Die Kunst der Ausrede - Thomas Brudermann - E-Book

Die Kunst der Ausrede E-Book

Thomas Brudermann

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Eunice-Foote-Preis für Klimakommunikation 2023 »Ich bin doch schon so umweltfreundlich! Mit neuen Technologien wird das schon! Und sind die Leute in China nicht viel schlimmer?« Der Psychologe Thomas Brudermann kennt die unzähligen Ausreden, die wir parat haben, wenn Klimaschutz zu anstrengend und unbequem wird. Denn trotz bester Absichten fällt uns konsequenter Umweltschutz oft schwer. Mit Augenzwinkern und Humor erklärt er, was hinter der Selbsttäuschung steckt, wie menschliches Entscheidungsverhalten funktioniert und wie wir den Weg in eine klimafreundliche Zukunft schaffen. Eine kurzweilige Reise in die Klimapsychologie

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Thomas Brudermann
Die Kunstder Ausrede
Warum wir uns lieberselbst täuschen,statt klimafreundlichzu leben
Mit Illustrationen & Grafikenvon Annechien Hoeben
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2022 oekom verlag, Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Umschlaggestaltung: Jens VogelsangUmschlagabbildung: Adobe Stock/svetaLektorat: Boris HeczkoIllustrationen & Grafiken: Annechien HoebenInnenlayout & Satz: Ines SwobodaKorrektorat: Petra Kienle
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-949-9

INHALT

EINLEITUNGKlimafreundlich denken, klimaschädlich handeln
AUSREDE 1 »Klimaschützen nützt mir nichts.«
AUSREDE 2 »Meine Rationalität hat Grenzen.«
AUSREDE 3 »Widersprüche sind menschlich.«
AUSREDE 4 »Morgen. Nächsten Monat. Nächstes Jahr. Irgendwann.«
AUSREDE 5 »Es ist zu spät.«
AUSREDE 6 »Ich bin kein grüner Öko-Freak.«
AUSREDE 7 »Dann müsste ich ja meine Gewohnheiten ändern.«
AUSREDE 8 »Ich habe schon genug andere Sorgen.«
AUSREDE 9 »Ich bin doch umweltfreundlich (im Großen und Ganzen).«
AUSREDE 10 »Ich bezahle den Schaden.«
AUSREDE 11 »Ich habe Angst.«
AUSREDE 12 »Ich weiß alles. Ganz sicher.«
AUSREDE 13 »Es ist zu komplex.«
AUSREDE 14 »Ich hatte ja gute Absichten.«
AUSREDE 15 »Ich bin zu bequem.«
AUSREDE 16 »Ich bin für die Misere nicht verantwortlich.«
AUSREDE 17 »Die anderen …«
AUSREDE 18 »Aber in China …«
AUSREDE 19 »Ich kann und will es nicht mehr hören.«
AUSREDE 20 »Sicher ist nur der Tod.«
AUSREDE 21 »Ich genieße Katastrophen (und die Klimapartys).«
AUSREDE 22 »Neue Technologien werden das Klima retten.«
AUSREDE 23 »XY hat gesagt …«
AUSREDE 24 »Klimaschutz schadet der Wirtschaft und damit uns.«
AUSREDE 25 »Ich habe noch genügend andere Gründe.«
AUSBLICKEine klimafreundliche Zukunft
Epilog und Danksagungen
Anmerkungen und Quellen
Literatur
Index
Über den Autor
EINLEITUNG
Klimafreundlich denken, klimaschädlich handeln
Die Forststraße im Mischwald unweit einer Kleinstadt war Ort einer seltsamen Begegnung. In einer Kurve hielt ein überdimensionierter SUV an. Ein Sticker mit dem Slogan »Go back to school, Greta!« war gut sichtbar am Heck platziert. Ein etwas klein gewachsener kahlköpfiger Mann Mitte 40 stieg aus, entleerte einen Sack Batterien im Moos und warf noch einen halbvollen Behälter mit Motoröl hinterher. »Ich hasse die Umwelt!« erklärte er knapp, sprang zurück in sein Auto und brauste davon.
Nein, bitte verlieren Sie jetzt nicht ein weiteres Stück Vertrauen in die Menschheit. Dieser Vorfall ist frei erfunden. Vermutlich hatten nur die wenigsten von uns schon einmal eine solche Begegnung mit einem selbsternannten Umweltfeind. Im Grunde genommen wünschen wir uns nämlich alle gute Luft, intakte Wälder, saubere Flüsse und funktionierende Ökosysteme. Ich persönlich kenne auch niemanden, der sich sehnlichst eine Klimakatastrophe herbeiwünscht. Ja, es gibt einige wenige Menschen, die den Klimawandel und seine Folgen für eine Übertreibung halten. Aber so gut wie niemand hält es für eine ausgesprochen gute Idee, das Klimasystem zu kippen und damit unsere eigene Existenzgrundlage zu gefährden. Im Großen und Ganzen sind wir doch fast alle umweltfreundlich eingestellt und befürworten Klimaschutz.
Einen weniger klimafreundlichen Eindruck hinterlassen hingegen die vielen Entscheidungen, die wir in unserem Alltag treffen. Mit unserer vermeintlichen Umweltfreundlichkeit↱ und Klimaschutzbefürwortung passen diese oft nicht zusammen. Gut, wir werfen keine Batterien in den Wald, wir trennen brav unseren Müll und wir verursachen nach Möglichkeit auch keine Ölteppiche. Klimaschonend sind unsere Lebensstile deshalb aber noch lange nicht: Flüge, Autofahrten, Fleischkonsum, Wein aus Australien zum argentinischen Steak, Übersee-Früchte statt heimischer Äpfel, Aluminiumkapselkaffee, Online-Mode-Shopping inklusive Rückversand und viele andere Entscheidungen belasten unseren ökologischen Fußabdruck. Bei genauerer Betrachtung müssen sich die meisten von uns wahrscheinlich eingestehen: Unsere Konsumentscheidungen stehen nicht im Einklang mit unseren grundsätzlich umwelt- und klimafreundlichen Einstellungen↱.
Als Menschen haben wir ein erstaunliches Talent dafür, Widersprüche↱ in unserem Denken und Handeln zu ignorieren, aufzulösen oder achselzuckend zur Kenntnis zu nehmen. Wir halten uns selbst auch für ehrliche und aufrichtige Menschen, und das ändert sich nicht, wenn gelegentlich eine kleine Notlüge notwendig wird (»Sorry für die Verspätung, ich stand im Stau …«, »Dieser Kuchen schmeckt trotzdem gut …«, »Och, ihr habt so ein süßes Baby …« – Sie kennen das). Aus logischer Sicht wirkt es paradox, wenn wir uns selbst für ehrlich halten und in aller Ehrlichkeit↱ zugeben, gelegentlich zu lügen. Es scheint, als wären viele Menschen gleichzeitig ehrlich und unehrlich, und ich nehme mich selbst hier nicht aus. Aus Sicht der Psychologie sind solche Widersprüche aber nichts Überraschendes. Kleinere Lügen machen das soziale Leben um einiges erträglicher und konfliktärmer und wenn man für eine Lüge einen guten Grund hat, wird das eigene positive Selbstbild↱ als ehrlicher Mensch davon nicht besonders beeinträchtigt. Darüber hinaus ist ein positives Selbstbild der eigenen Seelengesundheit durchaus zuträglich. Sich selbst für einen guten Menschen zu halten, geht mit deutlich mehr Wohlbefinden einher, als sich selbst für einen schlechten Menschen, einen schamlosen Lügner oder eine skrupellose Betrügerin zu halten. Bei kleineren Abweichungen von diesem Ehrlichkeitsideal kann man ruhig ein Auge zudrücken. Auch bei gröberen Abweichungen findet man in der Regel gute Entschuldigungen, warum das mühsam aufgebaute Lügenkonstrukt notwendig war und gute Erklärungen dafür, warum man im Großen und Ganzen doch ein guter Mensch ist.
Dieses Paradoxon kennen wir auch in Bezug auf Klimafreundlichkeit. Es scheitert nicht an den guten ↰Einstellungen↱ und guten Absichten↱. Unsere klimafreundlichen Einstellungen und guten Absichten führen aber leider viel zu selten zu klimafreundlichen Entscheidungen; zwischen unseren Einstellungen und Verhaltensweisen klafft mitunter eine größere Lücke als zwischen den Versprechen einer Partei vor der Wahl und dem tatsächlichen umgesetzten Regierungsprogramm nach der Wahl. Zumindest sind wir sehr geschickt darin, Entschuldigungen und Ausreden zu finden, warum es mit unseren persönlichen Klimaschutzbemühungen nicht so gut klappt. Zwar haben wir anders als Regierungsparteien keine Koalitionspartner, denen wir die Schuld am Schlamassel geben können, aber geeignete Sündenböcke finden wir trotzdem. Die abgehobenen Politikerinnen*) zum Beispiel, das System oder einfach die Supermächte China und USA. Unser positives ↰Selbstbild↱ als klimafreundlich eingestellte Menschen können wir mit Verweisen auf andere und mit weiteren Ausreden behalten.

Ziel des Buchs

Individuelle Entscheidungen sind oft alles andere als klimafreundlich1. Für unsere klimaschädlichen2 Verhaltensweisen gibt es jedoch Gründe oder, wenn man es etwas zugespitzter formulieren möchte, Ausreden. Viele dieser Ausreden sind in psychologischen Mechanismen verortet und für manche von ihnen gibt es eine mehr oder weniger legitime Basis.
In diesem Buch setze ich mich mit den vielen Ausreden für mangelnde Klimafreundlichkeit auseinander. Auf diesem Weg möchte ich Ihnen Erkenntnisse aus der Klimapsychologie näherbringen und dabei vor allem auf die Frage eingehen, wo die psychologischen Barrieren für die notwendigen Änderungen in ↰Einstellungen↱ UND Verhalten liegen. Verschiedene Konzepte aus Psychologie und Verhaltensökonomie↱ erklären einerseits unser klimafreundliches Entscheidungsverhalten, bieten andererseits aber auch eine wunderbare Grundlage, um Ausreden für klimaschädliche Entscheidungen zu finden. Zur Veranschaulichung verwende ich zahlreiche Anekdoten und Beispiele. Am Ende der meisten Kapitel finden Sie außerdem Kästen mit Zusammenfassungen oder zusätzlichen Hintergrundinformationen. Eines der Kapitel widmet sich auch dem Thema Klimaangst↱. Psychologische Studien, die sich mit Themen wie Auswirkungen der Klimakrise auf die mentale Gesundheit oder mit klimawandelbedingten Angststörungen beschäftigen, lasse ich aber weitgehend außen vor. Vielmehr geht es in diesem Buch um klimarelevante Entscheidungen, die Sie selbst oder auch die Menschen in Ihrem Freundes- und Familienkreis im täglichen Leben treffen. Das Buch bietet verschiedene Blickwinkel und erklärt die psychologischen Mechanismen, mit denen wir trotz wenig klimafreundlicher Lebensweisen ein positives ↰Selbstbild↱ beibehalten.
Es obliegt Ihnen selbst, was Sie mit den hier angebotenen Ausreden für unsere kleinen Klimasünden machen: Eine naheliegende Möglichkeit ist, dass Sie Ihr Repertoire an Selbstbetrugs-Skills erweitern und Ihre Fertigkeiten in der Kunst der Ausrede perfektionieren. Dank der Lektüre dieses Buchs werden Sie für jede erdenkliche Entscheidung einen perfekten Vorwand parat haben (bitte, gern geschehen). Eine weitere Möglichkeit ist, die angeblichen »Klimafreunde« in Ihrem Freundeskreis direkt zu konfrontieren und ihnen besserwisserisch ihre Ausreden vorzuhalten. Davor warne ich ausdrücklich. Am vernünftigsten ist es wahrscheinlich, auf beide dieser Optionen zu verzichten. Für mich sind die beschriebenen Ausreden Mittel zum Zweck, verschiedene Aspekte der Klimapsychologie zu erläutern. Anhand der vorgestellten psychologischen Mechanismen können Sie mehr Verständnis für Ihre eigenen Entscheidungen und die Entscheidungen anderer aufbringen. Wenn das auch zu Selbstreflexion und klimafreundlicheren Entscheidungen anregt, freue ich mich.
Natürlich möchte ich mich in diesem Buch nicht nur auf die Ausreden und Barrieren fixieren. ↰Verhaltensökonomie↱ und Psychologie geben uns auch Hinweise darauf, wie klimafreundliches Verhalten gelingen kann und welche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen↱ dafür gegeben sein müssen. Gegenwärtig liegt es auch an bestehenden Strukturen↱ und Systemen, die uns klimafreundliches Handeln erschweren. Manche von uns haben keine realistische Möglichkeit, klimafreundlichere Entscheidungen zu treffen, also beispielsweise vom Auto auf Öffis umzusteigen oder teures Biogemüse zu kaufen. Die Verantwortung↱ alleine auf uns Bürgerinnen oder auf uns Konsumenten abzuschieben, ist zu billig. Auch politische Entscheidungsträger und Entscheidungsträgerinnen, Interessensvertretungen und nicht zuletzt Unternehmen stehen in der Pflicht, die entsprechenden Voraussetzungen, also Strukturen für ein klimafreundliches Leben, zu schaffen. Der letzte Teil des Buchs widmet sich demnach einem Ausblick in eine Zukunft, in der es uns leichter fällt, klimafreundliche Entscheidungen zu treffen.
Aber zurück in die Gegenwart und zum Status quo: In dem Kasten am Ende des Kapitels finden Sie eine kurze Zusammenfassung der Klimawandelproblematik, für den Fall, dass Sie damit noch nicht vertraut sind. Details lasse ich bewusst aus, denn dafür gibt es geeignetere Quellen, zum Beispiel das Buch Klimawandel – Fakten gegen Fake & Fiction von Marcus Wadsak3 oder Klimawandel kompakt von Christian Schönwiese.4 Einen kompakten Einstieg liefern David Nelles und Christian Serrer mit ihrem empfehlenswerten Buch Die Klimalösung.5 Andererseits gibt es zu dem Thema jede Menge Desinformation, die im Internet, in sozialen Netzwerken und vereinzelt in Büchern gestreut wird. Zur Überprüfung dubioser Aussagen empfehle ich die Webseiten klimafakten.de und skepticalscience.com, denn diese liefern seriöse und gut verständliche Faktenchecks auf Basis des derzeitigen Stands der Klimaforschung.
Laut Klimaforschung sind wir Menschen verantwortlich für den gegenwärtig beobachtbaren Klimawandel und all seine (hauptsächlich negativen) Folgen. Eine Metaanalyse von über 88.000 wissenschaftlichen Studien zum Klimawandel zeigt einen Konsens von über 99,5 Prozent, dass die Klimakrise menschengemacht ist.6 Zu keinem anderen aktuellen Thema gibt es eine vergleichbare Übereinstimmung unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Zeit drängt und wir erleben gerade die ersten (noch vergleichsweise milden) Auswirkungen der Klimakrise, zum Beispiel das Schmelzen von Gletschern oder die Zunahme von extremen Wetterereignissen. Die Situation ist ernst, aber nicht hoffnungslos. In Hinblick auf unsere klimaschädlichen Lebensstile ist man aber geradezu versucht zu sagen: Die Situation ist hoffnungslos, aber nicht besonders ernst.
Ganz so zynisch wie in dem Alfred Polgar zugeschriebenen Zitat (»Für den Preußen ist die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos, für den Österreicher hoffnungslos, aber nicht ernst.«7) möchte ich es aber doch nicht sehen. Ich lade Sie ein, mit mir in die Welt der Klimapsychologie einzutauchen und den Gründen für unsere Ausflüchte auf den Grund zu gehen – mit einer gewissen Portion Ernsthaftigkeit, Zweckoptimismus↱ und einer Prise Humor.
Capybaras, auch Wasserschweine genannt, sind so ziemlich die freundlichsten Tiere, die man sich vorstellen kann. In den Cartoons aus der Feder von Annechien Hoeben machen sie sich Gedanken zur Klimakrise. Dabei verdeutlichen sie einige der in diesem Buch dargestellten Konzepte. Vielleicht helfen sie Ihnen genauso gut wie mir, trotz des ernsten Themas den Humor nicht zu verlieren.
Warum ist Klimawandel ein Problem und was habe ich persönlich damit zu tun?
Der sogenannte Treibhauseffekt macht die Erde zu einem lebensfreundlichen Ort mit im Schnitt plus 14 Grad Celsius an der Erdoberfläche. Treibhausgase wie Kohlendioxid (CO2), Methan (CH4) oder Wasserdampf (H2O) speichern Wärmeenergie in der Atmosphäre; ohne sie wäre es um ca. 32 Grad kälter (minus 18 Grad Celsius).
Der Anteil von Treibhausgasen in der Atmosphäre war über die letzten Jahrtausende hinweg stabil; für CO2 betrug der Volumenanteil ca. 270 pro Million (kurz: 270 ppm). Anders als Stickstoff und Sauerstoff sind Treibhausgase also nur in Spuren vorhanden. Die Ökosysteme und Ozeane stoßen CO2 aus und nehmen es in gleichem Maße wieder auf. Seit Beginn der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert verbrennen wir aber mehr und mehr fossile Rohstoffe (Kohle, Öl und Gas), wodurch der eingelagerte Kohlenstoff in Form von zusätzlichem CO2 oder CH4 in die Atmosphäre gelangt (zwecks Vergleichbarkeit wird auch von CO2-Äquivalenten gesprochen).8
Gleichzeitig hat sich die Landnutzung stark verändert. So kann ein natürlicher Wald viel mehr Kohlenstoff speichern und aufnehmen als eine industrielle Ackerfläche. Der CO2-Mittelwert in der Atmosphäre im Jahr 2020 betrug 415 ppm, was einer Steigerung von 66 Prozent im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten entspricht. Das führt zur gegenwärtig beobachteten Klimakrise mit schmelzenden Gletschern, extremen Wetterereignissen und mittelfristig ansteigendem Meeresspiegel. Der erhöhte CO2-Gehalt führt auch zu einer Übersäuerung und Erwärmung der Weltmeere, was marine Ökosysteme bedroht und schon erste Folgen zeigt (wie etwa das Korallensterben). Die längerfristigen Konsequenzen sind nur schwer abzuschätzen und reichen von negativ bis zu katastrophal.
Natürlich ist niemand allein verantwortlich für die Klimakrise, aber wir alle tragen mit klimaschädlichen Entscheidungen dazu bei: 100 Personenkilometer mit dem Auto stoßen im Schnitt ca. 21 Kilogramm CO2 aus; mit der Bahn ist es nur ein Bruchteil davon9, während Radfahren komplett emissionsfrei ist. Flugreisen sind am schädlichsten mit durchschnittlich 43 Kilogramm pro 100 Personenkilometern10 (hinzu kommen noch die klimaschädlichen Kondensstreifen). Die Bilanz von E-Autos ist abhängig von der Stromerzeugung, aber in jedem Fall deutlich schlechter als die von Bahn oder Bus. Nicht nur unser Mobilitätsverhalten, auch die Energieerzeugung, die Produktion und der Transport von Gütern und unsere Ernährung spielen eine Rolle. Für die Produktion von einem Kilogramm Rindfleisch werden zum Beispiel 12 bis 24 Kilogramm CO2-Äquivalente ausgestoßen, für Hühnerfleisch 5 Kilogramm, für ein Kilogramm Gemüse im Schnitt nur 0,15 Kilogramm.11
Zum Klimawandel gesellen sich weitere globale ökologische Probleme. Unsere gegenwärtigen Produktions- und Konsumgewohnheiten haben starke negative Wirkung auf die Biodiversität (Aussterben vieler Arten), auf Ökosysteme zu Land und zu Wasser oder auf biochemische Kreisläufe (vor allem durch die Verwendung von Phosphor und Stickstoff in der Landwirtschaft).
In vielen Bereichen verlassen wir gerade den sicheren Betriebsbereich.12 Wir bewegen uns in Sphären, in denen die Auswirkungen auf unsere eigene Lebens- und Überlebensgrundlage unklar sind. Der Klimawandel erhält auch deshalb so viel Aufmerksamkeit, weil er mit vielen anderen dieser sogenannten planetaren Grenzen direkt oder indirekt zusammenhängt. Die Grundursache für alle diese Probleme lautet einfach zusammengefasst: Unsere gegenwärtigen Systeme in Wirtschaft und Gesellschaft sind nicht nachhaltig. Wir leben auf Kosten zukünftiger Generationen.
*) Ich versuche mich in diesem Buch einer inklusiven Sprache zu bedienen, die den Lesefluss nicht stört. Daher verwende ich abwechselnd Substantivierungen, weibliche Substantive und männliche Substantive und in Ausnahmefällen auch andere Formen. Sofern nicht anders gekennzeichnet, sind immer alle gemeint.
AUSREDE 1
»Klimaschützen nützt mir nichts.«
You only live once.
(So ziemlich jede Anfang-Zwanzigerin und so mancher Mid-Vierziger)
Man lebt nur einmal und dabei meist in Angst↱, etwas zu verpassen: #YOLO↱ (»You only live once«) und #FOMO (»Fear of missing out«) haben sich in den letzten Jahren zu beliebten Hashtags in den sozialen Medien entwickelt. Sie spiegeln den Wunsch wider, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Über etwaige Konsequenzen von Entscheidungen denkt man besser nicht allzu lange nach, solange sie dem eigenen Vergnügen↱ dienen. #YOLO und #FOMO sind dankbare Ausreden für Unvernunft, aber auch für ungezügelten Konsum und Genuss. Wir wollen das reich gedeckte Buffet des Lebens auskosten und nehmen, was wir bekommen können. Wir möchten nichts verpassen. Von Klimawandel haben wir zwar gehört, aber deshalb auf das argentinische Steak verzichten? Auf südafrikanischen Wein? Auf den Flug nach Südostasien oder den Wochenendtrip nach Mallorca? Eher nicht. Wenn man nicht gerade praktizierender Hinduist ist, kann man die Vorzüge eines genusserfüllten Lebensstils nicht auf ein nächstes Leben verschieben. Wir wissen nicht, was morgen kommt. Unsere begrenzte Zeit wollen wir möglichst gut nutzen, ohne unnötige Spaßbremsen.
Das ↰YOLO↱-Motto wirkt vor allem selbstbezogen, selbstdienlich und irgendwie auch egoistisch↱. Anders als beim antiken Motto Carpe diem geht es nicht so sehr um das sinnvolle Nutzen des Tages, sondern um das Maximieren des eigenen Vergnügens im Hier und Jetzt. Sucht man auf der Plattform Instagram nach dem Hashtag #YOLO, findet man Millionen von Beiträgen, darunter vorwiegend Bilder von exotischen Reisedestinationen, spaßigen Freizeitaktivitäten und ausgefallenen kulinarischen Genüssen. Beiträge wie »Öffi-Jahreskarte gekauft«, »Gestrigen Gemüseeintopf aufgewärmt« oder »Gerade für den Regenwald gespendet« sucht man unter dem Hashtag #YOLO vergeblich. Ist man in seinem einzigen Leben in erster Linie auf Vergnügen aus, ist das einem klimafreundlichen Lebensstil offenbar nicht sonderlich zuträglich.
»You life only once« ist für sich genommen eine recht brauchbare Ausrede für Klimasünden. So gesehen ist es ein Glücksfall, dass wir Menschen nicht ständig nach dem Motto #YOLO leben, sondern auch ernsthafte und vernünftige Züge an den Tag legen. Mit Rationalität↱ kommen wir der Klimafreundlichkeit schon etwas näher, würde man meinen. Schließlich sind Menschen vernunftbegabte, mündige Wesen. Wir sind emanzipiert, reflektiert und geprägt durch Selbsterkenntnis. Dieses Menschenbild hat sich ab dem 18. Jahrhundert durchgesetzt. In den Wirtschaftswissenschaften wurde diese Auffassung später etwas vereinfacht und man hat daraus ein Stereotyp kreiert: Es heißt Homo oeconomicus↱.13 Dieser fiktive rationale Akteur ist ausschließlich darauf bedacht, seinen eigenen Nutzen zu maximieren. Er ist zwar genau genommen ebenso ↰egoistisch↱ wie ein Homo YOLO, aber dabei vernünftig und rational. Ein Homo oeconomicus geht sehr systematisch an jedes Problem heran und bezieht alle verfügbaren Informationen in seine Entscheidungen mit ein. Seine Vorlieben (in der Fachsprache: Präferenzen↱) sind stabil. Wenn er Schokopudding lieber mag als Vanillepudding, wird er immer Schokopudding kaufen. Er reagiert aber auch auf sogenannte Anreize↱. Kostet der Vanillepudding nur die Hälfte vom Schokopudding, ist das ein ↰Anreiz↱ für den rationalen Schokopudding-Liebhaber, doch einmal Vanille zu probieren. Er wird aber sofort wieder zu Schoko wechseln, wenn der Preisanreiz nicht mehr besteht. Im Gegensatz zum Homo YOLO ist der Homo oeconomicus somit ein ziemlich langweiliger Zeitgenosse. Homo YOLO würde alle noch so exotischen Geschmacksrichtungen probieren wollen, anstatt immer bei Schoko zu bleiben. Die Idee monetärer ↰Anreize↱ für mehr Klimaschutz entspricht ebenfalls dem Denkmodell vom Homo oeconomicus: Bezahlen wir die Leute doch einfach dafür, sich klimafreundlich zu verhalten. Dann haben sie einen direkten Nutzen vom Klimaschutz und die Ausrede »Es nützt mir nichts« wird hinfällig. Das kann zwar zu einem gewissen Grad funktionieren, birgt aber auch Risiken und Nebenwirkungen (lesen Sie dazu bitte später Ausrede 10 oder wenden Sie sich an die Verhaltensökonomin ihres Vertrauens).
Wahrscheinlich hat niemals jemand ernsthaft angenommen, dass dieser ↰Homo oeconomicus↱ auch in Wirklichkeit so weit verbreitet ist wie in den Wirtschaftslehrbüchern. Die allermeisten von uns werden hin und wieder, ganz zufällig und aus einer Laune heraus, eine neue Puddingsorte ausprobieren, auch wenn wir Schokolade lieben. Aber für ökonomische Modelle und Berechnungen erwies sich dieser fiktive Agent als immens praktisch und so hält er sich bis heute hartnäckig. Viele ökonomische Modelle gehen davon aus, die Menschen würden sich stets rational verhalten. Aus diesen Modellen werden dann übrigens Empfehlungen an Entscheidungsträger in Politik und Gesellschaft abgeleitet. Das erklärt wohl die eine oder andere fragwürdige politische Entscheidung, über deren Scheitern sich Politiker und Ökonominnen dann gemeinsam wundern. Auch Sie wundern sich an dieser Stelle möglicherweise: Warum geht es hier um ↰Rationalität↱ und ökonomische Modelle? Was hat das mit Klimapsychologie zu tun? Ich bitte noch um ein bisschen Geduld. Psychologische Mechanismen sind oft nicht besonders rational, sie werden aber auf Basis der Rationalitätsidee besser verständlich. Versprochen.
Rationale Entscheidungen folgen in etwa folgender Systematik: Man startet mit einem klaren Ziel und mit individuellen ↰Präferenzen↱, sammelt Informationen und überlegt sich Kriterien für die Bewertung verschiedener Alternativen. Die gefundenen Alternativen werden verglichen und schlussendlich trifft man, nach langem Hin und Her oder auch vielen schlaflosen Nächten, in denen man Für und Wider abwiegt, eine Entscheidung. Das anschließende Bedauern dieser Entscheidung ist übrigens streng genommen nicht Teil des rationalen Entscheidungsprozesses. Es gibt aber Hinweise darauf, dass ein streng rationaler Entscheidungsprozess unter Berücksichtigung von möglichst vielen Informationen und einer großen Auswahl an Wahlmöglichkeiten unsere Zufriedenheit mit der letztendlich getroffenen Entscheidung verringert.14
Schritte im rationalen Entscheidungsprozess
Hilft uns diese ökonomische ↰Rationalität↱ bei klimafreundlichen Entscheidungen? Leider nur bedingt und in Abhängigkeit unserer ↰Präferenzen↱. Zwar können sehr starke klimafreundliche Präferenzen im Zuge der Nutzenmaximierung↱ tatsächlich zu rationalen, klimafreundlichen Entscheidungen führen. Sind aber neben Klimafreundlichkeit auch andere Kriterien wichtig (oder wichtiger), sieht die Sache anders aus. Dann wird rationales Handeln nämlich schnell zur Ausrede für Klimaschädlichkeit. In der traditionellen Auslegung der Rational Choice werden alle Kriterien monetär bewertet und die Entscheider maximieren ihren ökonomischen Nutzen. Und dann kann das Ergebnis aller rationalen Abwägungen klimaschädlich sein. Hat man zum Beispiel klare Vorlieben für den Individualverkehr, ist Autofahren rational. Selbst wenn man dem öffentlichen Verkehr gegenüber aufgeschlossen ist, kann die Autofahrt zum Supermarkt rationaler sein als die Busfahrt, denn die Spritkosten sind niedriger als die Ticketpreise. Müsste man erst ein Auto ausleihen, wäre es umgekehrt – außer es sprechen andere Kriterien (wie der Transport der Einkaufssachen) dagegen.
Rationalität führt aber auch zu anderen klimaschädlichen Entscheidungen. Eine Flugreise bringt uns an einen anderen, mutmaßlich schöneren Ort, sie maximiert somit unseren Nutzen, wenn wir lieber woanders sein wollen als hier (und es uns nichts ausmacht, in engen Sitzreihen eingezwängt von schwitzenden Mitreisenden umgeben zu sein). Sobald wir an dem schöneren Ort angekommen sind, können wir außerdem ein Selfie posten und mit dem Hashtag #↰YOLO↱ versehen (was vielen von uns ebenfalls sehr wichtig ist). Hat man eine Vorliebe für Fleisch, dann maximiert das Vertilgen eines Steaks ebenfalls unseren Nutzen. Vorausgesetzt, dass Kriterien wie Tierwohl↱ und Erderwärmungspotenzial eine untergeordnete Rolle spielen.
Praktischerweise decken sich klimaschädliche Vorlieben oft auch mit der ökonomischen Nutzenmaximierung: Eine Flugreise nach Paris ist in der Regel günstiger als eine Fahrt per Bahn und ein Kilogramm Fleisch kann im Supermarkt billiger sein als ein Kilogramm Gemüse.15 In diesem Fall nützt uns Klimaschutz persönlich tatsächlich nichts. Diese Einschätzung ändert sich auch dann nicht, wenn sich ein rationaler, autobesitzender, fernfliegender Steakesser perfekt über seine Klimawandelwirkung informiert: Mit einer vegetarischen Lebensweise würde er im Vergleich zu fleischreicher Ernährung (über 100 Gramm pro Tag) fast die Hälfte seiner Ernährungsemissionen einsparen und mit veganer Ernährung sogar mehr als die Hälfte.16 Er würde aber auch feststellen, dass die Emissionen, die mit seinem individuellen Verhalten in puncto Ernährung oder Mobilität einhergehen – also etwa 10 bis 20 Tonnen CO2 pro Jahr17 –, das Weltklima nicht nennenswert beeinflussen. Am Ende des Tages ist das Problem schließlich nicht er als Individuum, sondern die vielen anderen – die sich aber leider genauso wie er verhalten.
Wenn wir also unseren liebgewonnenen klimaschädlichen Aktivitäten nachgehen, lässt sich das tatsächlich mit rationalem Verhalten begründen. Klimaschützen nützt mir als Einzelperson nichts. Ich alleine werde das Klima nicht retten. Es zahlt sich geldmäßig nicht aus und Spaß macht es auch keinen. Die Ausrede funktioniert. ↰Homo oeconomicus↱ und Homo ↰YOLO↱ können sich, bildhaft gesprochen, die Hand reichen und gemeinsam klimaschädliche Entscheidungen treffen: Nicht nur Vergnügungssucht, sondern auch ökonomisch rationales Verhalten führen zu klimaschädlichen Entscheidungen. Eine schlechte Nachricht gleich am Anfang dieses Buchs.
Glücklicherweise kann ich aber auch mit einer guten Nachricht aufwarten: Wir Menschen verhalten uns nur in Ausnahmefällen so rational wie es in den Lehrbüchern der Ökonomie steht, oder so spaßsüchtig und ↰egoistisch↱ wie es Homo ↰YOLO↱ vorgibt. Die meisten unserer Entscheidungen im Alltag treffen wir nicht unter rationalen Gesichtspunkten, sondern beeinflusst von Daumenregeln, Wahrnehmungsverzerrungen↱, Gewohnheiten↱, sozialen Einflüssen↱, externen ↰Rahmenbedingungen↱, Weltbildern↱ und kulturellen Prägungen, Zufällen und einer Reihe anderer Faktoren. Wir sind nur begrenzt rational, wie es Herbert Simon ausdrückt18, oder vorhersehbar irrational, wie Dan Ariely feststellt.19
Dass wir uns meist nicht rational verhalten und nicht nur unseren eigenen Nutzen und Spaß zum Schaden des Klimas maximieren, gibt Grund zur Hoffnung. Oder?
Rational Choice
Unter Rational Choice (auch: Theorie der rationalen Entscheidung) versteht man in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften individuelles Entscheidungsverhalten, das auf individuelle ↰Nutzenmaximierung↱ ausgerichtet ist. Ein rational handelnder Akteur maximiert demnach seinen eigenen Nutzen, indem er aus einer Liste von Alternativen jene wählt, von der er sich subjektiv den größten Nutzen erwartet (Subjective Expected Utility (SEU), Subjektive Nutzenerwartung). Dies tut er auf Basis seiner ↰Präferenzen↱ und der zur Verfügung stehenden Informationen. Monetäre ↰Anreize↱ beeinflussen sein Verhalten.
Als ↰Homo oeconomicus↱ wird in der neoklassischen Ökonomie ein fiktiver Akteur bezeichnet, der sich nach dem Prinzip der individuellen, subjektiven ↰Nutzenmaximierung↱ verhält, wobei unter Nutzen in der Regel ein monetärer Nutzen verstanden wird. Dabei verfügt dieser Akteur in unbegrenztem Maße über Informationen und Rechenkapazität. Obgleich solche Annahmen nicht realistisch sind, dient der Homo oeconomicus in Wirtschaftsmodellen der dominierenden neoklassischen Schule nach wie vor als Basis. Von anderen Schulen der Ökonomie, insbesondere der ↰Verhaltensökonomie↱ und der experimentellen Ökonomie, wird dies stark kritisiert. Tatsächlich folgen menschliche Akteure nur in Ausnahmefällen einer einfachen Nutzenmaximierung wie im Modell des Homo oeconomicus angenommen.
Homo ↰YOLO↱ beschreibt in diesem Kapitel einen hedonistischen Menschentypus, der die Maximierung des eigenen Vergnügens in den Vordergrund stellt und ↰Angst↱ hat, etwas zu verpassen. Ich verwende diese Begriffsschöpfung in diesem Buch zum ersten Mal.20
AUSREDE 2
»Meine Rationalität hat Grenzen.«
Das Rationale am Menschen sind seine Einsichten, das Irrationale, dass er nicht danach handelt.
(Friedrich Dürrenmatt21)
Leider muss ich an dieser Stelle Ihre Hoffnung gleich wieder etwas dämpfen. Nicht nur rationales Handeln, sondern auch unsere weitgehende Unfähigkeit, rational zu handeln, kann aus Klimasicht zu suboptimalen Entscheidungen führen.
Lassen Sie mich mit einem harmlosen Beispiel verdeutlichen, was die Schwierigkeit bei rationalen Entscheidungen ist und warum wir damit unsere Probleme haben: Nehmen wir an, ich möchte an einem verlängerten Wochenende eine entspannende Städtereise machen. Da Fernreisen wenig klimafreundlich sind, entscheide ich mich gegen den Flug nach Istanbul und für den Abstecher nach Wien. Für Entspannung ist die österreichische Metropole bekanntlich hervorragend geeignet und zur Not finde ich am Naschmarkt auch die eine oder andere türkische Delikatesse. Vielleicht nicht in der gleichen Fülle wie am großen Basar in Istanbul, aber dafür erlebe ich Kellner mit Wiener Charme und einzigartigem Schmäh. Das Wetter ist zumindest einigermaßen mild und der Wind erfrischend. Ich genieße Sachertorte inmitten kaiserlicher Architektur und historischem Flair. Die Hotelpreise sind moderat, die Auswahl ist reichlich. An die 900 verschiedene Unterkünfte können auf einer bekannten Buchungswebseite gefunden werden. Und hier beginnen die Schwierigkeiten: Wie will ich aus dieser riesigen Palette an Möglichkeiten die optimale Unterkunft für mein perfektes Wienwochenende finden? Schließlich hätte ich gern einen Ausblick über das Stadtzentrum, ein leckeres Frühstücksbuffet mit vegetarischen Optionen, fußläufig erreichbare Pferdekutschen oder sonstige typische Wiener Verkehrsmittel und natürlich den besten Preis. All diese Kriterien zu optimieren klingt nach relativ viel Anstrengung. Wenn ich das tatsächlich ganz rational mache, habe ich aber nach der ganzen mentalen Anstrengung vielleicht gar keine Lust↱ mehr auf einen Wienbesuch.
In solchen Situationen bedienen sich die meisten von uns einiger mentaler Abkürzungen, anstatt lange nach der optimalen Alternative zu suchen: Wir handeln nach dem Prinzip der begrenzten↱↰Rationalität↱. Bei Entscheidungen gehen wir zwar grundsätzlich zielorientiert vor, doch verschiedene kognitive Einschränkungen begrenzen unser rationales Handeln und Denken. Da unsere Merkfähigkeit und Informationsaufnahme nicht unbegrenzt sind, nehmen wir auf der Suche nach einer guten Entscheidung Abstriche in Kauf. Anders als Optimierungsalgorithmen bewerten wir daher den Nutzen einer Entscheidung nicht anhand einer Vielzahl von Kriterien, sondern geben uns mit einer Alternative zufrieden, die hinsichtlich einiger weniger relevanter Kriterien gut genug ist. Denn wenn ein Entscheidungskriterium gut genug erfüllt ist, also unser Anspruchsniveau erreicht, dann zahlt sich oft der zusätzliche Aufwand für die Suche nach einer besseren Alternative nicht mehr aus. Anstatt also Stunden oder Tage mit der Suche nach der optimalen Unterkunft zu verbringen, wählen wir einfach eine Option, die unseren Ansprüchen in verschiedenen Kategorien so einigermaßen entspricht. Das spart Aufwand und ist bequemer.
Zeit und Aufwand bei der Auswahl einzusparen und dafür ein paar Abstriche in Kauf zu nehmen, ist effizient und hat gewissermaßen auch etwas Rationales – es ist eben begrenzt rational. Eine solche Entscheidungsfindungsstrategie wird in der Fachliteratur auch Satisfizing↱ genannt (ein Mischwort aus den englischen Verben satisfying, zufriedenstellen, und suffice, genügen).
Manche Menschen scheinen eine solche Genügsamkeits-Strategie übrigens auch bei der Partnerwahl bewusst zu verfolgen. Eine Bekannte hat mir bei einem Date einmal erzählt, sie würde bei ihrer Suche nach dem Partner fürs Leben die Ratschläge ihrer Großmutter anwenden. Der wichtigste lautete: Alles, was schöner ist als ein Affe, ist Luxus. (Wir sind trotzdem kein Paar geworden.)
Handeln wir begrenzt rational, kann das natürlich auch leicht zu wenig klimafreundlichen Entscheidungen führen, weil wir die klimafreundlichsten Optionen übersehen. Von der für uns perfekten Ökopension mit Nachhaltigkeitszertifikat erfahren wir nie, weil wir unsere Suche schon beim zweiten oder dritten einigermaßen akzeptablen Hotel beenden. Auch für die Anreise gibt es verschiedene Möglichkeiten – zum Beispiel mit der Bahn, mit dem Fernbus oder mit dem Auto (Fliegen wollten wir ja vermeiden). Jede dieser Alternativen hat Vor- und Nachteile, kostet unterschiedlich viel, dauert unterschiedlich lange, ist unterschiedlich komfortabel und hat eine unterschiedlich starke Klimawirkung.
Eine völlig rationale Entscheidung ist auch in dieser Frage eher unwahrscheinlich. Um mich nicht mit allen Kriterien im Detail auseinanderzusetzen und um kognitiven Aufwand zu sparen, entscheide ich mich vielleicht einfach für eine Autofahrt. Schließlich steht der 24 Jahre alte, zum wiederholten Male teuer reparierte Wagen sonst ohnehin nur nutzlos in der Garage herum. Ich muss meine Koffer nicht sonderlich weit tragen und das Auto macht mich in Hinblick auf Reisezeiten und Route viel flexibler als Bahn oder Bus. Im Zweifelsfall kann ich außerdem mein Navigationssystem um Rat fragen, um wiederum, getreu meiner ↰begrenzten↰Rationalität↱, mentalen Aufwand einzusparen.
Im Nachhinein erweist sich das jedoch nicht immer als die beste Idee. Es ist erstaunlich, wie oft Touristen in Österreich mit ihren Autos auf vereisten Naturrodelbahnen hängen bleiben, die sie dank Google Maps für eine Straße hielten. (An dieser Stelle ein kleines Geständnis: Ja, Zeitungsmeldungen mit Autos auf Naturrodelbahnen haben mich immer zum Schmunzeln gebracht. Wie kann man nur so dämlich sein, habe ich mir dabei immer gedacht. Bis mich letzten Sommer Google Maps in einen griechischen Olivenhain gelotst hat. Nur mit Glück blieb mir die Schmach erspart, den hiesigen Bauern um Hilfe bei der Bergung des Mietautos bitten zu müssen. Der Grat zwischen begrenzter Rationalität und digitaler Demenz ist schmal und Hochmut kommt vor dem Fall.)
Wenn ich nun von Stuttgart oder Köln aus mit dem Auto nach Wien fahre, ist das klimatechnisch zumindest besser als der Billigflug mit Umstieg in Amsterdam. Klimafreundlich ist die Autofahrt aber auch nicht. Denn hätte mich meine begrenzte ↰Rationalität↱ nicht von einer detaillierteren Reisevorbereitung abgehalten, hätte ich vielleicht bemerkt, dass die Reisezeit mit der klimafreundlicheren Bahn ähnlich lang wie mit dem Auto ist und ich im Schlafwagen oder Bordrestaurant mehr Komfort genieße als hinter dem Steuer meines alten Kleinwagens. Meine begrenzte Rationalität ist am Ende daran schuld, wenn ich im dichten Frühsommerverkehr kilometerlang nur im Schritttempo vorwärtskomme, mir einrede, dass Klimaanlagen überbewertet werden, und mich obendrein über die zwölfte (von allen Arbeitern verlassene) Baustelle innerhalb von hundert Autobahnkilometern ärgere.
Begrenzte ↰Rationalität↱
Der amerikanische Politikwissenschaftler Herbert Simon gilt als einer der bedeutenden Köpfe des 20. Jahrhunderts. Er hatte in mehreren Disziplinen wichtige Erkenntnisse und Beiträge zu verantworten, in erster Linie aber im Bereich Organisationstheorie. 1978 erhielt er den Wirtschaftsnobelpreis für seine bahnbrechende Erforschung der Entscheidungsprozesse in Wirtschaftsorganisationen. Das Konzept der begrenzten ↰Rationalität↱ war seine Antwort auf die zu seiner Zeit in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschende Vorstellung von ausschließlich rational handelnden Akteuren. Begrenzt rational bedeutet, dass Akteure zwar grundsätzlich zielorientiert handeln, jedoch aufgrund kognitiver Einschränkungen suboptimale Entscheidungen treffen.
Entscheiderinnen geben sich demnach mit Optionen zufrieden, die »gut genug« sind, wenn sich der zusätzlich erforderliche Aufwand für eine Verbesserung der Entscheidung nicht auszahlt. Sie suchen nicht nach der besten Lösung, sondern nach einer ausreichenden, zufriedenstellenden Lösung (↰Satisfizing).
AUSREDE 3
»Widersprüche sind menschlich.«
Denken und Sein werden vom Widerspruch bestimmt.
(Aristoteles)
Im Oktober 2021 haben mich Studierende der Universität Primorska im slowenischen Koper für einen Vortrag zu den Themen Klimapsychologie und irrationales Verhalten↱