Die Legende von Frostherz 1. Die Reise beginnt - Jamie Littler - E-Book
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Die Legende von Frostherz 1. Die Reise beginnt E-Book

Jamie Littler

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Beschreibung

Brillante Charaktere, spannende Abenteuer, magische Welten: Weit draußen, in den fernsten Regionen der Welt, liegt Feura, eine kleine Siedlung, die vom Rest der Menschheit abgeschnitten ist. Als der junge Ash seine verbotene magische Fähigkeit, das "Klangweben", einsetzt, wird er verbannt und macht sich mit dem wortkargen Yeti Tobu auf eine abenteuerliche Reise an Bord der "Frostherz". Dabei trifft er auf viele neue Verbündete – und ebenso viele Gefahren.

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Über dieses Buch

Verbannt im eisigen Schneemeer, belauert von Monstern und Leviathanen, muss Ash mit seinem Yeti Tobu auf ein Schlitten-Schiff, die Frostherz, fliehen. Denn Ash beherrscht das magische, aber streng verbotene Klangweben, das angeblich die Leviathane erst zu gefährlichen Bestien macht. Die furchtlosen Pioniere der Frostherz wollen ihm dennoch helfen, seine verschollenen Eltern zu finden. Doch kann Ash auch das Geheimnis des Klangwebens enthüllen?

 

Die Reise beginnt: Der erste Band der fantastischen Trilogie entführt die Leser in eine außergewöhnliche Welt voller Abenteuer, Spannung und Magie.

Für meine Agentinnen Jodie und Emily, deren Navigationstalent für mich eine unverzichtbare Hilfe war, um meinen Weg durch die Ödnis zu finden

1Das Lied

Eigentlich hätten sie nicht draußen auf dem Schnee sein sollen.

»Der Schnee versteckt den Tod«, sagte man im Volk der Feura – nur eine von vielen fröhlichen Redewendungen, die sie ihren Kindern beibrachten, sobald diese alt genug waren, es sich zu merken. Und aus gutem Grund. Der Schnee war ein tödlicher Ort.

Doch der Ball lag so nah.

Quälend nah, trotzdem hätte er ebenso gut eine Million Kilometer weit weg sein können. Ein dunkler Punkt inmitten der endlos weißen Ebene. Schweigend blickten die vier Kinder ihn an. Sie rührten sich nicht. Sie trauten sich nicht. Jeder von ihnen war angespannt und bereit, beim geringsten Geräusch wegzurennen.

Ash, der Kleinste von ihnen, steckte fröstelnd die Hände unter die Achselhöhlen, um die Wärme seiner Felle möglichst ganz zu nutzen. Sein Atem stand als weißes Wölkchen in der Luft. Neben ihm schniefte sein Freund Flint und wischte sich mit dem Ärmel den Rotz ab. Flint hatte immer eine Schnoddernase. Es war beinahe so, als wäre er die Kälte nicht gewöhnt, was komisch war, da es seit Menschengedenken keinen einzigen warmen Tag mehr gegeben hatte.

»Wir könnten ihn holen«, sagte er und schniefte schon wieder. »So weit ist das nicht.«

War es auch nicht. Trotzdem rührte sich keiner.

»Dann hol ihn doch«, forderte Sheina Flint auf. Ihr strubbliges dunkles Haar hatte sie sich mit einem Lederband aus der Stirn gebunden, sodass ihre grundsätzlich mürrische Miene gut zu sehen war.

»Was?! Ich geh da nicht raus! Lodo hat ihn über die Mauer geschossen – soll er ihn doch holen!«

»Ash hat zu kräftig abgegeben! Das macht er ständig – als er noch bei uns wohnte, hat er jede Menge Bälle verloren«, sagte Lodo, die runden Wangen rot vor Kälte.

»Stimmt, als er bei uns gewohnt hat, hat er auch alle verschossen«, bekräftigte Sheina.

»Okay, okay! Ich schieße zu fest. Hab’s ja kapiert!«, sagte Ash.

»Überhaupt ist es dein blöder Ball«, fuhr Lodo Flint an.

»Ganz genau! Es ist meiner, und ich will ihn wiederhaben!«, gab Flint zurück.

»Du hast zu Hause doch noch einen Ball, Flint«, sagte Ash, der den Streit beenden wollte. »Warum spielen wir nicht mit dem? Wir sind viel zu dicht am Schnee – wir sollten gar nicht hier sein …« Inzwischen schlotterte er richtig, und zwar nicht nur vor Kälte. Er schaute zur befestigten Siedlung weit über ihnen, die gemütlich auf der sicheren Felskuppe thronte. Aus der Ferne sah sie noch kleiner aus als ohnehin, gefangen und abgeschieden im endlosen Weiß. Ash wollte nichts lieber, als die gewundene, hölzerne Stelzentreppe hoch und zurück durch das Haupttor gehen. Wo ihnen nichts passieren konnte.

»Ash hat recht. Man hat Leviathane in der Nähe gesichtet, Lauerer. Und ich habe keine Lust, als Frühstück für irgendeinen dämlichen Lauerer zu enden …«, schnaubte Sheina.

»Das dauert keine Sekunde!«, beschwerte sich Flint.

Noch immer rührte sich niemand. Eine Wolke schob sich vor die Morgensonne und färbte die schummrige Schnee-Ebene noch dunkler. Es wurde kälter. Stiller. Kein einziger Laut war zu hören. Nichts, außer dem wispernden Wind und Flints gelegentlichem Schniefen. Die kalte Brise schnitt in Ashs Gesicht.

»Leute …«, begann er.

»VONMIRAUS! Ich hol das Ding! MANN, ihr seid ja solche Feiglinge!«, schimpfte Lodo. »Ihr passt auf! Wenn die Erwachsenen mich erwischen, bringen sie mich um.«

»Um die Erwachsenen mache ich mir keine Sorgen …«, murmelte Ash. Er betrachtete den Schnee, sah aber nur ununterbrochenes, glitzerndes Weiß. Es schien unmöglich, dass sich darunter etwas verstecken könnte. Aber genau das können Lauerer am besten … sich verstecken.

Lodo streckte die Arme aus und rieb sich die Hände, um sich auf den Weg zum Ball vorzubereiten. Er lag ungefähr zweihundert Schritte von ihnen entfernt. Das war weit. Weit genug, dass die Kinder deswegen in ihren Stiefeln zitterten.

Nach kurzem Zögern machte Lodo endlich den ersten vorsichtigen Schritt runter vom Holzpodest auf den Schnee.

Er erstarrte.

Die Kinder hielten den Atem an.

Nichts passierte.

Die Kinder atmeten erleichtert aus. So leise und flink wie möglich lief Lodo zum Ball. Seine Ulchfellstiefel gaben ein leises Pff Pff Pff Pff von sich, während er durch den Schnee schlich. Jetzt war er noch etwa hundert Schritte vom Ball entfernt.

Fünfzig.

Zwanzig.

Ash konnte kaum hinsehen. Gleichzeitig musste er hinsehen. Trotz der Kälte tropfte ihm Schweiß in den Nacken.

Zehn Schritte.

Fünf Schritte.

Einer.

»Hab ihn!«, rief Lodo und hob den Ball auf. Erschrocken über die Lautstärke, schlug er sich die Hand vor den Mund.

»Bring ihn zurück!«, flüsterte Flint, so laut er sich traute. Lodo nickte und setzte zum Rückweg an.

»Das schafft er!«, sagte Sheina.

Ash lachte erleichtert.

Dann: WUMMM!

Schnee spritzte in die Luft, wie Wasser aus einem Geysir. Die Kinder taumelten rückwärts, als es eisigen Matsch auf sie regnete. Aus der Schneespalte erhoben sich drei mächtige Gestalten.

»Lauerer«, keuchte Ash voller Angst.

Die Kreaturen waren glitschig, glatt und erinnerten an Schlangen. Sie waren größer als zwei Männer, hatten sechs frostweiße, schielende Augen und weit aufgerissene Mäuler voll eisig spitzer Zähne und geifernde Zungen. Trotz ihrer wenig eleganten kriechenden Art, sich vorwärtszubewegen, waren sie schrecklich schnell – so schnell, dass man ihre dornigen Zacken, scharrenden Krallen und peitschenlangen Schwänze fast nur verschwommen sehen konnte. Für Ash waren sie wie eine zuckende Masse aus blankem Horror.

»Sie haben ihm den Rückweg abgeschnitten!«, schrie Sheina. Sie hatte recht. Die Lauerer blockierten Lodos Zugang zur Siedlung, während sie hungrig auf ihn zustürmten. Lodo war vor Angst wie gelähmt.

»Wir müssen die Erwachsenen holen!«, brüllte Ash, doch das hätte er sich sparen können. Ein Späher auf dem Wachturm oben hatte bereits gesehen, was los war.

»LAUERER!«, donnerte er. »JÄGER,AUFDIEZINNEN!«

In der Zwischenzeit hatten die Lauerer Lodo, der immer noch wie zur Eissäule erstarrt dastand und vor Angst wimmerte, fast erreicht.

»Lodo, LAUF!«, schrie Ash, so laut er konnte. Das schien Lodo endlich wachzurütteln. Er ließ den Ball fallen und sprintete los, versuchte verzweifelt, einen Weg um die anrückenden Lauerer herum zu finden.

Plötzlich wuchs ein gieriges, brutales Geräusch an, das mit grauenerregender Wut über die Ebene hallte. Es war der Gesang der Lauerer. Harsches, zerrissenes Heulen und Kreischen stach in Ashs Ohren, und sein Magen wollte sich am liebsten umdrehen, als er den Hass der Leviathane spürte. Dies war ein Kriegslied.

»MENSCHEN. FANGEN. TÖTEN.«

Ash und die anderen Kinder hielten sich die Köpfe, als das tosende Geschrei sie mit Wucht erfasste, obwohl Ash wusste, dass er als Einziger die Worte tatsächlich verstehen konnte. Genau wie er der Einzige war, der sehen konnte, wie die Luft um die Lauerer vor blutroter Energie leuchtete. Eine Aura von schlangenförmigen Tentakeln, die sich windend nach Lodo ausstreckten, erfüllt von der Grausamkeit der Monster.

Auf den Zinnen katapultierten die Jäger der Feura mit Schleudern Steinbrocken auf die Ungeheuer, die von deren schleimiger Haut abprallten und wenig Schaden anrichteten. Auch die Harpunenwerfer machten kümmerliche Angriffsversuche, aber die Bestien waren der Mauer zu nah, sodass die riesigen Harpunen in weitem Bogen ihr Ziel verfehlten. Ein Lauerer hatte Lodo fast erreicht und riss weit das Maul auf … Doch bevor er ihn verschlingen konnte, sprang ein anderer Leviathan ihm in den Weg, wild entschlossen, als Erster bei der Mahlzeit anzukommen. Die Giganten begannen zu kämpfen, fielen als raufendes Knäuel auf den Boden und wirbelten eine Schneewehe auf.

Lodo nutzte die Gelegenheit und sprintete um die zappelnden Leiber herum. Er flitzte schnurgerade auf die Holzterrasse zu, auf der die Kinder entsetzt warteten.

»MACHSCHON, LODO!«, brüllte Ash.

Lodo rannte, so schnell seine kurzen Beine ihn tragen konnten. Schließlich lösten sich die Ungeheuer voneinander, schnappten nacheinander und gifteten sich an, bevor sie die Verfolgung wieder aufnahmen. Lodo hatte die Plattform fast erreicht, doch die Lauerer waren nur Zentimeter hinter ihm.

»Sie … sie kommen hierher!«, stellte Flint entsetzt fest. »So wichtig ist mir der Ball auch wieder nicht!« Er machte auf dem Absatz kehrt und hastete die Treppe hoch, dicht gefolgt von Sheina.

Ash allerdings blieb stehen und wartete mit ausgestreckten Armen auf Lodo. Endlich schaffte dieser es auf den hölzernen Steg und packte Ashs Hand. Ash zog ihn zu sich und schrie: »LOS, LOS, LOS!« Gemeinsam rasten sie über die wackligen Stufen, die zum sicheren Eingang der Festung führten. Doch sie waren erst wenige Schritte weit gekommen, als ein Lauerer die Pfosten zerfetzte, von denen die Stufen getragen wurden. Es regnete Holzsplitter. Mit einem leisen Ächzen begann die Treppe, Richtung Schnee zu kippen.

»Weiter!«, schrie Ash. Die beiden Jungen versuchten, schneller zu sein als das umstürzende Gerüst, doch ohne Erfolg. Die Stufen bebten und schwanken unter ihnen. Lodo rutschte aus und glitt auf den gierigen Schlund des Lauerers unter ihm zu.

»JAGEN. TÖTEN. FRESSEN.«

»HILFE!«, brüllte Lodo.

Ash wusste nicht, was er tun sollte. Lodo klammerte sich am Rand fest, doch links und rechts von ihnen krachten immer mehr Stufen in die Tiefe. Das Tor schien noch immer so weit entfernt. Die Jäger strömten nach draußen, aber sie würden die Jungen nicht rechtzeitig erreichen. In Ashs Kopf überschlug sich alles, und beim Anblick des Lauerers am Boden wurde ihm übel.

Er war verzweifelt. Er wollte nicht sterben, aber das war nicht alles. Er spürte, wie ein mächtiger Drang ihn zu überwältigen drohte, etwas, das in seinem Innern vor sich hin brodelte, schon solange er denken konnte.

Es war der Drang zu singen.

Es wäre Ash verrückt vorgekommen, bescheuert, ja sogar lustig, hätte er sich nicht wenige Meter von einem Rudel ausgehungerter Bestien befunden. Gleichzeitig erschien ihm nichts auf der Welt selbstverständlicher. Warum, hätte er nicht sagen können, aber tief in seinem Herzen war er davon überzeugt, dass er diese Sache beenden konnte, wenn er zu den Lauerern sang – etwas, um gegen ihr grauenvolles Lied anzukämpfen. Ash sah keinen anderen Ausweg.

Aber ich darf es nicht tun.

Sein Stamm würde ihn mit Sicherheit verbannen. Die ganzen üblen Gerüchte … sie würden sich als wahr erweisen. Er würde allen zeigen, dass er tatsächlich das Monster war, vor dem die Feura sich schon so lange fürchteten.

Nein. Das geht nicht … Ich kann nicht. Ich bin normal!

Knarrend und ächzend zog das Treppengerüst die Jungen mit sich auf die schnappenden Rachen zu. Ash biss die Zähne zusammen und fasste einen Entschluss. Er öffnete den Mund …

Ein widerliches Ffrupp ertönte. Unter ihnen bäumte sich einer der Lauerer auf und brüllte vor Schmerz, während ein Pfeil aus einem seiner vielen Augen ragte. Die Kreaturen wirbelten zu dem Angreifer herum, und Ash folgte ihrem Blick.

Aus der Ödnis war ein Jagdtrupp zurückgekehrt, der durch den Schnee auf die Kinder zustürmte, allen voran Ashs Vormund, der mächtige Yeti-Krieger Tobu. Den Bogen in der Hand, griff er nach dem nächsten Pfeil aus seinem Köcher. Beim Anlegen warf er Ash einen finsteren Blick zu – fast, als hätte er irgendwie gespürt, dass Ash vorgehabt hatte zu singen.

Auch wenn das angesichts des Chaos kaum möglich schien, rutschte Ash das Herz noch tiefer in die Hose.

Mist, das gibt Ärger.

»HIERHER!«, riefen die JÄGER, wedelten mit den Händen, johlten und machten so viel Lärm wie nur möglich, um die Lauerer zu sich zu locken. »KOMMTSCHON, IHRHÄSSLICHENVIECHER!« Heulend pflügten die Lauerer auf sie zu, und die Jäger stoben in verschiedene Richtungen auseinander, sodass die sich nähernden Lauerer nicht wussten, wem sie zuerst folgen sollten. Fast augenblicklich bohrte sich eine große Harpune in die Flanke des einen und spießte ihn mit einem tiefen Klonk am Boden fest. Der Gigant stieß einen letzten Schrei aus, der Mark und Bein gefrieren ließ, bevor er erschlaffte. Blaues Blut hüllte nach und nach seinen ganzen Körper ein, wie Frost, der sich über einer Pfütze bildete. Innerhalb von Sekunden hatte die Bestie sich in glitzerndes Eis verwandelt. Sie war tot.

Als die übrigen beiden Lauerer begriffen, in welcher Gefahr sie sich befanden, ließen sie von ihrer Beute ab, tauchten unter den Schnee und gruben sich davon.

Ash spürte, wie die Welt wieder leise wurde, vollkommen still, abgesehen vom Geräusch des Jagdtrupps, der zu ihm und Lodo eilte.

Es war das Letzte, was er sah, bevor er sich den Kopf am Holz stieß und alles schwarz wurde.

2Böses Erwachen

Klangweber.

Wie ein Vorwurf blitzte das Wort durchs Ashs Kopf, sobald er das Bewusstsein verloren hatte. Jetzt wälzte er es in Gedanken immer wieder hin und her, während er am Rande seines Bewusstseins merkte, dass jemand – bestimmt Tobu – ihn behutsam nach Hause trug. Das Wort war wie ein Schatten, der ihm auf Schritt und Tritt folgte. Dabei wusste Ash nicht einmal, was es bedeutete. Er wusste nur, dass es etwas Schlimmes war.

Ehrlich gesagt war Tobu nur der Letzte in einer langen Reihe widerwilliger Vormunde, die verpflichtet worden waren, sich um Ash zu kümmern, seitdem seine Eltern verschwunden waren. Seine Mutter und sein Vater waren Pioniere, ein Umstand, der Ash sowohl stolz als auch traurig machte. Pioniere waren furchtlose Händler und nebenbei die letzte Hoffnung des Menschenvolks, ein letzter Versuch, die weit verstreuten Festungen zu einer Art vereinten Zivilisation zu verknüpfen. Nicht lange nach seiner Geburt waren seine Eltern wie unzählige Male zuvor auf ihrem Schlitten, der Feuergleiter, aufgebrochen. Danach haben die Feura sie nie wiedergesehen, und für Ash brach die Zeit an, da er vom gesamten Stamm adoptiert wurde. Vor Tobu hatte er bei Charr und ihrer Familie gewohnt, was eigentlich ganz gut gelaufen war. Bis er angefangen hatte zu singen.

Klangweber …

Ash war klar, er hätte es besser lassen sollen. Die Feura hatten schreckliche Angst vor dem Singen – vor Klangwebern, was immer das auch heißen mochte –, sodass jede Form von Musik in der Festung grundsätzlich verboten war. Und es hatten bereits Gerüchte die Runde gemacht darüber, wer Ash war … was er war. Trotzdem hatte er es getan.

Zu Ashs Verteidigung: Er hatte lediglich ein Schlaflied gesungen – das Wiegenlied, das seine Eltern ihm immer vorgesungen hatten, bevor sie aufgebrochen waren. Sosehr Ash es auch versuchte, konnte er einfach nicht damit aufhören, es sich selbst leise vorzusummen. Der Drang überkam ihn so oft, dass er meistens gar nicht bemerkte, was er tat.

Ash summte es sich zum Trost vor, um das Gefühl zu haben, seine Eltern wären noch da. Immerhin war es alles, was ihm von ihnen geblieben war. Leise und gedankenverloren sang er es, wenn er am kalten Morgen seine Ledertunika und den Fellmantel anzog. Kaum hörbar sang er es im Unterricht, wenn er Jagen, Bogenschießen und die Zeichensprache der Jäger übte – sobald ihm die schroffen und entsetzten Blicke der anderen Dorfbewohner auffielen, schlug er jedes Mal eine Hand vor den Mund. Nachts ließ er die wenigen Worte, an die er sich erinnern konnte, durch seinen Kopf ziehen, wie eine wärmende Decke, die ihm beim Einschlafen half. Es war unschuldig. Es war harmlos.

Aber das zählte nicht als Ausrede.

Zumindest nicht für seine Pflegemutter Charr, die Ash sofort aus dem Bett gerissen und mitten in der Nacht zu Aldermann Kindils Behausung gebracht hatte. »Er hat gesungen!«, hatte sie mit angsterfüllter Stimme geflüstert.

»D…das stimmt nicht!«, hatte Ash mehr als kleinlaut gepiepst. Eine glatte Lüge, aber etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.

»Ich kann das nicht, Aldermann!«, hatte Charr gesagt. »Ich muss an meine eigenen Kinder denken. Das Risiko ist mir zu groß. Bei mir ist kein Platz für einen …«, Charr schaute verstohlen von einer Seite zur anderen, als hätte sie Angst, es auszusprechen, »… einen Klangweber.«

In Ashs Nacken hatten die Härchen zu prickeln begonnen. Schon wieder dieses Wort.

Vor den großen Holztoren des Ratsherrenhauses stand Ash neben seinem Vormund. Aus dem Durchgang hinter dem Aldermann drang warmes, einladendes Licht, doch der Alte machte keine Anstalten, sie hereinzubitten. »Ich bin nicht feige«, fuhr Charr fort, obwohl sie offensichtlich Angst hatte. »Aber ich bin auch nicht dumm. Die Angriffe der Leviathane werden immer schlimmer. Mit jedem Winter werden sie feindseliger, und wir verlieren mehr Leute. Man kann kaum noch die eigenen Gedanken hören, so oft singen sie mittlerweile. Auch der Junge singt immer öfter – genau wie die! Die Giganten hassen uns, und sie werden mit dem Jungen etwas Böses anzetteln, glaub mir. Es tut mir leid, aber bei mir kann er nicht bleiben.«

Aldermann Kindil, das große, eindrucksvolle Oberhaupt des Feura-Volks, seufzte schwer. Er wirkte müde. Obwohl seine Schultern so breit wie ein Schlitten waren, hatte sich Grau in seinen geflochtenen Bart geschlichen, und Runzeln zerfurchten sein Gesicht, die seine vielen Narben zerknitterten. Die Aura altehrwürdiger Kraft, die er ausstrahlte, wurde von den großen Plüschpantoffeln an seinen Füßen nur minimal gestört.

Ash fühlte sich, als säße sein Herz in einem schmerzvollen Schraubstock. Es fiel ihm immer schwerer, die Tränen zurückzuhalten. Wieder einmal weitergereicht …

Als sie sein Gesicht sah, streckte Charr die Hand nach ihm aus, wie um ihn in den Arm zu nehmen, ihn zu trösten, wie sie es früher getan hatte. Doch dann zögerte sie und zog die Hand schließlich fort. »Es tut mir leid, Ash. Wirklich.«

Kindil kratzte sich nachdenklich am Bart. »Obwohl er gegen das Gesetz der Feura verstoßen hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass sein Gesang mehr als irgendein Kinderlied war, das er sich ausgedacht hat.« Ash schaute den Aldermann voller Hoffnung an, begegnete jedoch einem Blick, der deutlich machte, dass er noch lange nicht vom Haken war. »Sosehr es mich schmerzt, kann ich dich offenbar nicht dazu überreden, dich um den Jungen zu kümmern. Trotzdem haben die Feura die Pflicht, sich seiner anzunehmen. Wenn das Kind nicht bei dir bleiben darf, müssen wir einen anderen finden.«

Ash war vor Scham rot angelaufen. Er wusste, dass dem Aldermann die Alternativen ausgingen. Der Alte schaute sich in dem ruhigen, leeren Dorf um. Vorbeiziehende Pioniere bezeichneten die Festung als klein im Vergleich zu denen weiter im Süden. Ash hatte keinen Grund, daran zu zweifeln, trotzdem hatte er nie eine andere kennengelernt. Die Siedlung bestand aus etwa fünfzig Steinbauten, die sich um das Haus des Aldermanns in der Mitte scharten – wie eine Ulchherde, die sich zu einem schützenden Kreis aufgestellt hatte. Um all das herum reckten sich hohe Steinmauern in den Himmel. So stand die Festung auf der schneebedeckten Klippe, die die Siedlung aus dem gefährlichen Schnee der Ebene hob. An jeder Ecke gab es hohe Wachtürme, die durch Brücken aus Stein oder Eis mit den Mauern verbunden waren – reglose Wächter, die sie vor dem verborgenen Feind beschützten, der alle bedrohte. In der Festung gab es eine Gerberei und ein Schlittendock (das meist leer stand), aber das war so ziemlich alles. Jeder kannte jeden, und alle gaben ihr Möglichstes, um sich gegenseitig zu helfen – wenn man quasi aufeinander wohnte und vom Rest der bekannten Welt abgeschnitten war, hatte man keine andere Wahl.

Ash entdeckte in der Nähe einen Riesen, der einen großen toten Ulch über der Schulter trug, als wiege das Tier nicht mehr als ein Sack Rotwurzeln. Die Gestalt hatte schneeweißes Fell, einen langen Schwanz, trug eine aufwendige Rüstung und auf dem muskulösen Rücken einen Speer. Es war Tobu, der mysteriöse Yeti-Eigenbrötler. Von ihm wusste Ash nur, dass man ihn vor Jahren, lange vor Ashs Geburt, aus den Yeti-Landen im Weltengratgebirge verstoßen und in der Feste der Feura aufgenommen hatte. Außerhalb ihrer eigenen Gebiete bekam man Yetis kaum zu Gesicht. Aus gutem Grund respektierte man sie als mächtige Krieger. Selbst Aldermann Kindil musste zu Tobu aufschauen, und Kindil war mit Abstand der größte Mann im Dorf.

Wie die meisten der Feura hatte Ash Angst vor Tobu.

Offenbar hatte Kindil den Yeti ebenfalls erspäht, denn bevor Ash sich’s versah, winkte er den Riesen zu sich.

»Tobu!«, rief Kindil. »Auf ein Wort, bitte?« Tobu wirkte überrascht, kam aber zu ihnen und grunzte zur Begrüßung. Sein weißes Fell war voller Blut von dem Ulch über seiner Schulter. »Tobu«, begann der Aldermann, »du bist ein wertvolles Mitglied unseres Dorfes, ein eiserner Verteidiger unserer Mauern und ein unübertroffener Jäger. Wir schätzen uns glücklich, dich bei uns zu haben.« Tobu schien von den Komplimenten etwas überfahren, nickte aber zum Dank. Er war ein schweigsamer Yeti. »Gewiss erinnerst du dich, dass du einen Eid geleistet hast, als Gegenleistung dafür, dass wir dich innerhalb unserer Mauern aufgenommen haben, und zwar zu tun, was auch immer der Stamm von dir verlangt?«

»Ich erinnere mich«, bestätigte Tobu. Für ein so großes Wesen sprach er sehr leise. Auf Ash wirkte er dadurch nur umso gruseliger, weshalb er einen Schritt zurückwich.

»Nun, die Feura brauchen deine Hilfe bei einer großen Aufgabe. Dieser Junge, Ash, braucht einen Vormund, der ihn großzieht, beschützt und aus ihm einen starken Feura-Jäger macht. Ich bin hocherfreut, zu verkünden, dass dieser Vormund ab sofort du bist, Tobu.«

Ash hatte das Gefühl, als wäre sein Herz stehen geblieben. Tobu ließ den toten Ulch fallen, der mit einem widerlichen Wumpff in den Schnee plumpste. Der Yeti spannte seine beträchtlichen Muskeln an, ballte die enormen Fäuste und bleckte die Fangzähne, während er tief einatmete. Selbst Charr schien kurz davor, einzugreifen.

Nein, nein, nein, nein, nein!, dachte Ash verzweifelt. Das darf nicht wahr sein! Jeder, nur nicht der!BITTE. Der frisst mich zum Abendessen! Ich will nicht zu Kesselfleisch verarbeitet werden!

»I…ich muss widersprechen«, grollte Tobus tiefe Stimme, während er protestierend die blutigen Hände erhob. »Ich bin kein Kinderpfleger. Das ist …« Der Yeti hatte Ash verächtlich angesehen, und Ash hatte sich bemüht, seinem Blick auszuweichen. »Es ist eine Aufgabe, für die ich nicht geeignet bin.«

Doch Aldermann Kindil wollte nichts davon hören. »Aber, aber«, sagte er und hob eine Hand. »Wir haben dich bei uns aufgenommen, Tobu. Wir haben dir ein Zuhause geschenkt, an dem du vor den Schrecken der Ödnis in Sicherheit bist. Und dies fordern wir nun als Gegenleistung. Ich dachte, der Schwur eines Yeti sei so unvergänglich und unüberwindbar wie das Gebirge, aus dem er stammt?«

Tief aus Tobus Brust drang ein leises Knurren. Er atmete schwer und blähte dabei die Nüstern. Doch schließlich gab er nach und nickte knapp. »Das stimmt.«

»Ausgezeichnet!«, jubelte der Aldermann.

Doch Ash war da ganz anderer Meinung.

 

Den nachfolgenden Monat über hatte Ash sich an dieses Gefühl praktisch schon gewöhnt. Tobus zugiges Heim im Wachturm lag am äußeren Rand des Dorfes, direkt hinter dem östlichen Schutzwall der Festung. Der kleine Raum, den sie sich teilten, war erfüllt vom kräftigen, beißenden Tiergeruch des Yeti. Außerdem war es kalt und einsam, so weit weg von den Feuern des Dorfes – nur eine lange, schmale Brücke aus Eis verband den Turm mit der übrigen Festung. Alle Kinder der Feura wurden in den Überlebenskünsten ausgebildet, doch Tobu trainierte Ash härter als jeden anderen in der Siedlung. Und er machte keinen Hehl daraus, was er von Ashs Fortschritten hielt: »Ich kenne Steine, die flinker sind als du«, hatte er einmal gesagt.

Der Morgen des schicksalhaften Lauererangriffs hatte eigentlich begonnen wie jeder andere: damit, dass Tobu bei Anbruch der Dämmerung Ash wach rüttelte, indem er seine Hängematte brutal hin- und herschaukelte.

»Es ist noch so früh …«, hatte Ash mit einem Blick zu den gurrenden Tauben gestöhnt, die in den Dachsparren des Turms lebten.

Tobu grunzte. »Hoffen wir, es ist noch früh genug, aus dir einen anständigen Jäger zu machen.«

Tobu war ganz wild darauf gewesen, noch vor dem Frühstück eine Übungsstunde unterzubringen. »Frühstück« war dabei vielleicht etwas zu viel gesagt – es war eher eine Sammlung von Wurzeln, die Tobu ausgegraben hatte, frisch aus der Ödnis: noch immer dreckig und ungewaschen. Einschließlich Rotwurzeln, wie Ash aufgefallen war. Er hatte eine Grimasse geschnitten. Ash hasste Rotwurzeln. Es war die Leibspeise der Feura, die Stärke und Durchhaltevermögen mehr als alles andere schätzten. Wie sie selbst waren Rotwurzeln zäh, und man brauchte eine Menge Kraft und Durchhaltevermögen, um die blöden Dinger zu kauen. Und genau wie die Flammen, denen das Volk der Feura huldigte, waren Rotwurzeln feurig und scharf, als würde man sich eine brennende Fackel in den Mund halten. Kamen Pioniere vorbei, gaben sie den Feura im Tausch dafür Felle und Stoffe, aber immer leicht widerwillig.

»Ich mag Rotwurzeln eigentlich nicht«, hatte Ash gesagt. Normalerweise beklagte er sich nie, aber er fand, dass er sich zumindest gegen eins der schlechten Dinge wehren sollte, die ihm in seinem Leben zustießen, und wenn es nur ums Frühstück ging.

»Dachte, alle Feura mögen Rotwurzeln«, hatte Tobu entgegnet.

»Ich glaube nicht, dass ich zu den Feura gehöre. Nicht mehr«, hatte Ash gemurmelt. Seitdem er aus Charrs Heim geflogen war, machten die Dorfbewohner einen weiten Bogen um Ash und tuschelten über das, was er getan hatte. Sie achteten darauf, ihm nicht in die Augen zu sehen, und wenn es doch einmal geschah, verschwand ihr Lächeln schnell. Ash hatte sich daran gewöhnt, was aber nichts daran änderte, dass er jedes Mal das Gefühl hatte, einen Stein im Magen zu haben. Ich weiß nicht mal, was ich falsch gemacht habe, dachte er dann. Nur an meinem Gesang kann es kaum liegen, oder? Ich weiß, ich habe gegen ein Tabu verstoßen, aber es war doch nur ein Schlaflied. Ich habe keinem was getan!

»Dann lass sie eben liegen«, hatte Tobu gesagt und einen Holzschemel hochgehoben, der kaum größer wirkte als die massige Hand des Yeti. Vorsichtig hatte er ihn abgestellt und es geschafft, seine riesenhafte Statur fast schon grazil auf dem Sitz zu balancieren. Die Holzbeine des Hockers ächzten und stöhnten. Tobu schlang seine Rotwurzeln in sich hinein. Mit grimmiger Schadenfreude bemerkte Ash, wie Tobu dank der Schärfe eine winzige Träne ins Auge trat.

Ash wollte zumindest einen Bissen von seiner Rotwurzel riskieren, doch das blöde Ding war so zäh, dass er lange darauf herumkauen musste, bis es ihm schließlich gelang, ein Stück abzureißen. Schmerzhaft knallte seine Hand dabei auf den Tisch, so plötzlich gab die Wurzel nach. Er hielt sich die pochende Hand, starrte auf seinen Teller und atmete schwer.

»Wie oft hab ich’s dir eigentlich schon gesagt?«, murmelte Tobu. »Du musst dich in Geduld und Beharrlichkeit üben, Junge. Du musst –«

»Warum hast du deinen Stamm verlassen?«, unterbrach Ash ihn und wehrte so eine neue Standpauke ab. Tobu war ein großer Freund von Lektionen. Doch der Yeti schwieg, während er seine Wurzel zermalmte.

Ash versuchte es noch einmal. »Wie sind die Yeti-Stämme so?«

»Iss«, antwortete Tobu und runzelte die Stirn.

Ash würgte ein Stück Wurzel herunter, an dem er mindestens zehn Minuten herumgekaut hatte. Beim nächsten Bissen verzog er das Gesicht. Also war Tobu nicht in der Stimmung zu plaudern. Das war nichts Neues …

Nachdem sie ihr »Frühstück« hinuntergezwungen hatten und Ash sich einmal mehr durch ein glanzloses Morgentraining gequält hatte, war es Zeit, sich mit den anderen Kindern der Festung zu treffen – für noch mehr herrlichen Unterricht. Tobu und Ash waren gemeinsam ins Dorf gelaufen, da Tobu sich der täglichen Jagd nach Nahrung und Vorräten anschließen wollte, die für ihren Stamm lebensnotwendig waren. Beim Abschied hatte Tobu Ash einen Stoß versetzt, der vermutlich ermutigend sein sollte, den Jungen stattdessen aber in hohem Bogen durch die Luft fliegen ließ.

Ash hätte schwören können, dass in Tobus Augen dabei etwas aufgeblitzt war, was einem Anflug von Humor verdächtig nahe kam. »Tut mir leid, Ash. Ich vergesse immer wieder, wie leicht und zerbrechlich du bist. Werd’ mir Mühe geben, es mir zu merken.«

»Beeilung, junger Ash!«, ertönte die heisere, ältliche Stimme ihres Lehrers, Lichtbringer Trübe, der mit den anderen, kichernden Feura-Kindern in der Nähe stand. »Es ist nicht die rechte Zeit, um sich im Schnee zu aalen. Dein Unterricht beginnt! Oh ja!«

Lichtbringer, die Geistlichen, die mit den Feuergeistern sprachen, waren dafür verantwortlich, dass die Flammen in der Siedlung nicht ausgingen. Manchmal waren sie die einzige Lichtquelle, die das Dorf im dunklen, kalten Norden des Schneemeers hatte. Außerdem hatten Lichtbringer die Aufgabe, den Kindern des Stammes das Licht des Wissens zu vermitteln.

»Sammelt euch nun, Kinder! Wenn ihr Sturmbabys nicht als Monsterfutter enden wollt, schlage ich vor, ihr spitzt die Ohren und hört gut zu, was ich euch zu sagen habe. Oh ja!«, verkündete Trübe, als Ash sich zur Klasse oben auf der Südmauer gesellte. Der Alte stützte sich auf seinen Stab. Von seinen Fellen hingen Sonnensteinscherben, die wie Regentropfen aus Bernstein funkelten. Er nickte seinen eigenen Weisheiten bekräftigend zu, während in seinem Bart Speicheltropfen glitzerten. »Jäger zu werden – den Schutz unserer Mauern zu verlassen –, bedeutet, dem so gut wie sicheren Tod ins Auge zu sehen!« Die Kinder schluckten im Chor. »Wie ihr alle wisst, gibt es für das Volk der Menschen in den verstreuten Festungen keinen größeren Feind als die Leviathane. Lauerer, Raser – egal welche Sorte, sie alle sind schlimmer als Verhungern, schlimmer als jeder Überfall der Dämonen. Ja sogar noch tödlicher als die frostige Wut der Eisfurie persönlich!« Trübe gestikulierte dramatisch in Richtung der öden Schnee-Ebenen rings um sie herum. »Die ausgehungerten Biester verbergen sich unter dem Schnee, immer auf der Lauer! Oh ja, immer auf der Hut, warten sie auf jeden, der tapfer oder töricht genug ist, einen Fuß auf den Schnee zu setzen. Um eine solche Bedrohung überleben zu können, muss man die erprobten und bewährten Geheimnisse der Feura-Jäger erlernen, die von Generation zu Generation überliefert werden. Oh ja!«

Während er redete, schritt der Lichtbringer vor der Klasse auf und ab. Sein Kinn war in ständiger Bewegung, während sein Mund einen Speichelfaden hochzog, der hatte flüchten wollen. Ash stand neben Lodo, Sheina und Flint, die einzigen Kinder in der Siedlung, die offenbar nicht glaubten, dass Ash ein Klangweber sein könnte. Für Ash waren sie damit praktisch schon Freunde. In jedem Fall waren alle vier wahre Meister darin, Trübes Blicken auszuweichen, damit er nicht auf die Idee kam, sie aufzurufen.

Plötzlich sprang einer der Schüler erschrocken auf und zeigte über die Zinnen des Schutzwalls. »Lichtbringer! W…was ist das?«

Der Schnee weiter unten war aufgewühlt. Darunter bewegte sich etwas.

»Aha! Na, was habe ich euch gesagt?«, krächzte Trübe. »Sie sind hier! Versammelt euch, Kinder, dann werdet ihr gleich etwas sehen, das so schrecklich ist, dass eure Haare vielleicht ebenso grau werden wie meine.«

Ash wurde grob geschubst, als die Klasse nach vorn drängte, um besser sehen zu können. »Weg da, du Liedfreak!«, höhnte Yas, ein schlaksiger, arroganter älterer Junge. Yas war mit Abstand Ashs meistgehasste Person in der ganzen Festung, dicht gefolgt von seinen schallend lachenden Anhängseln, Ratze und Frai, die sich hinter ihrem Anführer aufstellten. Ash sagte nichts, stellte sich aber möglichst weit weg von den Raufbolden, bevor er selbst über die Zinnen spähte.

Alle Kinder hielten den Atem an.

Alles war regungslos.

Alles war ruhig.

Dann: »DA!«, rief Trübe leise, sodass nach allen Seiten Spucke flog. Der Schnee wogte auf und formte eine Spur. Unter der Oberfläche regte sich etwas, etwas, das die Geräusche der Siedlung gespürt hatte – vielleicht das Vibrieren des Westtors, das sich quietschend geöffnet hatte, als die Jagdgesellschaft aufgebrochen war. Die Spur bewegte sich schnell und schlängelte sich auf die Steilklippe der Feura zu. Den Kindern stockte der Atem.

Ashs Kehle war trocken. Er grub die Finger in den Stein der Mauer. Die Spur hatte sie fast erreicht – sie war so nah. Dann plötzlich … hob ein winzig kleines Schneekaninchen den Kopf aus dem Schnee.

Fast gleichzeitig fingen die Kinder enttäuscht an zu maulen. Das Kaninchen hoppelte zum Fuß des hohen Felsens und zuckte mit der Nase. Anschließend hinterließ es ein paar kleine Köttel im Schnee, um deutlich zu machen, dass es sich für die Klippe nicht interessierte. Mit einem letzten hinreißend putzigen Nasenzucken vergrub es sich wieder im Schnee und verschwand. Trübe räusperte sich. »Ja, nun. Ähem. Natürlich sind die Leviathane unberechenbare Bestien, und man kann nicht immer mit Gewissheit sagen, wann sie angreifen. Aber auf eins könnt ihr euch verlassen: Sie WERDEN angreifen, oh ja, und ob!«

»Ähm … Sir?«, meldete sich eins der Kinder zu Wort und zeigte auf seinen Freund, dem in der Aufregung des Augenblicks ein kleines Malheur passiert war.

»Bei allen Geistern, was für eine Sauerei!«, hatte Trübe daraufhin geflucht und sich am Bart gezupft. »So wird man nicht zu einem tapferen Jäger, oh nein!«

»Kommt mit«, hatte Lodo der Gruppe zugezischt. »Das dauert eine Weile. Habt ihr Lust auf eine Runde Funkenball, solange der Alte beschäftigt ist …?« Die Freunde grinsten sich an. Na klar. Was sollte schon schiefgehen?

Wie sich herausgestellt hatte, ziemlich viel.

3Der Klang von Wind

Ash wachte keuchend und um sich schlagend auf, bevor er begriff, dass er nicht länger über dem gierigen Schlund der Lauerer baumelte. Offenbar hatte Ash ganz das Bewusstsein verloren, nachdem Tobu ihn in den Wachturm gebracht hatte. Sein Kopf schmerzte, und er fühlte sich, als hätte ein Walross auf jeden einzelnen Muskel in seinem Körper eingedroschen.

Als er sich angezogen hatte, schob Ash den provisorischen Vorhang aus Fellen beiseite, die ihm ein winziges bisschen Privatsphäre verschafften, und stieß auf Tobu, der ihn bereits erwartete. Der Yeti machte ein nachdenkliches Gesicht. In seiner Miene lag eine komische Mischung aus Enttäuschung und Sorge. Ash wartete, doch der Yeti schwieg.

»Tobu, es … es tut mir leid«, sagte Ash schließlich. »Ich weiß, wir hätten uns nicht da draußen rumtreiben dürfen. Ich hab versucht, das den anderen klarzumachen, aber –«

Tobu unterbrach ihn. »Du musst lernen, den Drang zu unterdrücken.«

Ash kapierte nicht. »Was? Funkenball zu spielen?«

»Den Drang zu singen«, knurrte Tobu.

Ach so.

»Ich hab nicht –«

»Du warst kurz davor. Ich habe es in deinen Augen gesehen.«

Na bitte, dachte Ash. Damit ist bewiesen, dass Tobu Yeti-Superkräfte hat. Vor dem kann man auch gar nichts verheimlichen!

»Du warst kurz davor, alles für dich zu ruinieren. Für uns beide zu ruinieren«, sagte Tobu. »Du kennst die Gesetze der Feura. Singen ist verboten. Und diesmal wäre es nicht nur ein Kinderlied gewesen.«

Woher wusste Tobu das alles? »Nein – aber … Es hat sich angefühlt, als hätte ich gar keine Wahl! Ich wollte Lodo retten … mich selbst retten … Und i…ich weiß nicht, warum, aber ich hatte das Gefühl, Singen würde helfen, so als ob … Keine Ahnung … Als ob … Singen … die Lauerer beruhigt hätte …« Ash verstummte, als ihm klar wurde, wie lächerlich sich das anhören musste.

»Es spielt keine Rolle, was für ein Gefühl du hattest. Du kennst die Regeln, und du musst sie befolgen.«

»Wenn die Leviathane singen … kann ich sie hören. Ich verstehe, was sie sagen«, gestand Ash.

Ganz kurz wirkte Tobu schockiert.

Ash fuhr fort. »Einmal wollte ich einem meiner anderen Vormunde davon erzählen, er hat mich allerdings nur angeschaut, als wäre ich total verrückt. Aber das bin ich nicht – das weiß ich. Die Leviathane reden mit mir … und ich glaube, ich könnte ihnen antworten, wenn ich doch nur –«

»Nein.« Tobu sprach leise, aber bestimmt. »Das darfst du auf keinen Fall tun, Ash.«

»Was weißt du schon darüber?«, murmelte Ash, absichtlich zu leise, damit Tobu es nicht hörte.

Doch er hörte es. »Genug, um zu wissen, dass du nie singen solltest. Egal, was du fühlst, du wirst andere Wege finden müssen, um dich gegen die Leviathane zu verteidigen, genau wie der Rest von uns.« Tobu drehte sich um und ging zum Waffenständer, der an der Wand lehnte. Jede einzelne seiner Bewegungen war voller Kraft und Präzision, was Ash daran erinnerte, wie viel Angst er vor seinem neuen Vormund wirklich hatte. Tobu wählte eine Schleuder und nahm sie aus dem Gestell. »Komm mit«, sagte er.

Ash war wie vor den Kopf geschlagen. Noch mehr trainieren?! »Ich bin heute fast gefressen worden! Kann ich nicht wenigstens eine kleine Pause machen?«

»Willst du ein Jäger sein?«, knurrte Tobu. »Willst du überleben, wenn dich der nächste Lauerer angreift?!«

»J…ja«, antwortete Ash kleinlaut.

»Dann komm mit.«

Ash linste angestrengt zu den Kieseln, die Tobu ein gutes Stück entfernt als Ziel aufgebaut hatte. Er atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und schwang dann seine Schleuder, sodass der Stein darin die Schnur spannte und die Schlinge weite Kreise zog.

»Du bist zu angespannt. Atme«, wies Tobu ihn an, der wie eine dunkle Bedrohung hinter ihm stand.

Ich atme ja, dachte Ash, der allmählich wütend wurde. Sonst hätte ich ernste Probleme, am Leben zu bleiben. Er ließ den Stein fliegen und sah zu, wie er in einem eleganten Bogen durch die Luft sauste und dann von einem Felsen in der Nähe abprallte. Ash fluchte.

»Du bist zu ungeduldig. Du konzentrierst dich mal wieder nicht.« Tobu war spitze darin, Ash zu sagen, was er nicht konnte.

»Mit einem Bogen bin ich viel besser!«, beschwerte Ash sich (obwohl das nicht hundertprozentig der Wahrheit entsprach).

»Du hast jetzt aber keinen Bogen. Konzentrier dich!«

Ash schnaubte genervt, bevor er einen neuen Stein in die Ledertasche der Schleuder legte.

»Lausche auf das, was die Welt dir zu sagen hat«, riet Tobu. »Spüre, wie der Schnee sich unter deinen Füßen bewegt, fühle die feste Erde tief darunter. Spüre, wie die Luft dich streichelt, wie sie dich wiegt, dich bewegt. Hör auf den Klang des Windes und was er sagt.«

Tobu sollte Ash eigentlich beibringen, wie man am Leben bleibt, stattdessen redete er vom Wind?! Wenn Tobu sich für besondere Lüftchen interessierte, sollte er mehr Zeit mit Flint verbringen.

Trotzdem gab Ash sich Mühe, zumindest ein bisschen zu lauschen. Ja, er konnte den Wind hören, kein Problem, nur schien der ihm nichts zu sagen zu haben. Ash spürte den Schnee unter seinen Stiefeln, klar, er spürte auch, wie kalt es war und wie gerne er wieder nach drinnen gegangen wäre. Er spürte die Luft, beißend und rau, bei jedem einzelnen seiner Atemzüge.

Er ließ den Stein fliegen und verfehlte das Ziel erneut.

Und noch mal.

Und noch mal.

Bei allen Geistern, er hasste Schleudern! Frustriert knirschte er mit den Zähnen.

»Du hörst nicht zu!«, knurrte Tobu.

»Jedenfalls ist es nicht gerade hilfreich, wenn du mich anbrüllst!«

Tobu sah aus, als wollte er lostoben, doch dann hielt er inne und seufzte. »Ich hätte dich nicht anschreien sollen. Doch haben die Lauerer aufgehört zu brüllen, als sie dich gejagt haben?« Ash schwieg. »Nein«, antwortete Tobu für ihn. »Wenn rings umher das Chaos herrscht, ist es am allerwichtigsten, dass du dich konzentrierst.«

Damit nahm Tobu Ash die Schleuder ab, schwang sie gekonnt ein einziges Mal im Kreis und ließ den Stein auf das Ziel zuschnellen. Präzise schoss er den obersten Kiesel vom Stapel. Ash klappte der Mund auf.

Nachdem Tobu Ash die Schleuder zurückgegeben hatte, kletterte er die Leiter hoch zurück in den Wachturm.

»Wenn du dich konzentrierst, dann schaffst du es. Mach weiter, bis du das Ziel triffst – am Ende überraschst du dich noch selbst.«

Unwahrscheinlich, dachte Ash.

Und er sollte sich nicht täuschen.

4Andenken

Später am Abend – viel, viel später – ließ Ash sich erschöpft in seine Hängematte fallen. Am Ende hatte er es doch noch geschafft, das dämliche Ziel zu treffen. Seine Finger waren voller Blasen und schmerzten. Hoch oben in den Dachsparren lag Tobu still und reglos in seiner eigenen Hängematte. Obwohl er so müde war, konnte Ash nicht einschlafen. Sobald er die Augen schloss, sah er glitzernde Fangzähne, sich windende, schlängelnde Körper und hektisch grapschende Krallen.

Heiße Tränen brannten sich einen Weg über seine kalten Wangen. Der Angriff der Lauerer war schrecklich gewesen, und mehr als alles andere wünschte er sich, jemand würde ihn einfach nur festhalten und sagen, dass alles gut werden würde. Er dachte an Tobu und lachte bitter, aber leise auf. Wohl kaum … In Momenten wie diesem vermisste Ash seine Eltern am meisten. Er hatte sie zwar nie richtig kennengelernt, doch er war sicher, dass sie ihn geliebt hatten und gewusst hätten, wie man ihn jetzt trösten konnte.

Wo seid ihr?, rief er in seinem Kopf. Mum, Dad … ich brauche euch.