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Harald Hartung zählt zu den wenigen wirklich maßgeblichen Lyrik-Kritikern des Landes. Hier sind seine Rezensionen der letzten dreißig Jahre versammelt. Welcher Liebhaber von Lyrik wünscht sich nicht ein kritisches Kompendium, das ihm einen Überblick über die wichtigsten Gedichtbücher, die wichtigsten Strömungen der aktuellen deutschen und internationalen Lyrik gibt? Hier ist es. Harald Hartung, Autor bedeutender Lyrikbände, ist zugleich einer unserer wichtigsten Literaturkritiker. In »Die Launen der Poesie" erscheinen jetzt seine Aufsätze und Kritiken zu Gedichtbänden von H.G. Adler, Adonis und John Ashberry bis Peter Waterhouse, Wolf Wondraschek und Adam Zagajewski, die er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und für die Zeitschrift Merkur schrieb. Was für den Tag bestimmt schien, hat sich in seiner Frische und Intelligenz erhalten und wird in Buchform in seiner ganzen Komplexität sichtbar. Hartung ist ein leidenschaftlicher Verteidiger einer Poesie der genauen Form. Sein Gefühl für die Qualität von Poesie ist unbestechlich. Er zeigt an Beispielen auf, was die Zeit überdauert. Von Mätzchen ist er nicht zu beeindrucken, von Tricks nicht zu blenden. Seine Urteile sind differenziert und zugleich entschieden. Hartung spricht von Poesie anschaulich und unterhaltsam. Oder mit Heinrich Detering zu reden, der für diesen Band ein fasziniertes und faszinierendes Nachwort schrieb: »Hartung ist einer der gelehrtesten Kenner, der scharfsinnigsten Analytiker und souveränsten Vermittler lyrischer Weltliteratur, die wir haben."
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Herausgegeben von derAkademie der Wissenschaftenund der Literatur • MainzKlasse der Literatur
Deutsche undinternationale Lyrik seit 1980
Herausgegeben vonHeinrich Detering
Fünf neue Lyriker:Peter Waterhouse, Barbara Maria Kloos,Sabine Techel, Hans-Ulrich Treichel, Richard Wagner
»Guten Tag Kunst: So muß man beginnen.« So beginnt einer der Lyriker, von denen die Rede sein soll, ein Gedicht und liefert gleich die Begründung: »Warum? Im Grüßen / bleiben die Übergänge sichtbar.« Gilt diese lyrische Maxime auch für die Kritik, für den Kritiker? Beim Grüßen sollte er es nicht belassen – aber daß die Übergänge sichtbar bleiben, ist für die Scheidekunst, als die Kritik sich versteht, von Bedeutung.
Dennoch: Guten Tag, Kunst. Die Zeiten für Gedichte scheinen nicht schlecht. Die Lyriker dürfen wieder Dichter heißen; mag ihnen selbst auch nicht ganz wohl dabei sein. Die Verleger verlegen immer noch (oder wieder) Lyrik. Es gibt sogar Käufer, die kaufen. Gibt es auch Leser? Es gibt Hörer, die in die Lyriklesungen kommen. Nicht alles, was gekauft wird, wird auch gelesen. Doch das gilt anderswo auch. Vielleicht sind die Käufer der schmalen Gedichtbände noch die intensiveren Leser, während manch einer den neuen Grass oder Handke bloß anliest, um mitreden zu können.
Guten Tag: Kritik. Es wird ja nicht nur gedichtet, verlegt, gekauft und gelesen, es wird auch besprochen. Besprechen, Besprochenwerden! Das klingt wie Zauber und ist es vielleicht auch. Ob gut oder böse, kein Autor mag ihn missen. Den Romanautor tröstet vielleicht noch der Verkaufserfolg über schlechte oder schlimmer: ausbleibende Rezensionen. Dem Lyriker bleibt oft nur der rezensierende Kollege: Lyrikkritik als Freundschaftskartell. Doch waren die Zeiten schon schlechter, war Lyrikkritik oft konventikelhaft. Gegenwärtig haben auch Debütanten die Chance, in den großen Organen rezensiert zu werden; und gar von den führenden Kritikern, die sich lange Jahre lieber an die Novitäten der Epik hielten. Ist die Lyrik inzwischen soviel interessanter geworden? Oder rückte die Figur des Dichters, der Dichterin in den Blick – der Lebensroman in Gedichten. Human interest gibt der Lyrik Auftrieb, der Lyriker wurde porträtwürdig. Doch was ist mit dem Gedicht?
Es wird besprochen, gelesen, verkauft, verlegt, doch zu allererst gemacht. Dieses Machen, dieses Gemachte des Gedichts wird gegenwärtig kaum befragt. Soll heißen: es gibt keine aktuelle Theorie des Gedichts. Die Lyriker, möchte man sagen, pfeifen auf Theorie. Doch nein, sie pfeifen nicht einmal mehr darauf. Denn auch die Lust an der Theorielosigkeit, die sich durch Provokation oder Argument rechtfertigte, ist schon wieder vergangen. »Man muß vergessen, daß es so etwas wie Kunst gibt! Und einfach anfangen« – das war schon 1968 ein (un)frommer Wunsch. Immerhin konnte Rolf Dieter Brinkmann mit dieser Prämisse etwas anfangen, indem er aus US-Import-Pop und persönlicher Aggressivität seine Lyrik mischte. Das Verdrängte kehrte wieder, aber die abgerissene Tradition präsentiert sich nun als Warenhaus. Der Slogan wäre fällig: »Man muß einsehen, daß es einen Haufen Tradition gibt! Und sich einfach bedienen.« 1979, beim Zweiten Bielefelder Colloquium Neue Poesie, formulierte einer der Teilnehmer: »Machen können wir alles. Also was machen wir?«
War das ein Plädoyer für die offene Literatur oder der Ausdruck von Ratlosigkeit? Aufruf zur bricolage oder der Zweifel an der Machbarkeit überhaupt? Und wenn jeweils beides im Spiel war – sind wir dann aus der Epoche der Aporien in ein Posthistoire eingetreten, in dem alle Ambivalenzen bunt sind und doch grau? Halten wir uns an die Übergänge und sagen nicht gleich: Guten Tag, Theorie. Sprechen wir über einige Autoren, die 1986 ihren ersten oder zweiten Lyrikband veröffentlicht haben. Die Auswahl ist begrenzt, doch nicht ganz zufällig: der Dilettantismus der Verständigungstexte, die evidente lyrische Konvention blieben draußen. Entsteht ein Gedicht oder wird es gemacht? Eine alte und unlösbare Frage. Damit aber ein Gedicht entsteht, muß es gemacht werden. Die Machart läßt sich ablesen. Worauf konzentrieren sich diese Lyriker? Wie sammeln sie das Zerstreute?
»Passim« (lat.): »zerstreut, rings umher, überallhin«, aber auch »durcheinander, ohne Unterschied.« Passim ist der Titel des zweiten Gedichtbandes von Peter Waterhouse, der 1956 in Berlin geboren wurde, in Wien und Los Angeles studierte, eine Dissertation über Paul Celan schrieb und gegenwärtig in Wien lebt. Sein Gedichtband teilt davon nichts mit, die üblichen Klappentextangaben fehlen, Biographisches bleibt ausgespart – auch im lyrischen Text: »Ein nüchterner Selbstrest trägt Krawatte«, heißt es. Oder: »Wer muß ich unter dem Pullover sein, der jetzt blau ist?« Und bei der scherzhaften Frage »Warum macht die Sonne meine Nase rot?« verweist ein Sternchen auf die Anmerkung: »* Autobiographisch« – selbst das vermutlich eine falsche Spur. Was besagt schon eine gerötete Nase?
Daß ein junger Lyriker so ostentativ auf die Ausbeutung seines biographischen Fundus verzichtet, ist für sich schon bemerkenswert genug. Aber das heißt nicht, daß Waterhouse so etwas wie persönlicher Ton und jugendlicher Charme fehlten. Er gibt sich auf freilich vertrackte Weise kommunikativ, munter, aufgeräumt. Er ist immerhin derjenige, der sein Metier apostrophiert »Guten Tag Kunst« und der sich und seinesgleichen als »begrüßenswerte Künstler des Spaziergangs« bezeichnet: »Spaziergang als Himmelskunst«. Ein junger Heißenbüttel, aber mit der Attitüde eines methodischen Luftikus. Seine Exerzitien machen ihm augenscheinlich Spaß, und der trägt den Leser auch über die Strecken methodischen Leerlaufs hinweg, die bei Waterhouse nicht fehlen.
»Wo sind wir jetzt?« fragt der erste Teil von Passim. Hier gibt der Autor seine Prämissen bekannt. »Der Name der Sprache heißt: Abwesenheit!«, »Die Sprache heißt heute: Keiner« – aber auch: »Alles klingt schwierig / es ist alles nicht schwierig.« Also Negativität und Anonymität als Voraussetzungen des Sprachspiels. Es ist tatsächlich Spiel und kein stures Exerzieren. Waterhouse verzichtet auf Dogmatisches, auf eindeutige Thesen. Er liebt Zweifel, Ambivalenz; jene »Übergänge«, die »im Grüßen« sichtbar bleiben: »Es gibt nur Übergänge, die gute Welt ist ein einziges Sagen: / Guten Tag.« Die gute Welt, sagt er; ist die Welt gut? Waterhouse hat Wittgensteins Sprachskepsis in eine Heiterkeit à la Arp gewendet. Die »gute Welt« kann er freilich nur sagen, weil soviel Welt draußen bleibt: »Wollte ich etwas sagen? Nein.«
Dennoch entscheiden nicht poetologische Prämissen über die Qualität von Texten, sondern ihre Komplexität, die alle Vorgaben übersteigt. Oder mit einem von Waterhouse’ Titeln: »Konstruktives Verfahren und süße Bestimmung«, der Charme der Fügungen und gleitenden Assoziationen, die Evokation heiterer irrealer Welten. Die Texte sind künstliche Objekte, besser: künstliche Abläufe, mit all ihren Tricks und Überraschungen. Waterhouse beginnt gern mit Setzungen, denen man ihre Beliebigkeit, ihren Charakter als Gag durchaus ansieht:
Wir beginnen manchmal so: Sessel.
Sessel.
Bald macht der Beginn einen weiten Sprung, der Sprung
lautet wörtlich:
Bitte nehmen Sie Platz auf dem Sessel.
Das ist auch der Platz des Lesers, freilich ein unsicherer, nicht geheuerer. Der Anfang wird hin und her gewendet, befragt, fallengelassen und wieder aufgenommen. Der anfangs gesetzte Wort-Gegenstand wird verwandelt oder in seiner Identität so lang apostrophiert, bis es zu emphatischen Tautologien kommt. »Im Grunde / ist jetzt alles gesagt«, heißt es einmal ziemlich zu Beginn; und natürlich demonstriert Waterhouse im Folgenden, was alles noch gesagt werden kann: »mit so wenig ist noch keiner ausgekommen, die Preisrede ist unser bestes / alles wird mitgerissen, wir sind hingerissen, das geht so fort.« Die Texte führen selber ihre Verfahrensweise vor, kommentieren sie, ja sind manchmal nur Kommentare zu Gedichten, die in den Texten stecken. Gedichte über Gedichte – oder mit dem Wort Oskar Pastiors »Gedichtgedichte«.
Die lyrischen Texte in Passim sind worthaltig, nicht welthaltig. Celan hatte einst geschrieben: »Blume – ein Blindenwort.« Waterhouse respondiert: »Glauben Sie mir das Wort Blume?« Das Wort glauben wir ihm wohl, auch seine anderen schön und witzig verstreuten Wörter und künstlichen Sätze. Nur an wenigen Stellen, so scheint mir, tritt Waterhouse für einen Moment aus seiner linguistischen Innenwelt heraus, geht er, so der Titel eines Gedichts, »Ins Innere hinaus«: »Die Welt öffnet vielleicht die Augen. / Welche Augen? Die geliebten.« Ich respektiere, daß Waterhouse vor dem Affirmativen zurückscheut, daß er – noch – beim Disparaten der Wörter verharrt. »Passim« heißt ja auch »durcheinander, ohne Unterschied«. Er hat noch einiges vor sich: das Unterscheiden und das Zusammensehen: »Denk mich zusammen / du Sagmirein, Schweigenhaus Stadtpartikel, Erschießungstrupp Tür / Nichtgesagtstraßekeinwort, Hierfließtmeingutersinn / komm du Narr.«
Barbara Maria Kloos, 1958 in Darmstadt geboren, kommt uns mit ihrem lyrischen Debüt Solo, aber mit der Attitüde der Provokation – das lyrische Ich gegen die ganze Welt: »Kein Cäsar / Um mich kein Heer / Ich bin Marke / Solitär«, so lautet ihr Motto. Was sie uns mitzuteilen hat, geht in ihren Gedichten offensichtlich nicht völlig auf, sondern benötigt (nach berühmten Vorbildern) eine Anleitung, eine Gebrauchsanweisung unter dem Rubrum »Gefühl & Härte«. Da rechnet sie mit aller zahmen Lyrik ab: »Die meisten Gedichte tun so, als hätten sie nichts zu sagen. In falschem Schamgefühl vor dem Handlungsreichtum der Prosa, vor dem munteren Treiben in Erzählungen und Romanen geben diese Gedichte in jeder Zeile nur eine einzige Information: Ich weiß, daß ich nichts weiß.« Und dann sagt sie, was sie vom Gedicht verlangt: »Ins Gedicht gehört Handlung, Handlung und nochmals Handlung. Da muß tatsächlich mehr los sein, als sich in Form von Schweißtropfen zwischen dem linken und rechten Ohr des melancholischen Grüblers abspielt … Nur durch die weitgehende Disziplinierung der modernen Lyrikerin und durch den geschickten Aufbau einer spannenden Story im Taschenformat, die so schnell begriffen werden kann wie die Waschmittelwerbung, sind noch jene ordinären und extraordinären Gemütszustände zu erzeugen, die wir ›lyrisch‹ zu nennen pflegen.«
Ein Programm, gewiß. Etwas zwischen Brecht, Kästner und Pop-art. Doch man verkennt es, wenn man die (Selbst?)Ironie nicht abrechnet, und die ist – trotz »Gefühl & Härte« – nicht zu übersehen. Benn sprach gern davon, daß Lyriker ihre Lyrik »starten«. Barbara Maria Kloos »startet« also so etwas wie eine grobe, grob-sinnliche Lyrik. Etwa mit »Münchner Honeymoon«:
Himmel, hat der Halbmond
einen Ständer! Die Sterne
reiben sich in Scharen
an seinem gelben Schwanz.
Ich glaub, heut hat der
Sommer Schnaps gesoffen.
Die heiße Nacht nimmt mich
von hinten: voll und ganz!
Die Provokation – aber was ist das heute? – mag darin liegen, daß eine Frau obszöne Motive wagt und, so scheint mir, auch das Mißverständnis und Mißverstandenwerden nicht scheut. Durch Grobheit sucht sie die Gedichtsprache aufzurauhen und durch den Wechsel von Plumpheit und Raffinesse, Zartheit und Aggression den Leser zu fesseln. Liebes- und Ehethemen gelingen ihr am besten, was schon die sprechenden Überschriften zeigen: »Knutschfleck, katholisch«, »Eheszenen oder Wissen Sie, was Ihre Frau treibt?«, »EheEpigramm, zärtlich«, »Damenwahl«, »LiebesGewitter« usw. Gebrauchslyrik, die von Sprachzweifel nicht angekränkelt ist, und so nimmt man der Autorin auch den Zweifel an der Identität nicht ab: »Ich stecke nicht in meiner Haut.« Das Gegenteil ist der Fall: Barbara Maria Kloos scheint sich sehr wohl in ihr zu fühlen.
Das tut Sabine Techel offenbar nicht. Weder setzt sie ihre Subjektivität ungeniert ein, noch eliminiert sie methodisch das autobiographische Moment; sie wirkt vielmehr unentschieden in Haltung, Stimmung und Ausdruck ihrer Gedichte. Etwas davon verrät schon der Titel ihres Erstlings Es kündigt sich an. Was ist dieses »es«, das sich da ankündigt? Das Titelgedicht scheint auf etwas Apokalyptisches hinzudeuten – aber das ist für Sabine Techel schon zu schwer, zu deutlich. Sie muß »es« zurücknehmen, relativieren: »es ist jetzt Zeit für kalte Hände / was nicht schlimm ist wenn man immer welche hat / und was schlimm ist will auch gelernt sein.« Aber was ist »schlimm«? Wir erfahren es nicht. Es war wohl die falsche Frage. Sabine Techel liegt wohl eher das Halbschlimme, das Kleinformat, die tägliche Groteske.
Und dergleichen gelingt ihr auch, wo sie sich zu boshafter Kürze entschließt. Und da ist dann auch ein Ich präsent: »Ach ich, gierig / nach einem gierigen Mann / den ich vom Sessel kalt lächelnd / bestaunen kann.« Doch was ist, wenn dies Gegenüber fehlt, wenn ihr kaltes Staunen keinen lebensvollen Widerpart findet? Dann gibt es verquollene Reflexionen, gehäufte Voraussetzungen und Vorbehalte, und das Bewußtsein der Spaltung wirkt eigentümlich diffus – was spaltet sich da eigentlich, wenn es heißt: »meine bleiche Hälfte präsent meine andere / hinter dem Fenster zu meiner Verfügung / flexibel disponibel mobil à discrétion.« Man bediene sich! Und wenn das Gedicht auch heißt »Zum sofortigen Verbrauch bestimmt« – die Ironie oder Selbstironie rettet es nicht. Wie prägnant dagegen formulierte Karin Kiwus den »Sprung« im Ich in ihrem Band Von beiden Seiten der Gegenwart (1976): »Zu zweit kam ich / am anderen Ufer an.«
Auch sonst erinnern einige Texte in Ton und Zeilenfall an Karin Kiwus, andere an Hans Arp, Sarah Kirsch und Erich Fried. »Wer schlägt dem Kasper jetzt die Fritten tot?« wird à la Arp gefragt und geklagt: »Weh unser armer Udo ist tot.« Zwar heißt ein Gedicht »Ein theoretischer Ansatz«, doch ist es praktisch ganz auf Sarah Kirsch gestimmt: »Ach mein Liebster will den Frühling holn.« – Bloße Imitation? Dafür ist zu viel Intelligenz im Spiel, zu viel Kenntnis und Sprachgefühl. Man könnte bei etlichen ihrer Gedichte von Pastiches sprechen, von Nachahmungen als Huldigung, von Exerzitien zur Erlangung eines eigenen Stils (berühmtes Exempel: Prousts Pastiches et mélanges). Also sagen, was sagbar ist, was andere gesagt haben. Aufs Unsagbare verzichten oder diesen Verzicht formulieren nach dem Vorgang anderer. Ein Gedicht wie »Unsägliches« freilich zielt nicht auf Rilke, sondern auf Erich Fried: »Wenn du doch hier wärst / daß ich dir sagen könnte / daß ich nicht sagen kann / was ich nicht sagen kann.« Sabine Techel hat ein Gespür dafür, daß hier das Wichtigste des Gedichts liegen könnte.
Vorerst und wenn sie sich nicht in konturloser Reflexion verliert, sagt sie, was sie sagen kann, was sie deutlich im Sinn hat oder was sich als lyrische Formel anbietet. Sie kennt das Musterbuch der Moderne, hat aber im Bric-à-brac der Möglichkeiten ihre eigene Nuance noch nicht gefunden. An Skepsis und Ironie fehlt es ihr nicht: »Guter Wille ist lächerlich und okay.« Und dennoch sieht sie sich auf ihre guten – wenn auch ironisch gebrochenen – Vorsätze verwiesen: »Ich weiß ich hätte nicht / und sollte doch. Ich müßte endlich. Überhaupt ich / würde schon noch. Und ich werde auch.«
So unfertig Sabine Techel, so fertig scheint Hans-Ulrich Treichel. Begabung ist nicht das Problem, Begabung hat man. Doch man begreift auch, wie wenig damit gewonnen ist. Treichels Liebe Not muß woanders liegen. Hans-Ulrich Treichel (Jahrgang 1952) ist kein Anfänger mehr. Sein 1982 erschienener erster Band Tarantella erregte Aufmerksamkeit; in Darmstadt gewann Treichel den Leonce- und-Lena-Preis 1985. Vorbilder (zwischen Brecht und Ulla Hahn) lassen sich auch bei ihm ausmachen, sind aber dem Einzelgedicht und dem Ganzen der Sammlung integriert. Dem lyrischen Ich stehen eine skeptische Munterkeit und eine zarte Melancholie zur Verfügung. Ihm fehlt es nicht an Selbstgefühl: »Ich bin es, immerhin, der hier / auf diesem gutgeleimten Stuhl den / viel zu langen Tag verbringt und / schlechtgereimte Lieder pfeift.«
Treichel geriert sich als Bruder Lustig, dem auch die Melancholie zur Verfügung steht, denn der Text endet: »ich bins, der wie ein Ziegelstein / durch diesen Fluß geschwommen.« Er ist der Virtuose unter den jungen Lyrikern und weiß seine Gedanken und Gefühle auf schöne böse Formeln zu bringen. Er spielt mit dem Reim Verstecken und Wiederfinden:
Wach auf und schrei
Dir die Nacht aus dem Leib
Geh und verzeih mir
Vergiß mich und bleib.
Wie schön der Gestus der Bitte im Bruch zwischen Reimwort (»verzeih«) und dem nachfolgenden »mir« ausgedrückt ist. Freilich ist es das Problem solcher Kunstgriffe, daß man sie nicht zu oft wiederholen kann. Leicht entsteht der Eindruck von Manier. Der Stuhl von Treichels Poesie ist dann doch zu gut geleimt, Ironie wird kokett.
Treichel nimmt dadurch für sich ein, daß er Betroffenheitsjargon und gängiges Apokalypse-Design verschmäht. »der Andrang / ist riesig, hier wimmelt es nur / so von Leuten wie Ihnen, bei gleicher / Verzweiflung entscheidet die Angst« – das könnte einigen Kollegen ins Stammbuch geschrieben sein. Auch für Treichel ist – wie für Benn – Kunst das Gegenteil von gut gemeint. Die Liebe (im Titel seines Bandes) glaube ich ihm; doch die Not ist ihm oft so lieb, daß sie in der »frischgereimten Wollust« seiner Gedichte verschwindet.
Darf man einem Lyriker wünschen, daß seine Verse aus Not entstehen? Ich weiß es nicht. Doch den Gedichten des Rumäniendeutschen Richard Wagner kommt zugute, daß ihm seine Biographie den Lebensstoff eher aufdrängt als vorenthält. Rostregen, Wagners erster Band in der Bundesrepublik, enthält nur karge Angaben: daß der Autor 1952 in Lowrin (Kreis Temesch) geboren wurde, bis 1978 Deutschlehrer war und nun in Temeswar lebt; und daß er zwischen 1973 und 1984 in Bukarest sieben Titel Lyrik und Prosa veröffentlichte. Um so mehr verraten die Gedichte selbst. Sie sprechen von den politischen Verhältnissen wie von den Bedingungen, unter denen geschrieben wird.
Am besten ist Wagner, wo er ganz allgemein oder ganz persönlich schreibt. Was so allgemein »Gegend« genannt wird, wird zur Chiffre einer Welt:
Flach. Und darüber Eisen.
Ganz flach. Und darüber sehr viel Eisen.
Als seis ein Himmel. Ein Himmel aus Eisen.
Gegend. Und darin nichts. Als diese Schlote.
Und diese Leute. Und diese Straßen. Und diese
Autos. Und diese Häuser. Und diese Fotos.
Diese nichtssagenden, mickrigen Fotos.
Diese Familien. Diese Familienfotos.
Diese Zeitungen. Dieses Leben. Diese
Sprache. Dieser Staat.
Eisen. Flach. Ganz flach.
Darunter. Wir.
Ein primitives Bild, eine simple Struktur. Doch im Summarischen, Pauschalen setzt sich ein persönlicher Gestus durch, haßerfüllt und verzweifelt, aufbegehrend und resignativ-ambivalent, aber kraftvoll. Man spürt, hier ist keine Distanz – außer in der Form, im Gedicht. Wo Wagner mehr Abstand hat oder – aus welchen Gründen immer – die direkte Benennung scheut, kommt er zu billigen Allegorien. So in »Park am Morgen«: »Die eisernen Bänke sind leer. / Drüben, hinter nachtgrüner Wand, / die Villen. Treppen zur Macht. / In den Türen das herrschende Nichts.« Der politische Gedanke wird auf eine pseudometaphysische Pointe reduziert.
Sicher fühlt er sich im Biographisch-Konkreten, im Rückgriff auf Kindheitserinnerungen, in der Rekapitulation von Familiengeschichte und im Ausdruck der momentanen Lebens- und Schreibsituation. So gelingt ihm »Die Unterredung« (mit einem Funktionär) oder die Schilderung einer Situation, in der der Schreibende in Depression und Angst versinkt (»Es gibt Tage wie Schlamm«) und auf das Läuten der Türglocke wartet und auf die Männer in den »Wagen mit den zwei Antennen«:
Irgendwann kommen sie.
Und sie sind so höflich, daß ihre Höflichkeit nichts als
Ironie ist.
Und wenn sie kommen, kennen sie die Gedichte,
die du im Freundeskreis gelesen hast.
In diesen Texten kommt Wagner ohne modernistische Tricks und Mätzchen aus, die er Brinkmann und andern abgeguckt hat, ohne funktionslose Wort- und Zeilenbrüche, ohne Zitierung von Popsongs und falschen Bedeutsamkeiten (»Talkin’ ’bout my generation«). In anderen Texten, insbesondere einigen Langgedichten, wirkt die Adaption modernistischer Muster forciert. Wagners Gedicht ist nicht provinziell, es wäre es noch weniger, wenn es seine Weltläufigkeit nicht zur Schau stellen müßte. Jemand schrieb, man merke Wagners Gedichten ihre Entstehung in der kulturellen Diaspora Rumäniens nicht an und sie könnten – außer in der rumäniendeutschen Neuen Literatur – ebenso gut in den Manuskripten oder Akzenten stehen. Das war als Lob gemeint, aber es ist ein zweischneidiges Lob.
Wagner, der unzweifelhaft eine beachtliche Begabung ist, wird das Seine gegen die Allverfügbarkeit moderner Schreibweisen zu verteidigen haben. In dem Gedicht »Lesung« spricht »Celan vom Band«, und der Schluß lautet: »In diesen Sätzen. / Bin ich. / Eingemauert. / In dieser Sprache. / Muß ich. / Reden.« Wer spricht, Celan oder Wagner? Oder Wagner wie Celan? Wer sich in Sätzen eingemauert weiß, kann sich auch befreien.
Gibt es, von Waterhouse zu Wagner, so etwas wie ein Resümee? Der eine schreibt »Die Sprache heißt heute: Keiner«, und doch steht hinter den Sprachspielen Biographie – und wäre sie nur im Namen Waterhouse und im Geburtsort Berlin zu fassen. Bei Wagner heißt es einmal: »Was Sprache war, ist Wunde«. Das meint die Verletzung durch Wirklichkeit. Doch ließe sich der Satz auch umkehren: Was Wunde war, wird Sprache – wenn es auch noch nicht die eigene sein sollte. Sie übersteigt die Biographie und die politischen Verhältnisse.
Waterhouse spricht vom Zerstreuten, dem Überallhin, auch Durcheinander von Sprache – eben von Passim. Wagner redet aus der Zerstreuung einer sprachlichen Minorität, aus der Diaspora, ins Museum der modernen Poesie. Berühren sich die Extreme? Sind es überhaupt welche? Sind es noch Optionen oder schon Zwänge? Sind es Nötigungen, die ins Freie führen? Daß man auf diese Fragen kommt, sichert den beiden ein besonderes Interesse. Was aber nichts gegen oder für die Qualität der anderen beweist. Sie stehen – biographisch, poetologisch, methodisch – dazwischen. Aber das Dazwischen ist noch keine Mitte. Auch sie sind nicht zu Haus, weder in der Sprache noch in der Realität. Sie spielen aus, über was sie verfügen – ein solitäres Ich (Kloos), ein disponibles (Techel), ein virtuoses (Treichel) –, und ihre Optionen wirken noch nicht so entschieden. Das kann auch eine Chance sein. Insgesamt haben wir weder neue Priester vor uns noch neue Präzeptoren, sondern Animateure, Jokulatoren, Skeptiker.
Gern und nicht zu Unrecht beklagt man den Traditionsverlust in der jungen Literatur; viele Anfänger kennen weder Klassik noch Moderne. Ganz anders die hier besprochenen Lyriker. Sie wissen viel und können manches. Sie laborieren eher an Versiertheit denn an Ungeschicklichkeit. Sie verfügen über die Muster und kombinieren das Disparate. Was aber ist mit der Integration der Ambivalenz, von der Benn so gern sprach? Was mit dem vollkommenen Gedicht? Denn »wenn der Mann danach ist« – so Benn –, »dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikosch-Witz und das Ganze ist doch ein Gedicht.« Aber wann ist der Mann danach (oder die Frau)? Das weiß man, spürt es. Doch auch der Rezensent kann es nicht begründen.
Peter Waterhouse: Passim. Rowohlt: Reinbek 1986.
Barbara Maria Kloos: Solo. Piper: München 1986.
Sabine Techel: Es kündigt sich an. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1986.
Hans-Ulrich Treichel: Liebe Not. Suhrkamp: Frankfurt am Main 1986.
Richard Wagner: Rostregen. Luchterhand: Neuwied 1986.
Lars Gustafsson: Die Stille der Welt vor Bach
1967 erschien, übersetzt von Hans Magnus Enzensberger, Lars Gustafssons Gedichtband Die Maschinen. Eine Versicherungsgesellschaft hatte damals die Herausgabe ermöglicht. Soll heißen: der Autor Gustafsson – Philosoph, Erzähler, Kritiker und Lyriker – war hierzulande ein Geheimtip und blieb es auf Jahre. Erst die erzählerischen Arbeiten, angefangen mit Herr Gustafsson persönlich, machten den Autor als ebenso anregenden wie amüsanten Analytiker der siebziger Jahre bekannt. Die Risse in der Mauer – so der Obertitel der fünfbändigen epischen Recherche – warfen Licht nicht bloß auf die Epoche, sondern auch auf oder besser in die Person ihres Verfassers.
Der strenge, esoterische Gedankenspezialist zeigte nun auch menschliche Anfälligkeit, einfache Gefühle und sogar Humor. Aber diejenigen, die sich durch den Lyriker der Maschinen und den Essayisten der Utopien hatten faszinieren lassen, mochten sich fragen, ob nicht der »eigentliche« Gustafsson, der Lyriker und Essayist, der präzis träumende Analytiker, in der relativen Behaglichkeit der Wollsachen oder des Familientreffens verlorengegangen war. Er war es nicht. Das beweist ein neuer Auswahlband Gustafssonscher Lyrik, ausgewählt aus seinen schwedischen Lyrikpublikationen zwischen 1968 und 1980 und erweitert um einige Texte, die auch in Schweden noch nicht veröffentlicht worden sind.
Gustafsson ist Lyriker und Essayist, sagte ich. Und meine damit den Experimentalcharakter der Lyrik nicht minder als den poetischen Glanz der Gustafssonschen Essayistik. Nicht umsonst faszinierte im Band Die Maschinen nicht minder als das Titelgedicht der angeschlossene Selbstkommentar, der eine kühne Verbindung zwischen Maschine, Grammatik und Mensch herstellte. Der Mensch wurde in Gustafssons Gedicht »aufgefaßt als eine kybernetische Vorrichtung, die mit unserer eigenen Sprache und unserer eigenen Logik programmiert ist. Es handelt sich um einen Versuch, die Perspektive zu verändern und das, was uns am besten bekannt ist, unter einem neuen Gesichtswinkel zu betrachten.«
Diese neue Perspektive läßt sich am knappsten unter dem Begriff des Phantastischen fassen, einer Phantastik, die nicht die Klarheit des Gedankens verneint, sondern geradezu aus solcher Klarheit erzeugt wird. Ausgehend von der Philosophie Berkeleys, für die nur existiert, was wahrgenommen wird, gelangt Gustafsson zu der Prämisse, die Welt als undurchsichtig, der Vernunft unzugänglich darzustellen. Was Gustafsson über das Phantastische sagt, konnte als Beschreibung seiner Poesie gelesen werden: »Die phantastische Kunst ist von einer eigentümlichen Kälte. Das hängt damit zusammen, daß sie den Schwerpunkt aus dem Text heraus verlegt, außerhalb des Gesagten, ja sogar außerhalb der Grammatik. Die Bedeutung der Bilder, die sie hervorbringt, liegt außerhalb der Reichweite des Menschen. Darin ermißt sich ihr tiefer Pessimismus.«
Das eben machte diese Lyrik faszinierend: sie war nicht sentimental, sie war klar und doch geheimnisvoll, und inmitten eines flachen politischen Engagements band sie den Leser wirklich. Freilich verschaffte sie ihm auch jene paradoxe Erleichterung, »die sich immer dann einstellt, wenn man ein Problem ein für alle Male als unlösbar aufgibt – ein Gefühl, das beinahe der Genugtuung über eine Lösung gleichkommen kann«.
Nun ist die Genugtuung des Lesers nicht auch die Erleichterung des Autors. Ihm mochte die Gedankenflucht seiner Textwelt den Carceri des Piranesi gleichen. Wer hält sich schon Jahrzehnte in der Kälte von Abstraktion und Entfremdung auf? Gustafssons Befreiungsversuch setzte als Trauerarbeit ein. Von den Rissen in der Mauer ließ sich’s erzählen. Was aber geschah mit der Lyrik? Blieb sie als Relikt einer phantastischen Präexistenz oder konnte sie im geheimnislosen Licht der Gegenwart bestehen?
Die neuen Gedichte geben darauf eine Antwort. Sie tun es nicht im Sinne einer Entscheidung, sondern halten die Spannungen der Gustafssonschen Existenz aus. Aber auch etwas von dem erlösenden und befreienden Licht wird sichtbar. Fast programmatisch exerziert das der Autor in seiner »Ballade vom Flipperspiel«. Die Berkeley-These des Anfangs wird am Beispiel des Flipperspiels ad absurdum geführt. Die Welt, reduziert auf ein sinnloses Signalsystem, erscheint als Folge bunter Lämpchen auf einer Flippertafel, »die stets ein bißchen vulgäre Bilder / aus der vagen Ikonographie der Gegenwart zeigt«. Aber das Gedicht ist nicht, wie man beim flüchtigen Hinsehen meinen könnte, eine Satire auf die Eitelkeit der Welt – sondern auf die des Flipperspielers, auf seine solipsistische, seinsvergessene Existenz. Dann aber fällt der melancholische Blick auf ein »graues, vielgliedriges Insekt«, »das unter einem Stein in der Feuchtigkeit haust«. Eine geheimnisvolle andere Wirklichkeit wird erahnbar: »Nur das, was nicht von uns wahrgenommen wird, ist.« Das Gedicht hat eine dialektische Wendung genommen. Der Gedanke ist bei seinem Gegenteil angelangt – bei der stummen Existenz.
Referierend verkürzt, mag das abschreckend unsinnlich erscheinen. Aber Gustafsson ist kein Gedankenlyriker im älteren Verstande, jemand der einen vorgefaßten Gedanken an Beispielen aus dem Leben exemplifiziert. Sein Denken testet sozusagen die Wirklichkeit und zwingt sie in die Erscheinung. Selbst der »nackte« Gedanke vibriert so von Sinnlichkeit. So in der schönen »Elegie auf einen Labrador«, die das Tier in seiner Besonderheit läßt und doch dem menschlichen Gefühl sein Recht auf Sympathie einräumt.
Gustafsson ist ein kühner Autor, dem Sentimentalität fremd ist. Doch seine Absage an den Solipsismus bedeutet keine Absage ans Ich. Dieses Ich, das so leidensfähig ist wie jedes andere, wenn auch von tieferer, skeptischerer Art, möchte sich aus der narzißtischen Isolation lösen, die zu Schwermut und Todessehnsucht führt. Der Beobachter der Historie, der sich zu Teilnahme und Engagement aufgerufen fühlt, läßt keinen Zweifel an seiner Skepsis gegenüber politischer Veränderung. In dem längeren Gedicht »Dialog zwischen zwei Teilnehmern« artikuliert er seinen unheilbaren Geschichtspessimismus – »denn ich sehe das Muster, aber keine Veränderung« und fragt seinen Partner: »Soll man Hoffnung hegen oder nicht / ich verzweifle bald.« Und derjenige, der in diesem Dialog als »Ich« dem »Er« gegenübersteht, erklärt, er habe mit seiner Verzweiflung »aufgehört«. Ein existentieller Akt, der aus einer Einsicht rührt – Beispiel dafür, wieviel der Gedanke vermag oder, vorsichtiger, wieviel Gustafsson ihm zutraut. Welche Einsicht? Welche Begründung? »Ich habe entdeckt, daß es mich hier wirklich gibt.«
Der Mensch ist keine Maschine, keine Marionette mehr – das ist die Erkenntnis, die über die frühere Lyrik der Maschinen hinausführt. Und da es so ist, werden auch die Dinge wirklicher und die Gefühle menschlicher, einfacher, vertrauter – wird die Skala größer. Sie umfaßt die »Schlittschuhstille der Welt vor Bach« ebenso wie den »wärmenden Geruch nach Schweinestall« in einem westfälischen Dorf. Nicht die Mechanismen der Grammatik interessieren, sondern Bäume, Tiere und Menschen. Schöne Porträtgedichte gelten Lou Andreas-Salomé und Mozart. In seiner Mozart-Phantasie rühmt Gustafsson »genau die Art von Schwäche, die alle Kraft des Universums auf sich zieht«. Etwas aus dieser paradoxen Kraft aus Schwäche ist in jeder wirklichen Kunst, so auch in den neuen Gedichten von Lars Gustafsson.
Lars Gustafsson: Die Stille der Welt vor Bach. Aus dem Schwedischen von Hans Magnus Enzensberger, Hanns Grössel, Anna-Liese Kornitzky und Verena Reichel. Hanser: München und Wien 1982.
Robert Lowell: Gedichte
Im September 1977 starb der amerikanische Lyriker Robert Lowell, gerade sechzig Jahre alt. Ihn hatte die amerikanische Kritik vielfach als den größten Dichter Neuenglands, gar als größten seit Ezra Pound und T.S. Eliot bezeichnet und die fünfziger bis siebziger Jahre das Zeitalter Lowells (»The Age of Lowell«) genannt. Nun sind Urteile dieses Kalibers von Deutschland aus kaum nachzuprüfen und bloß geeignet, das wirklich kritische Publikum abzuschrecken. Manfred Pfister, der Übersetzer und Herausgeber einer neuen Lowell-Auswahl, warnt zu recht vor der »Waschzettel-Rhetorik« solcher Etikettierungen und sieht es nicht als seine Aufgabe an, »Rangordnungen zu fixieren, sondern die Bedingungen und Eigenart seiner Dichtung zu umreißen«.
Eben mit der Eigenart seiner Poesie hängt zusammen, daß Lowell in Deutschland bislang nicht allzu viel Glück gehabt hat. Was man von amerikanischer Lyrik erwartete, war etwas anderes, als er zu bieten hatte: veristische Snapshots à la W.C. Williams, Charles Olsons offene Feldkomposition, Robert Creeleys Reduktionen, die Emotionen von Allen Ginsbergs Howl und schließlich die stofflichen Reize von Beat, Underground und Pop – kurz: die Abwendung von europäischer Tradition. Diesem Klischee entsprach Lowell offenkundig nicht. Er wirkte – auf den ersten Blick zumindest – problembeladen, formbewußt, akademisch und abendländisch, wozu auch seine religiöse Thematik und sein Faible für Mythos und Geschichte paßte. Daß er überhaupt übersetzt wurde – und das Verdienst seines ersten Übersetzers Meyer-Clason soll damit nicht geschmälert werden –, mag, wie so oft bei Lyrik, mit äußerlichen Momenten zu tun gehabt haben. Im Jahre 1969, als eine Auswahl aus zwei Lowell-Bänden unter dem Titel Für die Toten der Union erschien, dominierte unangefochten das politische Interesse. Lowell selbst hatte in den reimlosen Sonetten seines Notebook 1967-68 der Aktualität entschieden Tribut gezollt und ein Engagement ins Gedicht gebracht, das er schon mehrmals vorher praktiziert hatte.
So hatte er 1965 aus Protest gegen den Vietnam-Krieg eine Einladung Präsident Johnsons zum White House Festival of Arts abgelehnt und zwei Jahre später an dem historisch gewordenen Friedensmarsch auf das Pentagon teilgenommen. Aber schon 1943 hatte Lowell Zivilcourage bewiesen, als er – der »feuerschnaubende katholische Pazifist«, wie er in einem Gedicht sich nennt – den Wehrdienst verweigerte und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, von der er immerhin fünf Monate abzusitzen hatte – er, der Bostoner Intellektuelle, unter Zuhältern, Schiebern und Gangstern von der »Mord AG«. Wie wenig aber linkspolitische Klischees Lowells Verhalten erklären können, zeigt eine Begründung aus seinem damaligen Brief an Roosevelt: Er sei außerstande, an einem Krieg teilzunehmen, der Europa und China »der Gnade der UdSSR ausliefere, einer der Weltrevolution verschworenen totalitären Tyrannei«. Wer sprach aus solchen Formulierungen? Doch nicht bloß der romantische Antikapitalist und Pazifist, sondern auch der konservative Neuengländer.
Daß Lowell weder eindeutig dachte noch handelte, ändert nichts an der manichäischen Grundhaltung seines Wesens. Randall Jarrell, mit dem Lowell von seinem Studium im Kenyon College her bekannt war, hat 1946 in der Rezension von Lowells zweitem Gedichtband die Momente dieser antithetischen Weltsicht benannt. Böse, dunkel sind das Alte Gesetz, Imperialismus, Kapitalismus, Calvinismus, Autorität, die »biederen Bostoner«, die Reichen. »Doch damit kämpfend wie Hefe, es erhellend wie Licht, ist alles, was frei und offen ist, was wächst und sich verändern will: hier ist jene Großzügigkeit und Offenheit und Bereitheit, die das Heil bedeutet; hier ist ›Empfänglichkeit für Erfahrung‹; hier ist das Reich der Freiheit, und Gnade, die das Gesetz aufgehoben hat, des vollkommenen Befreiers, den der Dichter Christus nennt.« Selbst der spätere, agnostizistisch gewordene Lowell hatte nicht das Gefühl, daß seine Erfahrung sich wesentlich verändert hatte und sah in seinen Gedichten »dieselbe Art von Kampf, Licht und Dunkel, Erfahrungsstrom«.
Lowells Manichäertum blieb zeitlebens durch Erfahrung gedeckt. Bedeutsam bereits war die Herkunft, Lowells Abstammung von zwei der angesehensten Familien Neuenglands, den Winslows und den Lowells, in denen sich nordamerikanische Geschichte von den Pilgervätern her inkarnierte. Der Ausbruch aus solchen quasi aristokratischen Familienbindungen, Protest gegen Materialismus und Heuchelei des Bostoner Großbürgertums, Verzicht auf bürgerliche Karriere und endlich Konversion zum Katholizismus gehören zu Lowells erster Entwicklungsphase, die durch die Heirat mit der katholischen Romanautorin Jean Stafford abgeschlossen wurde.
Die weiteren Stationen werden durch die beiden folgenden Ehen mit der linksradikalen, irreligiösen Kritikerin Elizabeth Hardwick und der angloirischen, aristokratischen Schriftstellerin Caroline Blackwood markiert – Lebensthema wie poetisches Leitmotiv fortan ist »ein Mann, zwei Frauen, gewohnte Fabel von Romanen« und »vom Leiden reden, das die Ehe birgt«. Dem entspricht die psychische Disposition eines labilen, von Schuldgefühlen geplagten Mannes, der wiederholt Anfälle von Geisteskrankheit durchlitt und ab 1949 periodisch in Nervenheilanstalten untertauchte. In einem seiner eindrucksvollsten Gedichte, »Skunk-Stunde« (Skunk Hour), heißt es: »Ich hör / meinen kranken Geist in jeder Blutzelle schluchzen, / als griffe meine Hand um seine Kehle … / Ich selber bin die Hölle; / niemand ist hier –«. Das ist Selbst-Diagnose, mehr noch: Bekenntnis.
Lowells Lyrik ist infolgedessen »Confessional poetry« – Bekenntnisdichtung. Man zögert, das deutsche Äquivalent einzusetzen, weil es auf Goethe zurückführt. Bei Lowell ist an die »unverstellte Bloßlegung schmerzlicher und oft peinlicher persönlicher Erfahrungen und die Dialektik von privatem und politischem Geschehen« zu denken, wie Manfred Pfister formuliert. Das heißt, Lowell ist zugleich intimer und öffentlicher als das »heilig-öffentliche Geheimnis« Goethes. Er ist auch moderner, robuster in seinem Umgang mit »fiction« und »faction«, indem er etwa einen realen Brief zum reimlosen Sonett umredigiert, andererseits aber fiktiven Arrangements autobiographische Authentizität verleihen möchte. »Dichtung sollte uns mit einer Scheibe Leben dienen; / doch Du und ich, wir lebten wirklich, was ich schrieb« – diese programmatischen Zeilen aus dem Sonett »Künstlermodell« sind durchaus mit Vorsicht und Vorbehalt zu lesen – zur »Scheibe Leben« gehört immer auch das Messer, das sie schneidet.
Lowells lyrische »Lebensstudien« – Life Studies ist der Titel einer Sammlung von 1959 – sind Exerzitien, geschrieben unter dem doppelten, in sich unversöhnbaren Anspruch, den »Standard der Wahrheit« mit der Gnade der Kunst zusammenzubringen. Selbstquälerisch und zugleich mit untergründiger Hoffnung formuliert es »Epilog« am Ende des Auswahlbandes:
Doch manchmal kommt mir alles, was meine Augenkunst
so fadenscheinig schreibt,
wie ein Schnappschuß vor,
grell, hastig, schreiend und gestellt,
das Leben überhöhend,
doch von der Fakten Last gelähmt.
Nichts als Mesalliance!
Doch warum nicht sagen, was und wie es war?
Beten um die Gnade der Genauigkeit,
wie sie Vermeer aufs Sonnenlicht verwandte (…)
An Genauigkeit mangelt es Lowell niemals. Aber seine Poesie steht nicht im Lichte Vermeers. In ihrer gebrochenen Syntax, ihrem oft gewaltsamen Umgang mit überkommenen Mustern und Gattungen, ihrem Oszillieren zwischen strengen und prosahaften, alltäglichen Formen, ist sie eine durchaus moderne Poesie, eine Poesie im Zeitalter der Angst, um Audens berühmte Formel zu benutzen. Das Licht, das der späte Lowell, die Epoche »Seit 1939« musternd, am Tunnelausgang sieht, erscheint ihm als »das Licht eines Gegenzugs«.
Dieser erneute Versuch, Robert Lowell einem deutschen Publikum nahezubringen, ist nicht genug zu rühmen. Der Lyriker Lowell, der Tradition und klassische Moderne, Artistik und Lebenswahrheit zusammenzwang, könnte nicht bloß für Lyrikleser, sondern auch für Lyrikschreiber wichtig werden. Daß Lowell schon seit einem Jahrzehnt untergründig auf unsere Lyrik wirkt, dafür gibt es freilich schon Indizien. Die neue Auswahl und Übersetzung kommt zu guter Stunde. Manfred Pfisters Nachwort gibt ein präzises, kenntnisreiches Bild des Autors und seiner Entwicklung. Seine Auswahl favorisiert nicht den politisch interessanten mittleren Lowell, sie bringt auch Beispiele für die frühe, von Mythos und Religion inspirierte Lyrik. Der Vergleich mit schon vorliegenden Übersetzungen einiger Gedichte fällt durchweg zu Pfisters Gunsten aus. Er übersetzt, bei gelegentlichen Härten, durchaus präzis und angemessen und trifft den knappen, veristischen gebrochenen Ton vieler Gedichte recht gut. Ihm gelingt auch die Nachbildung komplizierterer metrischer Formen und die des oft irregulären, aber bedeutsamen Reims. Zu wünschen bleibt bei Lyrikübersetzungen immer etwas; so auch hier. Mein Wunsch an Übersetzer und Verlag wäre ein weiterer Auswahlband mit Lowells Notebook und dessen anschließenden späten Zyklen. Lowells Kunst hätte ihn verdient.
Robert Lowell: Gedichte. Englisch und deutsch. Auswahl, Übertragung und Nachwort von Manfred Pfister. Klett-Cotta: Stuttgart 1982.
Wolf Wondratschek: Die Einsamkeit der Männer
Als der junge Stefan George seinem Bedürfnis nach Schönheit, Schrecken und Auserwähltheit Ausdruck geben wollte, erfand er die Figur des Algabal, jenes Herrschers, der einen Diener erdolchte, der ihn beim Füttern der Tauben stört, und doch »am selben tag befahl / Dass in den abendlichen weinpokal / Des knechtes name eingegraben werde.« Algabals »Unterreich« oder auch Ludwigs Neuschwanstein haben heute leise komische Nostalgiewerte – harmlos waren sie nicht. Und auch die Sehnsucht nach Mythos und Regression, Schönheit und Schrecken, wie sie in die neueste Stimmung gehört, ist nicht harmlos. Vielleicht geht sie maskiert, ehe sie offen hervortritt. Die Maske erlaubt Identifikation wie Distanz; man sagt die Dinge ohne Risiko, unter Vorbehalt.
Nun ist Wondratschek nicht George. Aber er hat ein Gespür für diese neu-alte Stimmung. Seine Auftritte hat er schon immer inszeniert, das war er seinem Image als Pop- und Rockpoet schuldig. Aber es scheint so, als sei ein neuer Wondratschek anzuzeigen. Der Sänger des Gewöhnlichen, Trivialen, der seine Gedichte und Lieder mit enormem Erfolg über den Zweitausendeins-Versand vertrieb, kommt nun mit Sonetten und als Liebhaber von Schönheit, Schmerz und Gewalt. Die Maske, die er sich ausborgte, konnte er – seinem Alter und dem seiner Leser zuliebe – nicht dem Fin-de-Siècle-Fundus entnehmen. Er wählte eine nähergelegene Identifikationsfigur: Malcolm Lowry, den Autor des Romans Unter dem Vulkan. Manisch im Schreiben und Trinken, impotent und früh vergreist nach dem erschriebenen »Beweis« seiner Potenz, starb Lowry 1957 an einer Überdosis Schlaftabletten. Das Epos seiner Selbstzerstörung, die Geschichte des Alkoholikers Geoffrey Firmin und der Beziehung zu seiner Frau Yvonne, besaß alle Züge von Authentizität.
Wondratschek ist Lowrys Spuren in Guernavaca nachgegangen und hat im Anschluß an eine Mexiko-Reise jene 31 Sonette geschrieben, die den Band Die Einsamkeit der Männer ausmachen – »mexikanische Sonette«, die wie Technicolor-Aufnahmen von Landschaften, Sonnenuntergängen und Kneipeninterieurs wirken; zugleich »Lowry-Lieder«, die gar nicht liedhaft, sondern pathetisch Trunksucht, Gewalt und Einsamkeit feiern. Wondratschek setzt seinen biographischen Wink in Klammern: Lowry ist nur Vorwand und Maske. Nicht aufs Nachschreiben seines Lebens kommt es an, sondern auf die Inszenierung eines Rituals, des Rituals von Männlichkeit, wie Wondratschek es versteht.
»Ich, Malcolm Lowry, habe nie gelebt«, setzt ein Gedicht ein, und bereits in der nächsten Zeile weiß man nicht mehr genau, wer da redet: Lowry oder Wondratschek. Es ist auch eigentlich gleichgültig. Nicht das »Medium« Lowry ist die Botschaft, sondern die Maske. Es ist die Maske des Macho. Sie will sagen: so sind sie alle, die Männer – aggressiv, einsam und verloren, schweigsam und bestialisch. »Du willst sie fühlen: deine tiefste Wunde, / die Männer, die wie Hunde sind«, und das ist nur vordergründig kritisch gemeint. Und dann heißt es: »Ganz innen aber, bei dir selbst, // bist du noch klein und ängstlich wie ein Kind« – eine sentimentale Rechtfertigung. »Alcoholic child«, sagte Lowry knapper, bündiger, und er meinte sich selbst. Wondratschek meint alle Männer, und er meint das Klischee.
Man mag sagen: Was kümmert uns Männlichkeitswahn, aufgemacht als exotischer Import, mag das goutieren wer will. Aber so harmlos ist der Mythos vom He-Man, der zerstören und scheitern will, nicht. Er findet gegenwärtig einen Anklang, der übers Kostüm hinaus hineinreicht in die seelische Innenausstattung. Da zählen schon Zeilen wie die von der »Sehnsucht nach Männern, die zum Töten taugen« – zumal wenn solche Sehnsucht Frauen zugeschrieben wird, da zählt auch die Wendung vom »Luxus der Brutalität«, wenn man sich diesen Luxus schon wieder erlauben will.
Ich nehme an, Wondratschek hat selbst ein ambivalentes Verhältnis zu den Bedürfnissen, die er befriedigt oder auch frustriert, – damit auch zu seinen Fans. Den Macho nehme ich ihm nicht ab, vermute also, daß er das, was er als »Einsamkeit der Männer« stilisiert, nicht recht ernst meint – noch weniger, was er über Frauen schreibt, die er nur als Huren oder Madonnen zu sehen vermag. Und sollte er’s ernst nehmen, kann man ohnehin nicht mit ihm rechten. Und träfe selbst der Vorwurf des Pubertären, wie er gegen Wondratschek erhoben wird – der Künstler sollte es besser wissen. Er sollte solche aufgedonnerten Zeilen nicht billigen: »Du willst die Lust am Absoluten. / Der Himmel soll dich peitschen und Dämonen / sollen bluten.« Oder nach dem sauren der süße Kitsch eines preziös tuenden Madonnenkults: »Da schläft in jedem Schoß ein Jesuskind // und jede dieser heilig Auserwählten / fühlt sich rein und groß wie auf verderblichen Gemälden.«
Derlei war schon beim frühen Rilke verderblich und verdorben und ist durch nichts echt zu machen. Wondratschek spekuliert auf rohe Wirkungen, wenn er Rilke-Ton und Breitwand-Expressionismus zusammenrührt und darauf vertraut, daß die einen nichts merken und die anderen solche Mixturen geradezu goutieren. Er beutet die Bestände aus, Inhalte wie Formen. Was einst den Orpheus-Sonetten recht war, ist als »Einsamkeit der Männer« billig geworden. Raffiniert gemachte zynische Poesie.
Nun will man uns ja gegenwärtig einreden, Zynismus sei so etwas wie ein Überlebensprinzip. Mag sein. Aber was will da überleben? Die Poesie? Irgendwie – so undeutlich wie das Changieren zwischen Sentimentalität und Brutalität – entspricht diese Lyrik unserer Situation. Oder überschätzen wir das bloß: die Lage – oder die zynische Poesie?
Wolf Wondratschek: Die Einsamkeit der Männer. Mexikanische Sonette (Lowry-Lieder). Diogenes: Zürich 1983.
Gerhard Falkner: der atem unter der erde
Er nimmt seine Motti von Novalis und Adorno wie von Bob Dylan. Er zitiert Epikur, aber auch den Baedeker über New York oder einen Mauerspruch wie diesen: »Ödipus, du sollst deine Mutter anrufen!« Doch der 1951 geborene Gerhard Falkner zitiert nicht bloß Ältestes wie Jüngstes, er verarbeitet es auch. Er tut das in seinem zweiten Gedichtband der atem unter der erde ohne Scheu und mit der Lust am Ausgefallenen, aber er benutzt auch die alten Formen und Wendungen der Lyrik, wenn es ihm in den Kram paßt. Den Vorwurf, Epigone zu sein, fürchtet er offensichtlich nicht. So klingt auch, was er über die Väter sagt, nicht wie eine Drohung, sondern wie eine Maxime, die mit ihrer Schärfe spielt: »mit den söhnen sollen die väter / nicht spaßen, sie wachsen unter / der hand, sie werden, wenn sie / groß sind, funkeln wie messer.« Und wirklich haben manche von Falkners Versen schon jetzt jene Schärfe und jenen Glanz, der hier der Zukunft zugeschrieben wird.
Seinem ersten, 1981 erschienenen Band so beginnen am körper die tage hatte der Autor noch ein Statement nachgeschickt, das den Ton des Eingeständnisses anschlug: »ich gebe zu, daß die bilder heftig sind, daß ich einen gedanken oft nur aufgreife, um ihn an einer form aufzuschlagen; ich gebe ja zu, daß nichts daran liegt, eine idee bis ans bittere ende ihrer allgemeinen nachvollziehbarkeit zu führen.« Es war ein listiges Eingeständnis – es sollte die lahme Konkurrenz deklassieren, indem es hervorhob, was für Falkners Vorstellung von Poesie entscheidend war: die Kraft der Bilder und die Eigenwilligkeit des poetischen Gedankens. Die »heftigen« Bilder, die der Autor anstrebte, waren freilich noch die Ausnahme, nicht die Regel.
Das ist in dem neuen Gedichtbuch schon anders. Nicht daß Falkner, im Sinne einer heftigen, wilden Malerei, der unkontollierten Geste huldigte: er bevorzugt die gezielten Schläge, die kontrollierten Eruptionen. Das kann manchmal grell wirken: »der rio tinto liegt in seinem bett / wie eine menstruierende spanierin« oder »jahrhundertelang habt ihr die monade masturbiert.« Im Kontext eines erotischen Gedichts oder einer Polemik gegen die Verhunzung der Erde halten solche Zeilen stand. Eine solche »scène de violance« kann sich aber auch zu einem Rätselspruch beruhigen, der nach Ernst Meister klingt, wenn er Hölderlin rezipiert: »es geht der abgenützte mensch / wenn ihn kälte nicht ausläßt / gern zum ertrinken / zum lungenzerplatzen / ans meer.« In der Gedichtfolge auf Jack Henry Abbott, den mehrfachen Mörder und Autor von In the Belly oft the Beast, geht es Falkner nicht um die Verherrlichung von Gewalt und Aggression, sondern um das Exempel. Abbott erscheint ihm als »weltinsasse« und »atemhäftling«: »bin einer von vielen / bin einer von allen.«
Man sieht, Falkner ist nicht der »sanfte Heinrich«, wie Benn einen verbreiteten Lyrikertypus verspottete. Er ist kein Dogmatiker, kein Langweiler. Er favorisiert weder eine bestimmte Weltsicht noch eine einzige poetische Methode. Wirklichkeit und Sprache sind ihm gleich interessant und gleich stimulierend. So verblüfft und blufft Falkner gern mit Wortspielen, einfallsreichen oder bloß kalauernden, spricht von »prahlhelm«, »fortschrott«, »aschenkaputtel«, kennt sprachlich »morschzeichen« wie »ersprochenes«, und nicht bloß »vom herrensagen«. Den Reim benutzt er gewitzt und zugespitzt, gern mit einem schlagenden Nachklappen: »nach solchen schrammen bleibt bloß eine leere kerbe / kein erbe.«
Doch der Sprachspieler Falkner würde unser Interesse nicht lange halten können, wäre er ein weltloser Bastler. Falkner hat sich in der Welt umgetan und gibt sich in der Anrufung der »kolossalen städte« baalisch weltsüchtig und weltverzehrend. Aber die Ekstase ist durch Melancholie und Ironie gebrochen. Der Hymniker gerät nicht ins Schwitzen, sondern bleibt ein Liebhaber der »klaren, eisigen schönheit« mit Sinn für Proportion und Detailschärfe. Und seine Bilder können so phantastisch wie genau sein: »ihr schöner schritt / war wie aus rosa lehm gemacht.« Das leuchtet ein, auch wenn es sich nicht sogleich begründen läßt. Überzeugender noch Falkners Präzisionszeichnung, sein »kaltnadelradiertes gestrichel« scharfer Bilder: »ein feld kippt finstere krähen um« oder – in einem Gedicht über Cadiz – »an weißen holmen turnt die brandung.«
Das ist kalt und artifiziell und nicht von besonderer Nähe oder menschlicher Wärme bestimmt. Überraschend darum die letzte Abteilung des Bandes, »die trauer zum bösen« überschrieben und von dem Wunsch bestimmt, Kälte, Entfremdung und Faszination durchs Böse aufzuheben. Sie enthält einige der schönsten und reifsten Gedichte Falkners, darunter »das graue und das kalte«: »du bist umnachtung, bosheit / bist der keil ins alte / ich bin das splitternde, vereiste / das ins herz verkrallte.« Solche Verse zeigen, daß Falkner das Böse, das ihn fasziniert, nicht ästhetisch ausbeuten, sondern überwinden möchte; daß seine heftigen Bilder nicht der Aggression dienen, sondern dem Versuch, den »winter aus der sprache zu treiben«.
Gerhard Falkner: der atem unter der erde. Gedichte. Luchterhand: Darmstadt und Neuwied 1984.
Zbigniew Herbert: Bericht aus einer belagerten Stadt
In einem seiner frühen Gedichte verglich Zbigniew Herbert seine Vorstellungskraft mit einem Stück Brett, an das ein kurzes Hölzchen schlägt: »ich klopfe ans Brett / und es antwortet mir / ja – ja / nein – nein.« Gegen die »bilderlawinen« der anderen Dichter setzte er seine »klapper« oder »das trockene gedicht des moralisten«. Wie immer es mit den Bilderlawinen seiner Konkurrenten bestellt sein mochte – Herberts Bescheidung war selbstbewußt und nicht kokett, und dennoch mußte der Leser ihr widersprechen. Seine Gedichte zeigten Phantasie und Intelligenz, viel mehr Einfallsreichtum jedenfalls, als der Autor zugeben mochte. Ihre Trockenheit war die eines guten Weines, einer guten Spirituose – ihre Klarheit war inspiriert. Vor allem war ihr Autor, der im Gedicht gefragt hatte »Wozu Klassiker«, selbst zu einem solchen geworden – zu einem Klassiker der modernen polnischen Literatur, zu einem Schriftsteller von europäischem Rang und Renommee. Darüber mochte man einiges vergessen oder verdrängen.
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