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In seinen vier Jahrzehnten für den Weltkonzern Siemens durchlebte Heinrich von Pierer Höhen und Tiefen des Managerdaseins. Was muss ein Topmanager können, um sich an der Spitze zu behaupten? Wie geht er erfolgreich mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen um, wie mit Betriebsräten, Investoren, Kunden – aber auch mit der Prominenz aus der Politik? Er beschreibt, wie begrenzt »Macht« sein kann, auch wenn man an der Spitze steht. Wie man aus Fehlern und Niederlagen lernt und warum das Streben nach Shareholder Value nicht das alleinige Unternehmensziel sein sollte – und warum es so wichtig ist, zuhören zu können. Der langjährige »Mr. Siemens« kennt Kniffe und Fallstricke des Managementalltags wie wenige andere – die Erfahrungen, über die er berichtet, kann man weder an einer Universität noch in einer Ausbildung machen. Er beschreibt in seinem Buch, oft mit einem Augenzwinkern, worauf es in der Praxis abseits des Fachlichen wirklich ankommt.
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Seitenzahl: 193
HEINRICH VON PIERER
DIE KUNST DES MACHBAREN
DIE KUNST DES MACHBAREN
Lehrreiches und Heiteres aus dem Leben eines Topmanagers
HEINRICH VON PIERER
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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3. Auflage 2021
© 2021 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
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Redaktion: Dr. Annalisa Viviani
Umschlaggestaltung: Marc Fischer
Umschlagabbildung: Artem Kovalenco/Shutterstock
Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN Print 978-3-86881-839-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96267-301-7
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96267-302-4
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Vorwort
Der doppelte Bosporus-Effekt
Weichenstellungen und Stolpersteine
Das neue Büro
Als Chef nur in der zweiten Reihe?
Mit gebremstem Schwung ins Homeoffice
Der zerbrochene Tennisschläger
Ein Ja ist noch lange kein Ja, ein Nein aber vielleicht doch
Wer war Hans Krankl?
Gemeinsam unter die Dusche?
Wenigstens das Wetter passte
Plötzlich lagen die Füße auf dem Tisch
»Mitarbeiter in die Politik«
Die Fakten sollten schon stimmen
Das Dilemma mit der Frauenquote
Shareholder versus Stakeholder
Dank
Über den Autor
Meine Enkel haben mir einmal eine überdimensionale Weltkarte geschenkt, die an einer Wand in unserem Hobbykeller einen Platz gefunden hat. Darauf sollte ich alle Länder mit einem dicken Farbstift markieren, in die ich im Laufe meines mehr als 40-jährigen Berufslebens gereist bin. Es kamen in der kleinen Geografiestunde nach einigem Nachdenken immerhin fast 70 auf allen Kontinenten zusammen.
Ist das jetzt viel oder wenig?
Immerhin ist das Unternehmen, für das ich die weitaus meisten dieser Reisen unternahm, in rund 200 Ländern tätig, übertroffen in seiner Internationalität eigentlich nur von der katholischen Kirche, dem Olympischen Komitee, der FIFA, dem Weltfußballverband, und wahrscheinlich noch von Coca-Cola. Und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens kommen aus rund 170 Ländern, ein echter Multikulti, der die Vielfalt auf Basis seiner Werte und Normen aktiv gestaltet hat. Eine gelebte Tradition, die schon im 19. Jahrhundert vom Firmengründer Werner von Siemens zusammen mit seinen Brüdern Wilhelm und Carl begründet wurde, die in England bzw. Russland für das Unternehmen erfolgreiche Tochtergesellschaften betrieben.
Jedenfalls haben die zahlreichen Begegnungen mit Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen für einzigartige Erlebnisse und Erfahrungen gesorgt. Wichtig war dabei, sich immer wieder auf Menschen einzustellen, die durch eine andere Geschichte und ein anderes Umfeld geprägt sind als wir. Und mit entsprechendem Verhalten und Auftreten auf Erwartungen und Wünsche dieser Menschen zu reagieren, ohne sich zu verbiegen und dabei vielleicht an Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Ein Teil dieses Buches widmet sich diesen besonderen Erfahrungen im Umgang mit Menschen, die, einfach ausgedrückt, »ganz anders ticken als wir«.
Der andere Teil befasst sich mit Reaktionen und Verhaltensweisen von Menschen, denen man in einem von Bürotätigkeit und Dienstreisen ausgefüllten Berufsleben im Laufe der Jahre beziehungsweise der Karriere intern wie extern begegnet, und wie man mit neu auftretenden Situationen am besten umgeht. Das schließt auch den Umgang mit Diversity und Inklusion ein, also mit der Vielfalt im Unternehmen, besonders der Gleichberechtigung von Frauen und Männern, den Umgang mit der Presse basierend auf guten und weniger guten einschlägigen Erfahrungen und den Umgang mit der »Politik« verbunden mit einem Plädoyer für ein starkes Engagement von Führungskräften in Gremien des politischen und vorpolitischen Raums.
Im letzten Kapitel geht es schließlich darum, wie ein von der Steigerung des Unternehmenswertes, des Shareholder Value, geprägtes Streben der Unternehmensführung in Einklang gebracht werden kann mit den Interessen der anderen Beteiligten, der sogenannten Stakeholder, insbesondere mit denen der Beschäftigten.
Das Buch will kein allumfassender Ratgeber sein, die geschilderten Erkenntnisse sind authentisch und genuin, sie sind nicht die Anleitungen eines Coachs. Wer heute in der freien Wirtschaft Verantwortung übernimmt und Entscheidungen trifft, der muss sich die richtigen Strategien aneignen und einen auf sich rasch ändernde Situationen bezogenen Führungs- und Entscheidungsstil wählen. Er muss aus der schier unübersehbaren Fülle von Informationen in einem selektiven Prozess die richtigen Erkenntnisse gewinnen, Vertrauen schaffen nach innen und außen und Respekt vor der Kultur seines Gegenübers bekunden. Er muss mit Misserfolgen zurechtkommen, darf aber auch nicht vergessen, Erfolge gebührend zu feiern, weil sie Motivation für den weiteren Aufstieg schaffen.
Nicht alles, was in den folgenden Kapiteln zu lesen ist, eignet sich zum Nachahmen, und nicht alles ist immer ganz ernst gemeint. Mit Streifzügen durch bestimmte Vorkommnisse meines Managerlebens stellt das Buch einen Brückenschlag dar zwischen meinen eigenen Erfahrungen als langjährigem Chef eines Unternehmens mit fast 500 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einem intensiv erlebten internationalen Geschäftsgebaren. Es vermittelt aus eigenen Erlebnissen allgemeine Erkenntnisse, die vor allem auch für junge Manager von Nutzen sein können, und will einen Beitrag zu einer nach innen und außen wirkenden, lebendigen Unternehmenskultur leisten.
Als ich am 1. Oktober 1969 im Alter von 28 Jahren etwas aufgeregt, aber voll Optimismus das erste Mal das Hauptverwaltungsgebäude der Siemens AG in Erlangen als neuer Mitarbeiter der Rechtsabteilung betrat, war mein zukünftiger Vorgesetzter auf Dienstreise im Ausland und verhandelte über den Bau des schon bald umstrittenen, in Mosambik gelegenen Wasserkraftwerks Cabora Bassa. Also führte mich ein Kollege durch die Abteilung und stellte mich den anderen vor. Dabei wurde ich auch in der Steuerabteilung bekannt gemacht. Dort kam ich mit dem Abteilungsleiter ins Gespräch, der mir einen dezenten Tipp gab: »In der Sonne bräunt’s sich schneller.« Erst verstand ich nicht, was er mir damit sagen wollte, aber dann fiel bei mir der Groschen: In der Hauptverwaltung in München spielt die Musik – wer Karriere machen will, muss möglichst schnell in die Zentrale nach München überwechseln. In Erlangen würde man versauern. Den Rat habe ich nicht gleich befolgt. Aber nach einigen Jahren habe ich bemerkt, dass ich in einer Sackgasse gelandet war und ich mich nur mit einem radikalen Richtungswechsel befreien konnte. Doch dazu später.
Zugewiesen wurde mir ein Platz in einem sogenannten Wechselzimmer. Es wurde frei gehalten, falls der Chef aus München einmal zu einem seiner seltenen Besuche in die Erlanger Filiale kommen sollte. Mir fiel nicht gleich auf, dass das Zimmer mit relativ schönen Vorhängen ausgestattet war, was einem Anfänger wie mir nicht zustand.
Damals war es sogar so, dass die Arbeitsstühle im Großraum erst ab einem bestimmten Dienstrang mit Armlehnen versehen waren. Man erzählte sich, dass ein Kriegsversehrter, der nur einen Arm hatte und einen niedrigen Dienstrang aufwies, sogar mit einem Stuhl bedacht worden sein soll, der nur auf einer Seite eine Armlehne besaß. Das war vielleicht auch nur ein nicht besonders guter Scherz, aber die Vorgaben waren damals streng, und ich wurde nach einigen Wochen in ein anderes Zimmer umquartiert – ohne Vorhänge.
Wie groß der Respekt vor der Münchner Zentrale und den dortigen Chefs bei uns in der Erlanger Dependance war, habe ich erst später anhand eines fast kuriosen Vorfalls mitbekommen. Als einmal einer der ganz seltenen Anrufe vom Leiter der Rechtsabteilung aus München kam, der nach mir verlangte, lief mir meine fachlich beschlagene und um mich immer sehr bemühte Sekretärin, offenbar besorgt um meine Karriere, nach und rief vom Gang in die Toilette, ich solle schnell ins Sekretariat kommen und das Telefonat annehmen. Auch unter den Sekretärinnen gab es eine ausgeprägte Hierarchie, und die strenge und durchaus einflussreiche Dame in München hätte nicht lange auf der anderen Seite der Leitung auf Antwort gewartet.
Später wurde der Münchner Chef – er hatte auch das wichtige Amt des Justiziars und damit eine besondere Vertrauensstellung bei Vorstand und Aufsichtsrat inne – einer meiner wichtigsten Förderer und ganz am Ende seiner Tätigkeit, die ihn noch in den Aufsichtsrat der Siemens AG führte, ein echter Freund.
Ein Ritual, das die Sekretärinnen zu beachten hatten, bestand darin, bei der Herstellung von Telefonverbindungen zuerst den »Rangniedrigeren« in die Leitung zu nehmen und dann erst zum »Ranghöheren« durchzustellen. Zu den erfrischenden Erlebnissen zählte es – zugegebenermaßen erst Jahre später –, wenn ein leibhaftiger Bundeskanzler, gemeint ist Gerhard Schröder, selbst die Namenstaste an seinem Diensttelefon drückte und direkt im Sekretariat in München anrief. Beim ersten Mal, als das passierte, dachte meine Sekretärin noch, sie erlebe einen Fake-Anruf, und wollte gar nicht weiterverbinden. Diese Abwehrreaktion amüsierte den Bundeskanzler, er hatte sie wohl mit einer gewissen Freude an dem gelungenen Überraschungseffekt einkalkuliert.
Ich hatte dann das große Glück, dass gleich zu Anfang meiner Tätigkeit die ersten großen internationalen Projekte hereinkamen. Damit hatte ich zwar so gut wie keine Erfahrung, aber da ich aufgrund meiner Stellung in der Rechtsabteilung »formal« zuständig war und es noch nicht üblich war, die Verantwortung für komplizierte Rechtsfragen an teure externe Anwälte »auszulagern«, wie das heute bei vielen Themen der Fall ist, wurde ich gleich voll miteinbezogen.
Und dann wurde es spannend. Es ging um einen Riesenauftrag im Iran: den Bau von zwei Kernkraftwerken in Buschehr am Persischen Golf. Schah Mohammad Reza Pahlavi wollte unabhängig vom Öl und wohl auch unabhängiger von amerikanischen Einflüssen werden. Deshalb sollten nicht damals das Geschäft mit der Kernenergie noch dominierende US-Firmen, sondern die Deutschen, nämlich Siemens, zum Zuge kommen. Der Auftragswert belief sich einschließlich zugehöriger Dienstleistungen auf die Rekordsumme von 15 Milliarden DM. Später sollten noch vier weitere Kernkraftwerke gebaut werden. Auch darüber wurde ein paar Jahre danach verhandelt. Für die vier zusätzlichen Anlagen wären vielleicht noch einmal 20 Milliarden DM fällig geworden – unvorstellbare Größen, aber auch gewaltige Risiken.
Dabei sind nicht die Einzelheiten der Projekte interessant, sondern die grundsätzliche Taktik und Strategie, also die Elemente einer Verhandlung, die meines Erachtens eine gewisse allgemeine Gültigkeit haben.
Unser Kernteam bestand nur aus drei Personen: einem Techniker, einem Kaufmann und mir als Juristen. Nachdem der allseits beliebte und höchst kompetente Kaufmann einen Herzinfarkt erlitten hatte und plötzlich verstarb, waren wir nur noch zu zweit. Auch das Team auf der Gegenseite war im Übrigen bei den Endverhandlungen nicht größer. Warum waren wir nach immerhin etwas mehr als eineinhalb Jahren intensiver Diskussion letzten Endes erfolgreich?
Wir hatten durch unsere technische Kompetenz überzeugt. In den Verhandlungen in Teheran wurden tagsüber schwierige Fragen zu speziellen technischen Sachverhalten gestellt, die mein Partner nicht gleich beantworten konnte. Sie mussten an die zuständigen Fachabteilungen weitergereicht werden. Aber am nächsten Morgen hatte er alle Antworten parat. Die Fragen wurden nämlich noch am späten Nachmittag per Fernschreiber – die gab es damals noch als wichtiges Kommunikationsmittel – nach Deutschland übermittelt, wo die Mannschaft aufgrund der Zeitdifferenz genügend Zeit hatte, die Themen aufzuarbeiten. Die Iraner betrachteten diese erstaunliche Schnelligkeit, verbunden mit großer Sachkenntnis, als deutsche Perfektion und waren tief beeindruckt.
Wir waren außerdem absolut ehrlich und um totale Glaubwürdigkeit bemüht. Das war aber nicht einfach durchzuhalten, weil es die andere Seite mit der Wahrheit nicht immer so genau nahm, wie sie das von uns erwartete.
Doch wir blieben unserer Linie treu. Wir haben uns auch nie mit minderwertigen technischen Lösungen aus der Affäre gezogen, um etwa Kosten einzusparen. Unser Kunde gewann immer mehr Vertrauen in die deutsche Spitzentechnik. Einer seiner Berater – er kam aus Argentinien und war ein in nuklearen Fragen erfahrener Mann, ein ausgesprochener Experte – sagte einmal zu seinen Auftraggebern, sogar in unserem Beisein: »Wenn Sie bei den Deutschen und bei Siemens kaufen, dann ist das zwar teuer, aber Sie bekommen dann auch einen Rolls-Royce.« Was offenbar das Beste war, was er sich vorstellen konnte.
Nun sind Kernkraftwerke vielleicht ein besonderer Fall. Technische Schwächen kann man sich dort noch weniger leisten als anderswo. Aber es ist ganz allgemein ein kluges Rezept, nicht zu tricksen. Wenn man langfristig zusammenarbeiten will, geht man besser keine technischen Kompromisse zum Nachteil des Kunden ein. Sicherheit vor Wirtschaftlichkeit war die vom damaligen mit hohem Verantwortungsbewusstsein arbeitenden Vorstand der Siemens-Kraftwerkssparte ausgegebene Devise, wenn wir Kernkraftwerke im Auftrag hatten, und wir befolgten diese Vorgaben auf unserer Ebene vorbehaltlos.
Wir waren befugt, alle erforderlichen technischen und kaufmännischen Vereinbarungen zu treffen. Es gab keine einschränkenden Richtlinien. Nur beim Preis hatten wir einen begrenzten Verhandlungsspielraum.
Aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass diese weit gespannte Vollmacht für das Unternehmen gefährlich hätte sein können. Wir wurden wochenlang im Iran festgehalten. Es gab keinerlei Fortschritte in den täglichen Verhandlungen, weil sich der Kunde nicht bewegte und wir keine unbedachten Risiken eingehen wollten. Immer wieder ging es vorwärts und rückwärts um dieselben sehr wichtigen etwa zwanzig Vertragspunkte. Die Hinhaltetaktik hätte uns zermürben und zu Zugeständnissen verleiten können, die wir später bei der Abwicklung des Projekts noch bereut hätten.
Vieles, worum wir stritten, schien zum damaligen Zeitpunkt ohnehin ziemlich theoretisch zu sein. Der Schah saß vermeintlich fest im Sattel und verfügte vor allem nach der deutlichen Erhöhung der Ölpreise über genügend Geld, um auch kostspielige Projekte durchzuziehen.
Aber es kam bald ganz anders. Schon zweieinhalb Jahre nach der Vertragsunterzeichnung platzte mitten in die Abwicklung hinein die Iranische Revolution. Die Revolutionäre sorgten dafür, dass die Zahlungen eingestellt wurden, und der Bau der Kraftwerke wurde nach etwas mehr als der Hälfte der Fertigstellung abgebrochen. Vertragsklauseln, die zunächst von theoretischer Bedeutung erschienen, waren plötzlich lebenswichtig.
Am Ende waren es drei Punkte, die uns in den langwierigen Schiedsverfahren – man glaubt es kaum, sie dauerten fast 25 Jahre – zugutekamen. Wir hatten ein klar formuliertes Kündigungsrecht, wenn der Kunde mit Zahlungen in Rückstand geriet. Wir kamen zwar um die Anwendung iranischen Rechts auf den Vertrag nicht umhin. Aber es gab eine Bestimmung im Vertrag, dass die getroffenen Regelungen abschließend waren. Damit war der Rückgriff auf das für uns unübersichtliche iranische Recht – wir hatten immer die Scharia vor Augen – ausgeschlossen. Und schließlich hatten wir bei Streitigkeiten ein internationales Schiedsgericht nach den Regeln der Internationalen Handelskammer mit Sitz in Paris (ICC) durchsetzen können. Mit anderen Worten: Wir waren bei unserem langjährigen Rechtsstreit keinem vielleicht von übereifrigen Revolutionären beeinflussten islamischen Gericht ausgeliefert.
Als uns die Iraner später auf 15 Milliarden DM Schadenersatz verklagten, weil wir das Projekt abgebrochen hatten und es auch aufgrund internationalen Drucks nicht fortsetzen konnten, waren sie aufgrund der Rechtslage vor dem Schiedsgericht chancenlos. Die Klage wurde abgewiesen. Wir hatten für das Klagerisiko keine Rückstellung gebildet und auch keine Ad-hoc-Meldung zur Warnung wegen der erhobenen immensen Ansprüche an den Kapitalmarkt vorgenommen, weil wir unserer Sache absolut sicher waren – und das will angesichts der im Allgemeinen zu Kompromissen neigenden internationalen Schiedsgerichtsbarkeit etwas heißen. Heute wäre ein solcher Verzicht auf eine Ad-hoc-Meldung nur schwer vorstellbar.
Auch diese persönliche Erfahrung mit einer umfassenden Verhandlungsvollmacht hat mich später veranlasst, für eine klare Begrenzung der Befugnisse von Verhandlungsteams einzutreten, für »limits of authority«. Darin werden grundsätzliche Verhandlungslinien festgelegt, zum Beispiel u.a. zu Haftungsfragen und möglichen Schadenersatzansprüchen des Kunden wegen Schlechterfüllung des Vertrags. Wenn davon abgewichen werden soll, muss die Angelegenheit in der Hierarchie »nach oben« eskaliert werden.
Das schafft eine gewisse Sicherheit, dass in den Verhandlungen von manchmal »gierigen« Vertriebsleuten, die einen Vertragsabschluss um jeden Preis wollen, bestimmte Grenzen nicht überschritten werden. Außerdem bieten solche vorgegebenen Beschränkungen dem Verhandlungsteam die Möglichkeit, sich darauf zu berufen und Zugeständnisse abzulehnen, weil ihm diese nach den internen Regeln nicht erlaubt sind.
Mein Partner auf der technischen Seite war um einiges älter als ich und ein ausgesprochenes Verhandlungsgenie. Wir wurden von den Iranern in den langen Verhandlungen immer wieder mit völlig unannehmbaren Forderungen konfrontiert. Mein Kollege – er hatte den schönen Namen Killer, war aber ein durchaus friedlicher Mensch – konterte solche Ansinnen häufig mit dem Satz: »I agree with you a hundert percent.« Als ich ihn noch nicht so gut kannte und das zum ersten Mal hörte, versank ich als für den Vertrag letztlich verantwortlicher Jurist fast im Boden. Ich fürchtete um meinen Job. Und dann redete er weiter. Brachte Beispiele über Beispiele aus der Projektabwicklung, sein eigentlich ganz gutes Englisch wurde immer schlechter, alles Taktik. Aber der Kunde hörte weiter zu und hatte immer noch im Ohr die 100-prozentige Zustimmung, obwohl sich die Dinge in der Argumentation längst in eine völlig andere Richtung gedreht hatten.
Später habe ich im Unternehmen Seminare über Verhandlungstechnik besucht. Dort war einmal von einer sogenannten APO-Methode die Rede. Sie bedeutet, dass man zunächst einen Partner, auch wenn er mit noch so unsinnigen Forderungen aufwartet, nicht schroff zurückweist, sondern ihm zunächst einmal das Gefühl der persönlichen Akzeptanz vermittelt. Ihn also ernst nimmt und das auch zeigt. Im nächsten Schritt geht es dann darum, die Dinge zu problematisieren, vielleicht auch mit Fragen, um auf eine sanfte Weise zu zeigen, dass es so wie gefordert nicht gehen kann. Marco Killer hatte nie ein Seminar besucht. Er war einfach ein Naturgenie und für mich ein Lehrmeister.
Die Iraner liebten ihn geradezu und wollten nur mit ihm verhandeln. Als er einmal wegen einer schweren Krankheit für einige Zeit ausfiel und wir weitermachen wollten, sagte der iranische Verhandlungsführer zu mir: »If I have to make concessions, I will make it only to him.« Und wir mussten warten, bis er wieder gesund war. Erst dann ging’s weiter.
Natürlich bekamen wir von unseren Vorgesetzten immer wieder bestimmte Vorgaben für die Verhandlungen, die wir dann in Teheran aber nicht durchsetzen konnten. Also mussten wir vor Ort Zugeständnisse machen, die den Anweisungen zuwiderliefen.
Dafür prägten wir den Ausdruck des doppelten Bosporus-Effekts. Spätestens wenn wir auf dem Flug nach Teheran den Bosporus überquerten, mussten wir uns überlegen, wie wir die Auflagen, die wir in Deutschland erhalten hatten, beim Kunden vertreten konnten, ohne gleich aufzulaufen. Wenn das, wie so häufig, in Teheran dann nicht ganz gelungen war, mussten wir beim Heimflug, spätestens wenn wir wieder Istanbul überflogen, eine Strategie entwickeln, wie wir die Zugeständnisse, die wir gemacht hatten, zu Hause erklären und am besten als Erfolg verkaufen konnten.
Diese Vorgehensweise war für den reibungslosen Fortgang des Projekts wichtig und natürlich auch für unsere Karriere. Sie setzte selbstverständlich voraus, dass wir in Teheran verantwortungsbewusst und nicht unvernünftig vorgegangen waren, auch wenn die eingegangenen Kompromisse nicht ganz den Weisungen entsprachen. Instruktionen, die man von Menschen bekommt, die aus gut gemeinten Gründen zur Vorsicht mahnen, aber dem Kunden bei den Verhandlungen nicht in die Augen sehen müssen, sind erfahrungsgemäß häufig problematisch und auch nicht immer umsetzbar.
Allerdings sollte eine Schlussfolgerung zumindest bei risikoreichen Großprojekten darin bestehen, Projektakquisition und Ausführung in einer Hand zu belassen. Dass also diejenigen, die einen Auftrag hereingeholt haben, auch für dessen Abwicklung verantwortlich gemacht werden. Es dämpft die Risikofreude bei Vertragsverhandlungen ungemein, wenn man später selbst die Suppe auslöffeln muss, die man sich eingebrockt hat. Ganz abgesehen davon, dass bei komplexen Aufträgen Detailwissen der Projektverantwortlichen über Vertragsinhalte von Nutzen ist.
Bei den Diskussionen mit unserem iranischen Kunden lief keineswegs alles immer glatt und ohne Aufregung. Einmal traf es auch mich. Ich hatte offenbar gestresst und wahrscheinlich auch leicht verärgert eine nicht ganz passende Bemerkung zum Auftreten des iranischen Verhandlungsführers fallen lassen. Der nahm das zum Anlass, um eine ordentliche Show abzuziehen und mich als Chauvinisten zu bezeichnen. Er verlangte theatralisch, dass ich aus den weiteren Verhandlungen ausgeschlossen würde. Es wurde peinlich, ich musste umgehend den Raum verlassen.
Ein endgültiger Ausschluss wäre für meine weitere Karriere nicht gerade förderlich gewesen. Aber auch für das Verhandlungsteam hätte er einen ziemlichen Rückschlag bedeutet, denn man hätte jemanden in die komplexen Sachverhalte völlig neu einarbeiten müssen und viel wertvolle Zeit verloren. Außerdem stellt sich in solchen Fällen auch die Frage, ob man sich den Rauswurf eines Mitglieds des Teams gefallen lassen darf. Jeder, der sich für das Unternehmen in einem schwierigen Umfeld einsetzt, ist auf die Solidarität der Führung angewiesen. Das wird in Unternehmen genau beobachtet.
Es hieß also, sich zu bemühen, die Wogen wieder zu glätten und eine Rücknahme der Entscheidung zu erwirken. In meinem Fall hat mein Partner die Sache am nächsten Tag mit einem netten persönlichen Gespräch beim Kunden wieder eingerenkt. Die vermeintliche Empörung der Gegenseite war reine Verhandlungsstrategie. In der Folgezeit ging alles weiter, als ob nichts gewesen wäre. Ich hatte eigentlich zu dem Mann ein gutes Verhältnis, das u.a. daher rührte, dass ich einmal mit ihm an einem Abend eine Flasche Cognac ausgetrunken hatte – das war mit Iranern damals noch möglich –, was ihm am nächsten Tag milde ausgedrückt deutlich besser bekommen war als mir. Dieser »Sieg« hatte eine gewisse persönliche Verbundenheit etabliert.
So arbeiteten wir uns mühsam durch den Verhandlungsmarathon, bis wir endlich mit einem unterschriftsreifen Vertrag nach Deutschland zurückkehrten, der wenige Tage später mit großem Tamtam auch in Teheran von den obersten Chefs unterschrieben wurde. Das dicke Vertragswerk konnten diese natürlich nicht lesen. Aber die letzte Seite mit der Unterschrift schon.
Marco Killer und ich waren übrigens von den langwierigen Verhandlungen so erschöpft und über das Ergebnis so erleichtert, dass wir beide während der Unterschriftszeremonie bei den feierlichen Reden eingenickt sind. Das blieb glücklicherweise unbemerkt. Wir saßen unserem Dienstrang entsprechend in einer hinteren Reihe.
Als wir wieder zurück waren, wurden wir zum Vorstandsvorsitzenden gerufen und erhielten eine Erfolgsprämie von etwa zwei Monatsgehältern, was bei einem Auftragswert von deutlich über 10 Milliarden DM – es wurden später noch viel mehr, noch dazu mit guter Profitabilität – nicht gerade üppig war. Uns hat die Prämie auch wegen der damit ausgedrückten Anerkennung glücklich gemacht. Der nächste Familienurlaub war gesichert. Bei heute an Top-Boni gewöhnten Spitzenmanagern würde die von uns als nobel empfundene Geste wohl eher mit einem Lächeln quittiert werden.
Auf dem Weg zum beruflichen Erfolg gibt es Weichenstellungen und Stolpersteine, die man nicht immer gleich als solche erkennen kann. Manche Entwicklung kann man beeinflussen, manche beruht eher auf Zufall.
Zufall war es zum Beispiel, dass ich mit fünf oder sechs Jahren mit einem Schneeball einen damals als Untermieter unter sehr beengten Wohnverhältnissen im selben Haus lebenden Studenten mitten im Gesicht traf und dafür nicht ganz unberechtigt eine kräftige Ohrfeige kassierte.
Dreißig Jahre später erinnerte sich der zum angesehenen Vorstandsvorsitzenden der Kraftwerk Union (KWU) aufgestiegene ehemalige Student an den kleinen frechen Buben und förderte dessen Karriere, wie man hoffentlich annehmen darf, nicht nur aus schlechtem Gewissen. Die KWU war die Tochtergesellschaft von Siemens, die auf der ganzen Welt Kraftwerke baute, darunter auch die besten und sichersten Kernkraftwerke der Welt, ein großartiges Unternehmen mit herausragenden Technologien und exzellenten Ingenieuren. Leider mit einem für das Exportgeschäft nicht immer ganz förderlichen Namen. Bei der Gründung als Gemeinschaftsunternehmen mit der AEG hatte man offensichtlich unberücksichtigt gelassen, dass das Wort »Union« im englisch/ amerikanischen Sprachgebrauch mit »Gewerkschaft« gleichzusetzen ist. Das hat beim Auftreten der KWU im internationalen Umfeld zu einigen Irritationen geführt, vor allem als in den USA Turbinen verkauft werden sollten. Die heute bei neu formierten Unternehmen immer wieder anzutreffenden Kunstnamen sind zwar oft weniger einprägsam, aber besser geprüft, um solche negativen Effekte auszuschließen.