11,99 €
Manga-Style: Mit Ash und der Frostherz-Crew gegen Schneemonster. In einem Ozean aus Schnee erlebten Ash und die Crew der Frostherz, ein Schlitten voller tollkühner Pioniere, schon einige waghalsige Abenteuer. Doch nun, im Finale der Legende von Frostherz, müssen sie sich der größten Bedrohung ihrer bisherigen Reise stellen: Dämonenführer Shaard hat den Verschlinger befreit, den die Yetis nicht ohne Grund Weltenfresser nennen. Nur wenn die Völker des Schneemeers ihre Kräfte mit denen der Leviathane vereinen, können sie das Monster bezwingen. Doch die Sta¨mme bleiben so gespalten wie immer und Ashs Mutter, die Kommandantin Sturmba¨ndigerin, kann ihren Hass gegen die Leviathane nicht u¨berwinden. In einem letzten, verzweifelten Versuch reisen Ash und die Frostherz zu den heiligen Yeti-Landen, deren Zutritt Menschen eigentlich verboten ist, um dort die Wahrheit u¨ber den Weltenfresser und seinen wunden Punkt zu entlarven. Das Finale der cool illustrierten Trilogie in den Yeti-Landen. - Spannender Abenteuerroman für Comic- und Wenigleser, Fantasy- und Manga-Fans. - Eine schneeweiße Wildnis voller Yetis und Monster – mega spannend und cool zugleich. - Der Junge Ash ist ein sympathischer Held mit besonderen Talenten und komplizierten Familienverhältnissen. - Höhepunkt der epischen Geschichte über Tapferkeit, Loyalität und Freundschaft. - Mit zahlreichen Illustrationen im angesagten Manga-Stil – ein Riesen-Erfolg in Großbritannien.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Ash und die Crew der Frostherz müssen sich der größten Bedrohung ihrer bisherigen Reise stellen: Dämonenführer Shaard hat das Ungeheuer befreit, das die Yetis den »Weltenfresser« nennen. Selbst die Waffen der Alten Welt sind gegen ihn nutzlos. Nur wenn die Völker des Schneemeers ihre Kräfte mit denen der Leviathane verbinden, können sie das Monster vielleicht noch bezwingen. Wird es Ash gelingen, alle rechtzeitig zu vereinen?
Das fulminante Finale der Trilogie um Die Legende von Frostherz.
Für alle von euch, die an Bord der Frostherz gegangen sind, um mich auf diesem Abenteuer zu begleiten.
Der Anblick war mehr als ungewöhnlich.
Zum ersten Mal im Lauf ihrer Geschichte hatten sich die Pioniere versammelt, um in den Krieg zu ziehen. Eine gigantische Schlittenflotte raste durch die gefrorene Landschaft, angeführt von Kommandantin Sturmbändigerin, der nun mächtigsten Person des gesamten Schneemeers. Sturmbändigerin hatte geschworen, die Welt von der Leviathanplage zu erlösen, die die Menschheit quälte. Jeder Schlitten unter ihrem Kommando war bis an die Zähne mit den mächtigen uralten Waffen der Alten Welt ausgestattet.
Eine kleine Flotte preschte vor ihnen her. Anders als die prächtigen Schlitten der Pioniere mit ihren farbenfrohen Segeln und stolzen Abzeichen waren diese Schlitten zersplittert und marode, waren die zerschlissenen schwarzen Segel mit blutroten Striemen befleckt.
Es waren Dämonen, und sie hatten sich mit den Pionieren eine Verfolgungsjagd bis ans Ende der bekannten Welt geliefert. Nicht, dass es die Pioniere in erster Linie darauf abgesehen hätten, die bösartigen Plünderer zu fangen. Ihr wahres Ziel – ein Schwarm Leviathane von unvorstellbarer Größe – war wegen des Geschosshagels, den die Pioniere auf sie abgefeuert hatten, unter dem Schnee abgetaucht. Doch so leicht wollte die Pionierflotte sich nicht geschlagen geben. Wo es Dämonen gab, waren die Leviathane nicht weit.
Womöglich noch merkwürdiger war jedoch der Umstand, dass zum ersten Mal seit vielen Jahren Sturmbändigerins Überlegungen nicht vorrangig dem Kampf gegen die Leviathane galten. Ihre Aufmerksamkeit war ganz auf das Kind gerichtet, dem sie nun in den Frachtraum des Schlittens folgte, der allgemein als die Frostherz bekannt war.
Das Kind, ein Junge aus dem fernen Norden namens Ash, schluckte schwer, während in seinem Bauch Schmetterlinge einen wilden Tanz aufführten. Beim Laufen kam er sich vor wie in einem Traum, als setzte er die Füße bei jedem Schritt auf Luft statt auf das solide Holz unter seinen Stiefeln.
Im dunklen, knarrenden Laderaum angekommen, wollte Kommandantin Sturmbändigerin gerade etwas zu ihm sagen, als sie bemerkte, dass sie nicht allein waren. Lunah, die Navigatorin der Frostherz, die nur wenig älter war als Ash und zufälligerweise auch seine beste Freundin, war ihnen gefolgt.
»Tut einfach so, als wär ich gar nicht da. Ich hol nur was für den Käpten«, behauptete Lunah, die ganz offensichtlich nichts dergleichen tat.
Lange sah Sturmbändigerin dabei zu, wie das Mädchen vorgab, durch irgendwelche Kisten zu wühlen. Schließlich räusperte sich die Kommandantin laut, während ihr kühler, stählerner Blick sich in Lunah bohrte.
»Wisst ihr was? Ich komm wieder, wenn ihr fertig seid«, meinte Lunah mit hochrotem Gesicht, bevor sie zurück an Deck eilte.
Endlich war Ash allein.
Allein mit einer Frau, die er kaum kannte. Einer berühmten Leviathanjägerin.
Seiner Mutter.
Ashs Gedanken überschlugen sich, und sein Herz pochte fest gegen seine Rippen.
Unzählige Male hatte er sich diesen Moment vorgestellt, während der einsamen Jahre in der Feura-Festung, während seiner Reise an Bord der Frostherz. So oft war es sein letzter Gedanke gewesen, bevor er mit dem Anflug eines Lächelns in den Schlaf sank – ein Gedanke, der ihn getröstet und ihn zum Durchhalten angespornt hatte.
In seiner Vorstellung verlief der Moment immer gleich:
Nach jahrelanger Suche fand Ash endlich seine Eltern wieder. Seine Mum und sein Dad schlossen ihn unter Freudentränen in die Arme und drückten ihn so fest an sich, dass er sich niemals wieder allein fühlte. Sie waren unsagbar stolz auf ihn, weil er durch die halbe Welt gereist war, um sie zu finden, und unzählige Gefahren bestanden hatte, die selbst die erfahrensten Pioniere das Fürchten gelehrt hätten. So beeindruckt von dem tapferen Jungen, zu dem er geworden war.
Doch nun, da Ash tatsächlich vor seiner Mutter stand – oder sollte er Enya sagen? Oder … oder Kommandantin Sturmbändigerin? Er war nicht einmal sicher, wie er sie nennen sollte. Schlagartig kamen ihm seine bisherigen Träumereien sehr kindisch vor.
Seine Mutter jubelte nicht. Sie machte keinerlei Anstalten, ihn in die Arme zu nehmen. Sie weinte weder vor Stolz noch vor Freude. Sie lächelte ja nicht einmal!
Sollte er den ersten Schritt tun? Seine Mutter hatte immerhin den Ruf einer hartgesottenen Kriegerin zu verlieren. Vermutlich konnte sie sich schlecht beim Knuddeln sehen lassen. Aber nun, da sie allein waren … vielleicht ja doch?
»Mum …« In seinen Augen bahnten sich brennende Tränen an, während er mit offenen Armen auf sie zuging.
Sie wich einen halben Schritt zurück.
Die Bewegung war winzig, doch für Ash fühlte es sich an wie ein Schlag ins Gesicht.
Mitten im Schritt stockte er, und in seinem Hals bildete sich ein Kloß.
Vielleicht ist das normal, redete Ash sich ein. Vielleicht behandeln alle Eltern ihre Kinder so?
Sturmbändigerins gesundes Auge starrte Ash so durchdringend an, dass er es kaum ertragen konnte. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, ihre ohnehin einschüchternde Erscheinung wurde von ihrem großen, zotteligen Mantel noch verstärkt. Ash gab sich Mühe, die Schultern zu straffen, in der Hoffnung, dadurch größer zu wirken, mehr wie ihr Sohn, doch stattdessen zog er unter ihrem Blick unwillkürlich den Kopf ein.
Warum sieht sie mich so an? War sie wütend auf ihn? Enttäuscht darüber, dass er sie gefunden hatte? War sie überhaupt seine Mutter? Ash wusste nur, dass er dieses unerträgliche Schweigen brechen musste.
»T-tut mir leid wegen des Kreischers …«, krächzte er, während er nervös mit seinen Fingern spielte. Wahrscheinlich hatte er nicht gerade einen glänzenden ersten Eindruck hinterlassen, indem er auf dem Rücken eines Leviathans auf einem Leviathanjäger-Schlitten gelandet war. »I-ich –«
»Also bist du ein Klangweber?«, fragte Sturmbändigerin so vorwurfsvoll, dass es bei Ash ankam wie ein Hieb in die Magengrube.
Er nickte.
Sturmbändigerins Züge veränderten sich, allerdings konnte Ash nicht sagen, ob vor Furcht, Hass oder etwas anderem. »Also schlägst du doch nach deinem Vater.«
Die wenigen Male, die Ash Kommandantin Sturmbändigerin in der Festung Aurora gesehen hatte, war sie ihm hart wie Stahl erschienen. Doch in diesem Augenblick wirkte sie zerbrechlich wie dünnes Eis.
Beinahe hatte Ash sich daran gewöhnt, was es bedeutete, ein Klangweber zu sein, einer der wenigen missverstandenen und verfolgten Menschen, die durch ihre mystischen Gesänge mit den Leviathanen kommunizieren konnten. Doch bei der Reaktion seiner Mutter zog sich sein Magen krampfhaft zusammen. Durch seinen Kopf zuckten die unzähligen Fragen, die er seinen Eltern hatte stellen wollen, wenn er sie endlich wiedergefunden hätte.
Wo wart ihr die ganze Zeit?
Warum habt ihr mich zurückgelassen?
Doch nun, da er nach so langer Zeit endlich die Gelegenheit dazu hatte, fehlten ihm die Worte.
So hatte er sich das nicht gedacht. Sie sollten lachen, sich unterhalten und Geschichten austauschen. Alles andere als das hier!
Schließlich brach Sturmbändigerin das Schweigen.
»Warum bist du hergekommen?«
Ash zuckte zusammen. Von sämtlichen möglichen Fragen, nach der endlosen Zeit, die sie getrennt gewesen waren, entschied sie sich für diese? Kein Wie geht’s dir? oder Erzähl mir alles über dich oder wenigstens ein Ich habe dich so vermisst.
Warum er hier war? Das war doch wohl offensichtlich?
»I-ich wollte zu dir«, sagte Ash sehr kleinlaut.
»Du solltest bei den Feura sein, in Sicherheit«, sagte Sturmbändigerin, als hätte er einen Befehl missachtet. »Ich habe dich aus gutem Grund dort gelassen.«
In Sicherheit.
Ash dachte daran, wie die Feura ihn gemieden und wie einen Aussätzigen behandelt hatten. Wäre sein Yeti-Vormund Tobu nicht gewesen, hätten die Feura Ash in die Wildnis gejagt und dem Tod geweiht.
»Sie haben mich verbannt«, sagte Ash leise.
»Weil du ein Klangweber bist?« Sturmbändigerins Gesichtsausdruck war unergründlich.
Ash nickte. »Ihr … ihr seid nicht zurückgekommen. Ich hatte keine Ahnung, wo ihr seid, was passiert war … Ich dachte, dass ihr vielleicht nie wiederkommt!«
Kurz meinte Ash, in Sturmbändigerins eiskalter Miene einen Anflug von Reue zu erkennen. Sie trat näher und streckte einen Arm nach ihm aus, der jedoch unsicher zuckend in der Luft verharrte, bevor sie ihm verlegen den Kopf tätschelte.
Ash erstarrte.
Seine Sinne brannten, und sein Herz brüllte unter ihrer Berührung. Eine Umarmung war es nicht, aber es war immerhin etwas. So nahe war er seinen Eltern nicht mehr gewesen, seit sie ihn vor so vielen Jahren verlassen hatten. Er hatte Angst, dass seine Mutter sich in Luft auflösen könnte und er wieder alleine wäre, sollte er sich bewegen, gar etwas sagen. Sturmbändigerin roch nach Leder und Schweiß, nicht ganz, wie er sich den Duft einer Mutter vorgestellt hatte, aber es war nun einmal der Duft seiner Mutter.
Meine Mutter … meine Mutter …, wiederholte Ash in Gedanken immer wieder, als könnte er es irgendwann glauben, wenn er es sich nur oft genug vorsagte.
»Ich musste dich schützen, Ash«, sagte Sturmbändigerin sanfter als zuvor. »Ich wusste, solange es Leviathane auf der Welt gibt, so lange wärst du hier draußen nicht sicher. Nach dem, was deinem Vater zugestoßen war …«
»Was ist ihm denn zugestoßen?«, platzte Ash heraus, obwohl er es sich bereits denken konnte. Erst vor Kurzem hatte er herausgefunden, dass sein Vater, Ferno, früher einmal zu den Dämonen gehört hatte – den mörderischen Klangwebern, die geradezu besessen waren von dem Wunsch nach Rache an den Festungen, weil diese so grausam mit den Klangwebern umsprangen. Ash wusste, dass sein Vater dem Anführer der Dämonen, Shaard, dabei geholfen hatte, zu besorgen, was nötig war, um den Verschlinger zu befreien. Den Leviathan-Gott, der die Macht besaß, ganze Zivilisationen zu vernichten. Er wusste, dass Shaard Ferno den Dunklen Gesang des Verschlingers beigebracht hatte. Einen Gesang, mit dem Klangweber Leviathane zum absoluten Gehorsam zwingen konnten, der jedoch gleichzeitig die Seele seines Vaters auffraß. Und er wusste, dass sein Vater sich mithilfe seiner Freundin Krah geändert, seine Fehler eingesehen und versucht hatte, alles wiedergutzumachen, bevor er geflohen war, um dem Gesang des Verschlingers zu entkommen, der seinen Geist vergiftete.
Das alles war Ash bekannt, doch er wollte es von seiner Mutter hören.
»Deinen Vater haben wir bereits vor vielen Jahren verloren. Die Leviathane haben ihn uns gestohlen.« Das Wort »gestohlen« betonte sie besonders bitter.
Sie gibt den Leviathanen die Schuld, dachte Ash mit sinkendem Mut, genau wie all die dummen Geschichten. Doch die Leviathane haben Vaters Geist nicht gestohlen und ihn dazu gezwungen, fortzulaufen. Das kann allein der Dunkle Gesang des Verschlingers. Und es war Shaard, der meinen Dad in die Fänge dieses Monsters geführt hat. Wenn irgendjemand Schuld trägt, dann er!
Ash wollte Sturmbändigerin die Wahrheit erzählen, dass die Leviathane nicht ihre Feinde waren, dass sie keine Macht über die Klangweber hatten, auch wenn die Legenden das Gegenteil behaupteten. Doch als er in ihre funkelnden Augen blickte, rutschte ihm das Herz in die Hose.
Was, wenn es sie wütend machte? Ash konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie ihn vielleicht nicht leiden, ihn nicht bei sich wollen könnte.
»An dem Tag, als wir ihn verloren«, fuhr Sturmbändigerin fort, »als du noch ein Baby warst, schwor ich den Feuergeistern, dass ich die Monster ein für alle Mal vernichten würde. Bei meinem Leben gelobte ich, dafür zu sorgen, dass du in einer sichereren Welt aufwachsen könntest, einer Welt, in der wir glücklich wären … in der wir wieder eine Familie sein könnten.«
Eine Familie …? Es gab nichts, was Ash sich sehnlicher wünschte.
»Weißt du … weißt du, wo Dad jetzt ist?«
Sturmbändigerin senkte den Blick zu Boden.
»Nein«, antwortete sie schließlich.
Ash nickte. Mit dieser Antwort hatte er gerechnet, doch das änderte nichts an seiner schmerzhaften Enttäuschung.
»Dad hat mir eine Spur gelegt«, sagte Ash. »Sie war es, die mich hergeführt hat …«
Sturmbändigerin blinzelte verblüfft. »Dein Vater hat dich hergeführt?«
»Er hat Hinweise in dem Schlaflied versteckt, das er mir als Baby immer vorgesungen hat«, erklärte Ash. »Du … du hast das nicht gewusst?«
»Es gibt vieles, wovon dein Vater mir nie etwas erzählt hat.« Ihre Worte klangen nicht freundlich.
Ash schluckte, bevor er weiterredete. »Die Hinweise haben mich zum Frostherz geführt und anschließend nach Sonnwende, wo ich das Frostherz in Sicherheit bringen sollte.«
Er hatte gehofft, seine unglaubliche Reise zu der sagenumwobenen verborgenen Festung, in der Menschen und Leviathane in Frieden miteinander lebten, könnte Sturmbändigerin beeindrucken. Doch falls dem so war, ließ sie es sich nicht anmerken.
»Frostherz?«, wiederholte sie. »Du meinst diesen Schlitten?«
»Nein … also, nicht wirklich – sondern das, wonach unser Schlitten benannt ist. Es ist das Herz eines mächtigen Urleviathans. Und es funktioniert wie eine Art Schlüssel zu dem Gefängnis des Verschlingers.«
»Ferno und Shaard haben oft vom Verschlinger gesprochen, dem mächtigsten aller Leviathane. Doch ich habe ihn immer für eine Legende gehalten.«
»Shaard hat die ganze Welt nach dem Frostherz abgesucht, und Dad wollte, dass ich es vor ihm beschütze. Aber ich … ich …« Ash wurde rot, und seine Kehle schnürte sich zu. »Ich habe es nicht geschafft. Shaard ist uns nach Sonnwende gefolgt. Er hat das Frostherz gestohlen, und seine Dämonen haben sämtliche Klangweber entführt, die dort gelebt haben. Sie zwingen sie, an ihrer Seite zu kämpfen, obwohl die Sonnwendler das nicht wollen!«
Ash hielt inne, weil ihm nicht zum ersten Mal die Parallelen zwischen den Dämonen und den Pionieren bewusst wurden – beide gaben den Klangwebern keine andere Möglichkeit, als ihre Anweisungen zu befolgen.
»Die Dämonen folgen Shaard?«, fragte Sturmbändigerin sichtlich verwirrt. »Warum sollten diese Kreaturen auf ihn hören?«
»Die Dämonen sind keine bösen Geister, wie alle glauben – sie … sie sind Menschen. Klangweber.« Ash schämte sich, das zuzugeben. Die Leute hegten gegen die Klangweber ohnehin schon großes Misstrauen, und diese schreckliche Wahrheit würde sie in ihren Vorurteilen nur bestärken. Sturmbändigerin verengte die Augen, und Ash redete schnell weiter. »Der Dunkle Gesang des Verschlingers hat sie verwandelt, sodass sie Shaard folgen, ohne Fragen zu stellen – und die Gefangenen aus Sonnwende wird man dazu zwingen! Shaard will den Verschlinger mithilfe des Frostherzens aus seinem Gefängnis befreien. Genau dorthin fährt er gerade!«
Sturmbändigerin wurde nachdenklich.
»Ich kann nicht glauben, dass ich nicht selbst darauf gekommen bin. Das alles geschah direkt vor meiner Nase …«
»Das Frostherz ruft die Leviathane um Hilfe«, erklärte Ash.
»Deshalb haben sich so viele von ihnen zusammengefunden«, fuhr Sturmbändigerin fort. »Weil dieses Herz sie gerufen hat. Als wir den Schwarm sahen, haben wir uns schon gewundert. Die Flotte war aufgebrochen, um die neuen Archeowaffen zu testen, doch nie hätten wir daran gedacht, auf so viele Leviathane gleichzeitig zu stoßen …«
»Sie wollen das Frostherz retten, und wir müssen ihnen helfen«, sagte Ash. »Ich glaube, wenn Shaard den Verschlinger erst befreit hat, kann ihn keiner mehr aufhalten.«
Sturmbändigerin, die beim Vorschlag, den Leviathanen zu helfen, ein düsteres Gesicht gemacht hatte, schien sich Ashs Worte gründlich durch den Kopf gehen zu lassen.
Ash biss sich auf die Zunge. Sie musste ihm nur glauben, dass Shaard die wahre Bedrohung war – mehr war im Augenblick nicht nötig. Dass die Leviathane nicht die Feinde der Menschen waren, konnte er ihr später noch beweisen. Fast rechnete er damit, dass sie sich über ihn lustig machen würde, doch stattdessen nickte sie knapp.
»Ich stimme dir zu.«
»E-ehrlich?«
»Ich weiß nicht viel über diesen Verschlinger, aber ich kenne Shaard gut genug, um zu wissen, dass alles, was er ausheckt, furchtbare Folgen für die Festungen hätte. Vor allem, wenn in seinen Plänen eine Leviathan-Art vorkommt, die wir nicht einmal kennen. Ich werde seinem Wahnsinn ein für alle Mal ein Ende bereiten.«
Auf Ashs Gesicht zeigte sich ein vorsichtiges Lächeln. Er wagte kaum, es zu glauben. Seine Mutter wollte helfen! Plötzlich überkam ihn der Drang, sie in die Arme zu schließen. Er trat näher, doch Sturmbändigerin reagierte nicht.
»Ich freue mich, dass ich dich gefunden habe«, sagte Ash, um sie zu ermutigen. »Ich hab dich so vermisst!«
Auf diese Worte schien Sturmbändigerin nicht vorbereitet zu sein.
»Ich … ich freue mich auch, dich zu sehen, Ash.« Ihre ansonsten so feste Stimme brach ein wenig, und allein das verriet, dass sie es ernst meinte. »Ich wünschte nur, wir hätten uns nicht gerade am gefährlichsten Ort der Welt wiedergefunden. Dass du hier bist … macht die Dinge kompliziert. Ich kann mir keine Ablenkung erlauben. Ich muss mich konzentrieren – das erwartet die Flotte von ihrer Befehlshaberin, und zwar zu Recht. Alle verlassen sich darauf, dass ich uns hier durchbringe.«
Ash starrte verlegen auf seine Stiefel. Er hatte ein hohles Gefühl im Bauch. Seine Mutter sollte doch stolz auf ihn sein, stattdessen empfand sie ihn als Belastung.
»Diese Schlacht ist wichtiger als jeder Einzelne von uns. Wir kämpfen um nichts Geringeres als um unser Überleben, und wir alle müssen unseren Teil dazu beitragen. Das schließt dich mit ein, Ash.«
Plötzlich wurde die Luke zum Deck aufgerissen, und Licht fiel in den Frachtraum. In der Öffnung war Sturmbändigerins zerzauster erster Maat erschienen.
»Kommandantin«, sagte er drängend. »Du wirst an Deck gebraucht.«
»Bin sofort da, Jed«, antwortete Sturmbändigerin, bevor sie sich noch einmal an Ash wandte.
Erneut hob sie die Hände, schien aber nach wie vor unentschlossen, was sie damit tun sollte. Ash drängte sie innerlich dazu, ihn in die Arme zu nehmen und zu trösten.
Doch ohne ein weiteres Wort machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte hinauf, um ihre Aufgabe zu erfüllen.
Die zerklüfteten Gebiete im Süden wurden nicht umsonst Kluftland genannt.
Sie reichten weiter, als die Karten erfassten, und waren ein unebener, zerstörter Ort voll kolossaler Krater und schiefer Schluchten, die so tief waren, dass manch einer behauptete, sie hätten keinen Boden. Die gesamte Region sah aus, als hätte in ihr eine denkwürdige Schlacht gewütet, bei der unvorstellbare Mächte die Welt buchstäblich in Stücke gerissen hatten. Wie um das zu bestätigen, lagen überall, halb verdeckt und gefroren, zahllose Relikte uralter Maschinen und tödlicher Archeowaffen der Alten Welt auf dem Eis. Kein Wunder, dass Kluftland als verfluchter Ort galt, an dem es angeblich spukte.
Über eine Woche folgte die Pionierflotte den Dämonen durch dieses verbotene Land und kämpfte gegen einen schneidenden Blizzard an, der stärker wurde, je weiter ihre Reise sie führte. In furchtsamem Schweigen blickte die Crew der Frostherz auf die zerstörte Landschaft. Ein beißender Wind peitschte durch ihre dicken Felle und versengte ihnen die Haut. So kalt war es in Kluftland, selbst für Ash, der die betäubenden Temperaturen des fernen Nordens gewohnt war.
Als wären wir im Herzen des Winters, dachte er, während er sich gegen die Kälte stemmte.
»Die Gegend macht mir Gänsehaut.« Lunah schauderte.
»Aye, hier treibt etwas Böses sein Unwesen«, gab Kob, der gedrungene Deckarbeiter der Frostherz, ihr recht, wobei sich sein großer Schnurrbart vor Unbehagen sträubte. »Ich spür’s in meinen Knochen.«
»Das liegt an dem dauernden Lärm«, schnaubte Nuk, die große Mursu-Kapitänin der Frostherz. »Der treibt mich schon seit Tagen in den Wahnsinn!«
»Du hörst es auch?«, fragte Ash überrascht.
Seit ihrer Ankunft in Kluftland hätte Ash schwören können, das Land … singen zu hören. Der merkwürdige Gesang war anders als alles, was er bisher kennengelernt hatte. Als ob er in einfach allem widerhallte. Die Luft durchdrang. Zwischen Eis und Stein tanzte und mit seiner Melodie die Pioniere anflehte, umzukehren.
Zuerst hatte Ash ihn als bloße Einbildung abgetan, diesen All-Gesang, doch Krah, eine Klangweberin, die weit erfahrener war als Ash, hatte ihm bestätigt, dass sie ihn ebenfalls wahrnahm. Nicht, dass Ash sich dadurch besser fühlte – Krah konnte man bestenfalls als unheimlich bezeichnen.
»So eine bösartige Katzenmusik kann selbst uns Nicht-Webern schlecht entgehen!«, meinte Nuk.
»Hey! Glaubst du, das heißt, dass jetzt auch der Rest von uns Gesänge weben kann?«, fragte Lunah und holte tief Luft.
Nuk legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Später vielleicht, Mädchen, einverstanden?«
»Nicht der Gesang ist böse«, ergänzte Tobu, der sich mit verschränkten Armen beschützend hinter Ash aufgebaut hatte. »Sondern das, was er gefangen hält.«
Tobu hatte recht. Ash fühlte es ebenso, und er vermutete, genau das war der Grund, weshalb Krah sich im Schatten des Hauptdecks versteckte und mit zitternden Händen aus den Tiefen ihrer dunklen Kapuze ein verängstigtes, harsches Raunen ausstieß. Unter dem unablässigen Gesang lauerte eine feindselige Präsenz, die sich dagegen zur Wehr setzte. Ein Geräusch war es eigentlich nicht, vielmehr ein Gefühl, ein schleichendes Grauen, das Ashs Geist folterte. Permanent hatte er den Eindruck, beobachtet, sogar gejagt zu werden, sodass ihm die Nackenhaare zu Berge standen. Doch sobald er sich umdrehte, um nachzusehen, war da nichts. Es war gleichzeitig überall und nirgendwo, eine hasserfüllte Quelle von Bosheit, die eine Abscheu für die ganze Welt verströmte.
»Es ist der Verschlinger«, sagte Ash schaudernd. »Wir sind ganz nah.«
Ash wusste, dass auch die anderen Klangweber der Flotte es spüren konnten. Als er zur Lanzenstich, dem Schlitten seiner Mutter, hinüberschaute, der neben der Frostherz dahinglitt, sah er am Bug eine Gruppe von Klangwebern kauern. Es war der einzige Platz an Bord, an dem die Pioniere sie duldeten, solange man sie nicht brauchte, um mit ihrem Gesang die Archeowaffen des Schlittens in Gang zu setzen. In ihren Augen erkannte er dieselbe Angst, die auch er spürte.
»Gegen den Lärm könnte Wachs helfen«, schlug Picke vor, der fröhliche Koch der Frostherz. »Ich kannte mal eine Mannschaft, die neben einer schrecklichen Schnarchnase schlafen musste. Die haben sich alle Wachs in die Ohren gestopft, damit sie überhaupt zur Ruhe gekommen sind. Hat angeblich Wunder gewirkt.«
Kailen, das furchtloseste Mitglied der Frostherz, rollte mit den Augen. »Diese Mannschaft waren wir, und der verflixte Schnarcher warst du, du Depp!«
Die Besatzung kicherte und gluckste, allerdings wirkte ihr Lachen freudlos und gezwungen.
»Wenigstens ham wir ’ne ganze verdammte Flottenladung voll Riesenwaffen dabei, um die Fieslinge der Gegend wegzupusten. Ich bin nur froh, dass sie auf unsrer Seite is’.« Lunah neigte den Kopf.
Als Ash ihrem Blick folgte, entdeckte er auf dem Deck der Lanzenstich seine Mutter. Mit einem Ausdruck wilder Entschlossenheit erteilte sie der Mannschaft Befehle. Ihr Anblick machte Ash unruhig.
»Irgendwie kann ich noch immer nicht glauben, dass sie meine Mum ist …«
Fast kam sie ihm vor wie aus einer anderen Welt – so selbstbewusst und mächtig. Wie war es möglich, dass sie miteinander verwandt waren?
»Ich kann noch nicht glauben, dass sie deine Mum ist«, meinte Kailen und legte Ash eine Hand auf die Schulter. »Ich meine … sie ist eine verfluchte Legende! Und du bist … na ja … halt Ash!«
»Weiß nich’ …« Lunah musterte Ash. »Wenn wir dich in ’nen größeren Mantel stecken und du dich in Pose schmeißt, siehst du vielleicht genauso aus wie sie!«
»Du bist genau richtig, so wie du bist, Schätzchen«, versicherte Nuk ihm, woraufhin Ash ihr dankbar zulächelte. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er keine Ahnung, wie und ob er und seine Mutter sich ähnlich waren. Seit ihrem ersten Gespräch im Frachtraum hatten sie kaum Zeit miteinander verbracht.
Sie hat zu tun, redete Ash sich ein und gab sich Mühe, den Schmerz in seiner Brust einzudämmen. Sobald das alles hier vorbei ist, lernen wir uns richtig kennen.
Er versuchte, sich damit zu trösten, dass sie für eine gemeinsame Sache kämpften. Sturmbändigerin würde ihnen dabei helfen, Shaard aufzuhalten.
Nur, warum bereitete der Ausdruck in ihrem Gesicht Ash solches Unbehagen?
Am nächsten Tag endete die Verfolgungsjagd.
Den Dämonenschlitten war der Schnee ausgegangen.
Vor ihnen blockierte ein gigantischer Gletscher den Weg, eine Masse aus Eis, so verkrüppelt und geborsten, dass sie wie ein Monster aus dem wirbelnden Schneesturm ragte. In die Enge getrieben, blieb den Dämonen nichts anderes übrig, als sich den Pionieren zu stellen, die sich in einem weiten Bogen um sie herum formiert hatten, um ihnen den Fluchtweg abzuschneiden.
Vielleicht kennt Nell den Weg doch nicht …, dachte Ash voller Hoffnung, während er die eingepferchte Dämonenflotte betrachtete.
Nell, einer der Ältesten von Sonnwende, hatte Shaard und seine Dämonen zum verborgenen Gefängnis des Verschlingers führen wollen. Da Nell die Hoffnung aufgegeben hatte, dass Klangweber von den Festungsbewohnern je gleichberechtigt behandelt werden würden, hatte Shaard ihn dazu überreden können, mithilfe des Verschlingers die Herrschaft des Rats von Aurora zu beenden, damit die Klangweber die Macht ergreifen könnten.
Sturmbändigerin und ihr erster Maat Jed waren über eine lange Planke von der Lanzenstich auf die Frostherz herübergekommen, um von der Crew, die Shaard besser kannte als jeder andere, letzte Informationen einzuholen.
»Welcher Schlitten ist seiner?«, fragte Sturmbändigerin und spähte durch ihr Fernglas.
»Der größte, der von den anderen umringt ist.« Nuk zeigte darauf.
»War klar. Lässt noch immer die anderen die Drecksarbeit für ihn erledigen.«
»Dort werden wir das Frostherz finden«, sagte Nuk überzeugt. »Allerdings werden die Dämonen tun, was sie können, um uns davon abzuhalten. Ich schlage vor, wir konzentrieren uns darauf, das Herz zu holen – schicken wir unsere besten Schlitten direkt zu Shaard, solange wir die Übrigen mit unserer enormen Überzahl ablenken.«
»Kein Anlass für irgendwelche schicken Manöver, Käpten Nuk.« Jed kicherte, während seine langen Barthaare im Wind flatterten. »Mit unseren Archeowaffen können wir die alle zu Asche verbrennen.«
»Daran zweifle ich nicht. Aber vergiss nicht, dass sich an Bord dieser Schlitten noch immer unschuldige Bewohner aus Sonnwende befinden, die Shaard verschleppt hat. Sie brauchen unsere Hilfe, keine Breitseite.«
»Die Klangweber …« Jed schluckte – er hatte sie offensichtlich vergessen.
»Natürlich werden wir tun, was in unserer Macht steht, um sie zu uns zu holen«, sagte Sturmbändigerin zu Ashs Erleichterung.
»Aye, Kommandantin, die werden sicher nützlich sein bei unsrer nächsten Schlacht gegen die Bestien«, pflichtete Jed ihr bei, was Ashs Laune augenblicklich verdüsterte.
Die meisten Klangweber wollten überhaupt nicht in einen tödlichen Krieg geschleift werden. Doch nur sie konnten die verheerendsten der Archeowaffen mit Energie versorgen, daher hatte der Rat von Aurora Sturmbändigerin die Befehlsgewalt erteilt, sämtliche Weber, die sie auftreiben konnte, mit oder gegen deren Willen an Bord ihrer Flotte zu bringen und in ihren Dienst zu stellen.
Selbst diejenigen, die man verängstigt und verwirrt vor wenigen Tagen vor den Dämonen gerettet hatte, waren zwischen den Pionierschlitten aufgeteilt worden, damit sie »ihre Pflicht erfüllen« konnten. Es trieb Ash zur Weißglut, und die Tatsache, dass so etwas unter dem Kommando seiner Mutter geschah, machte es umso bitterer.
Ein plötzliches Beben riss Ash aus seinen Gedanken. Ein ohrenbetäubendes Rauschen ertönte, bevor direkt vor ihnen der weiße Pulverschnee barst.
»Leviathan!«, rief Teya, die im Ausguck der Frostherz saß, zu ihnen herunter. »Direkt voraus!«
Die Besatzung rannte an die Reling und schnappte entsetzt nach Luft. Nicht nur ein Leviathan, nein, Tausende! Der gesamte Schwarm war aufgetaucht! Eine Woge schlangenartiger Körper schwappte aus dem Schnee, in einem Durcheinander aus peitschenden Schwänzen, scharrenden Krallen und schnappenden Mäulern, die wilde Kriegsgesänge brüllten. Sie eilten auf die Dämonen zu, entschlossen, dem Frostherz zu Hilfe zu eilen und es aus Shaards Fängen zu befreien.
»Sie sind aufgetaucht, um die Dämonen zu schützen, wie du’s gesagt hast!« Jed grinste Sturmbändigerin an.
»Und endlich haben wir die Waffen, um sie zu vernichten. Nach zahllosen Jahrhunderten, in denen wir nur ihre Beute waren … ist unser Moment gekommen …« Sturmbändigerins Auge schimmerte. »Jetzt und hier besiegen wir die Leviathane und die Dämonen endgültig. Bereit machen zum Angriff, sofort!«
Ashs Herz setzte einen Schlag aus.
»Du … du hast gesagt, dass du Shaard aufhalten willst – nicht, dass du gegen die Leviathane kämpfen wirst!«, rief er, bevor er es sich verkneifen konnte. Beide, Sturmbändigerin und Jed, warfen ihm verdutzte Blicke zu.
»Natürlich werden wir gegen die Leviathane kämpfen«, sagte Sturmbändigerin. »Sie kontrollieren die Dämonen. Also halten wir Shaard auf, indem wir sie vernichten. Unsere wahren Feinde sind diese Bestien.«
»N-nein! Das stimmt nicht!« Ash brachte die Worte gar nicht schnell genug über die Lippen. »Ich meine … das muss nicht sein! Die Leviathane fürchten sich vor dem Verschlinger genauso wie wir – immerhin waren sie es, die ihn überhaupt erst eingesperrt haben! Sie werden uns nichts tun, sie wollen nur Shaard!«
Jed gluckste und schüttelte den Kopf, als bedauere er Ash. »Hör auf, mit deinem kindischen Unfug die Zeit der Kommandantin zu vergeuden, Kleiner.«
»Es ist wahr, das schwöre ich!«, rief Ash flehentlich. »Es gibt keinen Grund, gegen sie zu kämpfen!«
Sturmbändigerin betrachtete ihn, und in ihrem Auge funkelte … was? Wut? Sorge? Was auch immer, Ash wusste, es war nichts Gutes. Was er sagte, widersprach allem, woran sie glaubte. Doch wenn irgendjemand ihre Meinung ändern konnte, dann doch gewiss ihr eigener Sohn?! Sturmbändigerin war der eine Mensch, der die Dämonen bezwingen und Shaard davon abhalten konnte, seine Drohung, den Verschlinger zu befreien, wahrzumachen. Allerdings nur, wenn sie sich nicht von einem Kampf mit den Leviathanen ablenken ließ.
»Die ignorieren uns und halten direkt auf die Dämonen zu, Kommandantin …«, meldete Kailen, die Augen gegen den beißenden Blizzard abgeschottet.
»Wie es auch scheinen mag, es ist ein Trick«, keifte Sturmbändigerin. »Die Dämonen und die Leviathane arbeiten zusammen. Sie wollen, dass wir uns in Sicherheit wiegen, und sobald wir nicht auf der Hut sind, lassen sie die Falle zuschnappen.«
»Du irrst dich!«, sagte Ash verzweifelt.
»Ash – halt den Mund«, erwiderte Sturmbändigerin. »Du bist zu jung, um zu wissen, wovon du redest.«
Ash wurde blass. Ihre Stimme war leise, dabei aber so mächtig, als hätte sie gebrüllt.
»Ich muss darauf bestehen, dass du auf ihn hörst, Kommandantin«, drängte Nuk. »Ich weiß, es widerspricht den alten Überzeugungen der Pioniere. Aber wir haben selbst erlebt, dass Leviathane Dinge tun, die wir nie für möglich gehalten hätten.«
»Und ich muss dich wohl daran erinnern, wer hier das Sagen hat, Käpten«, entgegnete Sturmbändigerin.
»Normalerweise greift ein Leviathanschwarm einen Pionierschlitten sofort an und reißt ihn in Stücke«, sagte Tobu so gefasst wie immer. »Du hast die größte Schlittenflotte gegründet, die die Welt je gesehen hat, und plötzlich interessiert es sie nicht mehr? Findest du das nicht eigenartig?«
»Weil wir sie jagen!«, sagte Jed und schlug sich mit einer Hand auf den Bizeps. »Die wissen, dass sie bei unseren Archeowaffen nix zu lachen haben!«
»Unwahrscheinlich«, grunzte Tobu. »Es liegt wohl eher daran, dass hier Wichtigeres auf dem Spiel steht. Fragt euch, was das sein könnte.«
Ash holte tief Luft und nahm seinen Mut zusammen. »Shaard will, dass ihr gegen die Leviathane kämpft – damit er den Verschlinger in aller Ruhe aus seinem Gefängnis holen kann!«
Ash hielt Sturmbändigerins Blick so gut wie möglich stand und betete, sie möge ihm vertrauen. Nichts weniger als das Schicksal der Welt hing davon ab.
Bitte, dachte Ash. Bitte, bitte, bitte glaub mir!
Doch im Blick seiner Mutter loderte eine Gier, die erst das Blut der Leviathane befriedigen würde.
»Die Frostherz hält sich im Hintergrund«, ordnete Sturmbändigerin barsch an. »Ihr werdet euch nur in den Kampf einmischen, wenn es absolut unvermeidbar ist, haben wir uns verstanden?«
»Was?!«, fuhr Kailen auf, als hätte man sie feige genannt. »Aber ihr braucht uns! Wir können kämpfen!«
Als Sturmbändigerins Blick zu Ash zuckte, dämmerte ihm, dass sie diesen Befehl seinetwegen erteilte. Sie wollte ihn aus dem Weg haben, um ohne Ablenkung ihren Rachefeldzug verfolgen zu können.
»Die Frostherz muss die Schlitten schützen, auf denen sich die Alten und die Kinder aus Sonnwende befinden, die auf einem Schlachtfeld nichts zu suchen haben«, sagte Sturmbändigerin. »Ihr werdet uns gegen mögliche Angriffe aus dem Hinterhalt verteidigen. Das ist eine ehrenwerte, würdige Aufgabe.«
»Dann willst du diesen dummen Angriff tatsächlich durchziehen?«, fragte Nuk mit verschränkten Armen.
»Bitte, Mum – bitte tu’s nicht!«, flehte Ash. »Du machst einen Fehler!«
Doch Sturmbändigerin hatte ihm bereits den Rücken zugekehrt und sprang mit im Wind wehendem Umhang auf den Steg.
»Hütet die Schlitten, Frostherz, und haltet euch aus den Kämpfen heraus. Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl.«
Hilflos sah die Crew der Frostherz dabei zu, wie der Rest der Pionierflotte in enger Formation wie ein Pfeil auf die Leviathane zuschnellte.
Eingezwängt zwischen zwei Feinden, hatten die Leviathane keine andere Wahl, als sich aufzuteilen. Eine Hälfte hielt mit der Macht der Verzweiflung weiter auf die Dämonen zu, um sie davon abzuhalten, den gefürchteten Verschlinger freizulassen. Die andere Hälfte bereitete sich darauf vor, dem Angriff der Pioniere zu trotzen.
Die Dämonen, die am Fuß des Gletschers in der Falle saßen, stimmten den Dunklen Gesang an. Ihre schlängeligen Klangauren züngelten dem näher rückenden Schwarm entgegen, um die Kontrolle über die vordersten Leviathane zu ergreifen und sie wie ein Schild gegen die übrigen Angreifer einzusetzen.
Genau das wird Mum davon überzeugen, dass die Leviathane doch mit den Dämonen verbündet sind, sorgte sich Ash. Und solange wir damit beschäftigt sind, uns gegenseitig zu bekriegen, kann Shaard sich bequem aus dem Staub machen!
In diesem Augenblick schossen die Pioniere einen Hagel knisternder Energie auf die Leviathane ab. Grell orangefarbene Lichtkugeln explodierten im wirbelnden Schneegestöber. Leviathane kreischten auf, als sie von dröhnenden Flammenbällen erfasst wurden. Mark und Bein erschütternde Donnerschläge ließen die Balken der Frostherz erbeben.
»Archeowaffen …«, flüsterte Lunah, die neben Ash stand und bei jeder Explosion zusammenzuckte. Ash griff nach ihrer Hand und war erleichtert, dass sie sich nicht darüber lustig machte, sondern sie dankbar ergriff und drückte. Er hatte Angst, doch zu wissen, dass es Lunah genauso ging, verlieh ihm ein komisches Gefühl von Stärke.
Das Knistern und Krachen der Archeowaffen wurde schon bald von einem chaotischen Chor aus unheimlichem Kreischen und dröhnendem Gebrüll begleitet, als die Leviathane und die Pionierflotte aufeinanderprallten. Holzsplitter flogen in die Luft, und Schlittenrümpfe wurden in Stücke gerissen. Ash spürte die Frustration der Leviathane. Sie wollten die Dämonen attackieren, doch dazu mussten sie erst einmal die Archeowaffen der Pioniere zum Schweigen bringen. Sonst würden sie zugrunde gehen, bevor sie überhaupt die Chance dazu bekämen.
»Drei Armeen bekämpfen sich gegenseitig, von denen zwei eigentlich für dieselbe Sache eintreten«, sagte Arla, die alte Heilerin der Mannschaft, kopfschüttelnd. »Was für eine Verschwendung.«
»Wir sollten da vorn sein und uns Shaard vorknöpfen«, knurrte Kailen und klopfte mit der Faust gegen die Reling. »Statt hier hinten Däumchen zu drehen!«
Yallah, die gutmütige Turbinörin der Frostherz, nickte zustimmend und packte ihren Bogen fester. Ash wurde es immer unangenehmer, der Grund für die Anweisung an die Frostherz zu sein, sich aus allem herauszuhalten.
»Interessant, dass Sturmbändigerin nun so besorgt um dein Wohl ist, nachdem sie dich so viele Jahre dir selbst überlassen hat«, murmelte Tobu, der die sorgenvollen Gedanken seines Schützlings erriet.
Ash hoffte, Tobu wäre nicht enttäuscht. Der Yeti sollte nicht denken, er würde Ash irgendwie weniger bedeuten, nur weil er jetzt seine Mutter gefunden hatte. Noch dazu hatte Ash gewiss nicht um eine Sonderbehandlung gebeten, vor allem, da er wusste, wie viele andere Klangweber gegen ihren Willen zum Kämpfen gezwungen wurden.
Die Frostherz war einer von vier Pionierschlitten, die nicht an der Attacke teilnahmen. Die drei anderen trugen die Kinder und die Alten aus Sonnwende. Ihre Turbinen schwiegen, während die Taue Unheil verheißend im Wind ächzten.
Weit vorne zerbarst einer der Pionierschlitten, weil er von einem kreischenden Speerwurm in zwei Hälften zerteilt wurde.
»Hat es sonst noch jemand nicht ganz so eilig, bei so was mitzumischen?«, fragte Kob.
Ashs Magen verkrampfte sich, und er umklammerte seinen Sonnensteinanhänger, damit er ihnen Glück brachte. Beschämt musste er sich eingestehen, dass er tatsächlich etwas erleichtert gewesen war, als Sturmbändigerin die Frostherz verlassen hatte. Allerdings bemühte er sich nach Kräften, die Gewissensbisse, die ihn deswegen quälten, zu verdrängen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Mutter gleich wieder zu verlieren, wo er sie doch gerade erst gefunden hatte. Trotzdem wuchs seine Enttäuschung darüber, dass sie so stur den falschen Feind bekämpfen wollte. Die Leviathane versuchten, Shaard aufzuhalten, genau wie er und seine Freunde, und hätte Sturmbändigerin ihren Drang nach Rache wenigstens einen Moment lang unterdrückt, hätten die Leviathane und die Pioniere mit vereinten Kräften die Dämonen längst überwunden!
»Das ist meine Schuld«, sagte Ash. »Hätte ich das Frostherz beschützt, so wie es mein Auftrag war, dann …«
»Blödsinn!«, sagte Kob. »Den Schuh brauchst du dir nun wirklich nicht anzuziehen! Sturmbändigerin und Shaard wissen beide, was sie tun, und treffen ihre eigenen Entscheidungen – nichts von allem, was du gesagt oder getan hast, hat Einfluss darauf. Wir müssen Shaard einfach um jeden Preis stoppen.«
»Ich fürchte, das alles hat erst ein Ende, wenn entweder der Leviathanschwarm oder Sturmbändigerins Flotte hinüber ist«, sagte Nuk traurig. »So wie ich die Kommandantin kenne, kommt hier nur eine Seite lebend davon …«
Beinahe wäre Ash vor Schreck das Herz stehen geblieben, als plötzlich Krah neben ihm auftauchte.
»Spürst du?«, zischte sie ihm ins Ohr. »Gesang von Frostherz? Ich kann es nicht hören.«
Ash trat einen Schritt zurück. In Sonnwende hatte Shaard ihm offenbart, dass Krah früher einmal zu den Dämonen gehört hatte. Auch sie hatte den Dunklen Gesang benutzt, um Leviathane zu zwingen, die Festungen anzugreifen. Ash wusste, dass sie inzwischen ein anderer Mensch war, dass sie die Fehler ihrer Vergangenheit wiedergutmachen wollte. Trotzdem fühlte er sich in Gegenwart der Krähenfrau, der er zuvor so blind vertraut hatte, einfach nicht wohl.
Während er sich nun ihre Worte durch den Kopf gehen ließ, versuchte er, den Ruf des Frostherzens aufzuspüren – den Gesang, der ihm inzwischen so vertraut war. Könnte er ihn inmitten des Schlachtgetümmels finden, wüsste er genau, wo Shaard sich befand.
Ash schob seinen Geist am dröhnenden Lärm der Explosionen, an den Kriegsgesängen der Leviathane und an dem Dunklen Gesang der Dämonen vorbei und konzentrierte sich auf die Stelle, an der er Shaards Schlitten zuletzt gesehen hatte, fand aber keinen Hinweis auf das Herz.
Er ließ seinen Geist durch die Gegend schweifen.
Noch immer nichts.
Mit aufsteigender Panik wandte er seine Aufmerksamkeit hierhin und dorthin, suchte, suchte …
»Ich … höre es nicht«, sagte Ash atemlos zu Krah.
»Fort!«, sang Krah drängend, während ihre Krähen nervös mit den Schnäbeln klackerten.
»Ganz ruhig, Junge. Tief durchatmen …«, sagte Tobu, der seine Aufregung spürte.
Ash atmete tief ein und konzentrierte sich erneut. Und dann, schlagartig … Da!
Er erahnte den Hauch eines Flüsterns, fern und zerbrechlich, doch unverkennbar. Das Frostherz rief nach seinen Leviathangeschwistern, rief um Hilfe. Nur konnten die anderen es nicht erreichen, weil Dämonen und Pioniere ihnen den Weg versperrten. Als Ash sich auf den Aufenthaltsort des Herzens fokussierte, wurde ihm übel.
»Käpten!«, rief er und zeigte nach Südwesten. »Das Frostherz ist nicht in der Schlacht – es ist da drüben! Shaard will damit fliehen!«
Nuk spähte in die Richtung, die Ash ihr wies, konnte in all dem Chaos jedoch nichts entdecken. »Pupsender Pottwal!«, fluchte sie. »Es ist, wie wir befürchtet haben – Shaard nutzt den Kampf als Ablenkungsmanöver, um sich davonzumachen! Teya, Master Podd, könnt ihr südwestlich von hier irgendwas ausmachen?«, brüllte sie dem scharfsichtigen Ausguck im Krähennest und ihrer rechten Hand, dem Vulpis auf der Brücke, zu.
»Ich will nicht lügen, Käpten, in diesem Schneesturm habe ich schon seit Tagen nichts mehr erkennen können«, antwortete Master Podd, der auf einem Stapel Kisten stand, um das Ruder zu erreichen. Die Besatzung tauschte besorgte Blicke.
»Und hier hat keiner ein Problem damit, ihm das Steuern zu überlassen?«, fragte Arla.
Teya spähte suchend mit ihrem Fernrohr in die angezeigte Richtung. »Eishöhlen! Direkt im Gletscher!«
»Mögen die Walküren ihn verfluchen!«, zischte Nuk. »Er schleicht sich davon, während der Rest seiner Flotte uns da drüben in Atem hält – vollkommen ahnungslos!«
»Er wird entkommen!«, rief Ash. »Wir müssen ihn aufhalten!«
Ohne dass man es ihnen hätte sagen müssen, hissten Kob und Kailen die Warnflaggen, um Sturmbändigerin zu verständigen.
Komm schon, Mum!, betete Ash und sah von Grauen erfüllt zu, wie die Lanzenstich ihre Waffen auf die zappelnde Flut von Leviathanen abschoss. Zur Antwort hisste ihr Schlitten ebenfalls seine Signalflaggen.
»Sturmbändigerin ordnet an, dass wir ihn ignorieren und unsere Position beibehalten sollen!«, rief Teya mit dem Fernrohr am Auge von oben herab.
Nein!, brüllte Ash im Geiste, während es in seinem Magen rumorte. Wie konnte sie das tun? Er hatte ihr doch erklärt, dass Shaard der eigentliche Feind war. Sturmbändigerin mochte nicht die Mutter sein, die er sich all die Jahre vorgestellt hatte, dennoch wollte Ash glauben, dass sie das Richtige tun würde.
»Wenn die erst Blut geleckt hat, lässt sie nicht locker«, murmelte Nuk, bevor sie brüllte: »Könnt ihr knicken! Yallah, Energie, wenn ich bitten darf!« Dröhnend erwachten die Propeller zum Leben, als Yallah die entsprechenden Einstellungen an der Sonnensteinturbine vornahm. »Master Podd, bring uns nach Südwesten, wenn du die Freundlichkeit besitzt!« Der kleine Vulpis salutierte und stemmte sich gegen das Ruder der Frostherz. »Diesen glitschigen Glibbergimpfel schnappen wir uns!«
»Und was ist mit Sturmbändigerins Befehl?«, fragte Kob.
»Wenn das alles hier vorbei ist, backe ich ihr einen Entschuldigungskuchen! Jedenfalls werde ich nicht in aller Ruhe zusehen, wie die Welt untergeht!«
Ash biss die Zähne zusammen. Wenigstens konnte er sich immer darauf verlassen, dass seine Kapitänin die richtigen Entscheidungen traf. Die Frostherz zischte an den anderen Schlitten der Nachhut vorüber, deren Besatzungen verwirrt zuschauten. Ganz allein machte sie einen weiten Bogen um das Kampfgeschehen und hielt auf die nächstgelegene Gletscherhöhle zu. Wie gezackte Reißzähne ragten in alle Richtungen gigantische Eiszapfen. Der gähnende Höhlenschlund verlor sich in dunkelblauer Finsternis, die die Frostherz im Ganzen verschlang.
In der Eishöhle war es, als hätten sie eine andere Welt betreten. Langsam glitt die Frostherz durch gewaltige, glitzernde Tunnel, in die leicht drei Schlitten nebeneinandergepasst hätten. Alles war in leuchtendes blaues Licht getaucht, wie Ash es noch nie gesehen hatte. Es reichte von schillerndem Türkis, wo das Licht durch das frische Eis über ihnen tanzte, bis zu tiefem, dunklem Schwarzblau an den Stellen, die seit Jahrhunderten nicht mehr von Mutter Sonne berührt worden waren.
Hier drin war der Schlachtlärm von draußen bloß ein fernes Grollen. Nur wenn es zu einer besonders mächtigen Explosion kam, knackten die Höhlenwände unheilvoll.
Ash betete zu den Geistern, dass sie seine Mutter beschützen mochten, auch wenn sie sich selbst unnötig in Gefahr begeben hatte.
»Die kommt schon klar«, versicherte Lunah ihm lächelnd. »Andern in den Hintern zu treten, is’ so ’ne Sache, die Mums draufhaben. Vor allem unsere.«
Ash lächelte zurück, wenn auch wenig erleichtert.
Das Heulen des Sturms war zu einem gruseligen Seufzen geworden, das wie der Atem eines kolossalen Tieres durch die Höhle wehte. Die plötzliche Ruhe trug lediglich dazu bei, dass ein anderes Geräusch umso deutlicher hervortrat. Der seltsame, alles durchdringende All-Gesang des Landes hallte durch das Eis. Schaudernd versuchte Ash sich auszumalen, was wohl zu solch mächtigen und fremden Lauten fähig war.
Noch dazu hielt der All-Gesang etwas zurück, was wesentlich schlimmer war. Die bedrohliche Gegenwart des Verschlingers durchtränkte die Gewölbe und Tunnel mit Bosheit. Wie das Tuscheln Tausender hasserfüllter Stimmen triefte sie von den Wänden und ließ die Luft ringsum umso kälter erscheinen. Tobu schlich mit gezücktem Bogen über das Deck, während Krah sich in eine Ecke zurückgezogen hatte, in der sie zitternd vor sich hin murmelte.
»Es kommt näher …«, sagte Kailen, die einige Schritte auf den Rest der Besatzung zumachte. Selbst der sonst so gefasste Master Podd zuckte mit seinen großen Ohren und sträubte das Schwanzfell. Picke schlang die massigen, tätowierten Arme um Kailen. »Was bitte soll das werden?!«, fragte sie.
»Mir gefällt das nicht«, antwortete Picke.
Kailen machte Anstalten, ihn von sich zu schieben, gab dann jedoch nach. »Von mir aus. Aber nur, weil’s so kalt ist.«
Da von Shaards Schlitten nichts zu sehen war, fuhr die Frostherz weiter hinein in die unheimliche Höhle, bis der Gang sich vor ihnen gabelte. Yallah schaltete den Antrieb ab, und der Schlitten kam langsam zum Stehen.
»Wohin?«, fragte Nuk, die von der Brücke stieg.
Lunah und Tobu suchten das Eis unter ihnen nach Spuren des Dämonenschlittens ab.
»Sieht aus, als wären sie da lang.« Lunah zeigte in einen Tunnel, der von den vereisten Knochen eines lange verstorbenen Leviathans bewacht wurde.
»Knochen. Ein böses Omen …«, flüsterte Yallah.
»Wieso?«, fragte Nuk, die sich zur Crew auf dem Hauptdeck gesellte. »Wir Mursu schmücken unsere schwimmenden Festungen mit den hinreißendsten Knochen, die du je gesehen hast – von den gigantischen Wesen der Tiefe. Quasi wiederverwendet. Wir bauen damit unsere Häuser, nutzen sie als Werkzeuge oder machen Schmuck daraus. Die sehen nicht nur prächtig aus, sie erinnern uns außerdem daran, wie kurz das Leben ist, mahnen an die wahre, unausweichliche Endgültigkeit des Todes und –« Plötzlich riss Nuk die Augen auf. »Ooooooh, jetzt seh ich’s auch. Ja, wirkt ziemlich Unheil verkündend, was?«
»Dann also der Knochenpfad«, sagte Kailen und verstärkte den Griff um ihren Bogen.
»Alle bereit?«, fragte Nuk.
Die Mannschaft nickte ernst – alle außer Krah, die schlotternd dahockte, während ihre Krähen nervös an ihren Fellen zupften.
»Krah?«, sprach Ash sie sanft an und trat näher. Ihre Kapuze ruckte zu ihm herum. Im Schatten darunter waren ihre feurig weißen, von Furcht erfüllten Pupillen kaum zu sehen.
»Dicht. So dicht«, sang sie mit beinahe so gebrochener und rauer Stimme wie damals, als Ash sie kennengelernt hatte. »Verschlinger-Gefängnis. Zu nah. Kann nicht dagegen ankämpfen. Nicht gewinnen. Diesmal nicht.«
Ihre Worte jagten Ash einen eiskalten Schauer über den Rücken.
Das Gefängnis war hier? Er hatte gewusst, dass sie darauf zuhielten, aber er hatte irgendwie gehofft, dass sie Shaard abfangen würden, lange bevor sie diesen grauenhaften Ort erreichten.
Ash war unsicher, ob er mutig genug war, den Verschlinger auch nur anzusehen.
Die kurzen Eindrücke, die ihm die Erinnerungssphären der Alten Welt gewährt hatten, waren durch und durch schrecklich gewesen, und der Gedanke daran, ihm im wahren Leben zu begegnen, verursachte ihm Übelkeit. Ash wusste, dass selbst die Urleviathane der Vorzeit, die mächtigsten, die je gelebt hatten, nicht stark genug gewesen waren, den Verschlinger zu besiegen. Sie hatten ihr Leben geben müssen, um ihn zumindest einzukerkern.
Ob er in einem riesigen Käfig steckt?, überlegte Ash ängstlich. Die Krallen nach draußen steckt, um uns zu packen? Oder wurde er unter diesem Gletscher begraben? Ashs Haut kribbelte unangenehm, als er sich ein gigantisches Auge vorstellte, das sie durchs Eis hindurch beobachtete. Weiß … weiß er schon, dass wir hier sind? Wird er mir mit seinem Gesang den Verstand rauben …?