Die letzte Marionette - Andreas Ek - E-Book + Hörbuch

Die letzte Marionette Hörbuch

Andreas Ek

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Beschreibung

Actionreicher Schweden-Thriller über einen ehemaligen Elitesoldat, dem seine schlimmsten Jahre noch bevorstehen … Ex-Soldat Joel Adler ist nur noch ein Schatten seiner selbst: Nach einem verheerenden Einsatz in Somalia führt er nun ein trostloses Leben in Stockholm, körperlich und mental vernarbt von seinen traumatischen Erfahrungen an der Front. Doch eines Morgens nimmt sein eintöniger Alltag eine schicksalshafte Wendung: Als Joel in seinem Hotelzimmer erwacht, liegt sein One-Night-Stand brutal ermordet neben ihm. Kurz darauf klingelt das Telefon. Während draußen bereits die Polizei an die Tür hämmert, stellt die Stimme am anderen Ende der Leitung Joel vor ein Ultimatum: Entweder nimmt er den Mord an der jungen Frau auf sich – oder er folgt den Anweisungen am Telefon und wird zur Marionette. Ohne Ausweg ist Joel gezwungen eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die er für immer bereuen wird … Ein rasanter Thriller in den dunklen Gassen Stockholms; für Fans von Jussi Adler-Olsens und David Baldaccis internationalen Bestsellern. Als Hörbuch bei SAGA Egmont erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.

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Zeit:7 Std. 57 min

Sprecher:Samy Andersen
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Über dieses Buch:

Ex-Soldat Joel Adler ist nur noch ein Schatten seiner selbst: Nach einem verheerenden Einsatz in Somalia führt er nun ein trostloses Leben in Stockholm, körperlich und mental vernarbt von seinen traumatischen Erfahrungen an der Front. Doch eines Morgens nimmt sein eintöniger Alltag eine schicksalshafte Wendung: Als Joel in seinem Hotelzimmer erwacht, liegt sein One-Night-Stand brutal ermordet neben ihm. Kurz darauf klingelt das Telefon. Während draußen bereits die Polizei an die Tür hämmert, stellt die Stimme am anderen Ende der Leitung Joel vor ein Ultimatum: Entweder nimmt er den Mord an der jungen Frau auf sich – oder er folgt den Anweisungen am Telefon und wird zur Marionette. Ohne Ausweg ist Joel gezwungen eine Entscheidung zu treffen. Eine Entscheidung, die er für immer bereuen wird …

»Die letzte Marionette« erscheint außerdem als Hörbuch bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über den Autor:

Andreas Ek arbeitet seit über siebzehn Jahren als Polizeibeamter. Seine langjährige Erfahrung verarbeitet er in nervenaufreibenden Krimis und Thrillern, die von LeserInnen und KritikerInnen gleichermaßen für ihren Realismus gelobt werden. In Schweden ist der Autor besonders für seine dystopische Thriller-Reihe »Wut« bekannt, die 2019 für den Selma-Preis nominiert war und mit den post-apokalyptischen Serienhits »The Last of Us« und »The Walking Dead« verglichen wird.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor seinen Thriller »Die letzte Marionette«; als Hörbuchausgabe auch bei SAGA Egmont erhältlich.

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eBook-Ausgabe Juli 2024

Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2022 unter dem Originaltitel »Den sista marionetten« bei SAGA Egmont.

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2022, 2023 Andreas Ek und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2024 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Susanne Beck unter Verwendung von Bildmotiven von Shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (fe)

ISBN 978-3-98952-250-3

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Dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13, 4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/egmont-foundation. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Andreas Ek

Die letzte Marionette

Ein Joel-Adler-Thriller

Aus dem Schwedischen von Ricarda Essrich

dotbooks.

Widmung

Für Hjulio, PA und Ricky

Kapitel 1

Sie seufzte, als sie die Milch in den Kühlschrank stellte. Wie üblich war Alexander in die Küche gekommen und hatte ein paar Schlucke Kaffee im Stehen getrunken. Dann hatte er sie auf die Wange geküsst, bevor er eine Sekunde später die Haustür hinter sich zugezogen und sie mit selbst gebackenem Brot und frisch gepresstem Orangensaft zurückgelassen hatte. Sie vermisste die stressfreien Tage, an denen sie morgens einfach die Gesellschaft des anderen genossen. Viel zu schnell hatte sich der Alltag wie ein ungebetener Gast eingeschlichen, und das, obwohl sie nicht einmal Kinder hatten – ein Thema, das sie aber bald angehen wollten.

Bei dem Gedanken daran, wie neues Leben in ihrem Bauch heranwachsen würde, lächelte sie, setzte sich an die Kücheninsel, nahm einen Schluck Kaffee und fuhr sich mit der Hand durch ihr fülliges, blondes Haar. Dann schlug sie die Beine übereinander, wodurch der Morgenmantel verrutschte und ihre braungebrannten Beine entblößte.

Es klingelte an der Tür, und sie runzelte die Stirn angesichts der Tatsache, dass es erst kurz nach acht Uhr morgens war. Als sie durch den Flur ging und die Tür öffnete, sah sie sich einem breitschultrigen Mann in einer schwarzen Jacke gegenüber. Er hatte ein Basecap tief in die Stirn gezogen.

Fragend blickte er sie an.

»Mia Nord?«

Seine Stimme war tief.

»Ja?«, bestätigte sie zögerlich.

Mia nahm wahr, dass er etwas in der Hand hielt, etwas, das diesen Geräten ähnelte, die Paketboten den Empfängern zur Unterschrift hinhielten. Bevor sie überhaupt verstand, was geschah, hob der Mann das Gerät an und drückte es ihr hart gegen die Brust.

Ein stechender Schmerz breitete sich in Körper, Armen und schließlich in den Beinen aus, die sofort nachgaben. Mia fiel zu Boden und blieb dort liegen. Es gelang ihr kaum, den Blick zu fokussieren; alles in ihrem Sichtfeld zerfloss zu einer verschwommenen Masse. Eine Tür wurde geschlossen. Sie nahm eine Bewegung wahr und hob einen Arm in dem Versuch, sich zu schützen, doch der wurde einfach weggeschlagen. Der Mann setzte sich auf sie, und wieder spürte sie einen Druck gegen die Brust. Wieder hörte sie das knisternde Geräusch, aber dieses Mal spürte Mia keine Schmerzen ‒ sie spürte überhaupt nichts, als sie in eine tiefe Dunkelheit sank.

Kapitel 2

Als Joel Adler die schwedisch-norwegische Grenze nördlich von Östersund überquerte und weiter nach Westen fuhr, hatte sich die Landschaft bereits verändert. Mit jedem Kilometer entfernte sich das mattschwarze Motorrad weiter von der Zivilisation, und die einspurige Straße schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Joel gab Gas, und seine Indian Scout beschleunigte mit einem Ruck. Die Straße war von grünbelaubten Birken und Fichten gesäumt, die manchmal nur spärlich wuchsen, um dann keine zwanzig Meter weiter eine Mauer aus Grün zu bilden. Hier und da öffnete sich die Landschaft, und die Waldvegetation wechselte sich mit Seen mit glitzerndem blauem Wasser ab. In der Ferne erhoben sich Bergketten mit weißen Gipfeln. Einzelne Kumuluswolken schwebten über den Himmel. Hin und wieder passierte er angrenzende Kieswege, die den Wald durchschnitten. Einige davon bemerkte Joel, andere nicht. Es gab keine Schilder, die als Anhaltspunkt hätten dienen können, wohin diese Wege führten, doch geschlossene, rostige Schranken sprachen eine deutliche Sprache: Kein Zutritt für Unbefugte.

Die Tasche auf seinem Rücken enthielt nur leichtes Gepäck. Er glitt durch eine Kurve, bevor die Straße wieder gerade wurde, bremste dann ab und bog, ohne zu blinken, in einen Kiesweg mit älteren Reifenspuren ab. Hier wuchsen die Bäume höher, und ihr Schatten hinderte die Sonne daran, den Boden zu erwärmen. Die Reifenspuren wurden tiefer, das Gras in der Mitte des Wegs höher. An einigen Stellen musste Joel vom Motorrad absteigen und es schieben, damit die Fußrasten oder das Fahrgestell nicht aufsetzten.

Dann wurde die Vegetation lichter und der Weg besser, sodass Joel das letzte Stück ohne weiteren Halt fahren konnte. Bald öffnete sich die Landschaft, und der Weg, auf dem er fuhr, mündete in eine Wendefläche mit verdichtetem Lehmboden. Hier gab es einige Parkplätze für wanderfreudige Urlauber, die auf dem schwierigen Weg hergefunden hatten. Trotz des schönen Sommerwetters war er leer.

Joel klappte den Ständer herunter und stieg vom Motorrad. Er lehnte sich zurück und dehnte seinen steifen Rücken. Mit seiner Größe von einem Meter neunundneunzig und einhundertzehn Kilo spielte es keine Rolle, welches Motorrad er fuhr, alle wurden bei langen Fahrten unbequem. Er schloss Helm und Vorderrad mit einer Kette aus einer der seitlichen Gepäcktaschen an einer kräftigen Birke an. Dann zog er die Lederjacke aus, sie fand statt der Kette in der Tasche Platz. Darunter trug er lediglich ein enganliegendes T-Shirt. Mit leerem Blick stand er da und betrachtete das Motorrad. Noch nie hatte seine Scout so einsam ausgesehen wie jetzt hier. Joel fuhr sich durch den Bart und sah in den Himmel. Dann schloss er die Augen und schüttelte den Kopf.

Er selbst hatte sich nie zuvor so einsam gefühlt wie in den letzten Monaten.

Joel pflügte durch ein Feld mit wilder Heide und hielt inne, als zwei Rentiere von einem kleinen See aus zu ihm herübersahen. Das Wasser war kristallklar und glitzerte in der Sonne, die hoch am Himmel stand. Die Rentiere schraken auf, als sie seine Witterung aufnahmen, und liefen davon, als würde ihr Leben davon abhängen. In einigen Kilometern Entfernung erhob sich das Bergmassiv mit seinen weißen Gipfeln im Nationalpark Blåfjella-Skjækerfjella.

Es waren bereits einige Stunden vergangen, seit er den Wanderweg gekreuzt hatte, der auf jeder Touristenkarte eingezeichnet war. Ein leichtes Nicken in Richtung der Familie, die mitten auf dem Weg angehalten und gewartet hatte, bis der Sohn getrunken hatte. Zunächst hatte der Vater den einsamen Wanderer nicht aus den Augen gelassen, und ziemlich sicher hatte er über Joels überlegene Körpergröße nachgedacht, aber auch über seinen leichten Rucksack. Daran war keine Schlafunterlage festgezurrt. Auch kein Schlafsack oder Zelt. Der Rucksack fasste nur fünfzehn Liter, doch das reichte ihm. Alles, was Joel benötigte, befand sich an seinem Zielort.

Er drang immer tiefer in die Bergwelt ein, deren weite Landschaft von niedriger Flora und hügeligem Gelände geprägt war. An einem flachen Hang wuchsen Inseln von Preiselbeeren. Joel kniete sich hin, pflückte einige Beeren und steckte sie sich in den Mund. Nicht, dass er hungrig gewesen wäre; es geschah mehr, weil sie da waren und weil Beeren wild immer noch am besten schmeckten. Er blickte zu einem steinigen, knöcheltiefen Wasserlauf hinunter, der in einen See nicht größer als ein Eishockeyfeld mündete. Rund um den See wuchsen Gras und vereinzelte Büsche; lediglich die Nordseite bestand aus einem Strand mit faustgroßen Kieseln und Gras. Binnen weniger Minuten war Joel am Wasser. Er zog den Rucksack ab und holte einen Klappspaten daraus hervor ‒ einen der wenigen Gegenstände, die er dabeihatte, neben einer Wasserflasche, einem Wasserfilter, zwei Tüten gefriergetrocknetem Hühnerfleisch, einem Handtuch und Wechselkleidung. Einige Sekunden lang sah er sich um, doch so weit das Auge reichte, waren keine anderen Menschen zu sehen.

Er wandte sich einem runden Stein zu, der dort lag, wo der Kieselstrand in das Gras überging. Dann ging er zwanzig Schritte nach Norden und zwanzig Schritte nach Osten. Der Boden sah unberührt aus. Er bückte sich und zog leicht an einem Grasbüschel, das sich löste, als die Wurzeln schließlich nachgaben. Joel setzte den Spaten an und fing an zu graben. Kurz darauf war ein hohles, metallisches Geräusch zu hören, als das Blatt gegen den in der Erde verborgenen Gegenstand stieß. Joel grub weiter und zog dann ächzend eine Metallkiste heraus. Er setzte sie auf dem Boden ab und blies die dünne Erdschicht fort, die den Deckel bedeckte.

Zunächst setzte er sich ein Stück entfernt hin und starrte die Kiste an.

War es dumm gewesen, zurückzukehren?

Joel fluchte leise und stand auf. Dann hob er den Deckel der Kiste an, nahm ein Zelt, einen Schlafsack und eine Isomatte daraus hervor. Den zweiten Schlafsack samt weiterer Isomatte ließ er in der Kiste. Zehn Schritte nach Norden, in den Boden eingegraben, gab es eine ähnliche Kiste, mit drei Schlafsäcken und drei Isomatten. Joel nahm noch eine Angel zum Fliegenfischen, eine Schachtel mit Fliegen und einen Sturmkocher heraus. Seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen: Ganz unten in der Kiste lagen eine Flasche Whiskey und fünf Gläser. Er nahm die Flasche heraus und betrachtete sie lange, dann schraubte er sie auf und ließ die Aromen auf sich wirken.

Die Erinnerungen trafen ihn mit voller Wucht. Er ballte die Fäuste und schloss die Augen.

Kapitel 3

Seth McCormack stand unter dem Dach auf der Vortreppe eines Hauses mit gelb angestrichenen Holzpaneelen und weißen Ecken. Er war lässig gekleidet, trug Jeans und ein Unterhemd, das offenbarte, dass er trotz seiner fünfundvierzig Jahre in Topform war. Die Zigarette im Mundwinkel stand in starkem Kontrast zu seiner physischen Erscheinung, doch das Rauchen würde er nie aufgeben. Er war kein Kettenraucher, aber ein paar Zigaretten am Tag durften es schon sein. Er nahm einen Zug, ließ den Rauch seine Lungen füllen und schaute über den Rasen, der erst kürzlich gemäht worden zu sein schien. Ein Esstisch aus Holz mit einigen Stühlen drum herum stand auf einer mit Steinplatten ausgelegten Terrasse in der Sonne. Ein Stück entfernt befand sich ein Schuppen, der seine besten Tage offensichtlich hinter sich hatte. Wie das Haus war auch der Schuppen gelb angestrichen, doch die Farbe war schon vor langer Zeit abgeblättert, und Moos bedeckte einen großen Teil der Dachpfannen. Dahinter verlief ein Waldweg, der direkt aufs Grundstück führte, auf dem es reichlich Platz zum Wenden gab. Auf der anderen Seite des Wegs befand sich eine überwucherte Wiese, auf der dünne Stahldrähte schlaff zwischen den Zaunpfosten hingen.

Der Hof lag ein Stück außerhalb Stockholms, gerade so weit entfernt, dass die Gegend geografisch nicht mehr zur Hauptstadt gehörte. Die nächstgelegene Stadt war Järna, doch das spielte keine Rolle – das Haus mit dem Schuppen und der Wiese lag isoliert mitten im Wald, der nächste Nachbar war einen Kilometer entfernt.

Es war eine gute Basis für ihre Operation, und als Seth den Ort vor einem Jahr entdeckt hatte, war die Planung richtig losgegangen. Jetzt war bald alles vorbei, und er seufzte. Er war kein Mensch, der sich unnötig Sorgen machte, doch die Operation enthielt viele variable Teile, und es konnte einiges schiefgehen. Wie zum Beispiel der Einsatz externer Handlanger, die sich ums Grobe kümmerten, was das Risiko einer Entdeckung erhöhte. Doch wenn alles nach Plan verlief, würde nichts zu Seth und den anderen führen.

In zwei Tagen war es so weit, dann mussten alle hundertprozentig bei der Sache sein.

Seth wurde von einem sich nähernden Motorengeräusch aus seinen Gedanken gerissen. Das Auto, ein Chevrolet Van mit dröhnendem V8-Motor, bog kurz darauf um die Ecke und hielt mitten auf dem Rasen an. Die beiden Handlanger, die Seth noch nie getroffen hatte, stiegen aus. Tim hatte sich bisher um den Kontakt gekümmert. Der eine war genauso kahl wie Seth, brachte aber mindestens dreißig Kilo mehr auf die Waage, in reinem Fett. Er nickte Seth zu, während er die Autotür zuschlug und um das Auto herum zum Kofferraum ging. Der andere war genauso groß, aber muskulöser, die Haare zu einem Männerdutt geschlungen, die Arme über und über mit Tätowierungen bedeckt. Auch er verschwand hinterm Auto. Beide trugen Lederwesten mit dem Aufdruck Deathrow MC auf dem Rücken.

Seth schüttelte den Kopf. Obwohl mehrfach betont worden war, wie wichtig normale Kleidung war und dass nichts zur Organisation der Handlanger zurückverfolgt werden durfte, hatten sie ihre Westen angelassen. Entweder hatte Tim seine Anweisungen nicht hinreichend deutlich kommuniziert, oder Seth hatte es mit zwei Idioten zu tun. Er ging von Letzterem aus. Seth hob den Fuß, drückte die Kippe an seiner Sohle aus und verstaute die halbe Zigarette wieder in der Packung, die er dann in die Tasche steckte. Mit der Hand griff er in seinen hinteren Hosenbund und zog seine Pistole heraus. In seiner Welt konnte man niemandem vertrauen, vor allem niemandem, den man vorher noch nie getroffen hatte. Und schon gar nicht jemandem, der nicht tat, wozu man ihn aufgefordert hatte.

Die beiden Männer kamen nun hinter dem Auto hervor und trugen einen Körper zwischen sich. Seth sah sofort, dass es sich zweifellos um Mia Nord handelte, obwohl sie ihr einen schwarzen Stoffbeutel über den Kopf gezogen hatten und ihre Hände mit Panzerband gefesselt waren. Der Glatzkopf ging vor und hielt Mia an den Fußgelenken. Der Mann mit dem Dutt hatte seine Arme um ihre Brust geschlungen, während sie sich näherten.

»Are you Tommy?«, fragte der Glatzkopf in gebrochenem Englisch, was in Seth die Frage aufkommen ließ, ob die schwedischen Schulen überhaupt die Sprache lehrten, die auf der ganzen Welt gesprochen wurde.

Seth nickte. Seinen richtigen Namen zu verwenden, wäre in so einer Situation sehr dumm gewesen.

»Was ist mit Ihren Augenbrauen passiert?«, fragte der Mann.

»Alopecia universalis«, führte Seth kurz die Krankheit an, die zunächst mit stellenweisem Haarausfall begann, um dann in einen vollständigen Verlust sämtlicher Haare am Körper überzugehen. Ihn selbst kümmerte das nicht, doch die Leute starrten ihn häufig an, als käme er von einem anderen Planeten.

»Wo soll sie hin?«, fragte der Mann mit dem Dutt. Sein Englisch war etwas besser als das des Glatzkopfes, doch immer noch mittelmäßig.

»In den Keller«, antwortete Seth in irischem Englisch, seiner Muttersprache. Er trat einen Schritt zur Seite. »Durch den Flur, am Wohnzimmer vorbei, die erste Tür links.«

Sie verschwanden im Haus, und Seth folgte ihnen.

Als sie am Wohnzimmer mit den uralten Tapeten und abgenutzten Möbeln vorbeikamen, hielten sie inne. Seth wusste, warum.

»Weiter«, sagte er.

Er hatte die Elektronik auf dem Esstisch vor dem Wohnzimmerfenster aufgebaut. Dort standen vier Bildschirme an zwei Arbeitsplätzen, jeweils mit Tastatur und Maus. Auf dem Boden an der Wand standen zwei Server und die externen Festplatten. Die Handlanger hatten keine Ahnung, was geplant war, und das sollte auch so bleiben. Die einzige Information, die Tim ihnen gegeben hatte, als er sie angeheuert hatte, war, dass Mia Nord entführt werden sollte und dass sie Infos dazu, wohin sie sie bringen sollten, erhalten würden, sobald sie sie in ihrer Gewalt hatten.

Der Mann mit dem Dutt nickte in Richtung einer offenen Tür.

»Da runter?«

»Ja«, sagte Seth. »Ich gehe vor.«

Die Treppe knarrte, als sie Mia hinuntertrugen. Die Lampe an der Wand verbreitete ein grelles Licht bis in den Keller hinunter. Der Mann mit dem Dutt sagte etwas auf Schwedisch, das Seth nicht verstand, doch der Ton verriet, dass er wohl nicht gerade erbaut darüber war, dass er den größten Teil des Gewichts die Treppe hinuntertragen musste.

Im Keller standen eine Waschmaschine und ein Wasserboiler auf dem grünen Linoleumboden, an einer Wand ein Arbeitstisch mit Wäschekorb. Mitten im Raum reichte ein großer, rechteckiger Stützpfeiler vom Boden bis zur Decke. Eine Kette, Panzerband und Handschellen lagen daneben auf dem Boden.

»Legt sie dort ab«, befahl Seth.

Die beiden Männer stöhnten und schienen erleichtert, den Körper nicht mehr tragen zu müssen. Sie standen mit dem Rücken zu Seth.

Er zögerte nicht.

Ohne ein Wort zu sagen, zog er die Pistole heraus und streckte sie mit je einem Schuss in den Hinterkopf nieder. Beide fielen wie Stoffpuppen zu Boden. Das Ganze war in weniger als zwei Sekunden vorbei.

Seth steckte die Waffe zurück in den Hosenbund, ergriff die Fußgelenke der beiden Männer und zog sie zur Wand. Mia Nord war immer noch bewusstlos, als Seth sie auf den Bauch drehte und ihre Handgelenke auf dem Rücken mit den Handschellen fesselte. Er zog die Kette um den Pfeiler und verband sie mithilfe eines Vorhängeschlosses mit den Handschellen. Dann setzte er Mia so auf, dass das Erste, was sie beim Erwachen sehen würde, die beiden Toten waren. Er ging in die Hocke und packte ihr Kinn. Ihre Augen waren geschlossen, und sie sah aus, als schliefe sie tief und fest. Sie war süß, erinnerte ein wenig an Seths frühere Frau, mit ihrem blonden Haar und der gebräunten Haut. Ihr Gesicht wies keinerlei Pickel, Muttermale oder Sommersprossen auf. Die Haut war glatt wie Seide, und die gezupften Augenbrauen zeugten davon, dass sie sehr auf ihr Aussehen bedacht war.

»Schade um sie«, murmelte er leise.

Dann gab er ihr zwei schnelle, harte Ohrfeigen.

Mia zuckte zusammen.

Seth stand auf und wandte sich ab. Die panikerfüllten Schreie erreichten ihn, als er am Fuß der Treppe stand. Er betätigte den Lichtschalter, sodass der Keller in Dunkelheit versank.

Er ging hoch und schloss die Tür hinter sich. Erst da verstummten die Schreie.

Kapitel 4

Joel bewegte die Angel in einer kontrollierten Bewegung vor und zurück. Jedes Mal, wenn er die Fliege auswarf, gab er mehr Schnur, um mehr Entfernung zurückzulegen. Er stand barfuß am Ufer, das Wasser reichte ihm bis an die Waden. Die Sonne brannte auf seinen nackten Oberkörper, auf dem die lange Narbe eines Messerangriffs rot glänzte, ebenso wie die Narbe auf der Schulter nach einem glatten Durchschuss. Trotz der Verletzungen hatte Joel während seiner aktiven Zeit beim Militär Glück gehabt. Einige behaupteten, es käme auf das Geschick an, doch er ließ sich nicht überzeugen. Alles hing davon ab, ob man sich mit fähigen Personen umgab, die alles füreinander taten, so wie Joel es vor nicht einmal einem Monat getan hatte. Doch das hatte nicht gereicht. Warum er noch da war und die anderen nicht, überstieg seinen Verstand und raubte ihm den Schlaf.

Etwas zog an der Angelschnur, und Joel begann, sie einzuholen. Die Lachsforelle zappelte und sprang über die Wasseroberfläche in dem Versuch, sich zu befreien. Doch Joel, der sich ein paar Schritte zurück auf den Kiesstrand bewegt hatte, zog sie an Land und schnitt ihr in einer schnellen Bewegung den Kopf ab.

Zwei Stunden später saß er vor einem Lagerfeuer auf dem Boden. Die ausgenommene Lachsforelle war auf einen Stock aufgespießt, der zwischen zwei in die Erde gesteckte Astgabeln über dem Feuer hing. In der Hand hielt Joel eine der wenigen Bierdosen, die sich noch in der Kiste befunden hatten. Hinter ihm stand ein Zelt. Der See mit seiner glatten Oberfläche und die Berge mit den weißen Gipfeln, die sich in der Ferne erhoben, waren das Erste, was er am nächsten Morgen beim Aufwachen sehen würde.

Auf der Kiste, die er auf die andere Seite des Feuers gestellt hatte, standen die Whiskeyflasche und fünf gefüllte Shotgläser. Joel konnte die Gläser nicht aus den Augen lassen. Erst als er schon einen leichten Brandgeruch vom Fisch wahrnahm, fuhr er zusammen und drehte den Stock eine halbe Umdrehung weiter. Dann kniete er sich vor die Kiste, nahm eines der Gläser und prostete den anderen zu. Der Whiskey brannte sich einen Weg seinen Hals hinab. Er stellte das Glas zurück, nahm das daneben und wiederholte die Prozedur.

Als alle Gläser leer waren, setzte er sich wieder hin und starrte ins Feuer.

Kapitel 5

Seth stöhnte und rieb sich die Augen. Dann seufzte er. Es war frühmorgens, doch er hatte bereits mehrere Stunden vor zwei Bildschirmen gesessen, obwohl die überwachte Person im Bett lag und schlief. Die Kamera, die ins Schlafzimmer gerichtet war, zeigte in Echtzeit, wie sich der Mann im Bett umdrehte. Dann lag er wieder still. Seth seufzte wieder. Spannender konnte es kaum werden.

Tim, der kurz nachdem Seth die Handlanger getötet hatte, angekommen war, saß daneben und behielt seine beiden Bildschirme im Blick. Er kratzte sich im buschigen Bart, den er erst rasieren wollte, wenn die Operation beendet war.

Die Bildschirme tauchten den Raum in ein diffuses Licht. Die Gardinen im Wohnzimmer waren vorgezogen, die Lampen aus. Die Illusion, dass der Besitzer des Hauses schlief, war wichtig, denn weder Seth noch Tim wollten heute Morgen unerwünschten Besuch bekommen. Beide waren müde und hatten abwechselnd geschlafen, als ihre Observationsobjekte eingeschlafen waren, denn so konnte immer einer die beiden Personen im Blick behalten.

»Wird er einknicken?«, fragte Seth und warf einen Blick auf Tims Bildschirme. Ein Mann ging in der Küche auf und ab.

»Ich weiß es nicht«, sagte Tim. »Er ist vor einer Stunde aufgewacht, seitdem läuft er herum und murmelt vor sich hin. Ich verstehe kein Wort, aber das macht nichts. Solange er nichts Drastisches unternimmt, sind wir auf der sicheren Seite.«

Seth beugte sich zu Tim hinüber.

»Mein Schwedisch ist ziemlich mies, aber er sagt etwas in die Richtung, dass er es nicht versteht.«

»Wird er es durchziehen?«, fragte Tim und lehnte sich im Stuhl zurück.

»Das hoffe ich wirklich.«

Ein Geräusch draußen ließ Seth aufspringen. Im Sitzen zog Tim vorsichtig die Gardine zur Seite.

»Das ist Carl.«

Seth ging in den Flur und öffnete die Haustür.

»Du bist früh dran«, sagte er.

»Konnte nicht schlafen.« Carl begrüßte ihn mit einem Faustcheck.

Seth erwiderte die Geste.

Carl war frisch rasiert. Er hatte sogar seinen Schädel rasiert und konnte so spielend leicht sein Aussehen mit einer einfachen Perücke verändern. Von seinem gepflegten Bart war nichts mehr zu sehen, und ohne den war er kaum zu erkennen.

Er ging an Seth vorbei, der die Tür schloss.

»Wie funktionieren die Kameras?«, fragte Carl, während er sich an Tim wandte.

»Gut. Es gibt einige blinde Flecken, aber das wussten wir ja.«

»Die U-Bahn?«

Tim lachte.

»Ich habe den Test von letzter Woche um drei Minuten geschlagen. Ihre Brandschutzwand ist ein verdammter Witz! Jetzt haben wir Zugriff auf jede Kamera im gesamten U-Bahn-Netz.«

Carl schlug Tim freundlich auf die Schulter.

»Gute Arbeit«, lobte er ihn.

»Ich kontrolliere noch einmal die Ausrüstung«, sagte Seth. »Behältst du meine Bildschirme im Blick?«

Carl nickte und ließ sich auf Seths Platz nieder. Dieser verschwand im einzigen Schlafzimmer des Hauses.

»Hat Rolex sich gemeldet?«, rief Tim Seth nach.

Er steckte den Kopf durch die Tür.

»Ja«, antwortete er. »Alles in Ordnung.«

Kapitel 6

Joel saß im Gras, die Arme ruhten auf seinen angewinkelten Knien, und er blickte zu den Berggipfeln. Ein goldener Schein, der in der Unendlichkeit zu verschwinden schien, breitete sich über den Himmel aus. Er wuchs mit jeder Minute an, während die Sonne immer höher stieg. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Kollern einer Rentierkuh und ihres Kalbs, die am gegenüberliegenden Seeufer ihren Durst stillten. Joel saß regungslos da. Er hatte Gegenwind, wenn auch kaum spürbar, und so konnte er die beiden Tiere beobachten, ohne eine Entdeckung zu riskieren. Er saß nah genug an der Feuerstelle, um die Wärme der Glutreste zu spüren.

Die Kuh hob den Kopf von der Wasseroberfläche und wandte dem Kalb den Rücken zu. Nach ein paar Metern hielt sie inne und blickte zurück. Das Kalb hörte auf zu trinken und leistete seiner Mutter Gesellschaft. Nebeneinander trabten die beiden davon, und erst, als sie nur noch zwei kleine Punkte am Horizont waren, wandte Joel den Blick den Berggipfeln zu, wo sich jetzt die Sonne in ihrer ganzen Pracht zeigte.

Er stand auf, löschte die Glut mit Wasser aus dem See, schüttete Sand über die Feuerstelle und glättete die Erde mit dem Fuß. Nachdem er das Zelt abgebaut hatte, legte er es zusammen mit der restlichen Ausrüstung in die Kiste und vergrub diese an der gleichen Stelle, an der er sie ausgegraben hatte. Joel trank vom erfrischenden Seewasser, bevor er sich den Rucksack auf den Rücken schwang und den Ort verließ, ohne sich umzusehen. Es war, als wäre er nie hier gewesen. Doch er würde bald zurückkehren. Der Ausflug hatte größtenteils der Erkundung gedient, und seine Erinnerung hatte ihn nicht getrogen. Das Einzige, was er auffüllen musste, war der Bier- und Whiskey-Vorrat. Er trank zwar nicht besonders viel, aber es ging nichts über ein Bier zu einem frisch gefangenen, über offenem Feuer zubereiteten Fisch. Und zusammen mit dem Sonnenuntergang war es einfach magisch. Schon in ein paar Tagen würde er wiederkommen, und wenn er genug von der freien Natur hatte, würde er mit dem Motorrad erneut über die Straßen cruisen, wie sie es immer vorgehabt hatten, wenn sie erst Zivilisten waren.

Doch jetzt gab es nur noch Joel, und er hatte nur noch eine Sache zu erledigen, wenn er in die Zivilisation zurückkam: die Beerdigung. Sie ängstigte ihn zu Tode.

Als Joel den Parkplatz erreichte, fluchte er laut, verschwendete aber keine Zeit. Jede Sekunde zählte. Die abgesägte Kette mit dem Schloss der Sicherheitsstufe drei lag noch auf dem Boden. Er rief ein Taxi, das angesichts der ausgedehnten Entfernungen in den norwegischen Bergen verhältnismäßig nah war und nur fünfundvierzig Minuten brauchen würde. Joel rechnete rasch aus, dass er eine Viertelstunde einsparen würde, wenn er dem Wagen auf der Straße entgegenlief. Dann zog er sein Telefon heraus und öffnete eine Karten-App, die das Motorrad über einen GPS-Tracker verfolgte, den er unter dem Sitz der Maschine versteckt hatte.

Joels Augen verengten sich, als er sah, dass das Motorrad nach Süden bewegt wurde und sich bereits in der Nähe von Sundsvall befand. Mit einem Vorsprung von gut dreihundert Kilometern und fünf Stunden war es unmöglich, es einzuholen. Es gab keinen Grund, sich zu beeilen oder sich zu ärgern. Das machte die Situation nicht besser und würde ihm auch sein Motorrad nicht wiederbeschaffen. Er warf noch einen Blick auf seine Uhr und recherchierte stattdessen Flüge von Trondheim nach Stockholm. Es wäre kein Problem, den Abendflug zu erreichen. Joel machte für die Versicherung noch ein Foto von der abgesägten Kette und ließ dann den Parkplatz hinter sich. Das Telefon steckte er zurück in die Tasche.

Er hatte es nicht eilig damit, den Diebstahl der schwedischen Polizei zu melden. Er wollte das Motorrad selbst aufspüren, und noch mehr wollte er diejenigen finden, die es gestohlen hatten.

Kapitel 7

Seth stellte einen Teller mit zwei belegten Broten auf ein Tablett, daneben ein mit Wasser gefülltes Glas. Dann zog er die Sturmhaube über sein Gesicht und hob das Tablett an.

»Bin gleich zurück«, sagte er zu Tim, als er den Kopf durch die Tür zum Wohnzimmer steckte.

Tim sah von seinem Bildschirm auf.

»Ist das hier wirklich nötig?«, fragte er.

»Ich denke schon«, entgegnete Seth. »Sie hat den ganzen Tag nichts gegessen.«

Tim zuckte die Achseln und wandte sich wieder dem Bildschirm zu. Carl reinigte seine Pistole, die zerlegt auf dem Tisch lag. Er sah nicht einmal auf.

Seth öffnete die Kellertür mit einer Hand, während er mit der anderen das Tablett balancierte. Er schloss die Tür hinter sich, ging die Treppe hinunter und schaltete das Licht ein.

Die Kette rasselte auf dem Boden, als Mia sich bewegte.

»Lassen Sie mich frei!«, schrie sie.

Sie saß mit dem Rücken zum Pfeiler und zappelte und spuckte ihn an, als er herunterkam.

Seth lächelte. Sie war eine richtige Wildkatze.

»Lassen Sie mich frei!«, brüllte sie weiter. Auf ihrer Stirn zeigte sich eine Ader, und die Blutgefäße in ihrem Hals schienen jederzeit platzen zu können.

Seth ging ein paar Schritte heran, stellte das Tablett in sicherem Abstand ab und hockte sich vor ihr hin. Noch bevor sie etwas Dummes tun konnte, wie ihm ins Gesicht zu spucken, packte er ihr Haar und zog ihren Kopf mit einem brutalen Ruck zurück.

Mia schrie auf.

Seth sprach ganz nah an ihrem Ohr.

»Kein Wort mehr«, flüsterte er in seinem irischen Englisch. »Tu, was wir sagen, dann bleibst du am Leben.«

Mia schluchzte.

»Wenn du weitermachst, schlage ich dich. Wenn du dann immer noch weitermachst, vergewaltige ich dich.«

Dann ließ er so plötzlich los, dass Mias Kopf gegen den Pfeiler stieß. Er nahm das Tablett und stellte es in ihrer Reichweite ab.

»Es liegt ganz an dir«, sagte er, während er sich vor ihr aufbaute.

Mia trat nach dem Tablett, sodass das Glas umfiel und das Wasser auf den Boden lief.

Seth schüttelte den Kopf.

»Lassen Sie mich frei!«, schrie sie noch einmal.

Seth ging auf die Knie. Er ohrfeigte sie hart. Dann riss er wieder ihren Kopf an den Haaren zurück. Mia wimmerte.

»Fordere mich nicht heraus«, zischte er in ihr Ohr.

Er ließ los und schlug sie noch einmal, dieses Mal noch härter. Um ein Zeichen zu setzen, schlug er ihr in den Bauch, so hart er konnte.

Mia schnappte nach Luft, konnte aber nicht einatmen. Sie kämpfte wie verrückt, um auch nur einen Hauch Sauerstoff in die Lungen zu bekommen. Als sie dann wieder atmen konnte, saß sie nur noch da mit gesenktem Kopf und schluchzte. Seth packte ihr Kinn. Zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

»Nächstes Mal ist dein Höschen fällig«, flüsterte er. »Ich hoffe, du verstehst mich.«

Das würde sie eine Weile ruhig halten. Auch wenn ein Teil von Seth hoffte, dass sie weiter bockig blieb, damit er einen triftigen Grund hatte, seine Drohung wahrzumachen. Er drehte sich um, schaltete das Licht aus und ging die Treppe hinauf.

»Fuck!«, schrie Tim aus dem Wohnzimmer. »Seth!«

Seth wurde aus seinen Gedanken gerissen.

»Was ist los?«

Tim schlug mit der Faust auf den Tisch. Carl stand hinter ihm und blickte auf einen der Bildschirme.

»Es ist vorbei«, stellte Carl fest.

»Wovon zum Teufel sprichst du?« In einer Sekunde war Seth um den Tisch herum und stand an Tims Platz.

»Dieses Arschloch hat sich den Schädel weggeblasen!«, schrie Tim.

Seth beugte sich zum Bildschirm vor, wo die Überwachungskamera auf einen dicken Mann gezoomt war, der auf dem Küchenboden lag. Neben ihm lag ein Schrotgewehr, und ein Großteil seines Kopfes war weg. Überall war Blut.

Tim fuhr sich mit der Hand über den Mund.

»Scheiße, was machen wir denn jetzt?«

Seth presste die Kiefer aufeinander und versuchte, sich zu konzentrieren.

»Glaubst du, man konnte es hören?«

»Er hat ein Schrotgewehr benutzt«, sagte Tim. »Der Knall muss das gesamte Viertel geweckt haben.«

»Lässt sich eine Verbindung zu uns herstellen?« Seth wandte sich an Carl.

»Nein«, antwortete Carl. »Die Kameras sind klein und versteckt, aber leicht zu finden. Was aber keine Rolle spielt, denn sie sind mit Servern auf der ganzen Welt verbunden, die durch Firewalls und Verschlüsselung geschützt sind. Sie lassen sich nicht bis zu uns zurückverfolgen.«

»Was hat er gemacht?«, fragte Seth. »Könnte er einen Brief oder so etwas hinterlassen haben?«

»Es gibt ein paar blinde Flecken.« Carl seufzte. »Möglich wäre es schon.«

»Ich habe nichts gesehen«, sagte Tim. »Aber ist auch egal. Was sollte er geschrieben haben, das mit uns in Verbindung gebracht werden kann?«

»Nichts«, stimmte Seth ihm zu und zuckte die Achseln. »Er wusste nicht, was passieren würde.«

»Was zum Teufel machen wir denn jetzt?«, fragte Tim. »Wir brauchen doch zwei.«

»Ich weiß.«

Seth blickte auf die anderen Bildschirme daneben. Der andere Mann, den sie überwachten, saß in der Küche und aß. Oder was man so als Essen bezeichnete. Er starrte in seine Schüssel mit etwas, das nach Seths Meinung nach Dickmilch oder Brei aussah. Dann begann er zu weinen. Das Tastentelefon, das Carl im Haus gelassen hatte, lag auf dem Tisch.

Seth seufzte.

»Ich muss Rolex anrufen.«

Kapitel 8

Emma Steen parkte hinter dem Polizeiwagen, der halb auf dem Gehweg vor dem Backsteinhaus stand. Der großzügig angelegte Rasen war perfekt geschnitten, ebenso wie die dichte Hecke mit Tausenden von kleinen grünen Blättern. Rasch warf sie einen Blick in den Rückspiegel. Eine Sekunde lang überlegte sie, das Haargummi zu lösen, doch dann entschied sie sich für den Pferdeschwanz, den das dünne Band hielt.

Dass keine neugierigen Nachbarn herumstanden, ließ sich nur damit erklären, dass es nicht viel zu sehen gab. Alles Interessante spielte sich im Inneren des Hauses ab. Emma hatte ihre Trainingseinheit zu Hause in der Garage gerade zur Hälfte absolviert, als sie einen Anruf mit dem Auftrag erhielt, zu dieser Adresse zu fahren und mit den Kriminaltechnikern zusammenzuarbeiten. Sie hatte sich mit einem Handtuch abgetrocknet, Jeans und einen Kapuzenpulli angezogen, der groß genug war, um ihr Pistolenholster am Gürtel zu verbergen. Als Ermittlerin in der Abteilung Schwere Gewaltverbrechen der Citypolizei hatte sie gemeinsam mit drei Kollegen einmal pro Monat abends und nachts Bereitschaft. Im Falle eines Gewaltverbrechens wurden sie alarmiert, um die Ermittlungen in Gang zu setzen und Kollegen im Außeneinsatz zu unterstützen. Am nächsten Tag übergab sie dann das gesamte Material an das Team, dem der Fall zugewiesen wurde.

Warum Emma zu dieser Adresse gerufen worden war, leuchtete ihr nicht ein. Sie hätte viel lieber ihre Trainingseinheit beendet, als zu einem verdammten Suizid zu fahren.

Sie nickte dem uniformierten Polizeibeamten zu, der ihren Dienstausweis prüfend betrachtete.

»Die Techniker sind drinnen«, sagte er und hielt das Absperrband hoch, das einmal um das gesamte Grundstück verlief.

Emma duckte sich unter dem Band hindurch und ging auf das Haus zu, wo sich gerade die Haustür öffnete. Eine kurzgewachsene Person mit weißem Overall, Mundschutz und lilafarbenen Einmalhandschuhen blieb unter dem Vordach stehen. Der Kriminaltechniker zog die Tür hinter sich zu, befreite sich von Mundschutz und Handschuhen und ließ beides auf den Holzboden fallen.

»Sieh mal einer an«, sagte er und lächelte Emma an. »Hätten die denn keine kompetenten Ermittler schicken können?«

Emma lachte.

Anton Stridh war in den Fünfzigern und arbeitete seit mehr als zwanzig Jahren als Kriminaltechniker. Er war ein wenig kleiner als Emma, und sein runder Bauch stand hervor, was ihn im Overall beinahe schwanger aussehen ließ. Wie immer war der dicke Schnäuzer ordentlich gekämmt.

»Du hast also den Hauptgewinn an diesem Sonntagnachmittag gezogen?«, grinste er.

»Allerdings«, antwortete Emma und verdrehte die Augen. »Ich hätte lieber weitertrainiert, aber es hilft ja nichts. Ich habe Bereitschaft, daher blieb mir nichts anderes übrig, als herzueilen.« Sie wischte sich die Stirn ab. Überraschenderweise schwitzte sie noch nach.

»Du weißt, dass du ruhig noch hättest duschen können? Der Typ hier läuft nicht weg.«

»Vielleicht solltest du es auch einmal ausprobieren«, konterte Emma und senkte ihren Blick auf Antons Bauch.

»Duschen?«

»Trainieren.«

Anton lächelte.

»Jaja«, sagte er. »Wo bleibt der Rest von euch?«

»Sie sind ins Präsidium gefahren, um dort die Koordination zu übernehmen. Ich fange hier an, um mir erstmal ein Bild zu machen. Was hast du für mich?«

»Wir sind gleich fertig, du kannst in ein paar Minuten rein.«

Er deutete auf eine Papiertüte auf dem Boden unter dem Vordach. »Overall und Mundschutz findest du da drin.«

»Hast du Journalisten oder Fotografen gesehen?«, fragte Emma und sah sich um. Eine Frau mit angeleintem Hund war beim Kollegen an der Absperrung stehen geblieben.

»Nein«, sagte Anton, »niemand zu sehen.«

Emma zog den Kapuzenpulli aus und stand nur mit einem weißen Sport-BH da. Zwischen ihren Brüsten war der Stoff dunkel vor Feuchtigkeit.

Anton rümpfte die Nase.

»Kein Wort«, warnte ihn Emma, während sie einen Plastikbeutel aus der Papiertüte nahm, ihn aufriss und sich den Einmal-Overall überzog, der sich darin befunden hatte.

»Kommst du zwischendurch eigentlich mal raus?«, fragte Anton, während er sie betrachtete.

»Was meinst du? Ich bin die ganze Zeit draußen.«

»Ich meine, raus wie in Ausgehen und Leute treffen.«

Emma hielt mitten in der Bewegung inne, als sie gerade den Reißverschluss hochziehen wollte. Sie begegnete Antons Blick.

»Männer treffen, meinst du wohl?«

»Ja.«

»Dafür habe ich keine Zeit.«

Anton seufzte.

»Du brauchst endlich mal wieder guten Sex. Wenn ich nicht schwul wäre …«

»Ich weiß«, unterbrach Emma ihn. »Du würdest …«

»Dich flachlegen.«

Emma zog den Mundschutz an.

»Jetzt hör schon auf«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Kannst du nicht wenigstens ein bisschen professionell sein? Gespräche wie dieses erfordern eine Flasche Wein, und wir werden jetzt definitiv nicht darüber sprechen.«

»Schon gut, mein Schatz«, wehrte Anton mit einem Grinsen ab. Er öffnete die Tür und rief: »Kann die Ermittlerin reinkommen?«

Eine Frau im Inneren bestätigte, dass sie fertig waren.

»Na los«, sagte Anton und betrat das Haus. »Halte dich einfach hinter mir.«

Sie betraten den Flur, der mit einem Schuhregal aus Holz spartanisch eingerichtet war. Auf dem Boden lag ein derber Flickenteppich. Eine Treppe führte an der Wand entlang nach oben.

Sie gelangten in eine Küche mit einem Esstisch und zwei Stühlen. An den Essplatz schloss direkt die Einbauküche mit einem Spültisch aus Edelstahl und Fronten aus Kiefernholz an. Sie sah aus wie eine Küche in einer Berghütte. Eine Frau, ebenfalls im Overall, löste eine Systemkamera von ihrem Stativ und legte sie in eine Tasche.

Emma begrüßte sie mit einem Nicken. Die Frau nickte zurück.

Der Tote lag vor der Spülmaschine auf dem Boden. Es sah aus, als sei er zur Seite gekippt. Ein Großteil von Gesicht und Kopf fehlte, war völlig zerfetzt, doch die untere Zahnreihe schien noch intakt zu sein. Eine reichliche Menge Blut hatte den oberen Teil der Spülmaschinentür sowie die Hängeschränke bespritzt. Neben der Leiche lag eine Schrotflinte.

»Höchstwahrscheinlich hat er gesessen, sich den Lauf in den Mund gesteckt und abgedrückt«, sagte Anton. »Hirnsubstanz und Blut sind schräg nach oben gespritzt.« Er stellte sich neben die Füße des Mannes und bewegte die Hand von der Spülmaschine in Richtung Hängeschränke und Decke.

»Scheiße«, rief Emma aus, als sie Antons Hand mit dem Blick folgte. Dann blickte sie sich im Zimmer um. Die Stühle waren unter den Esstisch geschoben, auf dem zwei Kerzen auf einem Läufer standen. Auf der Arbeitsfläche fanden sich all die Dinge, die man in einer normalen Küche erwartete: eine Kaffeemaschine, ein Toaster und ein Messerblock. Es fehlten keine Messer.

»Keine Anzeichen für einen Kampf«, stellte Emma fest.

»Richtig«, sagte Anton, der jetzt neben der Leiche kniete. »Sonst siehst du nichts?«

Emma zuckte die Achseln.

»Nein.«

»Bist du sicher?«

»Nun sag schon, was meinst du?«

Anton stand auf. Er zeigte an die Decke, in die Ecke über dem Esstisch.

»Da gibt es eine Kamera«, erklärte er.

Emma ging näher heran.

»Ich sehe sie nicht.«

»Sie ist klein, nicht größer als eine alte Zehn-Öre-Münze«, sagte Anton.

Sie blinzelte, und schließlich entdeckte sie die Linse.