Die letzte Invasion - Max Haller - E-Book

Die letzte Invasion E-Book

Max Haller

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Beschreibung

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat zu einem Wiederaufflammen des Kalten Krieges geführt. Sind Kriege unvermeidlich mit der Menschheitsgeschichte verbunden? Und können sie nur durch die Ordnungsmacht von Großstaaten kontrolliert werden? Max Haller geht von Kants Friedenstheorie aus und bezieht sie auf den Abwehrkampf der Ukraine, der inzwischen auch den Charakter eines unzumutbaren Stellvertreterkriegs angenommen hat. Anhand von historisch-soziologischen Vergleichen, der Auswertung von Umfragen, Medienberichten und persönlichen Interviews zeigt er, dass Kriege durch ungezügelte Interessen wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Mächte entstehen, Demokratie, Völkerrecht und supranationale Institutionen aber reale Chancen auf Frieden eröffnen.

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Max Haller, geb. 1947, forscht an der Österreichischen Akademie für Wissenschaften (Wien). Er war Soziologieprofessor in Graz und Gastprofessor an mehreren Universitäten in Europa, den USA sowie Afrika. Der Soziologe war Mitbegründer des »International Social Survey Programme« und der »European Sociological Association«.

Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat zu einem Wiederaufflammen des Kalten Krieges geführt. Sind Kriege unvermeidlich mit der Menschheitsgeschichte verbunden? Und können sie nur durch die Ordnungsmacht von Großstaaten kontrolliert werden? Max Haller geht von Kants Friedenstheorie aus und bezieht sie auf den unzumutbaren »Stellvertreterkrieg«, den die Ukraine derzeit führt. Anhand von historisch-soziologischen Vergleichen, der Auswertung von Medienberichten und persönlichen Interviews zeigt er, dass Kriege durch ungezügelte Interessen wirtschaftlicher, politischer oder militärischer Mächte entstehen, Demokratie, Völkerrecht und supranationale Institutionen aber reale Chancen auf Frieden ermöglichen.

Max Haller

Die letzte Invasion

Der Ukrainekrieg im Lichte von Kants Friedenstheorie

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.dnb.de/ abrufbar.

© 2024 transcript Verlag, BielefeldAlle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: IherPhoto / iStock by Getty Images

Korrektorat: Hannah Bultmanns, Enger

https://doi.org/10.14361/9783839475423

Print-ISBN: 978-3-8376-7542-9

PDF-ISBN: 978-3-8394-7542-3

EPUB-ISBN: 978-3-7328-7542-9

Buchreihen-ISSN: 2364-6616

Buchreihen-eISSN: 2747-3775

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: Die schwierige Geburt der ukrainischen Nation

Die geographische Offenheit und Verwundbarkeit des Landes

Historisch verzögerte Herausbildung eines Nationalbewusstseins

Tragödien im 20. Jahrhundert: Erster Weltkrieg, Holodomor, Zweiter Weltkrieg und Holocaust

Die politisch‐nationale Entwicklung bis zum Zerfall der Sowjetunion

Der wirtschaftlich‐soziale Absturz im Transformationsprozess

Schlussbemerkung

Kapitel 2: (Westliche) Erklärungen und Narrative zu Putins Überfall auf die Ukraine

Kampf der Systeme und Kulturen?

Der Aufstand in der Ostukraine als »neuer Krieg«?

Der These von der »Zeitenwende«

Die (neo‑)realistische Theorie der internationalen Beziehungen

Eine pazifistische Illusion Europas?

Russland als persistentes evil empire mit einer autoritätshörigen Bevölkerung

Kapitel 3: Immanuel Kants Theorie von Krieg und Frieden

Der historische Kontext und die Rezeption der Theorie von Kant

Voraussetzungen und notwendige Bedingungen für den Frieden

Die Interessensthese

Die Demokratiethese

Sind Demokratien wirklich friedlicher?

Publizität und die moralische Fundierung der Politik

Persönlichkeiten als Herren über Krieg und Frieden

Friedensförderung als eigenständige Aufgabe

Kapitel 4: Putins Aufstieg, seine Netzwerke und der großrussische Nationalismus

Putin verstehen heißt nicht, sein Handeln zu rechtfertigen. Nicht ein Vergleich mit Hitler, sondern mit Stalin wäre angebracht

Die Karriere: mysteriöser Aufstieg, akklamierter Start, autoritärer Sinneswandel

Die Ausschaltung der Demokratie: Der Überfall auf die Ukraine als Präventivschlag

Wie Macht korrumpiert: Zwei politische Zwillinge und ein Vorbild von Putin

Der großrussische Nationalismus als Erbschaft des Sowjetimperiums?

Die Invasion der Ukraine als Reaktion auf die NATO‐Osterweiterung

Kapitel 5: Wie der Westen eine welthistorische Chance für dauerhaften Frieden in Europa vergab

Eine einmalige Chance für die Schaffung eines friedlichen Europa vom Atlantik bis zum Ural

Wiedervereinigung sofort – koste es, was es wolle. Ein Elefant im Porzellanladen

Angst in Mittelosteuropa: Charismatische politische Persönlichkeiten werfen ihr Gewicht in die Waagschale

Politische Spaltungen und Grabenkämpfe in der Ukraine

Kapitel 6: Der Stellvertreterkrieg – eine unerhörte Zumutung an die Bevölkerung der Ukraine

Typen von Kriegen und Lehren aus der Forschung zu ihrer Dauer und Beendigung

Vom Abwehrkampf zum Abnützungs‐ und Stellungskrieg: Der Stellvertreterkrieg

Die verheerenden Folgen und das Scheitern der Stellvertreterkriege

Militärische Aufrüstung und Unterstützung der Ukraine als imperiales Interesse der USA

Das EU‑Narrativ: Die Ukrainer als Verteidiger der europäischen Werte

Die reservierte Haltung der Staaten des globalen Südens

Die Player in der ukrainischen Elite: Oligarchen und ein unerschrockener, dominanter Meister der Kommunikation

Die Hauptopfer des Krieges: Land und Bevölkerung der Ukraine

Schlussbemerkungen

Kapitel 7: Der Krieg als gesellschaftlicher Katalysator

Einstellungen der ukrainischen Bevölkerung zu Krieg und Frieden und zur Zukunft des Landes

Krieg bis zum Sieg über die Russen! Die kompromisslose Haltung der Ukrainerinnen

Verhaltensindikatoren für die Einstellungen zum Krieg

Wie der Krieg Patriotismus, Demokratiebefürwortung und Zukunftsoptimismus stärkte

Die Haltung der Eliten

Gründe für die Unterstützung von Kriegen durch die Bevölkerung

Schlussbemerkungen

Kapitel 8: Verhandlungen als Wege aus der Sackgasse des militärischen Patts und der politischen Selbstlähmung

»Helft uns siegen!« – Warum es im Laufe des Ersten Weltkrieges keine ernsthaften Friedensbemühungen gab

Das Scheitern der Friedensverhandlungen in Minsk und seine Ursachen

Aktuelle Aufrufe zu Friedensverhandlungen und die Reaktionen darauf

Die Notwendigkeit von Verhandlungen angesichts des militärischen Patts

Waffenlieferungen oder die Ukraine im Stich lassen? Eine falsche Alternative

Sieben Bedingungen für nachhaltige Waffenstillstands‐ und Friedensverhandlungen

Kann Russland einem Waffenstillstand und Frieden zustimmen?

Schlussbemerkungen

Kapitel 9: Globaler Ausblick: Reformideen für eine friedlichere Welt von morgen

Strategien und Institutionen zur Durchsetzung und Sicherung des Friedens

Abschaffung stehender Heere, Rüstungskontrolle, Begrenzung des internationalen Waffenhandels

Selbstbestimmung, Unabhängigkeit und Sicherheit aller Nationen

Weiterentwicklung der repräsentativen Demokratie

Perspektiven für die Europäische Union: militärische Großmacht oder Zivil‐ und Friedensunion?

Reform und Stärkung der Vereinten Nationen

Weltweite Interventionen der Großmächte als größtes Sicherheitsrisiko. Plädoyer für eine globale Monroe‐Doktrin

Eine internationale Sicherheitsordnung als realistische Perspektive für die nächste Zukunft

Abschließende Bemerkungen

Literatur

Vorwort

Die Invasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Europa erschüttert und weltweit Bestürzung erregt. Vom deutschen Bundeskanzler Scholz als »Zeitenwende« tituliert, hatte er inzwischen tatsächlich globale wirtschaftliche, soziale und politische Auswirkungen. Dieser Überfall und der seither wütende Krieg können daher auch als Anlass dafür gesehen werden, sich grundlegende Gedanken über Kriegsgefahren und die Chancen der weltweiten Sicherung des Friedens heute zu machen. Betrachtet man Vorgeschichte und Verlauf dieser Invasion und des Krieges näher, eröffnen sich eine Reihe erstaunlicher, aber auch erschreckender Parallelen zu anderen Konflikten und Kriegen in Europa vom Ersten Weltkrieg bis zu den Jugoslawienkriegen. Ähnlich gefährliche Kriegsanlässe findet man auch in ganz anderen Teilen der Welt, wie etwa in dem höchst brisanten Konflikt zwischen China und Taiwan. Zum voll ausgebrochenen Staatenkrieg, der seit dem 22. Februar in der Ukraine herrscht, gibt es inzwischen eine Reihe von wissenschaftlichen und journalistischen Publikationen.1 Auch ukrainische Sozialwissenschaftler haben umfangreiche Studien veröffentlicht, die allerdings meist nur in ukrainischer Sprache verfügbar sind.2

In der wissenschaftlichen Literatur finden sich vielfach Teile des hier vorgestellten Erklärungsansatzes.3 Keiner davon scheint jedoch in der Lage zu sein, eine zusammenhängende Gesamtanalyse zu liefern, wie es ein auf Kants Kriegs‐ und Friedenstheorie aufbauender Ansatz ermöglicht. Besonders informativ und mit dem hier entwickelten Ansatz verwandt sind die Werke Der Krieg gegen die Ukraine von Gwendolyn Sasse (C. H. Beck 2022) und Die chauvinistische Bedrohung von Sabine Fischer (Ullstein 2023). Ebenfalls informativ, aber tendenziell einseitig (durch eine gewisse Verharmlosung Putins) sind die Werke Wie der Westen den Krieg in die Ukraine brachte von Bernd Abelow (Siland Press 2022) und Putin – Herr des Geschehens? (Westend 2023) des stark in den Medien präsenten Schweizers Jaques Baud. Zu nennen sind hier auch mehrere Sammelwerke, so der Band Die Ukraine im Krieg (Hg. Heinz Gärtner, Lit‐Verlag 2022), Die Ukraine in Europa (Hg. Franziska Davies, wbg 2023) und der von den ukrainischen Soziologen Volodymyr Paniotto und Anton Grushetsky herausgegebene Band War and the Transformation of Ukrainian Society 2022–23 (ibidem Verlag 2024, im Erscheinen). Auch zeithistorische Werke sind relevant, wie Ungleiche Brüder von Andreas Kappeler (C. H. Beck 2017), Geschichte der Ukraine von Kerstin S Jobst (Reclam 2022), und Ukraine. The Forging of a Nation von Yaroslav Hrytsak, (sphere 2023). Viele Bücher legen den Fokus auf Russland. Hier sind Publikationen von Journalisten informativ, die von den Orten des Geschehens berichten oder länger dort lebten, wie die ZDF‐Journalistin Katrin Eigendorf (Putins Krieg, Fischer TB, 2023), der Moskau‐Korrespondent der Zeit Michael Thumann (Revanche, C. H. Beck 2023) oder die ORF‐Korrespondenten Paul Krisai und Miriam Beller (Russland von innen, Zsolnay 2023). Besonders interessant sind Arbeiten von Akteuren, die selbst am politischen Leben in Russland teilnahmen, wie das Buch von Wadim Bakatin Im Innern des KGB (S. Fischer 1993), Verteidigungsminister von 1988–1990, und von Leonid Wolkow Putinland (Droemer Knaur 2023); er war Abgeordneter und Mitarbeiter von Alexei Nawalni und lebt jetzt in Litauen.

Viele Autorinnen fragen sich seit Anfang des Jahres 2024, wie und wann der Krieg enden könnte, und untersuchen, wie Kriege in der Geschichte in der Regel geendet haben. Aber in keiner dieser Publikationen wurde die grundsätzliche Frage von Krieg und Frieden thematisiert, die sich mit diesem Krieg wieder neu stellt. Manche der Analysen des Krieges und der Folgerungen, die daraus gezogen wurden, sind bei näherer Betrachtung wenig befriedigend. Denn letztlich laufen sie – so insbesondere die derzeit vorherrschende realistische Theorie der internationalen Beziehungen – nur auf eine Bestätigung der verhängnisvollen Entwicklung zu einem Neuen Kalten Krieg hinaus. In dieser Publikation wird ein alternativer Ansatz entwickelt. Seine Grundlage ist der bahnbrechende Aufsatz von Immanuel Kant von 1795 Zum ewigen Frieden. Dies ist nach Meinung des Verfassers kein bloß »philosophischer Entwurf« (wie sein Untertitel heißt), und noch weniger ein rein normatives ethisch‐politisches Traktat. Vielmehr stellt der Aufsatz eine eminent sozialwissenschaftliche Analyse dar. Er orientiert sich zwar am grundlegenden Wert des Friedens, enthält aber auch soziologische Thesen zu den wichtigsten Kriegsursachen sowie von Strategien zur Sicherung des Friedens. Kants optimistische Sicht im Hinblick auf die langfristige Durchsetzung des Friedens ist kein weltfremder Idealismus, sondern basiert auf einem historisch‐empirisch informierten Ansatz.

Diese Arbeit geht davon aus, dass es drei klar identifizierbare Ursachen für den Krieg in der Ukraine gibt: einen nach innen exkludierend‐repressiven und nach außen aggressiven Nationalismus, das Machtstreben von Großmächten und politischen Führern und demokratische Defizite bzw. die zunehmende Unterminierung der Demokratie. Im Fall Russlands sind alle diese drei Aspekte eine toxische Verbindung eingegangen. Der Begriff des Chauvinismus (Sabine Fischer) mit seinen drei Aspekten von Nationalismus, Autokratie und Sexismus scheint dafür sehr treffend zu sein. Die Herrschenden in einem Staat wenden sich gegen Gruppen und Regionen, die sich an demokratischen Prinzipien orientieren und von ihrem Staat trennen wollen, weil dies ihre eigene Legitimität unterminieren, die Machtbasis schmälern und zu Aufständen und Reformbestrebungen im eigenen Lande anleiten könnte. Der Ukrainekrieg ist geradezu eine Replikation der Jugoslawienkriege: Zentralistisch‐autoritäre Tendenzen führten damals zu Sezessionsbewegungen, die sich zunehmend radikalisierten und schließlich in militärische Auseinandersetzungen mündeten. Auch die lange Zeit mit Terror verbundenen Konflikte in Spanien um die Autonomie des Baskenlands und in Nordirland waren ähnlich motiviert. Die bis heute wiederkehrenden, wenn bis dato glücklicherweise nicht mit offener Gewalt verbundenen Konflikte um den Autonomiestatus von Schottland und Katalonien zeigen, dass diese Probleme selbst in Westeuropa noch nicht wirklich gelöst sind. Der aggressive Nationalismus wird besonders gefährlich, wenn er Großmächte erfasst, die häufig auch militärische Einsätze in Betracht ziehen. Eine eminente Gefahr für den Weltfrieden stellt der immer wieder erhobene Anspruch Chinas auf Taiwan dar, bei dem die Anwendung von Gewalt offen ausgesprochen wird. Ihm stehen die wiederholten Erklärungen amerikanischer Präsidenten gegenüber, Taiwan militärisch zu verteidigen. Es ist schwer zu sagen, was problematischer ist: dass amerikanische Präsidenten sich überheblich über Russland und China äußern (Obama stellte fest, Russland sei weltpolitisch als Regionalmacht heute unbedeutend, Biden nannte den chinesischen Präsidenten Xi Jinping einen Schurken), oder den russischen Diktator geradezu anhimmeln (wie es Trump tat). So wurde zu Recht argumentiert, dass Herabsetzungen von Russland und von Putin als Person mit eine Rolle für den Ausbruch des Ukrainekrieges spielten.

Damit ist schon angedeutet, dass aggressive nationalistische Tendenzen nach außen und nach innen auch in westlichen Ländern, insbesondere in den USA, zur Entstehung von neuen Spaltungen und Feindbildern beigetragen haben und damit auch zum neuen Kalten Krieg. Dies ist umso tragischer, als sich nach der Auflösung der Sowjetunion ein einmaliges Fenster für die Schaffung friedlicher Beziehungen in Europa vom Atlantik bis zum Ural aufgetan hatte. Nach Kant ist die Herstellung und Sicherung des Friedens eine eigenständige Aufgabe, die mehr verlangt als nur die Beendigung von Kriegen. Der Verlauf der Geschichte wird, wie zuletzt der Historiker Yuval Harari wieder feststellte, aber auch in hohem Maße durch Zufälle und chaotische Systemdynamiken bestimmt.4 Komplexe Systemprozesse in der Natur, wie das Wetter, kann man nicht beeinflussen, wohl aber prognostizieren und dies umso besser, über je mehr Informationen wir darüber verfügen. Gesellschaften als Systeme zweiter Ordnung werden durch die Vorhersagen beeinflusst, die man über ihre Entwicklung macht. Die Zukunft können wir nicht vorhersagen, aber wir können Gestaltungsmöglichkeiten wahrnehmen, wenn wir unsere Mitwirkung in Rechnung stellen. Genau dies ist auch die Grundposition von Kant. In diesem Sinne stellt diese Publikation auch einen Versuch dar, nicht nur eine Erklärung für die Entstehung des Ukrainekrieges zu liefern, sondern auch konkrete Folgerungen für die notwendigen und möglichen Schritte zu einem Frieden aufzuzeigen.

Der Titel dieses Buches Die letzte Invasion ist in zweifachem Sinne zu verstehen. Zum einen ist dem Ukrainekrieg tatsächlich die bislang letzte Invasion eines europäischen (Groß‑)Staates in ein Nachbarland vorausgegangen. In der Einleitung wird ein kurzer historischer Rückblick auf die wichtigsten derartigen Invasionen seit Beginn des 20. Jahrhundert gegeben. Er offenbart einige höchst erstaunliche Fakten, darunter vor allem die Tatsache, dass die Effekte dieser Invasionen vielfach völlig andere waren, als von den Urhebern intendiert. In mehreren Fällen führten sie zum Umsturz der jeweiligen Regimes, ja zum Untergang der betreffenden politischen Gemeinschaften. Der Rückblick auf die Ursachen und die Folgen dieser Invasionen bestätigt durchwegs die Kriegstheorie von Kant. Man kann den Buchtitel aber auch als eine auf die Zukunft gerichtete Frage verstehen: Wird der Überfall auf die Ukraine die letzte Invasion bleiben, die von einer europäischen Macht auf einen benachbarten Staat ausgeht? Ist es vorstellbar, dass es in ganz Europa (nicht nur in der Europäischen Union) keine Invasionen und Kriege mehr gibt? Das können wir heute natürlich nicht wissen. Aufgrund der folgenden Analysen sollen in den Schlussbemerkungen jedoch einige Überlegungen dazu angestellt werden.

Als Untertitel des Buches war zuerst vorgesehen: Die Tragödie der Ukraine. Von einer solchen kann man in dreierlei Hinsicht sprechen. Die Ukraine musste bereits zweimal im 20. Jahrhundert als Folge von Kriegen, Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus unermessliches Leid durchmachen. Für den derzeitigen Krieg ist ohne Zweifel Putins Russland hauptverantwortlich; für die dabei begangenen Kriegsverbrechen (insbesondere die Verschleppung von Kindern) wurde gegen ihn zu Recht ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs erlassen. Aber auch westeuropäische Länder und vor allem die USA tragen Mitverantwortung. Sogar die Ukraine selbst kann nicht nur als Opfer gesehen werden. Eine Lösung des mit diesem Krieg verbundenen Konflikts scheint angesichts der Maximalforderungen der Kriegsparteien nahezu aussichtlos. Umso wichtiger erscheint es, aufzuzeigen, dass eine Weiterführung des Krieges verhängnisvoll wäre. Aus Kants Ideen können wir auch Strategien und Wege ableiten, wie solche und ähnliche Konflikte in der Welt von heute eingedämmt werden könnten. Man kann aus (erfolgreichen und gescheiterten) Bemühungen zur Friedensstiftung lernen – ebenso aus den Ursachen dafür, dass sie oft trotz einer höchst sinnlosen Fortführung eines Krieges nicht unternommen wurden.

Das Buch ist folgendermaßen gegliedert. Im ersten Kapitel wird ein Überblick über die Geschichte der Ukraine seit der Neuzeit und insbesondere im 20. Jahrhundert gegeben. Die Verzögerung und Probleme bei seiner Nations‐ und Staatsbildung und die dabei besonders schwierigen Beziehungen zu Russland bzw. zur Sowjetunion liefern einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der heutigen Situation. Man könnte sagen, dass der von außen angeheizte Streit um die (verkürzte) Frage, ob die Ukraine eher Russland oder dem Westen zugehört, das Land geradezu zerrissen hat. Die hausgemachten Probleme der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entwicklung erschwerten auch die Lösung der nationalen Frage. Das zweite Kapitel präsentiert einige Erklärungen für den Einmarsch Putins in die Ukraine, die vor allem von Autoren in Amerika und Westeuropa entwickelt wurden. Demnach könnte man den Beginn der Auseinandersetzungen als Krieg zwischen Kulturen oder als »neuen Krieg« sehen. Vor allem aber, so die einflussreiche realistische Theorie der internationalen Beziehungen, wird er interpretiert als eine neue Form des internationalen Wettbewerbs der Großmächte um geopolitischen Einfluss. Dabei diagnostiziert man eine neue Form des jahrhundertealten russischen Imperialismus und sieht Russland als eine von Natur aus autoritäre, aggressive Großmacht. Das dritte Kapitel stellt die Theorie von Kant dar, die sowohl die Entstehung von Kriegen erklärt als auch Wege zur Friedenssicherung aufzeigt. Für ihn sind die Menschen von Natur aus böse; das Ziel einer philosophisch‐soziologischen Analyse muss darin bestehen, auch die Ursachen für böses Verhalten zu erkennen.5 Als zentrale Auslöser und Nutznießer von Kriegen sieht er wirtschaftliche, politische und militärische Interessen, als Hauptopfer die Bürgerinnen. Die entscheidenden Institutionen zur Verhinderung von Kriegen sind für ihn die Demokratie, das Völkerrecht und ein Völkerbund. Man kann sagen, dass der letztere in Form der UNO 1945 gegründet wurde. Zentral für Kants Theorie ist auch die Bedeutung der Publizität: der offenen Information der Bürger betreffend alle Fragen über Krieg und Frieden. Auch historische Persönlichkeiten müssen als sehr wichtig angesehen werden. Kapitel 4 befasst sich mit der Person Putins und weiteren Aspekten der russischen Politik, die entscheidend für den Überfall auf die Ukraine waren. Dazu gehören der nicht erst von Putin erfundene, neue großrussische Nationalismus und geopolitisch‐imperialistische Interessen. Als Mittel zum Zweck baute Putin seine autoritäre Herrschaft kontinuierlich aus. Aber auch eine gespaltene Innenpolitik der Ukraine trug zum Konfliktausbruch im Donbass bei. Kapitel 5 zeigt, dass es in der ersten Hälfte der 1990er Jahre ein welthistorisches Zeitfenster für eine europäische Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural gegeben hat. Sie wurde vertan u.a. durch die Ungeduld politischer Führer in Deutschland und Zentraleuropa, die auf eine möglichst schnelle Wiedervereinigung und Westintegration drängten. Ihnen kamen konservativ‐aggressive Kreise in den USA entgegen, die dann sehr rasch die Osterweiterung der NATO erreichten. Dass diese eine Mitursache für Putins kriegerische Aktionen war, lässt sich schwer bestreiten. Die Folgen auch im Westen – massive Verstärkung der militärischen Rüstung, Stärkung und Erweiterung der NATO – sind bekannt. In Kapitel 6 wird belegt, dass man beim Krieg in der Ukraine, der sich inzwischen zu einem Abnützungskrieg entwickelt hat, immer mehr von einem Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und Russland sprechen muss. Es erscheint als eine ungeheure Zumutung, dass die Ukraine für den Westen und für die »europäischen Werte« kämpfen soll: Zehntausende Ukrainer mussten ihr Leben lassen und werden es weiterhin müssen, Millionen von Frauen und Kindern sind geflüchtet, die Bevölkerungszahl schrumpft dramatisch und das ganze Land steht unter dem dauernden Terror von Luftangriffen. Als zwingende Folgerung daraus ergibt sich, dass sofortige Waffenstillstands‐ und Friedensverhandlungen das Gebot der Stunde sind. Kapitel 7 diskutiert, welche Vorgangsweise und Bedingungen dafür als notwendig erscheinen. Als zentral wird erachtet, von Maximalforderungen Abstand zu nehmen und nicht auf einem »gerechten«, sondern auf einen ehrenvollen Frieden hinzuarbeiten. In Kapitel 8 werden einige Folgerungen in Bezug auf die weltweite Beendigung von Kriegen und die Sicherung des Friedens herausgearbeitet. Mehrere Maßnahmen erscheinen dafür besonders wichtig: eine signifikante Begrenzung von Rüstungsproduktion und Waffenhandel, die Ausarbeitung von Strategien dafür, wie sich Großmächte zu kleinen Nachbarstaaten verhalten sollen und wie sich ethnisch‐nationale Subgruppen friedlich von einem Staat trennen können, wenn sie es wollen. Sodann wird die zentrale Rolle friedenserhaltender Institutionen, wie der Vereinten Nationen und der Europäischen Union, diskutiert. Schließlich wird argumentiert, dass es Chancen zu global sicheren und friedlichen Beziehungen auch in einer Welt gibt, in der noch nicht alle Länder volle Demokratien geworden sind.

Der theoretische Hintergrund und Anlass für den Autor, dieses Buch zu schreiben, war das von ihm zur Zeit der Coronakrise verfasste Werk Die revolutionäre Kraft der Ideen. Gesellschaftliche Grundwerte zwischen Interessen und Macht, Recht und Moral (Springer 2022; eine überarbeitete und gekürzte Fassung erschien 2024 unter dem Titel Radikale Werte. Die Interessen der Menschen und ihre gesellschaftlich‐politische Durchsetzung, Springer 2024). Darin nimmt der Grundwert des Friedens einen wichtigen Stellenwert ein. Eine Grundthese dieses Werkes – entwickelt im Anschluss an Kant – lautet, dass sich gesellschaftliche Grundwerte, wenn sie von Denkern einmal klar ausformuliert und von der breiten Bevölkerung anerkannt werden, früher oder später unwiderruflich durchsetzen. Darüber hinaus ist der Autor seit langem an den Themen der sozialen Ungleichheit und an Problemen ethnischer Konflikte und des Nationalismus interessiert. In seinem Werk Ethnic Stratification and Socioeconomic Inequality around the World (Ashgate 2015) untersuchte er, wie ethnische Differenzierung in einer Gesellschaft und sozioökomische Ungleichheit zusammenhängen. Es zeigte sich, dass ethnische Homogenität mit höherer Gleichheit, Heterogenität mit höherer Ungleichheit zusammenhängt. Durch entsprechende Institutionen (insbesondere föderalistische Verfassungen) kann dieser Zusammenhang jedoch außer Kraft gesetzt werden. Man kann es als tragisch bezeichnen, dass eine solche Verfassung in der Ukraine nicht gleich zu Beginn ihrer Unabhängigkeit 1991 verabschiedet wurde.

Der Autor hat auch persönliche Beziehungen zu Kolleginnen und soziologischen Institutionen in der Ukraine. In den Jahren 2006–2009 weilte er mehrfach an Universitäten in Lwiw, Kiew und Charkiw und beriet diese als International Scholar des HESP Academic Programme beim Aufbau soziologischer Studiengänge. Im Anschluss daran entwickelte er ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema The Ukraine – Working toward National Identity and Integration. Dass dieses Projekt nicht finanziert wurde, erscheint aus heutiger Sicht besonders bedauerlich. Zu einer Auseinandersetzung mit der Kriegstragödie der Ukraine ist man als Autor in Österreich vielleicht besonders verpflichtet, weil die Geschichte der beiden Länder eng miteinander verknüpft ist.6 Der westliche Teil der Ukraine (das damalige Galizien) gehörte von 1772 bis 1818 zur Habsburgermonarchie. In diesem Teil konnte sich erstmals eine ukrainische Nationalbewegung formieren. Im Ersten Weltkrieg stellte die Ukraine allerdings das schwer in Mitleidenschaft gezogene Frontgebiet zwischen der k.u.k. Armee und der russischen Armee dar. Seit 1991 ist Österreich einer der wichtigsten Investoren in der Ukraine, wobei österreichische Unternehmen große Gewinne einstreichen konnten. Um sich selber ein Bild von der Lage in der Ukraine heute zu machen, unternahm der Autor vom 21. bis 27. April 2024 eine kurze Reise in die Ukraine. In deren Rahmen führte er in Lwiw und Kiew ausführliche Gespräche mit Sozialwissenschaftlern und machte ein Dutzend offene Interviews mit Menschen aus verschiedenen Gruppen der Bevölkerung. Auf die Ergebnisse daraus wird insbesondere in Kapitel 7 Bezug genommen.

Den konkreten Anstoß zur Ausarbeitung dieser Monografie gaben zwei Vorträge, die der Autor beim Österreichischen Kongress für Soziologie in Wien am 4. Juli 2023 und bei der Tagung der Sektion Politische Soziologie und des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam am 7. Juli 2023 halten durfte. Für die Einladung zu diesen Tagungen dankt er Alexander Bogner (Präsident der ÖGS), Nina Leonhard und Jasmin Siri (Vorstand der DGS‐Sektion). Wichtige Anregungen erhielt er auch bei einem Vortrag am Landeskulturzentrum Linz, den er auf Einladung von Bernhard Hofer und Claudia Pass (Herausgeber von Soziologie heute) am 28. März 2023 halten konnte. Barbara Kuchler ist er zu Dank verpflichtet, weil sie ihm anbot, das Manuskript zu diesen Vorträgen in der Zeitschrift Soziale Systeme zu veröffentlichen. Von ihr und zwei anonymen Gutachterinnen dieser Zeitschrift erhielt der Autor sehr fundierte und detaillierte Anregungen. Für weitere wertvolle Kommentare zu den Vortragsmanuskripten dankt er den Kollegen Helmut Kuzmics und Josef Scheipl (Graz), Georg Aichholzer, Markus Kaindl und Stefan Malfèr (Wien), Anton Sterbling (Fürth) und Hermann Strasser (Duisburg). Militärstrategische Themen konnte er mit dem Kriegsbeobachter des Österreichischen Bundesheeres, Major Albin Rentenberger, besprechen. Besonders danken möchte der Autor schließlich den Kollegen in der Ukraine, die sich im April 2024 für ausführliche Gespräche bereit erklärten. In Lwiw waren dies Professor Yuryy Pachkovskyy und Dr. Oleh Demkiv von der Ivan Franko National University of Lwiw und Prof. Viktor Susak von der Ukrainian Catholic University; in Kiew waren es Forschungsdirektor Mykhailo Mishchenko vom Razumkov Center und Prof. Anton Grushetskyi, Direktor des Kyiv International Institute of Sociology (KIIS); Prof. Olga Kutsenko von der Taras Shevchenko National University of Kyiv, dzt. Technische Universität Berlin, lieferte wertvolle Hinweise auf Literatur und Forschungsberichte. Ein langes Gespräch konnte er auch mit Yurii Sheliazhenko, PhD, Dozent für Rechtswissenschaften und Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung, führen. Dieser betonte vor allem, dass man den Ukrainekrieg aus einer längerfristigen, grundsätzlichen Perspektive im Sinne von Kant sehen müsse. Im Anschluss an dieses Gespräch entschied sich der Autor für den neuen Haupttitel Die letzte Invasion (der erste hatte gelautet Vom Freiheitskampf zum Stellvertreterkrieg).

Schlussendlich sind noch zwei Anmerkungen zu formalen Aspekten notwendig. Der erste betrifft die Frage der geschlechtergerechten Formulierungen. Der Autor sieht dieses Anliegen durchaus als legitim und wichtig an, findet aber auch alle vorgeschlagenen Formen entweder zu platz‐ und zeitraubend (etwa die Nennung der männlichen und weiblichen Formen) oder optisch‐sprachlich befremdend (Kurzform mit Schrägstrichen, Doppelpunkt usw.). Er hat daher einen Weg gewählt, der zwar keine wirklich gerechte Aufteilung auf die jeweiligen Formen darstellt, aber sprachlich relativ einfach ist. Es wird versucht, soweit als möglich auf neutrale Formen auszuweichen und ansonsten ka abwechselnd nur die männliche oder weibliche Form zu verwenden. Die zweite Frage betrifft die Zitierung von Wikipedia‐Artikeln. Wikipedia ist heute mit Abstand die größte Enzyklopädie, die es gibt und man findet zu fast allen Themen relativ informative Abhandlungen. Diese entsprechen zwar nicht unbedingt strengsten wissenschaftlichen Standards, aber die Wikipedia‐Redaktion überprüft doch alle neuen Einträge kritisch. Die Wikipedia‐Artikel werden jedoch nie als Belege für wichtige Thesen des Buches zitiert, sondern nur als Hinweise für die Leserinnen auf informative erste Einstiege in ein Thema.

Wien, Mai 2024

Endnoten

1 Das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung hat dazu eine Dokumentation veröffentlicht; vgl. https://www.geistes-und-sozialwissenschaften-bmbf.de/de/hintergruende-ukraine-2552.html (abgerufen am 28.01.2024).

2 Ein Beispiel für ein umfangreiches Werk ist S. Dembithskyi et al., eds., Ukrainian Society in Wartime, Kyiv 2022, Institute of Sociology of the National Academy of Sciences of Ukraine, mit drei Dutzend Beiträgen auf 400 Seiten (in Ukrainisch).

3 Einen kurzen, konzisen Überblick über die wichtigsten Theorien in Politikwissenschaft und Soziologie liefert Barbara Kuchler (2023), Einleitung: Der Krieg in der Ukraine.

4 Harari (2018), Eine kurze Geschichte der Menschheit, S. 295.

5 Vgl. dazu auch Anderson‐Gold/Muchnik (2010), Kant’s Anatomy of Evil.

6 Vgl. Arnold Suppan, Warum muss Österreich die Ukraine unterstützen?, Die Presse, 7.1.2023.

Einleitung

Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 überschritten russische Truppen von über 100.000 Mann die Grenzen der Ukraine von Norden, Osten und Südosten. Die Bevölkerung von Kiew hörte in den frühen Morgenstunden Motoren‐ und Fluglärm, Schießereien und Explosionen, viele erstarrten in ihren Betten. Was wirklich passierte, erfuhren manche durch Telefonate mit Bekannten in weit entfernten Ländern.1 Diese Invasion, die fast niemand in Europa erwartet hatte, war die jüngste in einer Reihe von mehreren Dutzenden anderen Invasionen, die seit Beginn der 20. Jahrhunderts von europäischen Großmächten in Nachbarstaaten durchgeführt worden waren. Es erscheint angebracht, sich die wichtigsten dieser kurz anzusehen. Es wird sich dabei nämlich zeigen, dass die russische Invasion in die Ukraine Charakteristika aufwies, die bereits bei vielen früheren Überfällen zu beobachten waren. Ein Hauptmerkmal all dieser Invasionen war, das sei schon hier vorweggenommen, dass sie vielfach zu völlig anderen Folgen führten als ihre Urheber damit intendiert hatten. Wir werden am Schluss der Einleitung die charakteristischen Merkmale derartiger Invasionen zusammenfassend darstellen.

Eine Invasion wird definiert als feindliches Einrücken von militärischen Einheiten in das Gebiet eines anderen Staates. Solche Invasionen können von sehr unterschiedlicher Art sein. Es kann sich um die mehr oder weniger kampflose Besetzung von relativ schwach besiedelten oder abgesicherten Territorien handeln, es kann aber auch eine riesige Armee beteiligt sein, wie beim Angriff von Nazi‐Deutschland auf die Sowjetunion im Juni 1941, bei dem auf deutscher Seite die größte Armee aller Zeiten, über drei Millionen Soldaten, beteiligt waren.

Kein Zufall ist die Tatsache, dass auch die erste Invasion kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts von Russland durchgeführt wurde. Um seine neuen Interessen in Ostasien abzusichern, entsandte Russland, zum Missfallen Japans, Truppen in die Mandschurei und nach Korea und besetzte am 4. Dezember 1898 den Hafen Port Arthur im Gelben Meer (heute das chinesische Dalian). Russland glaubte sich militärisch vor allem aufgrund seiner Flotte in Ostasien den Japanern überlegen. Besonders interessant ist, was der aggressiv orientierte russische Innenminister Wjatscheslaw von Plehwe dazu äußerte: »Russland ist durch Bajonette, nicht durch Diplomatie entstanden und wir müssen die mit China und Japan strittigen Fragen mit Bajonetten entscheiden… Sie [er meinte den eher zögernden Kriegsminister] kennen die innere Lage Russlands nicht. Um die Revolution einzudämmen, brauchen wir einen kleinen siegreichen Krieg.«2 Es war allerdings Japan, das den Krieg im Februar 1904 eröffnete. Er endete nach einer Reihe blutiger Schlachten am Land und zur See schon im Sommer 1905 mit einer schmählichen Niederlage Russlands. Dieser erste große Sieg einer aufsteigenden Macht der Dritten Welt wurde von Unabhängigkeitsbewegungen in Asien und im Osmanischen Reich als starke moralische Ermunterung gesehen. Schon im Krimkrieg (1853–1856) gegen das Osmanische Reich, bei dem der Kampf um die Festung Sewastopol eine Schlüsselrolle spielte, hatten die russischen Großmachtambitionen einen erheblichen Dämpfer erlitten. Die Niederlage gegen Japan delegitimierte die Zarenherrschaft und führte zur Revolution von 1905. Im Oktobermanifest musste der Zar bürgerliche Rechte und die Einrichtung eines Parlaments zugestehen.3

Die nächste Invasion war die verhängnisvollste des ganzen Jahrhunderts. Als Reaktion auf die Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 in Sarajewo stellte Österreich‐Ungarn Serbien, zu dem der Attentäter offenkundig enge Beziehungen hatte, ein Ultimatum mit kaum erfüllbaren Bedingungen. Nachdem man sich die Rückendeckung des Deutschen Reiches eingeholt hatte, erklärte Österreich‐Ungarn Serbien den Krieg und marschierte im August 1914 in Serbien ein. Die Unterschrift unter die Kriegserklärung wurde vom greisen Kaiser Franz Josef I. nicht zuletzt durch die gezielte Falschmeldung erreicht, serbische Einheiten hätten an der Grenze zu Österreich Schüsse abgegeben. Die Invasion Serbiens war, zur Schande der großen, aber militärisch vergleichsweise schwachen Habsburger‐Monarchie,4 ein klarer Misserfolg. Sie war in dieser Hinsicht vergleichbar der Überschätzung der Militärmacht Russlands im Krimkrieg und im Krieg gegen Japan. Die Invasion Serbiens hatte jedoch die gravierende Konsequenz, dass in der Folge Russland Österreich‐Ungarn den Krieg erklärte (was vorauszusehen war). Gleich darauf wurde eine Reihe weiterer Kriegserklärungen ausgesprochen, die auch Frankreich (als Verbündeten Russlands) und England mit dem britischen Commonwealth einbezogen, wodurch er zu einem Weltkrieg wurde. England hatte Deutschland den Krieg erklärt als Folge seines völkerrechtswidrigen Einmarsches in die neutralen Länder Luxemburg und Belgien und in die Niederlande. Die von der Wehrmacht begangenen Grausamkeiten unter der belgischen Bevölkerung verstärkten im Westen die Abscheu vor den Deutschen. Damit brach im August 1914 der Erste Weltkrieg aus – die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, wie er seit dem US‑Historiker und Diplomaten George F. Kennan von vielen bezeichnet wird.5 Bei der österreichisch‐ungarischen Kriegserklärung und Invasion von Serbien sind zwei Fakten besonders bemerkenswert und von aktueller Bedeutung. Zum einen die Tatsache, dass diese Kriegserklärung auch aufgrund innenpolitischer Probleme und eines Reformstaus erfolgte. Das politische Leben in der multinationalen Habsburgermonarchie war zuletzt immer häufiger mit heftigen Konflikten zwischen den Teilstaaten und Völkern verbunden, die nach mehr Autonomie bzw. Gleichberechtigung strebten. So sind nach Meinung der Historiker zwei Faktoren am relevantesten, wenn man die Kriegserklärung Österreichs verstehen will: Der erste war, dass es der Versuch einer inneren Herrschaftsstabilisierung der dominanten Eliten war, und der zweite, dass die Kriegserklärung das Ziel hatte, den Vielvölkerstaat auch international durch den Aufbau eines übernationalen Habsburg‐Mythos zu stärken.6 In diesem Zusammenhang ist die Begründung höchst relevant, die Kaiser Franz Josef I. (oder seine Schreiber) in seinem »Völkermanifest« zur Kriegserklärung lieferte. Darin wurde vor allem auf die Ehre der Monarchie verwiesen;7 es hieß in einigermaßen schwülstiger Art: »Die Umtriebe eines hasserfüllten Gegners zwingen Mich, zur Wahrung der Ehre meiner Monarchie, zum Schutze ihres Ansehens und ihrer Machtstellung, zur Sicherung unseres Besitzstandes nach langen Jahren des Friedens zum Schwerte zu greifen.«8

Invasionen kleineren Ausmaßes gab es auch in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, durch welche Russland bzw. die Sowjetunion, Polen, Rumänien und andere Länder die Grenzen der neuen Nationalstaaten in Mittelosteuropa revidieren wollten. Sie wollten damit Angehörige der eigenen ethnisch‐nationalen Gruppe, die nun in anderen Ländern lebten, »heimholen« (etwa die Rumänen in Ungarn). Auf sie brauchen wir hier nicht näher einzugehen. Bemerkenswert ist, dass die hierbei angegriffenen, meist kleineren Staaten ihre Selbständigkeit, auch gegen die Sowjetunion, behaupten konnten. Besonders relevant ist in dieser Hinsicht der spätere »Winterkrieg« zwischen der Sowjetunion und Finnland vom November 1939 bis März 1940, in welchem sich die Sowjetunion Karelien und andere südfinnische Landesteile aneignen wollte. Zur Überraschung der Welt wurden die Truppen der Roten Armee von den clever und verbissen kämpfenden Finnen gestoppt, auch weil diese mit den landschaftlichen Bedingungen und den winterlichen Wetterverhältnissen besser vertraut waren. Letztendlich mussten die Finnen aber einem Ende des Krieges zustimmen und Gebiete abtreten. Wir werden auf diesen Krieg, dessen Beendigung als Modell für den Ukrainekrieg relevant ist, in Kapitel 8 zurückkommen.

Eine ganze Serie von Invasionen begann bald nach Hitlers Machtergreifung in Deutschland 1933. Er hatte ja bereits in seinem Pamphlet von 1924 Mein Kampf ein aggressives außenpolitisches Programm angekündigt, in dessen Rahmen Deutschland die Dominanz auf dem kontinentalen Europa erlangen sollte. Dies war allerdings bereits ein Ziel des Deutschen Reiches vor dem Ersten Weltkrieg gewesen.9 Hitler wollte darüber hinaus jedoch ganz Osteuropa einschließlich der Sowjetunion erobern, um damit neuen »Lebensraum« für die Deutschen, die Hauptrepräsentanten der überlegenen arischen Rasse, zu schaffen.10 Hitlers erste Invasion betraf Österreich. Nachdem sein Druck auf die Regierung in Wien, sich freiwillig dem Deutschen Reich unterzuordnen, gescheitert war und Bundeskanzler Schuschnigg für den 13. März 1938 eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs angekündigt hatte, überschritten deutsche Truppen am Tag vorher die Grenze. Ob man in diesem Fall wirklich von einer Invasion sprechen kann, ist allerdings strittig. Die These, dass es sich um eine solche handelte, kann sich darauf stützen, dass der österreichische Bundespräsident Milas klar feststellte, man weiche der Gewalt. Neben den führenden österreichischen Politikern aller Parteien (mit Ausnahme der Nationalsozialisten) wurden nach dem Anschluss 50.000 bis 70.000 Personen verhaftet und in Gefängnisse bzw. Konzentrationslager geworfen.11 Die auf den Straßen mobilisierte österreichische Bevölkerung begrüßte den Einmarsch Hitlers jedoch, zuletzt in einer großen Kundgebung am Heldenplatz in Wien, bei der Hitler triumphal »den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich« verkünden konnte (daher auch der Begriff »Anschluss«). Nur ein Land, Mexiko, protestierte gegen den Anschluss Österreichs beim Völkerbund. Eine weitere Tatsache ist, dass viele Österreicher als NSDAP‐Mitglieder und auch in höheren zivilen und militärischen Führungspositionen an der Nazi‐Herrschaft und ihren Verbrechen im Krieg und gegen die Juden aktiv beteiligt waren.12 Unumstritten ist jedoch, dass Hitlers Besetzung von Tschechien, ebenfalls im März 1938, der Überfall auf Polen am 1. November 1939, die Besetzung Dänemarks und Norwegens im Frühjahr 1940 und der militärische Marsch durch die Benelux‐Staaten im Zuge des Angriffs auf Frankreich völkerrechtswidrige, kriminelle Invasionen darstellten. Dies gilt auch für die Besetzung Ostpolens durch die Sowjetunion 1939, die diese parallel zu Hitlers Angriff auf Polen (und in Übereinstimmung mit diesem) durchführte. Die von Hitler ausgelösten Kriege forderten einen extrem hohen Blutzoll von 60 bis 80 Millionen Menschenleben (davon 27 Millionen Russen), führten zur Vertreibung von 25 bis 30 Millionen Menschen13 und zur Verwüstung zahlreicher Städte in Europa und auf anderen Kontinenten, inklusive der durch Atombomben ausradierten Städte Hiroshima und Nagasaki in Japan. Die anfänglich noch überschaubaren, von den anderen europäischen Mächten tolerierten Invasionen in Nachbarländer Deutschlands führten letztendlich zu einer unglaublichen militärischen Auseinandersetzung und Katastrophe. Auch der Holocaust wurde erst im Rahmen des Krieges möglich. Für alle diese Verbrechen wurden nur sehr wenige (rund zwei Dutzend) Spitzenverantwortliche in den Nürnberger Prozessen verurteilt, obwohl dafür Tausende, wenn nicht Zehntausende in leitenden Funktionen beteiligt waren.14 Hitler selbst und einige seiner engsten Mittäter begingen Suizid, was belegt, dass ihnen die Ungeheuerlichkeit ihrer Taten voll bewusst war. Keine andere Invasion der Weltgeschichte hatte so schreckliche Folgen auch für ihre Urheber selbst.15

Seit dem Zweiten Weltkrieg war es vor allem die Sowjetunion, die durch völkerrechtwidrige Invasionen in andere Länder hervorgetreten ist. Die ersten davon waren die relativ »einfachen« Besetzungen der ungarischen Hauptstadt Budapest 1956 und der tschechoslowakischen Hauptstadt Prag 1968. Ihr Zweck war, die dort an die Macht gekommenen, reformorientierten liberalen Regierungen abzusetzen. Die sowjetischen Eliten fühlten sich von diesen Entwicklungen bedroht, da sie das kommunistisch‐sowjetische Machtsystem grundsätzlich in Frage stellten und Reformbewegungen auch in Russland selbst hätten anstoßen können. Die Besetzung von Budapest war allerdings mit schweren, eine Woche lang andauernden Kämpfen verbunden. Hunderte Aufständische, darunter Ministerpräsident Imre Nagy und Verteidigungsminister Pál Maléter, wurden hingerichtet, Zehntausende interniert und Hunderttausende flüchteten in den Westen.16 In Prag wurde nach Aufforderung durch den KP‑Vorsitzenden Alexander Dubcek auf bewaffneten Widerstand verzichtet. Stattdessen gab es einen zivilen Widerstand, der allerdings auch Dutzende Todesopfer forderte.17 Der Westen hielt sich aus diesen Ereignissen völlig heraus, da die Welt noch in die Einflusszonen der Großmächte aufgeteilt war. In Kapitel 4 wird argumentiert, dass der Überfall Putins auf die Ukraine geradezu eine exakte Replikation der Invasionen in Ungarn und in der Tschechoslowakei darstellte.

Von anderer Art war die Invasion der Sowjetunion in Afghanistan Anfang Dezember 1979. Ihr Ziel war die Unterstützung der dort an die Macht gekommenen kommunistischen Partei gegen die islamistischen Mudschaheddin. Letztere wurden dagegen von den USA und anderen (insbesondere arabischen) Ländern unterstützt, womit sich der Afghanistan‐Krieg zu einem typischen Stellvertreterkrieg ausweitete. Afghanistan wurde jedoch von den Russen selbst zunehmend als Bürde empfunden, da sie nie in der Lage waren, das Land voll zu beherrschen und die Macht der dortigen Kommunisten zu konsolidieren. Aber erst Gorbatschow machte ab 1985 mit dem Abzug ernst, der dann durch das Genfer Abkommen von 1989 besiegelt wurde. Damit war jedoch innerhalb Afghanistans keineswegs Sicherheit und Frieden gesichert. Vielmehr gingen die Kämpfe zwischen Regierungstruppen und den Mudschaheddin in einen über zehnjährigen Bürgerkrieg über. In diesem konnten zunächst die Mudschaheddin und später die noch radikaleren Taliban die Macht an sich reißen.18 Die Intervention der Sowjetunion war also ein völliger Misserfolg; ein Buch dazu trägt den Untertitel Das sowjetische Vietnam.19 Zumindest zu erwähnen ist hier (obwohl es sich dabei nur um außereuropäische Mächte handelt), dass das Gleiche den USA passierte, die ab 2001 in Afghanistan intervenierten um die Taliban und die Terrormiliz al‑Quaida auszuschalten. Auch sie mussten zwanzig Jahre später in schmählicher Weise abziehen.20

An den geschilderten historischen Fakten können wir zehn Charakteristika der typischen Ursachen, des Verlaufs und der Folgen von Invasionen in Europa seit Beginn des 20. Jahrhunderts erkennen. Man sieht schon auf den ersten Blick, wie ähnlich der russische Einmarsch in die Ukraine den meisten früheren Invasionen war.

Die Invasionen werden in aller Regel von autokratischen Herrschern oder autoritären Führern großer Mächte in Gang gesetzt. Der wirtschaftliche Aufstieg des Deutschen Kaiserreiches hatte schon gegen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem weithin unterstützten Expansionsdrang geführt. Demnach sollte die wirtschaftliche Stärke Deutschlands auch in einer entsprechend gewichtigen politischen und militärischen Weltrolle zum Ausdruck kommen.21 Die Letztentscheidung für die Kriegserklärungen von Österreich‐Ungarn und des Deutschen Reiches lag 1914 noch eindeutig in den Händen der Kaiser, die als absolute Herrscher von Gottes Gnaden gesehen wurden. So wurde über Franz Josef I. festgestellt: »Der Wille des Kaisers ist der Wille des Staates.«22 Auch Deutschland war vor 1914 von der Staatsform her noch weit von einer Demokratie entfernt.23 Im Laufe des Weltkrieges verschob sich die Macht in Deutschland immer mehr zum Militär und seinen autoritären Führern Ludendorff und Hindenburg. Alle späteren Invasionen wurden von totalitären Herrschern, wie Hitler und den sowjetischen Führern von Stalin bis Breschnew, ausgelöst.

Häufig erfolgten Invasionen in benachbarte Länder um von inneren Problemen abzulenken. Dies konnten ethnisch‐nationale Konflikte sein (wie in der k.u.k. Monarchie). Meist waren es aber soziale und politische Konflikte, die oft von sozioökonomischen Problemen ausgelöst worden waren.

Die Herrschenden der angreifenden Staaten bestreiten in Tat und Wort, dass es bei der Invasion um einen Krieg geht. Dies kann geschehen, indem die Invasion ohne Kriegserklärung durchgeführt wird (so beim Angriff von Nazi‐Deutschland auf die Sowjetunion); indem man den Krieg als Verteidigungsaktion oder Präventivschlag deklariert; oder schließlich, indem man überhaupt abstreitet, dass es sich um einen Krieg handle. Typisch für die Invasionen ist, wie für wohl alle Kriege, dass man die Verantwortung für die Auslösung dem Feind zuschreibt. Schon im Ersten Weltkrieg versuchte Kanzler Bethmann‐Hollweg die Schuld am Krieg Russland zuzuschreiben.24

Die angegriffenen Staaten erwiesen sich trotz ihrer Unterlegenheit im Hinblick auf Größe und Einwohnerzahl erstaunlich widerstandsfähig. Sie konnten oft scheinbar übermächtige Invasoren aufhalten oder zurückschlagen. Der Kriegstheoretiker Carl von Clausewitz hat dazu schon 1832 festgestellt, dass die Mittel auch kleiner Staaten für einen Verteidigungskrieg »unendlich groß« sind.25 Dies ist nicht nur deshalb der Fall, weil sie ihr eigenes Territorium viel besser kennen als der Feind, sondern vor allem deshalb, weil sie einen Verteidigungskrieg führen und ihr Kampfeswille viel höher ist.

Die Invasionen verlaufen zunächst vielfach komplikationslos, weil sie von anderen Großmächten mehr oder weniger akzeptiert werden. Dafür kann man zwei Paradebeispiele nennen. Das erste war das Münchner Abkommen von 1938, in welchem die englischen, französischen und italienischen Regierungschefs (Chamberlain, Daladier, und Mussolini) Hitler einen Blankoscheck zur Besetzung des Sudetenlandes ausstellten (er besetzte dann gleich ganz Tschechien). Das zweite war der Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin vom 24. August 1939, bei dem in einem geheimen Zusatzprotokoll die gemeinsame Besetzung und Aufteilung von Polen vereinbart wurde.

Auch innerhalb der angegriffenen Staaten gab es oft soziale und politische Spannungen und Konflikte, welche ein Eingreifen von außen förderten. Nicht selten wurden von einzelnen Parteien andere Mächte sogar zu Hilfe gerufen; häufig wurde dies von den letzteren auch nur behauptet.

Der angestrebte Erfolg der Invasionen wurde vielfach nicht erreicht, es gab vor allem am Beginn oft spektakuläre Misserfolge. Im Laufe der Zeit erhöhten sich die Kosten für den Angreifer oft massiv und standen in keinem Verhältnis mehr zu möglichen Gewinnen.

Die Invasionen sind häufig sogar ein Schuss ins eigene Knie. Sie trugen bei zu einer Delegitimierung der Herrschenden, lösten politische Unruhen aus und führten nicht selten sogar zu Revolutionen und zum Sturz der politischen Führer und Machteliten, wenn nicht gar zu einer Umwälzung des ganzen politischen Systems.

Wenn ein Großstaat einen signifikanten Wandel in seinem Verhalten zu Nachbarstaaten vollzog, war dies in aller Regel mit einer internen Aufweichung des autoritären Systems und Ansätzen für eine Demokratisierung verbunden. Dies war offenkundig der Fall in Deutschland und Japan, die sich seit 1945 zu starken Demokratien entwickelten und (zumindest noch vor ein bis zwei Jahrzehnten) Beteiligung an militärischen Aktionen definitiv ausschlossen.

In all diesen Prozessen spielten einzelne Führer und einflussreiche politische Persönlichkeiten eine ausschlaggebende Rolle. Der greise Kaiser Franz Josef I. wurde zu seiner Kriegserklärung durch den aggressiven General Conrad und eine Clique junger, ehrgeiziger Beamter angestachelt; die ausschlaggebende Bedeutung der Persönlichkeit Hitler für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust steht außer Frage: Umgekehrt ist auch die positive Rolle von Gorbatschow für den fundamentalen Wandel der sowjetischen Außenpolitik ab 1985 unbestreitbar.

Wir können diese Überlegungen mit einem Hinweis und einer Frage abschließen. Zum Ersten kann man sagen, dass alle hier genannten Faktoren und Prozesse für Invasionen und weitergehende militärische Aktionen weitgehend der Theorie des Krieges entsprechen, wie sie Kant in seinem berühmten Essay Zum Ewigen Frieden 1795 entworfen hat. Ihre Grundthese lautet, dass Kriege in erster Linie von wirtschaftlichen, politischen und militärischen Eliten ausgelöst werden, das Volk dadurch jedoch nur Nachteile hat. Daraus folgt, dass Demokratien weniger bellizistisch sind und keine Kriege gegeneinander führen. Tatsächlich wurden alle vorher dargestellten Invasionen in Europa seit 1900 von Führern autoritärer Systeme ausgelöst. Diese Theorie wird in Kapitel 3 systematisch dargestellt. Zum Zweiten erhebt sich die Frage, ob die Invasion Russlands in die Ukraine auch in Zukunft die letzte ihrer Art in Europa bleiben wird. Dazu kann man allgemein schon hier feststellen, dass dies der Fall sein könnte, wenn die wichtigsten vorgenannten kriegstreibenden Faktoren wegfallen; dies betrifft vor allem diktatorische Herrscher und autoritäre politische Systeme. Eine fundiertere Antwort darauf, ob dies tatsächlich möglich und vielleicht sogar zu erwarten ist, soll nach der Analyse des Ukrainekrieges in den abschließenden Betrachtungen gegeben werden.

Endnoten

1 Eine meiner Interviewpartnerinnen im April 2024 in Kiew berichtete, sie sei von einer Bekannten aus Australien angerufen worden mit der Mitteilung, die Russen seien in die Ukraine einmarschiert.

2 Zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_Ostasienpolitik (abgerufen am 01.05.2024).

3 Zum Krieg vgl. Winkler (2019), Werte und Mächte, S. 225; zum Überblick siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Russisch-Japanischer_Krieg (abgerufen am 01.05.2024).

4 Kennedy (1989), Aufstieg und Fall der großen Mächte, S. 330ff.

5 Zur Geschichte des Ersten Weltkrieges vgl. Clark (2013), Die Schlafwandler; Münkler (2013), Der große Krieg; Rauchensteiner (2013), Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918. Eine gute Übersicht findet sich in https://de.wikipedia.org/wiki/Erster_Weltkrieg (abgerufen am 02.05.2024).

6 Hanisch (1994), Der lange Schatten des Staates, S. 236.

7 Vgl. Vocelka (2015), Franz Joseph I., S. 353.

8 Das Völkermanifest ist verfügbar unter https://wk1.staatsarchiv.at/diplomatie-zwischen-krieg-und-frieden/voelkermanifest-kaiser-franz-josephs-1914/ (abgerufen am 02.05.2024).

9 Winkler (2019), Werte und Mächte, S. 234.

10 Fest (2004), Hitler. Eine Biografie.

11 Josef Kirchengast, Das Österreich des Widerstands. Der französische Historiker Jean Sévillia würde in einem neuen Buch die Österreicher, die sich Hitler wiedersetzt haben, Der Standard 4.5.2024.

12 Talos et al. (2002), NS‑Herrschaft in Österreich.

13 Vgl. dazu https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/flucht_und_vertreibung/fluechtlingsstroeme-106.html (abgerufen am 02.05.2024).

14 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/N%C3%BCrnberger_Prozesse (abgerufen am 02.05.2024).

15 Man kann auch den Einmarsch der sowjetischen und anderer Truppen der Hitler‐Gegner in die von Nazideutschland beherrschten Länder und Deutschland als Invasion bezeichnen. Völkerrechtswidrig war auch die faktische Beherrschung der osteuropäischen Staaten durch die UdSSR von 1945 bis 1989. Völkerrechtlich hatte die Invasion von Hitler‐Deutschland jedoch einen weit eher legitimierten Status, da es sich bei ihnen um einen Verteidigungskrieg gegen ein verbrecherisches Regime handelte.

16 Vgl. für eine Übersicht https://de.wikipedia.org/wiki/Ungarischer_Volksaufstand (abgerufen am 16.05.2024).

17 Vgl. für eine Übersicht https://de.wikipedia.org/wiki/Prager_Fr%C3%BChling (abgerufen am 16.05.2024).

18 Zum Überblick vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Afghanistan_(1979%E2%80%931989) (abgerufen am 02.05.2024).

19 Botscharow (1991), Die Erschütterung Afghanistan. Das sowjetische Vietnam.

20 Zu den Afghanistankriegen vgl. Tariq (2002), Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung; Lüders (2021), Die scheinheilige Supermacht; Ganser (2022), Illegale Kriege; zum Überblick vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Krieg_in_Afghanistan_2001%E2%80%932021 (abgerufen am 02.05.2024).

21 Kennedy (189), Aufstieg und Fall der großen Mächte, S. 322.

22 Hanisch (1994), Der lange Schatten des Staates, S. 212.

23 Winkler (2019), Werte und Mächte, S. 218.

24 Winkler (2019), Werte und Mächte, S. 228.

25 Clausewitz (1963), Vom Kriege, S. 240.

Kapitel 1: Die schwierige Geburt der ukrainischen Nation

Sterb ich, so begrabt auf einem Kurhan mein Gebeine

mitten in der weiten Steppe meines Lands Ukraine,

dass ich Felder schau, des Dnjepr steile Uferrande,

dass ich höre, wie der Wilde braust durch Steppenlande!

Wie er stolz aus der Ukraine fern ins Meer, ins blaue,

wälzen wird das Blut der Feinde – Felder, Berg und Aue,

alles will ich froh dann lassen, nur zu Gott, dem Einen,

betend fliegen. Doch bis dahin – Freunde, kenn ich keinen!

Taras Schewtschenko (1814–1861), ukrainischer Nationaldichter1

Die tragischen Ereignisse in der Ukraine seit 2012 können nicht verstanden werden, wenn man nicht einen Blick wirft auf ihre Geschichte, geographische Lage und die topographischen Gegebenheiten des Territoriums, auf welchen sie sich herausgebildet hat. Diese beiden Faktoren hängen mit der ethnisch‐kulturellen Vielfalt und Verwundbarkeit des Landes von außen zusammen. Sie sind mit eine Ursache dafür, dass die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert mit großen Tragödien und inneren Spaltungen verknüpft war, für welche meist intervenierende ausländische Mächte die Verantwortung trugen2. Nach dem Soziologen Yuri Pachkovsky von der Ivan Franko‐National Universität von Kiew gleicht die Ukraine mit ihren historischen Traumata im Verlauf der Geschichte einem verwundeten Vogel, der gegen alle Widrigkeiten dafür kämpft, höher und höher zu steigen.3 Zwar wurde bereits 1917 ein unabhängiger Staat Ukraine ausgerufen, diesen vereinnahmte schon 1919 die Sowjetunion mit Gewalt. In deren Rahmen wurden durch einen forcierten Ausbau der Schwerindustrie und die Kollektivierung der Landwirtschaft einer autonomen und autarken wirtschaftlichen Entwicklung des Landes Fesseln angelegt. So war der Transformationsprozess von der sowjetischen Kommandowirtschaft und ihrem autoritären Einparteiensystem zu einer Marktwirtschaft und Demokratie für die Ukraine ungleich schwieriger als für die meisten anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Dazu kam, dass auch der Prozess der Nationsbildung im Innern noch nicht wirklich abgeschlossen war und im Grunde bis heute nicht ist, wie die Autoren eines umfassenden Bandes zu diesem Thema konstatieren.4 So stand die erstmals unabhängige Ukraine seit 1991 vor extrem schwierigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Problemen. Auch von der ukrainischen Politik wurden selbst Entscheidungen getroffen, die ihrer Stabilität im Innern und ihrer Sicherheit nach außen – in diesem Falle vor allem im Verhältnis zu Russland – abträglich waren. Betrachten wir all diese Aspekte in der gebotenen Kürze.

Die geographische Offenheit und Verwundbarkeit des Landes

Die Geographie stellt eine entscheidende Mit‐Determinante der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung von Ländern dar, wie zuletzt der britische Journalist Tim Jordan in seinem Bestseller Die Macht der Geographie aufgezeigt hat. Gebirge und Wüsten, große Flüsse und Meere stellen für Großmächte und für ganze Kulturen Rahmenbedingungen dar, die ihrer Ausbreitung Grenzen setzen. Daher versuchen sie, meist durch Eroberung oder Beherrschung der kleineren Länder in der Nachbarschaft, eine Sicherheitszone um sich herum zu schaffen. So haben Großstaaten wie Russland, China, aber auch die Vereinigten Staaten von Amerika, erst durch Unterwerfung, Kolonisierung oder auch Kauf großer Randgebiete und ganzer Nachbarländer ihre heutige Ausdehnung erreicht. Für kleinere Staaten können geographische Barrieren einen Schutz vor Aggressionen von außen bilden. So sind Spanien und Italien durch die Pyrenäen und Alpen im Norden, durch das Mittelmeer im Süden umgrenzt, die skandinavischen Länder durch Ost‐ und Nordsee von Kontinentaleuropa und den expansiven Mächten dort getrennt, Alpenländer wie Österreich und Schweiz können sich durch ihre gebirgige Landschaft besser verteidigen. Die Ozeane verhindern, dass sich ein die ganze Welt umspannendes Imperium herausbilden kann.5

Wichtig ist auch der Faktor Größe. Wenn man Russland nicht mitzählt, ist die Ukraine mit ihren gut 600.000 km2 knapp nach Frankreich das zweitgrößte Land Europas. Was dieses Land jedoch von den meisten anderen Staaten Europas unterscheidet, ist die Tatsache, dass es fast keine natürlichen Grenzen hat: Mit Ausnahme des Asowschen Meeres und eines Teiles des Schwarzen Meeres im Süden und einem kurzen Abschnitt der Karpaten im Westen verlaufen alle Landesgrenzen auf de facto flachen Ebenen. Von den über 2000 Kilometer langen Grenzen sind gut drei Viertel mehr oder weniger offen. Der größte Strom Dnjepr, der nördlich von Kiew aus Belarus (Belarus) kommt, durchfließt das Land nach Südosten, macht dann bei den Städten Dnipropetrowsk und Saporischja eine Biegung nach Südwesten und mündet bei Odessa ins Schwarze Meer. Er stellte jedoch nie eine Barriere dar. (Die aktuelle Frontlinie des Krieges verläuft allerdings nicht weit vom unteren Flussverlauf). Das bedeutet, dass es höchst schwierig ist, dem Eindringen feindlicher Truppen erfolgreichen Widerstand entgegenzusetzen und das Land als Ganzes zu sichern. Auch dies war eine Ursache dafür, dass die Ukraine im Laufe der Geschichte der letzten fünfhundert Jahre die meiste Zeit von stärkeren Mächten aus seiner Nachbarschaft besetzt und dabei aufgeteilt wurde.

Die ukrainisch‐russische Geschichte beginnt mit dem sagenhaften Volk der Rus, einem Bund ostslawischer Stämme, die von den Warägern (Wikingern) beherrscht wurden. Diese betrieben von der Ostsee bis zum Byzantinischen Reich rege wirtschaftliche Tauschbeziehungen. Etwa um 800 bis 900 n. Chr. wurde Kiew gegründet, das eine wichtige Rolle im Handel zwischen Mittel‐ und Westeuropa und dem großen und sagenhaften, kurz vor der Jahrtausendwende verschwundenen Reich der Chasaren6 spielte. Um die Jahrtausendwende entwickelte sich Kiew unter Jaroslaw dem Weisen zu einer kulturellen Metropole. Die Rus blieben aber noch länger eine lockere Koalition von Stämmen, die Menschenjagd auf Ostslawen betrieben und diese auf byzantinischen und persischen Sklavenmärkten verkauften.

Bereits um diese Zeit (1187), also sehr früh, taucht der Begriff Ukraine auf. Er bezeichnete das westliche, galizisch‐wolhynische Land und bedeutet Grenzland.7 Um 1240 fand ein historisches Ereignis statt, der Überfall des mongolischen Stammes der Goldenen Horde, deren ungeheuer großes Reich sich von Osteuropa bis nach China erstreckte; die Goldene Horde beherrschte das östliche Europa bis zum 15. Jahrhundert. Seit dieser Zeit verstand sich die Ukraine als ein Grenzland zwischen der Steppe und den Nomaden im Osten und den sesshaften Europäern im Westen. In der frühen Neuzeit erlangte Polen‐Litauen die Oberherrschaft über die westlichen und nördlichen Teile der heutigen Ukraine, die östlichen Teile gerieten unter die Herrschaft der aufsteigenden Großmacht Russland, der Süden und die Krim unter osmanischen Einfluss. Mit Iwan III. (1462–1505) entstand ein russischer Einheitsstaat. Er ließ sich »Zar aller Russen« nennen und heiratete eine byzantinische Prinzessin. So konnte sich sein Nachfolger Iwan IV. (»Der Schreckliche«) nach dem Fall von Byzanz an die Osmanen zum Nachfolger der byzantinischen Kaiser krönen. Ab nun beanspruchte Moskau den Titel »Das Dritte Rom«: Staatsmacht und (orthodoxe) Kirche gingen eine enge Verbindung ein. 1648 erfolgte im Südosten der Ukraine die Gründung eines relativ unabhängigen Kosakenstaates, des Hetmanats, der von der Ukraine heute als wichtiger historischer Vorläufer angesehen wird. Das diesem Kapitel als Motto vorangestellte Gedicht des ukrainischen Nationaldichters Taras Schewtschenko bezieht sich auf diesen Staat. Ende des 17. Jahrhunderts geriet die Ukraine mit Ausnahme des westlichen Teils, der zum Habsburgerreich kam, großteils unter die Herrschaft der russischen Zaren. Diese besiedelten und russifizierten den Süden, etwa durch Gründung von Odessa. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, ausgehend vom österreichischen Galizien (wo es liberalere Gesetze für Presse und Kultur gab) die ukrainische Nationalbewegung. Im Ersten Weltkrieg geriet die Ukraine zwischen die Fronten, allerdings erfolgte 1917 die Ausrufung der ersten unabhängigen Republik Ukraine. Sie konnte aber nicht alle heutigen ukrainischen Gebiete zusammenfassen und wurde 1921 von der Roten Armee besetzt und der Sowjetunion eingegliedert. Eine Folge der Beherrschung der Ukraine durch fremde Mächte war, dass die ethnische Zusammensetzung ihrer Bevölkerung bis heute sehr heterogen ist. Vor allem das Verhältnis zwischen dem Ukrainischen und Russischen birgt ein hohes Konfliktpotential.8 Betrachten wir diesen auch für den Russland Ukraine‐Krieg zentralen Aspekt ihrer Nationsbildung näher.

Historisch verzögerte Herausbildung eines Nationalbewusstseins

Der Begriff der Nation wird verwendet, um Staaten zu bezeichnen, die einen relativ hohen Grad der Integration und Stabilität aufweisen und Legitimität besitzen. Von einer Nation kann man sprechen, wenn sich die Bevölkerung mit ihr identifiziert; aber auch eine große ethnische Gruppe, die Autonomie oder sogar einen eigenen Staat beansprucht (etwa die Katalanen, theoretisch auch die Kurden), kann man als (Sub‑)Nation bezeichnen. Eine Nation ist definiert durch einen Namen, eine gemeinsame Geschichte und meist auch eine eigene Sprache und Religion; entscheidend ist jedoch der Willen der Bevölkerung, in einer eigenen politischen Gemeinschaft zu leben.9 In Westeuropa erfolgte die Bildung der Nationen von oben, durch staatliche Einigung (so in Frankreich), in Deutschland und Italien, angestoßen durch die Napoleonischen Kriege, im Laufe des 19. Jahrhunderts. In Osteuropa geschah dies erst historisch verzögert, zum Großteil nach dem Zerfall des Habsburgerreiches, Ende des Ersten Weltkriegs. Die Konsolidierung der nationalen Identität der Ukraine erfolgte noch später, nach dem Ersten Weltkrieg. Politisch wurde sie wirklich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts erreicht, mit der Trennung von der Sowjetunion und der Unabhängigkeitserklärung 1991.10

Wenn man die Geschichte der ukrainischen Nationsbildung betrachtet, muss man mit dem alten Reich der Kiewer Rus beginnen.11 Im Krieg Russlands gegen die Ukraine seit 2022 spielt dieses Reich für Putin eine wichtige legitimatorische Rolle, wobei er allerdings eine verzerrte Sicht davon verbreitet. Das Kiewer Reich umfasste von der Jahrtausendwende bis ins 14. Jahrhundert zentrale Teile der heutigen Staaten Ukraine, Belarus und den europäischen Teil von Russland. Daher behauptet Putin die Ukraine sei ein integraler Teil der »Russischen Welt« (Russki Mir). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts trennten sich jedoch die Geschicke der drei Länder. Nun wurde der Gegensatz zwischen dem Westeuropa zugewandten Westen und dem Russland näherstehenden Osten folgenreich. Das Gebiet der Ukraine kam unter die Herrschaft des Großfürsten von Litauen, das westliche Galizien unter polnische Herrschaft. Dadurch kam die Ukraine, anders als Russland, das unter der Herrschaft der mongolischen Goldenen Horde verblieb, unter westlichen Einfluss. Viele Adelige traten zum Katholizismus über, auch die ukrainische orthodoxe Kirche unterstellte sich teilweise der katholischen Oberhoheit. So erlangten lateinische, polnisch‐katholische Traditionen im Westen und slawisch‐orthodoxe Traditionen im Osten starken Einfluss. Dazu kam, dass im russischen Bereich die Rolle der orthodoxen Kirche immer auch als Sache des Staates, nicht nur des Individuums, gesehen wurde.12 Im 17. Jahrhundert bildeten sich, wie bereits erwähnt, im Südosten kriegerische Kosakenverbände, die 1648 einen Volksaufstand gegen die polnische Herrschaft organisierten. Sie errichteten einen eigenen Staat (das sog. Hetmanat), in welchem den Bauern relative Freiheit gewährt wurde. In den nachfolgenden Kriegen zwischen Polen und Russland wurde die Ukraine geteilt: der Teil östlich des Dnjepr fiel an Russland, der westliche an Polen. Ein Kosakenaufstand gegen Russland wurde niedergeschlagen und der Osten allmählich russifiziert. In der ukrainischen Unabhängigkeitsbewegung und im nationalen Geschichtsbewusstsein, das generell sehr bedeutsam ist,13 spielt der Kosakenmythos eine wichtige Rolle. In der ukrainischen Nationalhymne (Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben) aus dem Jahr 1861 endet jede der drei Strophen mit dem Refrain: »Seele und Leib werden wir für unsere Freiheit opfern, und wir werden zeigen, dass wir zum Kosakengeschlecht gehören«. Auch in Westeuropa war der Begriff Ukraine zu dieser Zeit bereits geläufig. In der Folge der Teilungen Polens im 18. Jahrhundert kam der westliche Teil, Galizien, an Österreich, während die Russen ihre Herrschaft weiter ausdehnen konnten. Sie bauten den Südosten der Ukraine zu einem starken Schwerindustriegebiet aus, Kiew und das neugegründete Odessa zu Wirtschafts‐ und Handelszentren; diese Regionen wurden als Neurussland bezeichnet. In sie wanderten Migranten aus Polen, Russland, Deutschland und anderen Ländern ein. Diese Teile wurden in der Folge stark russifiziert, nur im Westen (dem österreichischen Galizien) wurde das Ukrainische anerkannt und im öffentlichen Leben verwendet.

Der Großteil der ukrainischsprachigen Bevölkerung im Westen und Zentrum der Ukraine waren kleine, vielfach leibeigene Bauern. Sie wurden von den polnischen Adeligen herablassend bis abschätzig behandelt, von den Russen aufgrund ihrer Einfachheit, volkstümlichen Bräuche und Sitten einerseits positiv gesehen, auch idealisiert.14 Andererseits behandelte man sie auch abschätzig, verspotteten sie als »Choklys.« Dieser Begriff kam von der Haartracht der Kosaken, die sich den Kopf kahl schoren und nur einen Haarschopf (den Chokly) stehen ließen.15 In dieser Zeit gründeten die Mitglieder kleiner Schriftstellerkreise in Lemberg die ersten ukrainischen Zeitschriften und verfassten, später auch in Kiew, Texte in ukrainischer Sprache. Eine herausragende Persönlichkeit unter ihnen war der Schriftsteller Taras Schewtschenko (1814–1861). Seine Herkunft und sein Lebenslauf sind paradigmatisch für das Verhältnis Ukraine – Russland. Zur Welt gekommen 1814 in der Zentralukraine als Sohn eines leibeigenen Bauern, wurde er Kammerdiener bei seinem Grundherrn. Mit diesem unternahm er weite Reisen und gelangte so nach St. Petersburg, wo er sich umfassend zu einem Maler und Schriftsteller ausbilden konnte.16 Freunde kauften ihn aus der ihn belastenden Leibeigenschaft frei, wobei sogar die Zarenfamilie mitzahlte. Auf Reisen durch die Ukraine sammelte Schewtschenko volkskundliche Artefakte, stellte aber auch die Unfreiheit und Armut der Landbevölkerung fest. Er wurde dann Professor an der Kunsthochschule Kiew. Da er jedoch zunehmend kritische Gedichte und Texte verfasste, wurde er mehrfach verurteilt und verbannt. Das Motto zu diesem Kapitel, ein Auszug aus einem seiner Gedichte, bringt seinen ukrainischen Patriotismus zum Ausdruck. Allerdings ist das Gedicht – wie die ukrainische Gedächtniskultur generell – auch durch einen gewisse Viktimisierung (sich selbst als Opfer zu fühlen) gekennzeichnet. Wie bekannt und geschätzt Schewtschenko auch in Russland war, zeigt, dass er zum Akademiker der russischen Kunstakademie ernannt wurde. An seiner Beerdigung in Petersburg 1861 nahmen bedeutende russische Schriftsteller (darunter Dostojewski) teil. Sein Leichnam wurde aber bald in die Ukraine zurückgeführt. Die enorme posthume Anerkennung für ihn zeigt sich u.a. darin, dass es für ihn weltweit fast 1400 Denkmäler gibt und die Universität Kiew seinen Namen trägt.

Der Zusammenbruch des Zarenreiches und Österreich‐Ungarns am Ende des Ersten Weltkrieges wurde von ukrainischen Nationalisten zur Ausrufung einer unabhängigen Republik genutzt. Es folgten bürgerkriegsartige Kämpfe, in die deutsche und österreichische Soldaten, antisowjetische »weiße« Truppen und die Rote Armee involviert waren. In diesen Wirren wetteiferten die verschiedenen Heerführer darin, das Land zu verwüsten und Pogrome anzuzetteln (vor allem unter den Juden). Aus diesen Kämpfen ging schlussendlich die Rote Armee als Siegerin hervor und das Land wurde als Ukrainische Volksrepublik der Sowjetunion eingegliedert. Sie wurde damit allerdings auch erstmals als Nation anerkannt, das Ukrainische stieg zur Amts‐ und Unterrichtssprache auf. Dies war zweifellos ein ganz wichtiger Schritt. Allerdings bedeutete er noch nicht, dass die Ukraine dadurch zu einer selbständigen, unabhängigen Nation wurde.

Man kann drei Faktoren benennen, welche die Nationsbildung der Ukraine erschwerten und verzögerten: die Beherrschung durch bzw. Aufteilung des Landes auf fremde Mächte; die einseitige Sozialstruktur mit einer nur schwach ausgebildeten Oberschicht und Intelligenz; und die interne ethnisch‐kulturelle Differenzierung und die enge Verbindung mit, aber auch Gegnerschaft zwischen dem Ukrainischen und dem Russischen.17 Im Hinblick auf die interne Differenzierung kann man die Ukraine in vier Regionen unterteilen: den stark nach Mitteleuropa orientierten Westen, den gemischten russisch‐ukrainischen Osten, den russisch dominierten Süden und die ukrainisch‐staatsnational orientierte, ausgleichende Zentralregion mit der Hauptstadt Kiew.18