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Experten für Vergangenheit und Zukunft Als die Weisen der Gesellschaft, als Experten für Vergangenheit und Zukunft galten ältere Menschen früher. Und sind sie nicht dabei, diesen Status wieder zu erreichen? Denn Ältere sind nachweislich zufriedener als Jüngere. Dies steuern sie aktiv, zum Beispiel indem sie unerquickliche Kontakte reduzieren. Wir können uns viel von den Älteren abschauen: Selbstfürsorge, den Umgang mit Schwächen und Verlusten. Was wirklich zählt im Leben. Melanie Schölzke beschreibt die Lebenskunst der Älteren.
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Seitenzahl: 201
Melanie Schölzke
Die Lebenskunstder Älteren
Was wir uns von ihnenabschauen können
© KREUZ VERLAG
in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015
Alle Rechte vorbehalten
www.kreuz-verlag.de
Umschlaggestaltung: Vogelsang Design
Umschlagmotiv: © istockphoto.com – Peopleimages
E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN (E-Book): 978-3-451-80277-5
ISBN (Buch): 978-3-451-61318-0
Inhalt
Einleitung – Von Großeltern, Wohlbefindenszugewinnen und der Kunst fortgeschrittener Lebensjahre
Die U-Kurve des Glücks – Vom Tal des Lebens zum Gipfel gehen
Stichwort »Weniger ist mehr« – Sich ein Leben gestalten, das guttut
Die große Befreiung – Mit weniger Relikten der Vergangenheit die Zukunft leben
SOK oder die Rubinstein-Strategie – Was man tun muss, um ein großer Lebenskünstler zu werden
Ein Suchscheinwerfer für die Möglichkeiten – Mit Pragmatismus die Chancen sehen
Von den Vorteilen, eine reife Persönlichkeit zu haben – Von Heldencharakteren, seelischer Widerstandskraft und mehr
Von den Nachteilen, eine reife Persönlichkeit zu haben – Vorstellungen vom Alter, die schaden
Über das reife Gehirn und sein Potenzial – Von Besonnenheit, Gelassenheit und Erfahrung
Das autobiografische Gedächtnis – Oder: Warum die Vergangenheit nur besser werden kann
Über Grenzerfahrungen und Aussöhnung – Die Annahme der Endlichkeit als Aufgabe des Lebens
Das Leben ist keine Insel – Vom Wert und Gewinn des Gebens und Nehmens
Von Weisheit, Lebenskunst und der Liebe zum Leben – Oder: Der lange Weg zu sich selbst
Ein Dankeschön
Literaturverzeichnis
Von Großeltern, Wohlbefindenszugewinnen und der Kunst fortgeschrittener Lebensjahre
Ich erinnere mich noch, als ich klein war und dachte, dass alle Menschen ihre Zähne herausnehmen könnten. Weil ich bei meinen Großeltern aufgewachsen bin, erschien mir das als Norm. Bei mir passte jedoch offensichtlich etwas nicht mit meinem festsitzenden Gebiss. Doch meine Großeltern klärten es auf und so war mein Alltag geprägt durch eine Fusion von Jugend und Alter.
Meine Großeltern leben nicht mehr. Doch es ist viel geblieben. Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen – reichlich Persönliches. Und auch viel, was darüber hinausgeht. Gedanken. Fragen. Und ein Studium. Zwar habe ich schon einen Abschluss als Soziologin und habe jahrelang als Verlagslektorin gearbeitet, aber nun studiere ich wieder: Gerontologie, also Alternswissenschaft. Denn die fortgeschrittenen Lebensjahre sind auf ausgesprochene Weise interessant.
Wie ist es zum Beispiel möglich, dass die meisten Menschen in der zweiten Lebenshälfte Wohlbefindenszugewinne haben und zufriedener mit dem Leben sind als in ihren jüngeren Jahren? Und warum strahlen Hochbetagte häufig eine unvergleichliche Wärme und Güte aus? Im jungen und mittleren Alter fürchten wir die Verluste des hohen Alters so sehr – die chronischen Erkrankungen und die Abbauprozesse. Doch in der Realität des Lebens scheint all dies weitaus weniger relevant zu sein, als wir es uns vorstellen.
In den sogenannten Heidelberger Hundertjährigen-Studien haben sich Wissenschaftler die gesundheitliche Situation, das Wohlbefinden und die Lebensstrategie von Menschen angesehen, die Geburtstage im dreistelligen Bereich feiern. Da hat sich herausgestellt, dass die befragten Hochaltrigen in ganz besonderem Maße psychische Stärke kennzeichnet. Von wegen Altersschwäche – ein ausgeprägter Lebenswille und eine optimistische Haltung sind das Geheimnis der Menschen, die überdurchschnittlich alt werden. In Sachen psychischer Widerstandskraft und Lebensmanagement kann man einiges von Älteren lernen.
Ja, es interessiert mich zutiefst, warum so viele ältere Menschen so viele Lebensdinge ausgesprochen gut hinbekommen. Denn das tun sie. Und daher habe ich für dieses Buch wissenschaftliche Erkenntnisse, persönliche Erfahrungen und Anekdoten von Prominenten und Nichtprominenten aufgeschrieben – die »Lebenskunst der Älteren« eben.
Gedacht ist das Buch für alle. Auch für Lebensfortgeschrittene selbst. Es ist spannend, was die Forschung über ihre Lebensphase herausfindet. Zudem ist es nie verkehrt, sich selbst noch ein Stück besser zu verstehen.
Befruchtend ist die »Lebenskunst der Älteren« aber natürlich besonders für diejenigen, die sich in jüngeren und mittleren Lebensjahren inspirieren lassen wollen. Ich kann aus meiner Lebensgeschichte heraus sagen, dass es viel abzuschauen gibt. Dazu kommt die wissenschaftliche Feststellung, dass Ältere im Wohlbefindensvergleich die Nase vorn haben.
Trotz körperlicher Abbauprozesse legen Menschen in der zweiten Lebenshälfte in Sachen Zufriedenheit zu, und zwar durch ein einfaches, aber plausibles Konzept: Sie fördern vermehrt das, was ihnen guttut, und reduzieren das, was der Zufriedenheit schadet. Oder wie es der Dramatiker Oscar Wilde gesagt hat: »Dies ist das Geheimnis der Lebenskunst: Gehe jedem Gefühl aus dem Weg, das dir nicht zuträglich ist.«
Dass Ältere nun mehr auf ihr Wohlbefinden achten, hat insbesondere mit einem geschärften Bewusstsein für das knappe Lebensgut Zeit zu tun. Denn das verändert sich deutlich, wenn das gelebte Leben länger ist als die vermutete Zukunft. Dieser Bewusstseinswandel ist ein Prozess und findet langsam und Stück für Stück statt. Immerhin beginnt Alter ja nicht plötzlich an einem Umschlagepunkt, sondern man wächst hinein. Alter ist das Ergebnis von Leben. Es bietet eine eigene Perspektive aufs Dasein. Eine lebenserfahrene und lebenskluge Perspektive. Früher galten Ältere deswegen auch als die Weisen der Gesellschaft. Heute ist es allerdings so, dass Ältere von Jüngeren eher mit Bedauern und Mitgefühl betrachtet werden. Eine Freundin hat das Alter mal als die Phase des Lebens definiert, in der die Beileidsbekundungen ein kritisches Maß überschreiten.
»Ganz persönlich bin ich zufrieden mit meinen 60 Jahren. Wo es wirklich aneckt, ist, wenn das Kollektive mit reinkommt. Und das Kollektive ist leider eine Abwertung der Älteren und des Altseins. Nur das Junge ist richtig und wichtig. Damit geht es mir nicht immer gut. Wenn man die 50 erst einmal überschritten hat, hört man plötzlich Sachen wie: ›Ach, so alt bist du schon? Oje.‹ Und ich denk mir: ›Das Oje, das hättet du dir jetzt sparen können.‹ Diese Beileidsbekundungen, die brauch ich nicht. Das hat alles, im Schwäbischen würde man sagen: so ein Geschmäckle. Von dem Geschmäckle mal abgesehen geht es mir super, Melanie. Die persönlichen Dramen haben abgenommen. Das ist wirklich Reife, die mit Erfahrung zusammenhängt. Mit einem höheren Selbstwertgefühl. Ich bin viel unabhängiger geworden von dem, was sich außerhalb meiner Person abspielt. Ich bin viel mehr bei mir selbst. Das genieße ich sehr.« Trotz all der Beileidsbekundungen scheint das Leben in der zweiten Lebenshälfte etwas Besonderes zu haben. Reife, Erfahrung, Unabhängigkeit. Es klingt nach einem schönen Lebensgefühl. Man könnte auch von Lebenskunst sprechen.
Tatsächlich ist es so, dass das sechste Lebensjahrzehnt ein nachhaltiges Umschwenken mit sich bringt. Man wird sensibler, fokussiert sich. Beruf und Familie erfahren Veränderungen in ihrer Gewichtigkeit, werden zunehmend eher Elemente der Vergangenheit als der Zukunft. Sinnfragen treten auf, nicht nur, aber auch, weil die persönliche Energie knapper wird und die Endlichkeit gewahrer. Gelassenheit und Besonnenheit entwickeln sich als Energiesparprogramme. Meine Freundin hat diese Eigenschaften einmal als Seelenruhe bezeichnet. Was für ein Sehnsuchtswort.
In diesem Buch ist der Begriff »Alter« in all seinen Spielarten und Wortstammbedeutungen für diejenigen reserviert, die jenseits der 50 Jahre genau diese fabelhaften Fähigkeiten ausbauen. Doch das ist speziell die Bestimmung für dieses Buch, die sich am Wolhbefindenszugewinn festmacht, und keine allgemeingültige Auslegung von Alter. Denn eine solche verbindliche Eingrenzung von Alter gibt es nicht, das Altersverständnis ist äußerst vielfältig und kaum zu greifen. Das fängt schon an, wenn man versucht, Altern äußerlich zu bestimmen. Der weltberühmte Berliner Altersforscher Paul Baltes hat das mit einem Beispiel einmal schön illustriert: Während man bei 15-Jährigen das Alter ziemlich genau erkennen kann, ist das bei 65-Jährigen ein unmögliches Unterfangen. Bei einem Klassentreffen wirken manche 65-Jährige, als seien sie ihr eigener Vater, andere, als seien sie ihr eigener Sohn.
Ja, Alter ist relativ und je genauer man auf die Begriffsverwendungen von »Alter« schaut, umso weniger hat man in der Hand: Leistungssportler sind oft schon mit 30 Jahren alt, Richter am Bundesverfassungsgericht sind dagegen mit 40 Jahren jung, sie dürfen das Amt überhaupt erst ab diesem Alter ausüben. Wenn sich Forscher allerdings ganz allgemein mit alternden Belegschaften beschäftigen, beginnen sie die Betrachtung bei 40-Jährigen – Angestellte scheiden ja spätestens mit 65 aus dem Erwerbsleben aus. Nach einer häufigen allgemeinen Vorstellung von Alter wird dieses ab 65 Jahren beginnend gesehen, weil hier der große Einschnitt der Verrentung zu verorten ist – ab da leben Menschen gehörig anders als zuvor. Manche gehen aber eher nach gesundheitlichen Einschränkungen als nach sozialen Veränderungen und benutzen die Bezeichnung Alter erst, wenn sich der Körper nachhaltiger verändert. Also ab rund 75 Jahren.
Weil es mit dem Alter nicht unkompliziert ist, wird manchmal auch mit Graustufen gearbeitet, um es zu definieren. Die Weltgesundheitsorganisation unterteilt zum Beispiel in alternde Menschen (51 bis 60 Jahre), ältere Menschen (61 bis 75 Jahre), alte Menschen (76 bis 90 Jahre) und sehr alte Menschen (91 bis 100 Jahre).
Aber in diesem Buch ist der lebenskünstlerische Umgang das entscheidende Kriterium für Alter. Und dementsprechend geht es um die Zeit ab 50 Jahren, die geprägt ist durch neue Perspektiven aufs Leben und durch clevere Lebensmanagementprogramme in Sachen Energie und Zufriedenheit. Oder um es mit dem amerikanischen Filmschauspieler Jack Nicholson zu sagen: »Älter werden heißt auch besser werden.« Für das Wohlbefinden stimmt das allemal. Das bestätigt die U-Kurve des Glücks, die ich Ihnen im ersten Kapitel vorstellen werde. Darin gibt es auch einen kurzen Vorausblick auf die Inhalte der folgenden Kapitel. Wer sich nicht durch die Glückskurve dorthin führen lassen, sondern lieber vorab den roten Faden sehen möchte, der gehe gleich einmal zum Abschnitt »Ein Vorausblick auf die Lebenskunst der Älteren«.
Vom Tal des Lebens zum Gipfel gehen
Ein 45-jähriger Mann kommentierte mein Vorhaben, ein Buch über die Stärken des Alters zu schreiben, so: »Ein Buch soll das werden? Da reicht doch eine Broschüre aus. Oder ein Flyer!«
Tatsächlich gibt es sie, die Krise in der Mitte des Lebens. Das Hadern, wenn man im Alter 40plus das eigene Älterwerden nicht mehr wegbeteuern kann. Weil die Haare grau werden, der Körper fülliger wird, manche Gelenke anfangen zu schmerzen. Es finden sich tausend Spielarten, wie sich die Erkenntnis in das Leben schleicht: Jetzt gehöre ich nicht mehr zu den Jungen. Und es finden sich tausend Arten, darauf zu reagieren. Aber typischerweise kennzeichnet die Reaktion eines, wenn sie von Personen mittleren Alters kommt: Sie ist verhalten, gedämpft, negativ.
Viel belächelt wird die Midlife-Crisis, Fakt ist allerdings: Befragt man Menschen unterschiedlichsten Alters nach ihrem Wohlbefinden, erhält man eine U-Kurve des Glücks. Zwischen 35 und 50 befinden sie sich im Tal des Lebens, vorher und nachher sehen sie die Dinge positiver.
In Europa liegt der durchschnittliche Tiefpunkt in Sachen Lebenszufriedenheit bei 46 Jahren. Der 45-jährige Mann, den ich eingangs erwähnt habe – der, der die Stärken des Alters für sehr übersichtlich hält –, vertritt ganz prototypisch die mittlere Lebensphase. Aber woher kommen die Zweifel eigentlich genau? Immerhin stehen den grauen Haaren, dem Bauchansatz und den ersten Falten im Gesicht ja auch gehörig viele Vorteile genau dieses Lebensalters entgegen.
In der Lebensmitte haben die Menschen oftmals schon so vieles erreicht. Sie sind beruflich gefestigt, materiell gut abgesichert. Führungspositionen werden gerne mit Menschen genau dieser Altersgruppe besetzt. Typischerweise gibt es eine Partnerschaft und Familie, und bei nicht wenigen runden Hund, Haus und Garten das Idyll ab. Personen im mittleren Alter kann man fragen: »Habt ihr nicht all das, was ihr die ganze Zeit angestrebt habt? Warum seid ihr nicht zufrieden?« – »Ja, ich weiß, eigentlich habe ich alles. Aber lohnt sich das auch?« – so und ähnlich lauten die Antworten, die man von den Krisengebeutelten erhält.
Eine Mittvierziger-Freundin hat mir erzählt, dass sie nun zwar das besitzt, was sie immer haben wollte. Nur würde es aber mehr und mehr zur Belastung werden. Der berufliche Erfolg, der sie so viel Lebensenergie kostet. Die Erwartungen, dass die Karriere weitergeht. Die Verpflichtungen durch das Haus. Manchmal, da hätte sie richtige Aussteigerfantasien. Vielleicht würde etwas anderes ja besser zu ihr passen. Und zu ihrer Familie auch.
Es sind in gewisser Weise also die alten Fragen der Menschheit, die meine Freundin in der Lebensmitte umtreiben. Was ist gutes Leben? Worum geht es? Worauf kommt es wirklich an? Und gerade weil sie hat, was sie immer anvisierte, stellen sich die Fragen: Welche Ziele tragen überhaupt? Was macht zufrieden? Wie bleibt man zufrieden bei abnehmenden Ressourcen? Denn freilich spielt bei ihr auch das beginnende Alter hinein. Es macht einen Unterschied, ob die vermutete Zukunft länger ist als die Vergangenheit. Mit Mitte 40 registriert man, dass man etwa bei der Halbzeit des Lebens steht. Dieser Gedanke verändert die Seele.
Seit einigen Jahren boomt die Glücksforschung und die bestätigt, dass viel Haben und viel Lebenszufriedenheit nicht miteinander Hand in Hand gehen. Die Glücksatlanten, die die Forscher kartografieren, verorten zum Beispiel die glücklichsten Menschen Deutschlands schon mal auf den kleinen Nordseeinseln, wo man beileibe nicht alles griffbereit hat. In der weltweiten Betrachtung landen einige arme Länder Südamerikas in Sachen Lebenszufriedenheit vor Deutschland. Venezuela und Brasilien beispielsweise. Was macht also zufrieden? Die Antwort darauf ist nicht so leicht zu finden, denn es ist paradox mit ihr. So paradox, dass man es fast gar nicht glauben kann.
Der Psychologie-Professor Peter Herschbach hat mit seinem Team Daten von über 10 000 Menschen ausgewertet und dabei etwas wirklich Eigentümliches ans Licht gebracht. Es gab die Auffälligkeit, dass Krebserkrankte die Qualität ihres Lebens besser bewerteten als viele Gesunde das taten. Auch die Forscher waren überrascht. Gesundheit und Zufriedenheit gelten ja seit eh und je als miteinander verbundenes Paar. Der Volksmund sagt: »Gesundheit und froher Mut, das ist des Menschen höchstes Gut.« Johann Wolfgang von Goethe: »Was nützt mir der Erde Geld? Kein kranker Mensch genießt die Welt!« Und an sich ist das ja auch plausibel. Aber eben nicht wahr.
Die Wissenschaftler fanden für die erstaunliche Tatsache, dass Menschen trotz schwerer Krankheit lebenszufrieden waren, einen möglichen Erklärungszusammenhang. Das höhere Wohlbefinden hat wohl damit zu tun, dass das Hier und Jetzt für viele zu dem wird, was zählt, wenn die Krebsdiagnose das Leben bedroht. Die Achtsamkeit für die kleinen Glücksmomente steigt. Die Intensität von Gefühlen, das Beeindrucktsein von der Welt. Der Fokus wird konzentrierter. Es ist dann sinnbildlich das Blümchen am Wegesrand, das man in seiner Schönheit bemerkt. Das Vogelzwitschern in der Früh. Oder auch der warme Sommerregen in seiner Herrlichkeit. Die Alltagsschönheiten werden entdeckt in ihrer Vielfalt. »Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen, Unglück oft durch Vernachlässigung kleiner Dinge«, konstatierte Wilhelm Busch.
Es ist schon einige Jahre her, dass ich mit einem Arzt ins Gespräch gekommen bin, der die Ergebnisse der Studie von Peter Herschbach auf ganz persönlicher Ebene bestätigt hat. Er hat auf einer Krebsstation gearbeitet und empfand dies als den »bereicherndsten Beruf der Welt«. Weil die Menschen sich wandeln mit der Diagnose. Statt Status, Macht und Haben sind die Augenblicke bedeutsam. Die Beziehungen zu anderen. Das, was man sich vom Leben wünscht, und das, was das Leben bereithält.
Tieferen und intensiveren Gedankenaustausch als auf der Krebsstation gibt es wohl nirgendwo anders, war Ansicht des Arztes. Und es gebe viel Heiterkeit. Trotz des Leids. Oder vielleicht auch gerade wegen des Leids.
Man nennt es Wohlbefindensparadox, wenn sich widrige Lebensumstände nicht negativ auf das Lebensgefühl auswirken, sondern dieses sogar noch besser wird. Bei den Krebspatienten ist dieses zu finden. Und auch bei Älteren gibt es das.
Für Menschen in fortgeschrittenen Lebensjahren gilt ja: Sie sind zufriedener und fühlen sich besser als Menschen in der Lebensmitte. Und selbst Hundertjährige, die wahrlich viele gesundheitliche Einschränkungen hinzunehmen haben, bewegen sich wohlbefindensmäßig im absolut grünen Bereich. In der Zweiten Heidelberger Hundertjährigen-Studie wurde aufgezeigt, dass überragende 82 Prozent der Hundertjährigen mit ihrem Leben zufrieden sind – 46 Prozent von ihnen sind sogar sehr zufrieden. Überhaupt nicht zufrieden, so schätzte nur ein einziger der 112 Befragten seine Lage ein. Angesichts der Tatsache, dass nur einer von fünf Hundertjährigen keine Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nahm, macht sich auch hier das Gefühl breit, dass das doch paradox ist.
Gesundheit und Unversehrtheit scheinen in Sachen Zufriedenheit und Wohlbefinden von relativer Bedeutung zu sein. Körperlich – und mag es die Werbung heute tausendmal überdecken mit ihren Bildern von extrem fitten Personen 60plus – gibt es kein gelingendes Altern. Aber das macht die psychischen Mechanismen, derer sich Ältere bedienen, damit es ihnen gut geht, nur umso beachtenswerter.
Und den hadernden Mittvierzigern möchte man hier zurufen: »Schaut euch das Alter bitte genauer an. Es ist nicht euer Feind, sondern es könnte euer Lehrmeister sein. Was die Zufriedenheit anbelangt. In einigen Jahren seid ihr mehr im Einklang mit eurem Leben. Man kann sich Cleveres von Älteren abschauen – wie man glücklicher lebt. Lebenskunst. Die körperlichen Abbauprozesse beim Altern sind zwar ärgerlich, dennoch sind sie nicht das Ende. Eigentlich machen sie es noch beeindruckender, was man offensichtlich im psychischen Bereich dazugewinnen kann.«
Es lohnt sich aber auch noch aus einem weiteren Grund, wenn man sein Altersbild in jüngeren Jahren einmal auf den Prüfstand gelegt hat. Älter wird jeder, und dann ist er mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert. Mit den positiven oder mit den negativen Ansichten über fortgeschrittene Lebensjahre. Und die haben nachdrückliche Wirkung, denn man wird, was man denkt.
Wer ein positives Altersbild hat, der nutzt die Chancen im Alter und erhält sich durch aktives Tun Gesundheit, Kognition und ein positives Lebensgefühl. Bei Personen mit negativem Altersbild ist das anders. Die sehen Alternseinschränkungen als unumgänglichen Abbau. Weil Alter für sie einseitig Verlust und Verschlechterung bedeutet, verbleiben sie passiv, wie gelähmt, und vertun die Gestaltungschancen fortgeschrittener Lebensjahre. »Wer rastet, der rostet«, das gilt für diese Älteren. Doch es kommt noch schlimmer. Wer ein negatives Altersbild hat, der stirbt früher. Das hat eine Langzeitstudie der Yale University in New Haven/USA ergeben.
Dass die Lebenserwartung auch vom Altersbild abhängt, hat die Gesundheitsforscherin Becca Levy von der Yale University herausgefunden. Dafür analysierte sie Fragebögen, die 660 Bewohner der Kleinstadt Oxford im amerikanischen Ohio 23 Jahre zuvor ausgefüllt hatten. Es ging um Altersbilder; Aussagen folgender Art wurden bewertet: »Wenn man älter wird, ist man weniger nützlich.«
Personen die in ihren Antworten ein positives Altersbild wiedergaben, lebten länger als die anderen, fand Levy bei der Analyse 23 Jahre später heraus. Sage und schreibe siebeneinhalb Jahre. Selbst Nichtraucher, die sportlich und schlank waren, schlugen im Vergleich nur ein Lebensplus von drei Jahren heraus. Mit einem guten Altersbild schafft man sich also einen ordentlichen Zeitgewinn. Daher empfiehlt es sich, sein Altersbild ab und an zu durchleuchten, es zu differenzieren und die Vorstellungen über die höheren Lebensjahre auszubauen. Für das Alter gilt wie auch in anderen Bereichen das Gesetz der sich selbst erfüllenden Prophezeiungen.
Denn wer glaubt, sein Leben in jedem Alter bestimmend in der Hand zu haben, lebt mehr nach seinen Vorstellungen. Er entwickelt sich und nimmt Gestaltungsspielräume wahr. Sei es in Sachen Körper, Geist oder Seele. Wer dagegen denkt, nichts Gutes mehr erwarten zu können, dem wird genau das blühen. Er empfindet sich allzu leicht als Spielball fremder Mächte, die ihm Energie und Gesundheit rauben. Doch statt etwas für die Verbesserung der Lage zu tun, gibt sich der Pessimist den Abbauprozessen hin. Und so werden seine Erwartungen auch nicht enttäuscht werden, getreu dem Aphorismus des bekannten Automobilherstellers Henry Ford: »Ob du glaubst, du schaffst es, oder ob du glaubst, du schaffst es nicht, in jedem Falle wirst du recht behalten!«
Ein gutes Altersbild ist ein echter Lebensjoker. Allerdings soll das Altersbild auch realistisch sein. Denn trotz aller positiven Veränderungen gilt natürlich eins: Körperlich betrachtet ist Alter ein Ärgernis. Es raubt Sehschärfe, Hörvermögen, Muskelkraft, und das Immunsystem des Körpers ist irgendwann auch nicht mehr das, was es mal war. Im Kern tragen all diese Veränderungen die Botschaft, dass das Leben ein Ende finden wird. Dass der Mensch und sein Körper nicht für die Ewigkeit gemacht sind. Jeder hat nur eine gewisse Zeit auf Erden und Alterserscheinungen weisen nachdrücklich darauf hin, dass der Tod näher rückt.
Das im Blick habend, muss man diagnostizieren: Es ist wirklich eine enorme Leistung älterer Menschen, sich befindensmäßig nach oben zu katapultieren, während Abbau spürbar wird. Und er ist im Alter spürbar. Die Organe verlieren zum Teil erheblich an Leistungsfähigkeit. Betrachtet man nur mal den Bereich der Atmung, so nimmt von 20 bis 60 Jahren die Funktion um fast die Hälfte ab. Alles wird anstrengender, weil die Sauerstoffversorgung im Vergleich zu früher schlechter klappt.
Oder man nehme die älter werdenden Muskeln, die haben zum Beispiel entwicklungstechnisch das Problem, dass sich zunehmend Fett in ihnen einlagert. Was die Muskeln in der zweiten Lebenshälfte auch tun, sie tun es nicht mehr so ökonomisch, wie sie das früher getan haben. Selbst der, der gegen den Kräfteverlust antrainiert, merkt, dass das Training in jugendlicheren Jahren viel mehr gebracht hätte. Das Leben hinterlässt überall im Körper seine Spuren. In Gelenken, Muskeln, Knochen und Gewebe. Trotz aller guten Dinge, die sich über das Alter sagen lassen, liegt im körperlichen Abbau ein nicht wegzudiskutierendes Manko.
Aber all das macht deutlich, welche wirklich starken Charaktere sich unter älteren Menschen finden. Wie positiv die psychische Entwicklung tatsächlich ist, wenn all das Negative so erfolgreich wegkompensiert werden kann. Innere Festigkeit, psychische Widerstandsfähigkeit, Resilienz, wie man es auch nennen mag – Fakt ist, bei gelingend alternden Menschen wirkt eine wunderbare innerliche Kraft. Deswegen gibt es ein Buch über die Lebenskunst der Älteren und nicht nur einen Flyer. Und eine erste beachtenswerte Kompetenz älterer Menschen besteht darin, sich eine Umwelt herzustellen, die ihnen mehr angenehme Gefühle vermittelt. Es geht auch und besonders um soziale Beziehungen. Die können immens viel zur Lebenszufriedenheit beitragen. Und umgekehrt viel Energie und Lebensfreude nehmen. Überhaupt gibt es sehr viel, was Ältere vorausschauend beachten – hier ein Vorausblick, um was es im Folgenden gehen wird.
»Was braucht man zum glücklichen Leben?« – »Wie lebt man richtig?« –« Wie lebt man gut?« – Ältere geben zwar keine Pauschalantworten auf solche grundsätzlichen Fragen des Daseins. Aber sie geben wertvolle Anregungen, die von Wissenschaftlern untersucht und in ihrer bereichernden Wirkung bestätigt worden sind: Wer sich beschränkt, der hat letztlich mehr vom Leben; Menschen, die auf allen Hochzeiten tanzen, sind erschöpft und nicht glücklich; die Hälfte kann manchmal mehr als das Ganze sein, sowohl was Besitztümer und Ziele als auch was soziale Kontakte anbelangt. Diese Richtung schlagen die Lebensmanagementstrategien Älterer ein. Die Überschriften der ersten Kapitel geben bereits Hinweise, wohin die Reise geht: »Die U-Kurve des Glücks – Vom Tal des Lebens zum Gipfel gehen«, »Stichwort ›Weniger ist mehr‹ – Sich ein Leben gestalten, das guttut« und »Die große Befreiung – Mit weniger Relikten der Vergangenheit die Zukunft leben«.
Ein spezielles Thema der zweiten Lebenshälfte ist auch der bedachte Umgang mit Zeit und Energie. Die Kapitel »SOK oder die Rubinstein-Strategie – Was man tun muss, um ein großer Lebenskünstler zu werden« und »Ein Suchscheinwerfer für die Möglichkeiten – Mit Pragmatismus die Chancen sehen« richten ihren Fokus darauf. Zumal es ebenso eine hochaktuelle Angelegenheit für Menschen im jüngeren und im mittleren Lebensalter ist, zapft das rasante moderne Leben doch bereits gehörig an deren Reserven. Auf die eigenen Grenzen achten, das Wohlergehen schützen, seine Verletzlichkeiten ernst nehmen – all das sind Kompetenzen Älterer, die heute schon früher im Leben abgefragt werden. »Die Kunst der Lebensführung besteht bekanntlich darin, mit gerade so viel Dampf zu fahren, wie gerade da ist«, empfahl Theodor Fontane.
Obwohl Ältere nun in vielerlei Hinsicht leben, was Jüngere bereichern kann, so ist von einer öffentlichen Wertschätzung dieser Lebenskompetenzen nicht allzu viel zu spüren. Alter hat kein gutes Image, wenig an ihm gilt als erstrebenswert. Nicht umsonst spricht man vom letzten Jahrhundert als dem der Jugend. Als Ideal wurde die Jugend damals dominant und ist es heute nach wie vor. In den Kapiteln »Von den Vorteilen, eine reife Persönlichkeit zu haben – Von Heldencharakteren, seelischer Widerstandskraft und mehr« und »Von den Nachteilen, eine reife Persönlichkeit zu haben – Vorstellungen vom Alter, die schaden« werden Vorurteile, Lobpreisungen und Realitäten verschiedener Lebensphasen gegenübergestellt. Immerhin wiegen negativ besetzte Altersbilder nicht nur schwer, sie sind überdies ein Unding. Sie verursachen Leid und kosten Lebensjahre. Ein Beispiel? Ärzte nehmen sich in abnehmendem Maße für Patienten Zeit, je älter diese werden. Am meisten Aufmerksamkeit bekommen Personen im mittleren Lebensalter geschenkt.