Die Legende von Steinwart Wurzelknopf - Henry Wimmer - E-Book

Die Legende von Steinwart Wurzelknopf E-Book

Henry Wimmer

4,8

Beschreibung

Herausgerissen aus einem Dasein voller Frieden und mit bekannten Wegen wird Steinwart vor die Wahl gestellt. Sich entweder der Aufgabe zu stellen, die für ihn vorgesehen ist oder wegzuschauen und die aufziehenden dunklen Wolken zu ignorieren. Er entscheidet sich für seine Aufgabe und mit seinen Gefährten tritt er eine Reise an, die ihn bis an seine eigenen Grenzen führen wird. Auf der er aber auch viel Neues über Vertrauen, bedingungslose Freundschaft und Liebe erfährt. Nicht für jeden aus der Gemeinschaft hat das Schicksal eine Rückkehr vorgesehen. Am Ende zählt nur noch der persönliche Einsatz, den sie bereit sind zu geben, um nicht zu scheitern. Wie hättest du gehandelt? Folge Steinwart, Hyazintha und ihren Freunden auf einer Reise, die das Vorstellbare sprengt. Und von der niemand weiß, was am Ende bleibt. Werden die Anstrengungen von Erfolg gekrönt sein? Oder ist alles vom Beginn an zum Scheitern verurteilt? Tauche ein in Steinwarts Leben - und lausche der Legende.

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Henry Wimmer

Die Legende

von

Steinwart Wurzelknopf

Die alte Eiche

Kennst du das Geräusch, wenn der Regen sanft auf ein Blätterdach fällt? Wenn die staubgeladene Luft mit einem Mal diesen ganz besonderen Duft hat? Wenn Regentropfen groß und schwer an der Spitze der Blätter hängen, sich immer länger strecken, als wollten sie niemals loslassen und dann mit einem fast hörbaren Plopp auf das nächste Blatt fallen?

Wenn sich dann die Wolken verziehen und während der letzten fallenden Tropfen ein Regenbogen ganz weit in der Ferne erscheint, dann überzieht ein Strahlen dein Gesicht. Und du meinst, du müsstest nur die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren. Doch je weiter du auf ihn zugehst, desto weiter entfernt er sich von dir. Aber die Freude, wenn sich die Farben in den Regentropfen zeichnen, die bleibt.

Und manchmal fällt dann ein vorwitziger Sonnenstrahl so in einen dieser Regentropfen, dass er abgelenkt wird und auf jemanden trifft, ihn an der Nase kitzelt, und ...

… aber damit sind wir schon in meiner Geschichte. Und vorgreifen will ich nicht ...

Es war einer dieser Morgen nach einer heißen Nacht, die gar keine Abkühlung bringen wollte. Die ganze Nacht hatte Steinwart Wurzelknopf sich in seinem Bett aus Farn hin und her gewälzt und so gar nicht gewusst, was denn nun der Anlass für seine Schlaflosigkeit war. Hatte ihm die schwüle und heiße Nacht den Schlaf geraubt, war es das letzte Pfeifchen mit starkem Tabak am Abend gewesen? Oder vielleicht doch seine wunden Schienbeine, die über und über mit blauen Flecken übersät waren. Und während er noch seinen Gedanken nachhing, da traf eben dieser Sonnenstrahl von dem ich gerade erzählt hatte auf seine Nase, kitzelte ihn und löste einen dermaßen gewaltigen Nieser aus, dass der Blättervorhang aufflog und sein Weib Hyazintha ganz erschrocken ihren Kopf ins Schlafgemach steckte, um nachzusehen, ob etwas passiert war. Sie sah so erschrocken aus, dass Steinwart lachen musste. «Liebes Weib, es ist alles in Ordnung. Die Sonne wollte mir nur eben bedeuten, dass es Zeit sei für alte Zwerge das Bett zu verlassen!» Und murmelte zu sich selbst: «Auch wenn mir das von Tag zu Tag schwerer fällt.» Und damit schwang er seine Beine aus dem Bett, machte sich frisch und schlurfte humpelnd an den Frühstückstisch. «Alterchen, mach nicht so ein mürrisches Gesicht. Dein Tagwerk wartet nicht. Also, auf jetzt und deine Beine werde ich gleich noch einmal einreiben. Ich habe da ein neues Mittel von unserer Kräuterkundigen bekommen …»

Steinwart hörte ihr schon gar nicht mehr zu, denn im Grunde seines Herzens war er ein arger Morgenmuffel und freute sich schon auf die Ruhe und die Dunkelheit seiner unteririschen Höhle, in der er Tag für Tag seiner Arbeit nachging und Erzadern freilegte. Wenn das Licht seiner Grubenlampe auf die schimmernden Flüsse im Gestein fiel und Quarze oder auch edlere Metalle zeigte, dann war es für ihn das höchste Glück.

Aber in der letzten Zeit fiel es ihm immer schwerer, den Weg zu seiner Grube oder auch zurückzugehen. Denn an dem Weg stand eine uralte Eiche. Die grüßte er jeden Tag, wie eigentlich alle Bäume und alle Lebewesen. Denn er wusste, dass sie beide nur zusammen existieren konnten. Und er war sich immer sicher gewesen, dass sich die mächtige Krone bei seinem Gruß kurz geneigt hatte, um auch ihm einen schönen Tag zu wünschen. Doch seit mehreren Tagen konnte er nicht mehr an der Eiche vorbei, ohne dass sie ihm mit einer ihrer zahlreichen Wurzeln ein Bein stellte. Egal was er auch versuchte, eine der Wurzeln schlang sich um seine Füße und brachte ihn zum Stolpern. Kein Wunder, dass seine Schienbeine grün und blau waren. Aber warum das alles? Er war sich keiner Schuld bewusst. Und während er sein letztes Tässchen Holunderblütentee für diesen Morgen trank und sich eine Pfeife stopfte beschloss er, an diesem Morgen der Sache auf den Grund zu gehen und seinen geliebten Berg heute ausnahmsweise zu vernachlässigen.

Er küsste seine Hyazintha unbeholfen auf die Nase (denn solche Liebesbezeugungen liegen alten Zwergen gar nicht), nahm sein Bündel, welches sie ihm gepackt hatte und machte sich auf den Weg. Und er war gar nicht weit gegangen, als er die alte Eiche schon erreicht hatte. In gebührender Entfernung setzte er sich auf einen Baumstumpf und betrachtete den alten Baum. Wie friedlich er doch aussah. Die letzten Tropfen des morgendlichen Regens verdampften auf seinen Blättern und er betrachtete das Leben im Baum. Raupen, die sich über den Stamm und über die Blätter bewegten, Schmetterlinge, Vögel in ihrem Nest und alles strahlte Frieden aus. Und trotzdem, irgendetwas war dort und brachte eine Störung in das empfindliche Gleichgewicht. Wenn er es doch nur erkennen könnte.

Steinwart stand auf. «Liebe Eiche. Du kannst zwar nicht reden. Aber wenn du ein Problem hast und meine Aufmerksamkeit auf dich ziehen wolltest, dann ist dir das gelungen. Gib mir ein Zeichen. Was ist dein Problem?» Immer näher ging er auf den Baum zu und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Unter dem Waldboden bemerkte er ein Zucken, ein Strecken, Bewegung und Veränderung. Er spürte die ersten Wurzeln, die nach seinen Füßen griffen und plötzlich … ja, plötzlich bemerkte er, wie er in den Boden einsank. Erschrocken wollte er nach etwas greifen um den Fall aufzuhalten. Fall? Nein, es war ein sanftes Gleiten. Vom Wurzelgeflecht getragen wurde er sanft nach unten befördert und sein Herzklopfen ließ nach, als er merkte, dass die Eiche ihm nichts Böses wollte. Nach wenigen Augenblicken wurde er gestoppt und die Wurzeln zogen sich von ihm zurück. Verwirrt sah er sich um. Jedoch, die Dunkelheit um ihn schien undurchdringbar.

«Ich Idiot», murmelte er und kramte seine Grubenlampe aus seinem Arbeitsbündel. Warum auch immer, er hatte sie, Macht der Gewohnheit eben, mitgenommen. Als das warme Licht aus der Lampe erstrahlte, nahm er seine Umgebung in Augenschein. Erst wollte ihm nichts auffallen, das dort nicht hingehörte. Ich weiß, euch als Baumkundigen wäre es sofort aufgefallen. Aber ihr dürft nicht vergessen, dass Steinwart Wurzelknopf ein Bergkundiger und kein Baumkundiger war. Lasst mich jedoch weiter erzählen. Er wollte sich schon resignierend abwenden und versuchen wieder ans Tageslicht zu kommen, da sah er aus den Augenwinkeln etwas, das seine Aufmerksamkeit erregte. Es sah aus wie seine Grubenlampe, nur war das, was er dort sah ungleich viel älter. Vorsichtig zog er es aus dem Wurzelgeflecht hervor und erkannte eine uralte Karaffe, schimmernd unter all dem Schmutz der Jahrzehnte, vielleicht auch Jahrhunderte, der sich darauf angesammelt hatte. Als er die Karaffe bewegte, bemerkte er ein leichtes Gluckern, als ob sie mit einer Flüssigkeit gefüllt sei.

«Ich nehme sie mit», sprach er leise zu sich. Aber die Eiche schien ihn gehört zu haben und es war ihm als vernehme er einen Seufzer der Erleichterung. Als habe diese Karaffe dem alten Baum lange Zeit auf der Seele gelegen. Denn auch Bäume haben eine Seele, damit ihr das wisst. Im gleichen Moment trug ihn das Wurzelwerk auch schon wieder nach oben und ließ ihn im selben Augenblick wieder unbehelligt seiner Wege ziehen.

Von weitem hörte Hyazintha ihn schon rufen. «Weib, Weib, schau was ich gefunden habe!» Keuchend und völlig ausser Atem (denn Zwerge rennen sonst eigentlich fast nie), kam Steinwart nach Hause und stellte die Karaffe auf den Tisch.