Merle beinahe Mitleid mit ihm gehabt. So aber genoss sie es, ihn zappeln zu sehen wie einen Fisch auf dem Trockenen. »Ich schätze, ich bin ganz gut in Sport. Wenn also jemand von euch Lust auf ’ne Runde Fußball hat …« Er verstummte und schaute schlecht gelaunt in die Runde.

Merle ignorierte seinen Blick und guckte betont desinteressiert aus dem Fenster.

Erst Herrn Bitters Räuspern lenkte ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen im Klassenraum zurück. »Danke, Gwendolyn, Marvin. Ich bin sicher, dass ihr euch schnell in der Klasse einlebt.« Er wandte sich den anderen Schülern zu. »Und von euch hoffe ich, dass ihr die beiden bei euch herzlich willkommen heißt. In Ordnung?«

Zustimmendes Murmeln begleitete die Neuen an ihre Plätze zurück.

Merle starrte ihnen schweigend nach. Sie wollte mit keinem der beiden etwas zu tun haben. Wenn es doch nur so einfach gewesen wäre!

»Hey, Besen. Gehen wir zusammen zum Bus?« Kaum hatte Merle nicht hingesehen, hing Schneewittchen an Felix’ Arm. Und sie verwendete immer noch diesen blöden Spitznamen für ihn. »Wir haben uns so viel zu erzählen und den ganzen Tag kaum ein Wort gewechselt. Schon komisch, oder?«

Merle konnte sich ein abfälliges Schnauben nicht verkneifen.

Gwendolyn schien es nicht einmal zu hören. Sie hatte nur Augen und Ohren für Felix. »Sag schon, was gibt’s Neues? Wie ist es dir ergangen?«, fragte sie. Dabei zerrte sie ihn in Richtung Schultor.

Er ließ es sich einfach so gefallen. »Also, gut, denke ich. Bin jetzt in einem Archäologieclub.«

»Natürlich bist du das.« Sie stieß ein glockenhelles Lachen aus.

Merle bewegte sich keinen Zentimeter von der Stelle. Fassungslos starrte sie den beiden hinterher. Sie war Luft für ihn, sobald dieses Mädchen auftauchte!

»Hey, Sherlock!«

Sie musste sich nicht einmal umdrehen, um zu wissen, dass es Marvin war, der da nach ihr rief. Seitdem die Zeitung über die aufgeklärten Einbrüche berichtet hatte, bestand er darauf, sie mit diesem blöden Spitznamen anzusprechen. Sie versuchte nicht einmal, das genervte Augenrollen zu unterdrücken.

»Was’n mit dir los? Du siehst aus, als hättest du in eine Zitrone gebissen.«

»Vielleicht hab ich das ja.« Sie hatte so gar keine Lust, sich mit diesem Blödmann rumzuschlagen.

Ihre Worte brachten ihr ein amüsiertes Grunzen ein. »Nee, schon klar. Und jetzt komm.« Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er einen Arm um ihre Schulter geschlungen.

»Was? Nein, stopp! Wo willst du überhaupt hin?«

»Eis essen, was sonst?«

»Im Ernst?«

Marvin zuckte mit den Schultern. »Ich bin zwar sitzengeblieben, aber ich bin nicht blöd, weißt du? Außerdem hab ich Augen im Kopf.«

»Sag bloß.«

»Und weißt du, was mir meine Augen sagen? Du brauchst ’ne Aufmunterung. Also los, hopp. Ich beiße nicht, versprochen.«

»Hast du nicht Angst, dass ich dir wieder das Eis ins Gesicht klatsche?« Merle wusste selbst nicht, warum sie sich so einfach von ihm herumkommandieren ließ. Sie konnte ihn nicht mal leiden.

»Hast du das denn vor?« Marvin grinste.

»Nur, wenn du dich wieder wie ein Idiot aufführst.«

Er schnaubte amüsiert. »Hatte ich nicht vor.«

»Gut. Dann hast du nichts zu befürchten.«

Wenn sie ehrlich war, fand sie die Idee mit dem Eis gar nicht so schlecht. Alles war besser, als Felix und Gwendolyn am Bus wiederzubegegnen, nur um dann das fünfte Rad am Wagen zu sein. Darauf hatte sie nämlich überhaupt keine Lust.

Kapitel 3: Beste Freunde

»Wir sollten häufiger mal was zusammen machen, findest du nicht?« Grinsend ließ sich Marvin neben ihr auf den Sitz im Bus sinken.

Merle mied seinen Blick. »Ich weiß nicht so recht.«

»Du könntest mal mit mir und den Jungs Fußball spielen.«

»Ich mag keinen Fußball.«

»Oder wir gehen zusammen ins Kino.«

»Äh …«

Zum Glück wurde ihr die Antwort auf diese Frage erspart, denn im nächsten Moment schoben sich Adrian und seine Kumpels Jan und Kevin vor ihnen auf den Sitz.

»Merle? Hattest du nicht schon nach der sechsten Stunde Schluss?« Ihr Bruder musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Und wo ist Felix?«

Sie seufzte. Schon war die gute Laune wieder dahin. »Er ist mit diesem Mädchen nach Hause. Gwendolyn ist neu in unserer Klasse und …« Sie wusste nicht einmal, wie sie diesen Satz vernünftig zu Ende bringen sollte.

Adrian hob verwundert eine Augenbraue. »Meinst du Gwendolyn Sommer?«

Marvin schnaubte. »Und ob. Sie ist aus New York zurück. Offenbar wurde ihr Vater hierher versetzt.« Der Blick, den er Merle zuwarf, war beinahe mitleidig. Unweigerlich fragte sie sich, was er wusste.

»Kennt ihr sie gut?« Erwartungsvoll blickte sie in die Runde. Doch die Jungs schüttelten einer nach dem anderen die Köpfe.

»Nicht besonders gut«, beantwortete Adrian schließlich ihre Frage. »Sie ist ja ein Jahr jünger als ich und in einer anderen Klasse. Aber Felix war mit ihr befreundet, soweit ich weiß.«

»Und sie war sehr froh, ihn wiederzusehen«, ergänzte Marvin mit einem schiefen Grinsen. »Hat ihn den ganzen Tag lang beobachtet.«

»Ja?« Merle drehte sich der Magen um.

»Glaub mir. Von meinem Platz ganz hinten hab ich alles im Blick.« Er zwinkerte ihr zu.

Sie stöhnte innerlich. Es fühlte sich an, als käme ihr gleich das ganze Eis wieder hoch. Hilfe suchend blickte sie zu Adrian. Der starrte nachdenklich aus dem Fenster.

»Das wird dann auf jeden Fall spannend. Wenn ich mich recht erinnere, hat Felix ihr Umzug damals ziemlich mitgenommen. Plötzlich war er kaum noch draußen und vergrub sich in seinem Zimmer, zumindest bis vor ein paar Monaten.« Ihr Bruder warf ihr einen vielsagenden Blick zu.

Merle wusste sofort, was er ihr damit sagen wollte. Sie hatte Felix aus seinem Schneckenhaus geholt, indem sie seine Freundin wurde. Gemeinsam hatten sie so viel erlebt. Sie würde nicht zulassen, dass irgend so ein Püppchen das jetzt alles zunichtemachte. Immerhin war er ihr bester Freund und das würde verflixt noch mal auch so bleiben!

»Was soll das denn?« Merle war kaum aus dem Bus gestiegen, da fielen ihr die Plakate auf, die an Laternenmasten und Zäunen hingen. »Nein zum Windkraft-Ausbau? Wieso das denn?« Sie starrte auf ein Plakat, auf dem ein riesiges, durchgestrichenes Windrad abgebildet war.

Adrian zuckte mit den Schultern. »Rettet die Kohle«, las er vor und dann von einem anderen Plakat: »Windräder verschandeln unsere Landschaft.«

»Heute Morgen waren die noch nicht da«, murmelte Jan und ging langsam weiter zum nächsten Plakat. »Sind bald wieder Wahlen oder so?«

Marvin schüttelte den Kopf. »Nee, Quatsch. Die sind im nächsten Jahr. Aber mein Alter meinte, sie bauen ganz in der Nähe ein riesiges Windrad. Erst gestern beim Abendbrot hat er sich darüber aufgeregt.«

»Warum?«, fragte Merle. »Windkraft ist doch was Gutes, oder nicht?«

»Glaub schon«, antwortete Marvin mit einem Schulterzucken. »Trotzdem muss man diese Dinger ja nicht so nah ans Dorf bauen. Das scheinen zumindest die zu denken, die diese Plakate hier aufgehängt haben.«

Brummend gab Merle ihm recht. Sie selbst hatte nichts gegen Windräder, fand sie sogar toll. Doch jedes weitere Plakat zeigte ihr, dass andere diese Meinung nicht teilten. Sie entdeckte zehn verschiedene Poster, bis sie zu Hause ankam und die Eingangstür hinter sich zuzog. Verrückt. Wer hatte die wohl aufgehängt? Sie kam nicht dazu, die Frage laut auszusprechen, denn in diesem Moment klingelte es an der Tür. Familienhund Bella war sofort zur Stelle, um den Neuankömmling zu begrüßen. Kaum hatte Merle die Tür einen Spalt breit geöffnet, preschte sie los und begrub wen auch immer unter einem Berg aus Bernhardinerfell.

»Ah, Bella. Nein!« Sie hörte Felix lachende Stimme, gefolgt von einem freudigen Hundewinseln. »Ich hab heute Morgen erst geduscht.«

»Dann duschst du heute Abend wohl gleich noch mal.« Merle genoss das Bild ihres am Boden zappelnden Freundes. Ihn und Bella so zusammen zu sehen, bescherte ihr ein wohlig warmes Gefühl in der Brust.

»Urgh. Sieht wohl so aus.« Schnaubend rappelte Felix sich auf und tätschelte den riesigen Hundekopf. »Du bist ein alter Kuschelbär. Hat dir das eigentlich schon mal jemand gesagt?«

Bella fiepte und musterte ihn mit schiefgelegtem Kopf, als erwartete sie weitere Streicheleinheiten.

Felix kam dem schmunzelnd nach. Dann aber nahm sein Gesicht einen ernsten Ausdruck an. »Wo warst du denn vorhin? Du bist plötzlich verschwunden. Ans Handy gegangen bist du auch nicht. Hab mir Sorgen um dich gemacht.«

Sie schluckte. »Das tut mir leid. Mein Handy war noch stumm gestellt und ich hab bis jetzt nicht draufgeguckt. Bin grad erst rein.«

»Dachte ich mir. Ist alles okay bei dir? Was war denn los?«

»Also … ich …« Plötzlich kam sie sich total albern vor und wusste nicht so recht, wie sie ihr plötzliches Verschwinden erklären sollte. »Ich hatte noch was in der Schule vergessen. Deswegen bin ich noch mal umgedreht«, log sie. Sie schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. »Ich hätte dir Bescheid sagen sollen, aber du wirktest so beschäftigt mit deiner …« Ja, was war Schneewittchen eigentlich für ihn?

Verlegen rieb er sich durch das wuschelige Haar. »Gwen ist noch genauso ein Wirbelwind wie früher. Sie ist eine echte Naturgewalt. Das kann für manche zu viel sein. Aber du wirst sie mögen, da bin ich mir sicher.«

Merle zuckte mit den Schultern. Das bezweifelte sie. Aber das konnte sie Felix ja schlecht ins Gesicht sagen. Stattdessen wechselte sie schnell das Thema und deutete mit dem Kopf die schmale Holztreppe hinauf. »Wollen wir in mein Zimmer gehen? Ich hab mir letzte Woche ein Buch gekauft, das ich dir schon die ganze Zeit zeigen wollte.«

Felix grinste. Mit Büchern kriegte man ihn immer. Das war etwas, das sie gemeinsam hatten.

Merle fand, es konnte nicht schaden, ihn daran zu erinnern.

Kapitel 4: Widerstand

Als Merle am nächsten Morgen an der Bushaltestelle ankam, war Gwendolyn schon da. Sie stand abseits der anderen am Rand und starrte suchend in die Gegend.

Vermutlich wartet sie auf Felix.

Der war jedoch nirgendwo zu sehen.

Wo steckt er bloß?