Die Töchter des Wassermanns - Stephanie Domaschke - E-Book

Die Töchter des Wassermanns E-Book

Stephanie Domaschke

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Beschreibung

Endlich Sommerferien! Das Leben könnte so schön sein, wenn Adrians blöde Kumpels Merles Freund Felix nicht das Leben zur Hölle machen würden. Ist doch klar, dass sie sich auf seine Seite schlägt, auch wenn ihr Bruder Adrian das ganz und gar nicht verstehen will. Viel zu schnell beginnt das Familienidyll zu bröckeln. Als Felix und Merle dann auch noch bestohlen werden, wird ihnen klar, dass es jemand auf sie abgesehen hat. Oder steht der Diebstahl vielleicht in Verbindung mit den Einbrüchen, die das Dorf in Atem halten? Merle ist entschlossen, dem Übeltäter auf die Schliche zu kommen. Dabei stolpert sie im alten Steinbruch über ein Geheimnis, das selbst ihre kühnsten Vorstellungen übertrifft.

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Seitenzahl: 206

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Stephanie Domaschke ist Grundschullehrerin aus Leidenschaft. Ihre Kindheit verbrachte sie in einem kleinen, sächsischen Dorf namens Ostro und erlebte dort zahlreiche Abenteuer. Nachdem sie mit ihrer kleinen Familie für 20 Jahre in Frankfurt lebte, ist sie in ihre Heimat, die Lausitz, zurückgekehrt. Das Brauchtum, die Sagen und die reiche Geschichte dieser Region faszinieren sie mehr denn je, und regen ihre Fantasie zu zahlreichen Geschichten an.

Für alle stillen Helden, die wissen, dass der alltägliche Kampf Abenteuer genug sein kann.

Vorwort

Hallo, ihr Lieben!

Schön, dass ihr wieder mit dabei seid! Bevor ihr euch zusammen mit Merle, Adrian und Felix ins nächste Abenteuer stürzt, will ich es mir nicht nehmen lassen, euch persönlich zu begrüßen. Ich freue mich riesig, dass ihr so neugierig seid, eure Nase in dieses Buch zu stecken.

Wundert euch nicht. In »Die Töchter des Wassermanns« wird euch manchmal ein sorbischer Satz über den Weg laufen. Die Übersetzungen dazu findet ihr hinten im Buch, im Glossar. Wenn euch also die Bedeutung des Gesagten interessiert, schlagt sie gern dort nach. Dadurch seid ihr Merle gegenüber im Vorteil. Die hat nämlich meist keine Ahnung, worum es gerade geht.

Jetzt will ich euch gar nicht länger aufhalten und wünsche euch viel Spaß beim Lesen. Ich hoffe, euch gefällt der zweite Teil so gut wie der erste, oder sogar noch besser.

Mit wem geht ihr auf Abenteuer?

Merle

Merle ist eigensinnig und stur. Nicht selten will sie mit dem Kopf durch die Wand. Mit dreizehn zieht sie mit ihrer Mutter von der Großstadt aufs Land. Dort ist sie stets auf der Suche nach neuen Abenteuern. Denn Merle liebt Abenteuerbücher und Krimis. Am liebsten aber steckt sie selbst mittendrin und wirft dabei leider viel zu oft alle Vorsicht über Bord.

Felix

Felix ist Merles bester Freund, Nachbar und Klassenkamerad. Er liebt Computerspiele, Technik und Bücher. Deswegen verbringt er auch die meiste Zeit in seinem Zimmer. Bevor er Merle kennenlernte, hatte er keine Freunde. Heute sind die beiden unzertrennlich. Felix unterstützt Merle in der Schule und hilft ihr, wo er kann. Im Gegenzug schleift sie ihn hin und wieder aus seiner Räuberhöhle an die frische Luft, geradewegs ins nächste Abenteuer.

Adrian

Adrian ist Merles zwei Jahre älterer Stiefbruder. Neben einer Sportskanone ist er auch noch Klassenbester und ein echter Mädchenschwarm. Er tut sein Bestes, um Merle aus Schwierigkeiten herauszuhalten und sie zu beschützen. Aber das ist leichter gesagt als getan.

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Mit wem geht ihr auf Abenteuer?

Kapitel 1: Das Geschenk

Kapitel 2: Im Schwimmbad

Kapitel 3: Der Verdacht

Kapitel 4: Auf deiner Seite

Kapitel 5: Die Überraschung

Kapitel 6: Der Steinbruch

Kapitel 7: Eine erste Spur

Kapitel 8: Der Schlüsseldieb

Kapitel 9: Felix’ Vermutung

Kapitel 10: Neue Freunde

Kapitel 11: Das Dorffest

Kapitel 12: Eine heiße Spur

Kapitel 13: Merles Plan

Kapitel 14: Der Köder

Kapitel 15: Aufruhr am Steinbruch

Kapitel 16: Eine Lektion für Marvin

Kapitel 17: Böses Erwachen

Kapitel 18: In der Klemme

Kapitel 19: Der Fisch an der Angel

Kapitel 20: Der Wassermann

Kapitel 21: Nachspiel

Nachwort

Glossar

Danksagung

Kennt ihr schon Merles erstes Abenteuer?

Kapitel 1: Das Geschenk

»Komm schon, Merle. Schwing die Hufe!« Adrian trippelte ungeduldig hin und her. »In zehn Minuten fährt der Bus!«

Merle, die noch am Frühstückstisch saß, eine halbvolle Schüssel Cornflakes vor der Nase, seufzte. Jeden Morgen dasselbe Drama, an jedem Schultag, seit zwölf langen Wochen. Adrian, ihr Stiefbruder, legte morgens einen sportlichen Blitzstart hin, während Merle schon stolz darauf war, wenn sie ihre Klamotten richtig herum anhatte. Sie war nicht dafür gemacht, so früh aufzustehen und sich danach auch noch zu beeilen. Noch früher aufzustehen, um mehr Zeit zu haben, wollte sie aber auch nicht.

Nicht mehr lange. Ab morgen sind Sommerferien. Endlich ausschlafen. Merle stopfte sich einen weiteren Löffel Cornflakes in den Mund, bevor sie sich vom Küchentisch erhob. Gähnend schlurfte sie in den Flur, wo Michael schon mit den Autoschlüsseln wartete.

»Jetzt aber schnell.« Er hielt ihr und Adrian lächelnd die Tür auf.

Merle lächelte zurück. Im Laufe der letzten Wochen hatte sie gelernt, ihren Stiefvater zu mögen. Michael war anders, weniger streng als Mama. Merle hatte sogar das Gefühl, dass er sie mochte und dass er sie verstand, was ihrer Mutter nur selten gelang. Das Wort ›Papa‹ würde ihr aber wahrscheinlich nie über die Lippen kommen, auch, wenn es sich inzwischen wirklich fast so anfühlte, als wären sie eine richtige Familie. Noch vor vier Monaten hatte sie das für komplett unmöglich gehalten. Doch inzwischen hatte sie ihre Einstellung zu Michael, Adrian und dem Leben auf dem Land geändert.

Die zum frühen Aufstehen jedoch nicht.

»Siehst du, wir waren noch rechtzeitig«, meinte Merle, als sie sich neun Minuten später keuchend auf die Rückbank des Busses sinken ließ.

»Gerade so«, antwortete Adrian trocken. Merle erkannte aber ein Schmunzeln auf seinen Lippen. »Und nur, weil wir gerannt sind.« Die Szene war wie ein einstudiertes Ritual, das sie mindestens einmal pro Woche wiederholten.

Felix, der vermutlich mindestens zehn Minuten an der Bushaltestelle gewartet hatte, brummte nur zustimmend, bevor er die Nase hinter einem dicken Wälzer über Archäologie verbarg.

Sie war nicht überrascht, denn ihr bester Freund redete nur wenig und las dafür umso mehr. Merle las auch gern, am liebsten Fantasy- und Abenteuergeschichten. Adrian hingegen nahm so gut wie nie ein Buch in die Hand und schrieb trotzdem die besten Noten. Sie hatte keine Ahnung, wie er das anstellte, ohne stundenlang büffeln zu müssen, wie sie. In Mathe hatte es trotz Nachhilfe nur für eine Drei gereicht.

»Was macht ihr eigentlich in den Ferien?«, fragte Felix. Er blickte seine Freunde über den Rand des Buches hinweg an. »Fahrt ihr weg?«

Merle schüttelte missmutig den Kopf. »Mama hat erst vor Kurzem in der Firma angefangen. Da bekommt sie jetzt noch keinen Urlaub. Und du?«

Felix zuckte mit den Schultern. »Mum ist die meiste Zeit auf Dienstreise, da wird das wohl nix. Papa hat versprochen, dass er mal mit mir ins Museum geht. Aber sonst …«

Adrian grinste. »Klingt nach chilligen Ferien für uns alle«, meinte er. »Und wer weiß? Vielleicht stolpern wir ja wieder in ein Abenteuer?«

Merle nickte enthusiastisch. Das letzte Abenteuer war schon viel zu lange her und was gab es Besseres gegen Langeweile, als verwunschene Orte zu entdecken oder einem Verbrecher auf die Spur zu kommen?

»Neun Einsen, nicht schlecht. Gar nicht schlecht.« Michael legte seinem Sohn stolz die Hand auf den Rücken. »Da hast du dich aber wirklich ins Zeug gelegt.«

Adrian zuckte lässig mit den Schultern. »In Physik hat’s leider nur für ’ne Zwei gereicht. Der alte Lauke mag mich nicht besonders.« Michael lachte. Merle konnte aber nur fassungslos schnauben. Entschuldigte Adrian sich gerade ernsthaft für ’ne Zwei?

Michael schien ähnliche Gedanken zu haben, denn er sagte: »Eine Zwei ist doch völlig in Ordnung. Kein Grund, dir das hier nicht zu geben.« Er deutete mit dem Kopf zum Sofa. Dort lag eine dunkle, etwas abgenutzte Gitarrentasche. Adrians Augen weiteten sich vor Staunen. »Eine Gitarre? Echt jetzt? Danke, Paps!« Er strahlte übers ganze Gesicht. Schon saß er auf dem Sofa und strich sanft über die Saiten einer alten Gitarre. Was dabei herauskam, klang gar nicht so schlecht.

»Ich wusste gar nicht, dass Adrian ein Instrument spielt«, murmelte sie und erntete dafür ein amüsiertes Schnauben von Michael.

»Es gibt wahrscheinlich noch so einiges, was ihr nicht voneinander wisst. Oder ich. Zum Beispiel habe ich keine Ahnung, wie dein Zeugnis ausgefallen ist. Zeigst du es mir?«

Merle spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Sie war nicht gerade stolz auf die Noten, die sie heute mit nach Hause brachte, besonders nicht auf die Vier in Physik. Aber was hatte Adrian noch über Herrn Lauke gesagt? Wenn er ihren Bruder nicht mochte, war es vielleicht bei ihr genauso.

Sie gab sich einen Ruck und klaubte das Stück Papier aus dem Ranzen. »Na gut.« Mit gesenktem Blick reichte sie Michael das Zeugnis und seufzte. »Ist aber lange nicht so gut wie das von Adrian.«

Michael schmunzelte. »Das hier ist kein Wettbewerb. Ich bin sicher, du hast dein Bestes gegeben, so oft wie du mit Felix gebüffelt hast.«

Sie nickte. »Das stimmt.«

Ja, ohne Felix’ Hilfe hätte ihr Zeugnis sicher noch ganz anders ausgesehen. Bei Gelegenheit musste sie sich unbedingt bei ihm bedanken. Vielleicht lud sie ihn auf ein Eis ein. »Und in Geschichte hätte ich ganz sicher auch eine Eins bekommen, wenn mich das Griffelo nicht aus irgendeinem Grund hassen würde.«

»Das Griffelo?« Michael musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Merle korrigierte sich schnell. »Herr Griffel, mein Geschichtslehrer. Der kann mich schon seit der ersten Stunde nicht leiden, weil er denkt, ich halte mich für was Besseres. Da hat der Rummel um den Schatz, den wir auf der Schanze gefunden haben, nicht gerade geholfen.«

Zu ihrer Überraschung nahm Michael das einfach so hin und rügte sie nicht einmal für den Spitznamen, den sie Griffel gegeben hatte. Ihre Mutter hätte das sicher nicht so locker gesehen.

»Verstehe.« Er gab ihr das Zeugnis zurück. »Na, dann komm doch mal mit. Für dich hab ich auch was.«

»Wirklich?« Mit klopfendem Herzen folgte sie ihm nach draußen, über den gepflasterten Hof, zur Scheune neben dem Haus. Merle fiel ein nigelnagelneues Vorhängeschloss auf. Letzte Woche war das noch nicht da gewesen. Sie musterte es mit gerunzelter Stirn. »Seit wann schließt du hier ab?«

»In letzter Zeit gab es mehrere Einbrüche in der Gegend.« Der Riegel quietschte, als Michael ihn beiseiteschob. »In der Zeitung liest man immer wieder davon. Irgendeine Bande treibt hier ihr Unwesen. Und man weiß ja nie.« Der vordere Teil der Scheune kamMerle wie eine Werkstatt vor. Michael nutzte ihn vor allem, um dort an seinem uralten Motorrad herumzuschrauben. Ein Einbrecher würde hier nichts Wertvolles finden.

Es roch nach Heu, trockenem Holz und Motorenöl. Merle beobachtete die Staubkörnchen, die im hereinfallenden Licht des Türspalts tanzten. Es war heiß und stickig hier drin. Ihr Blick streifte die Werkzeuge, die fein säuberlich aufgeräumt an der Wand links von ihr hingen. Die wenigsten davon kannte sie, obwohl sie schon öfter dabei geholfen hatte, etwas in diesem alten Haus zu reparieren. Merle hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass in diesem alten Haus fast jede Woche etwas kaputtging.

Weiter hinten im riesigen Raum gab es ein verschlissenes Ledersofa und einen flachen Tisch. Das war der Ort, an den sich ihr Stiefvater gern mal für ein Nickerchen zurückzog. Mehr als einmal hatte sie ihn hier mit Bella, dem Bernhardiner, zusammengekuschelt gefunden – ein Anblick, bei dem sie jedes Mal grinsen musste. In diesen Momenten wirkte Michael wie ein kleiner Junge mit einem übergroßen Kuscheltier, das einen Sabberfleck auf seiner Brust hinterlassen hatte.

Der alte Heuboden, den man nur über eine wackelige Holzleiter erreichen konnte, lag auch zu dieser Tageszeit im Dunkeln. Außer einer funzeligen Glühbirne gab es hier keine weitere Lichtquelle. Daher brauchte Merle auch einen Moment, bis sie erkannte, was Michael da auf sie zuschob.

Ist das ein pinkes Fahrrad?

Sie verkniff sich eine Grimasse. Warum glaubt eigentlich jeder, dass Mädchen auf Pink stehen?

»Ein Fahrrad?«

»Du hast keins aus der Stadt mitgebracht, daher dachte ich, du könntest es vielleicht gebrauchen. Ich weiß noch, dass ich in deinem Alter so unabhängig wie möglich sein wollte. Ich habe es gehasst, meine Eltern zu fragen, ob sie mich irgendwo hinfahren können. Ich glaube, dir geht es genauso.«

Er schenkte ihr ein hoffnungsvolles Lächeln. »Freust du dich? Ich weiß, es ist kein Neues und wenn dir die Farbe nicht gefällt, nehmen wir es auseinander und lackieren es zusammen. Ich zeig dir, wie man das macht. Ist gar nicht schwer«, versprach er.

Merle zuckte mit den Schultern. Ein Fahrrad war sicher praktisch, solange Michael nicht von ihr erwartete, dass sie damit wie Felix morgens die zwei Kilometer zur Bushaltestelle im Nachbarort fuhr. »Darüber hab ich ehrlich gesagt noch nie nachgedacht«, sagte sie. »In Frankfurt hab ich keins gebraucht, zumal die Dinger da immer geklaut werden.« Sie lächelte schief. »Außerdem hab ich keine Ahnung, wo genau ich damit hinfahren soll. Bis in die nächste Stadt ist es ein bisschen weit.«

Michael grinste. »Aber bis ins Freibad nicht. Oder was hattest du für die Ferien sonst so geplant?«

Merles Augen weiteten sich vor Überraschung. »Ich darf damit allein ins Schwimmbad fahren?«

»Klar, warum nicht? Sollen wir es vorher noch umlackieren? Oder dir einen Korb auf den Gepäckträger basteln?«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ne, danke. Ich brauch keinen Korb.«

Körbe sind nur was für Omas.

Grübelnd besah sie sich den leicht zerkratzten Rahmen. »Aber neu lackieren könnten wir es. Ich helfe mit.«

Ihre Worte brachten Michael zum Strahlen. Scheinbar freute er sich darauf, das Ding mit ihr zusammen auseinanderzunehmen. »Na dann. Welche Farbe hättest du denn gern?«

Merle grinste. Da musste sie nicht lange überlegen. »Wie wär’s mit Orange?«

Kapitel 2: Im Schwimmbad

Das Ausschlafen in den Ferien hätte so schön sein können, wären da nicht die Kirchenglocken und der nervige Hahn der Nachbarn gewesen. Zwei Tage lang ärgerte sich Merle und malte sich aus, wie sie das lästige Tier zum Schweigen bringen konnte. Am dritten Tag stopfte sie sich Ohropax in die Ohren, um endlich ihre Ruhe zu haben. Danach schlief sie wie ein Murmeltier, das seinen wohlverdienten Winterschlaf mitten im Sommer abhielt. Wenn da nur nicht diese unmenschliche Hitze gewesen wäre.

»Da bist du ja endlich, Langschläferin.« Wie so oft, wenn Merle nach dem Ausschlafen zum Frühstück tapste, war nur noch Adrian zu Hause. Michael und Mama waren schon seit Stunden auf der Arbeit.

»Es ist grade mal zehn.« Sie schlurfte zum Kühlschrank und schnappte sich den letzten Joghurt. Adrian, der schon wieder an seiner Gitarre herumzupfte, beobachtete sie vom Sofa aus. Kaum hatte sie sich an den Tisch gesetzt, legte er das Instrument mit einem Seufzen beiseite.

»Eben. Ich dachte, wir machen was zusammen. Aber bisher verbringst du die Ferien damit, dich drinnen zu vergraben.«

Irrte sie sich, oder hörte sie da einen Vorwurf in seiner Stimme? »Ich hab gelesen, da ist doch nichts dabei. Diese Buchreihe, von der ich dir und Fe neulich erzählt habe –«

Adrian rollte mit den Augen. »Jaja, schon gut. Hast du heut noch was vor?«

Merle überlegte. »Nichts Bestimmtes. Wieso?«

»Wir könnten ins Freibad fahren, du, Felix und ich. Bis dahin sind es ja nur ein paar Kilometer und jetzt, wo du ein Fahrrad hast …«

Eigentlich spricht nichts dagegen.

Ein Ausflug ins Freibad klang nach der perfekten Gelegenheit, das neu lackierte Fahrrad auszuprobieren. »Klar, warum nicht? Wenn es heute wieder so heiß wird wie gestern, ist eine Abkühlung genau das, was ich brauche.« Sie blickte skeptisch auf ihren Herzchen-Schlafanzug. »Ich zieh mir nur noch schnell was anderes an, okay?«

»Mach das. Ich warte hier.« Adrian griff wieder nach der Gitarre.

Merle eilte die Treppe nach oben. Jetzt blieb nur noch, Felix von dem Vorhaben zu überzeugen.

Eine Stunde später schlossen die drei Teenager ihre Fahrräder am Freibad an. Noch konnte Merle nicht viel vom Schwimmbecken sehen, nur einen Streifen Blau der hinter dem Kassenhäuschen zwischen jeder Menge Grün hervorblitzte. Doch das Kreischen spielender Kinder ließ keinen Zweifel offen, dass dort schon einiges los war. Am Eingang hatte sich eine Schlange von Leuten gebildet. Hinter drei Mädchen in bunten Sommerkleidchen und Flip-Flops stand ein Ehepaar, das etwa so alt war wie Michael und ihre Mutter. Außer einem kleinen Rucksack hatten die beiden nicht viel dabei. Badesachen haben die sicher keine. Ob die hier arbeiten? Merle betrachtete den glatzköpfigen Mann mit Sonnenbrille und die pummelige, rothaarige Frau mit gerunzelter Stirn. Nein, die beiden sehen nicht so aus, als würden sie zur Arbeit antreten. Außerdem würden sie wohl kaum hier in der Schlange warten, um Eintritt zu bezahlen. Vielleicht wollen die beiden auch einfach nur auf der Wiese sitzen und ein Buch lesen. Erwachsene sind da manchmal komisch. Mama kriege ich auch kaum ins Wasser, wenn wir zusammen im Schwimmbad sind.

Ungeduldig schulterte Merle ihren Rucksack. Nach dem Gestrampel in dieser Hitze konnte sie es kaum erwarten, sich im Wasser abzukühlen.

Adrian hatte recht behalten. Allzu weit hatten sie nicht fahren müssen, auch wenn sie sich an das ewige Bergauf und Bergab erst würde gewöhnen müssen.

»Coole Uhr.« An Felix’ Handgelenk prangte ein klobiges Monster aus dunklem Metall.

»Danke. Hab ich für mein Zeugnis bekommen.« Er zuckte mit den Schultern. Glücklich wirkte er nicht.

»Wow. Die hat bestimmt ein Vermögen gekostet«, staunte Merle trotzdem und schielte auf ihr gebrauchtes Fahrrad. Nicht zum ersten Mal fiel ihr auf, dass Geld bei Felix’ Familie kein Thema zu sein schien.

»Kann schon sein. Lieber wäre mir aber gewesen, wenn sie sich mein Zeugnis angeschaut hätten, statt einfach nur zu nicken und mir dieses Ding auf den Tisch zu packen. Oder wenn sie sich ein bisschen Zeit für mich genommen hätten. So wie bei euch. Michael hat sogar mit dir zusammen dein Fahrrad lackiert.«

Sie stutzte. »Du hättest lieber ein gebrauchtes Fahrrad anstatt einer neuen Uhr?«, fragte sie ungläubig.

Felix seufzte. »Am liebsten hätte ich Zeit mit meinen Eltern, statt irgendwelcher Geschenke, mit denen sie mich über ihre Abwesenheit hinwegtrösten wollen.«

»Verstehe.« Sie legte ihrem Freund voll Mitgefühl die Hand auf die Schulter. Er tat ihr leid. »Du hast ja noch uns. Oder, Adrian?«

Adrian nickte mit undurchschaubarer Miene. »Na klar doch.«

Ihr Bruder hatte das Gespräch nur stumm von der Seite verfolgt. Merle konnte nicht einmal erahnen, was er über die Sache dachte.

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen. Dann seufzte Felix und zeigte mit dem Kopf zum Eingang. »Wollen wir?«

»Auf jeden Fall«, antwortete Merle und schenkte ihm ein Lächeln. An der Situation mit seinen Eltern konnte sie nichts ändern, aber ihn auf andere Gedanken bringen, das konnte sie.

»Auf ihn mit Gebrüll!«

Das Wasser spritzte in alle Richtungen, als Merle sich mit einem wilden Schrei auf Adrian stürzte. Felix war nur knapp hinter ihr, das sonst so wuschelige Haar in nassen Strähnen in sein Gesicht geklebt. Es hatte einen Moment gedauert, bis sie sich an diesen Anblick gewöhnt hatte, wo sie ihn sonst nur mit der wirren Löwenmähne kannte.

Die letzte Stunde hatten sie auf der riesigen aufgeblasenen Krake getobt und Wasserball gespielt, bis sie ganz außer Puste waren. Trotzdem war Adrian nicht kleinzukriegen. Der Junge hatte Bärenkräfte, so dass Felix und sie ihm auch zusammen nicht beikommen konnten. Wieder und wieder landete Merle unter Wasser und wurde von Adrian feixend beobachtet, wie sie prustend wieder auftauchte.

»Na? Gibst du auf?« Ihr Bruder grinste sie an. »Oder brauchst du noch ’ne Abkühlung?«

Während Merle noch überlegte, schüttelte Felix bereits den Kopf. »Also ich hab erst mal genug und hau mich auf die Decke. Ihr könnt ja gern noch weitermachen.« Merle nickte, verspürte aber gleichzeitig einen Stich der Enttäuschung, dass ihr Freund schon eine Auszeit wollte. Andererseits war Felix nun mal Felix. Er hegte nicht nur eine Abneigung gegen Sport, sondern hockte auch am liebsten allein mit einem Buch oder vor dem PC in seinem Zimmer.

»Alles klar. Ich komme auch bald«, versprach sie. Dann stürzte sie sich ohne Vorwarnung auf Adrian und riss ihn von den Beinen. Sie hatte noch eine Rechnung mit ihrem Bruder zu begleichen. Dieser grinsende Idiot musste wenigstens einmal Wasser schlucken. Leichter gesagt als getan. Ihr Gegner war schnell und ihr an Größe und Kraft überlegen. Es dauerte nicht lange, da musste sie einsehen, dass sie ohne Felix keine Chance hatte.

»Hej Adriano! Chcetaj z nami kopańcu hrać?«

Merle hörte die Jungs, bevor sie sie sah. Sie verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Es waren drei, etwa in Adrians Alter. Merle war sich sicher, dass sie sie schon früher mit ihrem Bruder an der Bushaltestelle gesehen hatte. Der Größte von ihnen, ein breitschultriger, rothaariger Typ namens Jan, wohnte sogar im selben Dorf wie sie.

»Njewěm. Hraju sej runje hišće z mojej sotru.« Adrian zeigte mit dem Kopf in ihre Richtung. Hatten die gerade über sie gesprochen?

»Ta mała móže rady sobu hrać, jelizo chce. Njeńdźemy z njej pře kruće wobchadźeć.« Jans eisblaue Augen wanderten amüsiert über ihren tropfnassen Körper. »Tež hdyž wupada, kaž by přestawku trjebała.«

Merle verschränkte genervt die Arme vor der Brust. Konnten diese Typen nicht wenigstens deutsch reden? Sie stand hier und wusste nicht, worum es ging. Sie fühlte sich wie ein Trottel. Wussten die denn nicht, dass sie gerade erst hierhergezogen war? Oder war ihnen das schlichtweg egal?

»Adrian? Was ist denn nun?« Irritiert wandte sie sich an ihren Bruder. »Machen wir hier noch weiter?«

»Die Jungs haben gefragt, ob wir zusammen Fußball spielen wollen«, antwortete der mit einem lässigen Schulterzucken. »Hast du Lust?«

Vielleicht hätte sie ›ja‹ gesagt, wenn die ganze Situation sie nicht so genervt hätte. Sie hatte keine Lust, bei Adrian und seinen Kumpels das fünfte Rad am Wagen zu sein und am Ende doch kein Wort zu verstehen. Wahrscheinlich wollten die sie sowieso nicht dabeihaben. Bestimmt hatten sie nur aus Höflichkeit gefragt.

»Ne, lass mal.« Sie versuchte, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. »Ich geh zu Felix auf die Decke.«

Adrian runzelte die Stirn. »Alles klar. Wie du willst. Ich komme dann nach.« Schon wandte er sich von ihr ab und seinen Kumpels zu.

Als Merle zum Beckenrand watete, hatte sie Mühe, das Grummeln der Enttäuschung in ihrem Magen zu ignorieren.

Von denen wird mich wahrscheinlich keiner vermissen. Vielleicht sind sie sogar froh, mich los zu sein, dachte sie und wischte sich die brennenden Augen. Vermutlich war es nur das Chlor, sagte sie sich. Doch insgeheim wusste sie es besser.

Kapitel 3: Der Verdacht

Als Merle die Decke auf der Wiese erreichte, erwartete sie, Felix entspannt mit einem Buch in der Hand vorzufinden. Stattdessen war er gerade dabei, seinen Rucksack zu durchwühlen wie ein Maulwurf. Überall um ihn verstreut lagen Sachen: Handtücher, Wasserflasche, Sonnencreme, Bücher, Sonnenbrille, Portemonnaie, diverse Klamotten. Mittendrin Felix, der sich die Sachen mit einem tiefen Stirnrunzeln besah. Es war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte.

»Alles in Ordnung, Fe?«, fragte sie trotzdem.

Wie zur Bestätigung schüttelte er den Kopf. »Meine Uhr ist weg, meine neue Uhr. Ich hab alles abgesucht.«

Ihr Herz wurde schwer. »O nein! Bist du sicher? Wann hattest du sie zuletzt? Du denkst doch nicht, die hat jemand geklaut, oder?«

»Muss so sein. Ich hab alles abgesucht. Sie war ganz unten in meinem Rucksack. Mein Geld ist komischerweise noch da.«

Nachdenklich rieb sich Merle die Stirn. Das musste leider gar nichts heißen. Ohne Frage war die Uhr viel mehr wert als die paar Euros in seinem Geldtäschchen. Warum hatte er dieses teure Geschenk nicht ins Schließfach gesperrt? Merle schüttelte innerlich den Kopf. Hinterher war man immer schlauer. Altkluge Fragen würden ihm jetzt nicht helfen.

Stattdessen sagte sie: »Vielleicht hat sie irgendein Spaßvogel versteckt. Ich schau auch mal in meinen Sachen.«

Aber die Uhr blieb verschwunden.

»Schon gut. Du brauchst nicht weiterbuddeln«, meinte Felix schließlich. Er blickte sie mit hängenden Schultern an. Sein fröhliches Lächeln war einer niedergeschlagenen Miene gewichen. »Die Uhr ist weg.«

Merle seufzte. Er hatte vermutlich recht. »Tut mir leid für dich.«

»Bin ja selber schuld. Keks?« Scheinbar gleichgültig schob er ihr eine Brotdose mit Haferkeksen entgegen. Doch Merle konnte in seinen Augen sehen, wie sehr ihm die Sache zu schaffen machte.

Sie nahm sich einen Keks. »Ich hoffe, du bekommst deswegen keinen Ärger«, murmelte sie. »Wegen der geklauten Uhr meine ich. Ich kann mir vorstellen, dass … Achtung!« Erschrocken stieß sie Felix beiseite, so dass ihn der Fußball, der auf ihn zuflog, um Haaresbreite verfehlte. »Hey! Pass doch auf!« Verärgert richtete sie sich auf. Ihr Blick fiel auf einen breit grinsenden Idioten, der kaum zehn Meter entfernt stand. Für sie bestand kein Zweifel, dass er es war, der den Ball geschossen hatte. War das nicht einer von den Typen, mit denen Adrian Fußball spielen wollte?

»Ups, sorry. Ich hab euch da drüben gar nicht gesehen.« Der schwarzhaarige Junge spuckte betont lässig auf die Wiese.

Merle verzog angewidert das Gesicht.

Igitt! Hier breiten Leute ihre Decken aus. Sie stand auf, schnappte sich den Ball, und marschierte damit auf den Übeltäter zu.

»Das hier ist eine Liegewiese, kein Fußballplatz.« Ihr strenger Tonfall erinnerte sie irgendwie an ihre Mutter. Der andere schien trotzdem nicht im Geringsten beeindruckt.

»Mach dich locker, Kleine. War ein Versehen.« Immer noch grinsend schnappte er sich den Ball.

»Wirklich? Was wolltest du denn treffen? Ich sehe hier kein Tor. Und deine Kumpels sind da unten.« Sie zeigte mit dem Kopf zur großen Wiese, auf der Adrian und die anderen einen schwarz-weißen Ball kickten.

Wieder erntete sie kaum mehr als ein Schulterzucken. »Erwischt. Zum Glück für den Kurzen hast du gute Reflexe.«

Bevor sie Gelegenheit zu einer Antwort hatte, wandte er sich um und joggte in Richtung seiner Kumpels davon.

Merle schnaubte verächtlich. Was für ein Idiot!