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Lucifers Schatten vergehen im schummrigen Licht des Kerkers. Die Erzengel haben mir alles genommen. Und Michaels Wahn hält noch immer an. Nun werde ich ihnen alles nehmen. Alles, was ihnen jemals etwas bedeutet hat. Ich bin bereit für das Ende.
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Seitenzahl: 545
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Copyright 2024 by
Dunkelstern Verlag GbR
Lindenhof 1
76698 Ubstadt-Weiher
http://www.dunkelstern-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Cover: J. Kropmanns
ISBN: 978-3-98947-027-9
Alle Rechte vorbehalten
Für Andy.
Du würdest für mich in die Hölle reisen.
Ich liebe dich.
Inhalt
Triggerwarnung:
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Danksagung
Triggerwarnung:
Triggerwarnung:
Willkommen an der Schwelle zur Dunkelheit.
Dieser letzte Band führt uns durch die tiefsten Täler und die schattigsten Pfade, bietet aber zugleich einen Lichtblick am Horizont. Doch sei vorsichtig, dass du dich nicht in den Schatten verlierst.
Diese Geschichte enthält Inhalte, die emotional aufwühlend sein können. Eine genaue Auflistung der betroffenen Themenbereiche findest du auf der letzten Seite des Buches.
Und nun wage den Schritt in die Finsternis und öffne das Tor zur Hölle.
Es wartet bereits auf dich.
Prolog
Meine Liebste, mein Leben,
ist dir bewusst, dass es mich in den Wahnsinn getrieben hat, dich an meinen Hof zu bringen? Selbst, als es die einzige Möglichkeit war, dich vor Michaels und Uriels Wahn zu bewahren. Lange hatte ich mich dagegen gewehrt, dir nah zu sein, und auf einmal warst du hier, in meinem Himmel.
Ich konnte dir nicht entkommen, konnte dem Gefühl, das du in mir ausgelöst hast, nicht entfliehen.
Mich vor dir zu verschließen, dich auszusperren und die Verbindung zu kappen, hat mich beinahe um den Verstand gebracht. Es war, als würde ich jeden Tag ein kleines bisschen sterben, doch ich wollte nicht, dass du leidest.
Weißt du, dass ich jede Nacht deine Augen und dein Lächeln vor meinem geistigen Auge gesehen habe? Selbst dann schon, als du mich noch gehasst hast? Du hast mir derart misstraut, dass es etwas in mir zerstört hat. Ich sah deine Ängste, deine Macht und deine Güte.
Und plötzlich sahst du mich ebenfalls. Ich hatte nichts tun müssen, hätte es gar nicht gekonnt. Mit nur einem Blick brachtest du mein Herz zum Singen.
Ich hoffe, ich konnte deine Tage ... leichter machen. Denn mit dir waren meine erfüllt von Licht. Du hast die Macht, mir die Sorgen zu nehmen.
Und doch haben sie uns eingeholt, als Michael dich vor dem Gefängnis meiner Gefallenen beinahe hätte ausbluten lassen. Er sich meine einstigen Freunde untertan gemacht hat. Aber nicht nur sie – er hat auch mich. Gebrochen mit drei Siegeln, die damals meine Verbannung einläuteten.
Schwach sitze ich auf meinen Knien, in dieser erbärmlichen Dunkelheit, und sehe das Einzige, was mir Halt gibt. Dich.
Ich sehe den Schmerz in deinen Augen, ich fühle deinen Körper zittern – aber ich fühle auch die Spitze der ersten Klinge. Sie schwebt direkt über meinem Herzen.
Das hier ist mein Ende, das wissen wir beide. Wir wissen es und dennoch sehen wir uns an. Voller Trauer und voller Leid.
Kannst du spüren, wie viel du mir bedeutest? Ich hoffe es, denn ich bin nicht mehr zu Worten fähig.
Die Verbindung zu dir rauscht. Ich kann sie ertasten, kann dich fühlen, obwohl meine Arme in Ketten liegen.
Es tut mir so unendlich leid, dass du es tun musst. Ich wünschte, ich könnte dir diesen Schritt ersparen; wünschte, ich hätte dich beschützen können.
Tränen verschleiern deine Augen, dann spüre ich einen Schmerz und höre dein Kreischen.
Dein Gesicht verzerrt von Trauer. Du weinst. Könnte ich dir das Leid nur nehmen.
Mein Körper schwindet. Mein Ende ist nah, aber ich sehe dich an. Bis zu meiner letzten Sekunde. Und du mich. Du lässt mich nicht allein.
Wenn ich sterbe, ist mein einziger Wunsch, dass wir noch etwas mehr Zeit gehabt hätten. Ich hätte dir gern noch so viele Dinge gezeigt, so viele Wunder, so viel Licht.
Und doch ist es nur die Dunkelheit, die bleibt.
Ich liebe dich.
Ich kann nur hoffen, dass du es weißt.
Kapitel 1
Ich hatte Luc getötet…
Noch immer saß ich in seiner Zelle, starrte mit brennenden Augen die Ketten an, die nichts mehr hielten. Ich hatte geweint, bis ich nicht länger fähig war, Tränen zu geben.
Mein Körper fühlte sich schwach an, meinen Herzschlag spürte ich nicht mehr. Obwohl ich atmete, meine Finger bewegen konnte, fühlte ich mich taub. Wie eine Hülle, deren Innerstes mit ihm gegangen war. Da war nichts mehr, was mich hielt, nichts mehr, was mich dazu brachte, leben zu wollen. Ich wünschte, die erste Klinge hätte sich nicht aufgelöst, denn dann hätte ich sie mir selbst in die Brust gerammt. Einfach, um bei ihm sein zu können, um nicht diesen überwältigenden Schmerz spüren zu müssen.
Luc war fort, genauso wie die Erzengel, die mich hier zurückgelassen hatten. Sie waren einfach verschwunden und hatten mich mit meinem Elend allein gelassen.
Der erbarmungslose Schmerz in meiner Brust toste, verkohlte und zerstörte mich von innen heraus. Selbst als ich gestorben war, hatte ich mich nicht so leblos gefühlt.
Es dauerte noch eine Ewigkeit, bis ich mich endlich erheben und die Zelle hinter mir lassen konnte.
Die letzten Stunden hatten sich endlos gezogen und ich war mir sicher: Wenn Michael oder Nick noch einmal zu mir kommen würden, dann würde ich sie umbringen. Doch niemand beachtete mich mehr. Mein Gefährte war tot, die Siegel waren zerbrochen – ich war nutzlos.
Dennoch ließ ich noch ein wenig Zeit verstreichen, in der ich rastlos durch den Palast irrte und mir missbilligende Blicke der Engel einfing. So hatten sie mich früher angesehen und der Kontrast zu Lucs Reich wurde noch spürbarer. Ich sollte hier nicht sein, ich gehörte nicht hierher.
Selbst der Himmel, den ich jetzt von der Terrasse aus beobachten konnte, wirkte farbloser. Keine Herrlichkeit, kein prachtvoller Sonnenuntergang konnte verschleiern, welchen Charakter diese Engel hier hatten. Und das war alles, was ich sah.
Erschöpft drehte ich mich und sah über die weitläufige Terrasse direkt zu Uriels Palast. Er strahlte und leuchtete in silbernem Licht wie ein eigener Mond. Wunderschön von außen, düster und kalt von innen.
»Wer hätte gedacht, dass du deinen Gefährten wirklich töten würdest.«
Michaels Stimme rauschte meinen Körper hinab, bescherte mir eine ekelhafte Gänsehaut.
Erneut stand er in seiner mächtigen Engelsstatur vor mir. Die weißen Schwingen weit um seinen Körper gelegt und ein hinterlistiges Lächeln auf seinen schmalen Lippen. Er war es gewesen, der mir die erste Klinge in die Hand gedrückt hatte. Er ... und Nick.
»Du weißt doch, ich war von ihm besessen«, antwortete ich zuckersüß und verbarg mich einmal mehr hinter meiner Fassade. Ich hatte ihnen das Mädchen von damals vorgespielt, um die erste Klinge vor dem tödlichen Schlag in die Finger zu bekommen. Das bemitleidenswerte Menschlein ohne Magie. So verloren und allein. So hilflos und nach Liebe suchend. Sie hatten mich ausgenutzt und wollten mich entsorgen, als ich zu mächtig für sie geworden war. Und erst, als sie mich gebraucht hatten, um Luc zu töten, hatten sie nach mir rufen lassen. Mit nur drei von fünf Siegeln in Michaels Besitz war ich die Einzige, die es konnte. Seine Seele war in mir – wir waren eins … gewesen.
»Schwachsinn«, zischte er.
»Es reicht dir immer noch nicht, nicht wahr?« Obwohl ich innerlich bebte, blieb meine Maske ungerührt. »Du hast so viel Leid verursacht; hast Eva getötet, den Engeln ihre Flügel abgeschnitten, wolltest mich bereits als Kind für die Gefallenen eintauschen, hast meine Mutter in den Selbstmord getrieben und jetzt hast du den Teufel auf dem Gewissen. Was willst du noch?«
Er kam mir einen Schritt näher und in mir baute sich der Druck auf zurückzuweichen. Seine Anwesenheit widerte mich an und seine Nähe brannte in mir wie Feuer.
»Alles.«
Das war seine einsilbige Antwort, die mich gefährlich lächeln ließ.
Alles. Tja, das könnte er vergessen. Jetzt war ich die, die den letzten Abstand zwischen uns überbrückte. Ich war ihm so nah, dass ich die Wärme seines Körpers spüren konnte.
Unbeeindruckt hob ich den Kopf, starrte tief in seine eisblauen Augen. »Lauf, Michael. Renn so weit weg, wie du kannst, denn ich werde kommen und dir dein schwarzes Herz aus der Brust reißen. Ich werde den Moment genießen, in dem das Leben aus deinen Augen weicht und dein letzter Atemzug versiegt.«
Seine Augen verschmälerten sich. Er atmete lange ein, wenngleich er sich um eine nichtssagende Miene bemühte.
»Nun denn.« Beiläufig hob er die Arme, ging zwei Schritt rückwärts. »Danke für die Warnung.« Damit breitete er seine Schwingen aus und schoss in den Himmel.
Erst jetzt erlaubte mich mir, stockend Atem zu holen. Der plötzliche Sauerstoff brannte in meiner Lunge, doch die Genugtuung blieb. Ich würde ihn umbringen. Irgendwann, wenn die Zeit gekommen war, würde ich ihn töten.
»Stimmt das?«, hallte plötzlich eine Stimme zu mir herüber, aber ich wollte nicht mehr reden. Erst recht nicht mit ihm, also lief ich ins Innere des Palastes. Leider folgte mir Ash und fasste mich an der Schulter, sodass ich zu ihm herumwirbelte.
Sofort hob er die Hände und die stumme Entschuldigung wurde auf seinem Gesicht sichtbar.
»Eby«, hauchte er meinen Namen.
Einen Moment lang beobachtete ich ihn. Die Schuldgefühle nagten noch immer an ihm, das erkannte ich deutlich.
»Alles, was ich gesagt habe, ist die Wahrheit.« Mit diesem Satz ließ ich ihn stehen und knallte die Tür zu meinem ehemaligen Zimmer zu.
Erst, als die Nacht hereinbrach, schlich ich mich aus dem Palast und sprang die Brüstung herunter. Sariel fing mich auf und trug mich den langen Weg zum zweiten Himmel zurück. Wir schwiegen, denn es gab nichts zu sagen.
Als ich auf der schwarzen Terrasse stand, fühlte sich mein Zuhause fremd an. Lucs Abwesenheit war überall spürbar und sein Reich hatte an Glanz verloren.
Noch immer bebte mein Körper. Mir blieb nichts als die Hoffnung, ihn zurückzubekommen. Das, was wir getan hatten, war ein Spiel mit dem Feuer gewesen. Eine Fifty-Fifty-Chance und dennoch das Einzige, was uns blieb.
Irgendjemand nahm meine Hand. Diese Geste riss mich aus der Trance, sodass ich Calár in die Augen blickte.
Sie waren rot unterlaufen, dennoch zwang Calár sich zu einem Lächeln, und Sariel stellte sich neben mich.
Gemeinsam starrten wir in den Himmel. Hofften und beteten, dass wir uns nicht geirrt hatten, dass die Hexen die von mir geschwächte Magie der ersten Klinge umlenken konnten, ihr eine lebensschenkende Wirkung geben konnten.
»Wie viel Zeit ist vergangen?«, durchbrach Calár nach einer langen Zeit die Stille, die sich drückend über uns gelegt hatte.
»Es hätte längst passieren müssen.«
Ich wagte es weder, zu ihr noch zu ihm zu sehen. Meine Augen waren in den Himmel gerichtet und ich zwang meine Lider, nicht zu blinzeln. Denn wenn sie das tun würden, fürchtete ich, es zu verpassen.
Kurz bevor die Verzweiflung mich übermannen konnte, erkannte ich eine kleine Kugel, die die Wolken durchbrach.
Sofort ließ ich die Hände der anderen los, lief nach vorn, verfolgte die Kugel, die uns immer näherkam und grinste.
Calár quietschte vor Freude und Sariel hörte ich hinter mir jubeln, als wir Flügel erkennen konnten. Schwarze gigantische Schwingen, die jedoch nicht aufgefächert wurden.
Erst, als er kurz davor war, auf der Terrasse aufzuschlagen, wurden sie ausgebreitet und Luc landete einige Meter vor uns. Die schwarzen Flügel umrahmten ihn, und als er sich aufrichtete, konnte ich mich nicht mehr zurückhalten.
Ich rannte auf ihn zu, sprang in seine Arme, genoss das Gefühl seiner Stärke und küsste ihn.
»Ich liebe dich«, hauchte ich ihm zwischen zwei Küssen atemlos entgegen.
Auch ihm fiel das Atmen schwer, doch er lächelte mich an, wie er es noch nie getan hatte. Seine Augen suchten mein Gesicht ab, als könnte er nicht glauben, mich wiederzusehen. Und als wäre ich alles für ihn. »Und ich liebe dich.«
Ich grinste, strich über seine Wange und sah ihn an. Dafür hatten wir gekämpft. Dafür würde ich immer kämpfen. Egal, was jetzt auf uns zukommen würde, egal wie hart uns Michaels Rache treffen würde, wir hatten uns. Wir würden damit klarkommen, wie wir es immer getan hatten.
Ich war bereit für den Krieg, solange er an meiner Seite war.
Kapitel 2
Noch immer zitternd stand ich in unserem Loft, die Arme um mich geschlungen.
Die Schwere der ersten Klinge hallte noch in meinen Knochen nach und die Tränen der Nacht benetzten meine Augen. Sie wurden zu glitzernden Diamanten. Schwarze Diamanten der Finsternis und der Verdammnis, während ein Nebel aus Trauer um meinen Körper wehte. Langsam, bedächtig, als müsste er mir zeigen, dass er mich noch tiefer ziehen könnte.
Luc war bei mir. Ich konnte ihm sagen, wie viel er mir bedeutete, konnte ihn berühren, aber seine in Schatten getauchte Gestalt tauchte immer wieder vor meinem geistigen Auge auf. Sie und die Ketten, das verdammte Verlies – diese Dunkelheit.
Noch nie in meinem Leben hatte ich einen solchen Schmerz gespürt und die Zeit hatte sich grausam in die Länge gezogen. Sekunde um Sekunde nahm sie mir die Luft, ersetzte sie durch ein kochendendes Brennen.
Es war so surreal, so ganz und gar unwirklich, aber es war passiert. Alles, einfach alles war passiert – und Michaels Wahnsinn war grausame Wirklichkeit.
Vorsichtig hob ich den Kopf, umklammerte meine Arme fester und versuchte, mir Wärme zu schenken, während ich einen Schritt aus der offenstehenden Glastür wagte und zu den Sternen hinaufsah. Sie funkelten und glitzerten und schenkten mir den Geruch von Licht, obwohl die aufgehende Sonne das silberne Leuchten allmählich vertrieb. Die Welt konnte so friedlich sein, wenn sie wollte.
»Ich bin hier, Liebste.«
Ein Schaudern erfasste meinen gesamten Körper, als Lucs Stimme, tief wie ein Bass, durch das Loft hinaus auf die Terrasse jagte. Jeder Stein warf sie zurück, schenkte sie nur mir.
Mein Hals begann zu beben, meine Lippen zu zittern. Ich senkte den Blick, umklammerte mich fester, als könnte ich mir selbst Halt in einer verlorenen Welt schenken. Aber erst, als Luc seine Arme um mich schlang, fühlte ich festen Boden unter meinen Füßen. Seine Wärme drang tief in mich ein, erfasste meinen Körper und wanderte bis in meine Zehenspitzen. Er war hier, er war am Leben! Doch die tiefschwarze Dunkelheit zerrte an mir. Sie wollte mich nicht gehen lassen.
Zittrig legte ich meine Hand auf seinen Unterarm. Ich beobachtete meine Finger, die Spuren, die ich auf seiner Haut malte, und mir wurde übel, als ich Blut auf meiner Hand erkannte. Mit dieser hatte ich ihn erstochen, hatte den Widerstand seiner Haut und Muskeln gespürt, und alles war zurück. Ich ekelte mich so sehr vor mir selbst, dass ich mich aus Lucs Griff winden musste und mir schniefend über das Gesicht strich.
Aber er ließ mir nicht die Möglichkeit, in Trauer zu versinken, denn er schob seine Hände in meinen Nacken und drückte so meinen Kopf nach oben.
Er ist hier. Verdammt Eby, er ist hier, er lebt!
»Du hast mich gerettet«, flüsterte er erstickt. »Ich werde nicht zulassen, dass du dir die Schuld an diesem Mist gibst, denn du kannst nichts dafür.« Er schluckte. »Du bist das einzig Gute hier. Lass dir das nicht von Michael nehmen. Du wirst wegen ihm nicht zerbrechen, hörst du?«
Zerbrechen. Tat ich das? Zerfiel ich gerade in Lucs Händen? Warme Flüssigkeit lief mir über die Wange, blieb an seinen Fingern hängen, und da wusste ich, dass er recht hatte. Ich zerbröselte unaufhaltsam. Jede Sekunde ein Stück mehr, sodass ich es nicht schaffte, meinem Gefährten in die Augen zu sehen.
Ich senkte den Kopf, spürte, wie Luc meine Wangen streichelte.
»Ich bin zurück«, wiederholte er langsam. Seine Lippen waren direkt vor mir, seine sanfte Stimme durchfuhr mich.
Er hatte recht. Wir hatten gesiegt, nicht die anderen. Er ... er war hier. Bei mir! Ich durfte nicht zulassen, dass Michael doch noch gewann. Für einen Moment schloss ich die Lider, atmete die Morgenluft tief ein, dann hob ich den Blick.
Lucs wunderschöne Augen sahen tief in meine, auf seinen Lippen ruhte ein Lächeln, das nicht von dieser Welt war. Kein Mensch, kein Engel konnte so offen und ehrlich lächeln wie er. Ich sah die Sterne darin, schmeckte den Geruch von salzigem Meer und Liebe.
»Ich wusste nicht, was Sehnsucht ist«, flüsterte ich. Meine Stimme bebte, kam nur holprig über meine Lippen und ich zitterte noch immer – trotz seiner Wärme.
Warme Sonnenstrahlen wagten sich langsam über den Boden und ließen den schwarzen Stein glitzern. Einzelne Partikel tanzten in der Luft, und ihn riechen zu können, war atemberaubend. Darauf sollte ich mich fokussieren. Auf ihn, auf das, was ich hatte, und ich wollte es so sehr, aber der Schrecken der Nacht hing wie eine dunkle Wolke über mir. In mir war schon immer Dunkelheit gewesen, doch noch nie hatte sie sich so finster angefühlt.
Lass nicht zu, dass Michael dich zerbricht.
Die Farben von Lucs Iriden ergossen sich von Dunkelbraun zu Schwarz, von Kastanie zu Schokobraun. Ihr Farbenspiel war betörend und tausende Gefühle schossen gleichzeitig durch mich hindurch. Aber eins hielt sich hartnäckig: die Schmetterlinge in meinem Bauch, das Glück, ihn ansehen zu können. Für einen Moment schaffte seine Nähe es, all die trüben Gedanken zu verschleiern und mir die Angst zu nehmen.
Sein Lächeln hielt mich noch ein paar Sekunden in der Glückseligkeit, dann schlug mein Herz ungleichmäßig. Und es schmerzte. »Ich hatte wirklich keine Ahnung, wie sehr mich dieses Gefühl zerbrechen könnte, bis ... ich dich verlor.« Bis ich dir das Leben genommen hatte. Verräterin. Mörderin!
Luc senkte das Kinn, sodass seine Lippen über meine fuhren. Hauchzart, unendlich leicht und doch war es alles, was ich brauchte, was ich wollte.
»Und doch bin ich hier«, hauchte er. Seine tiefe Stimme vibrierte in meinem Brustkorb. Ich hatte sie vermisst, hatte ihn vermisst. Hatte seine Berührungen und seine Blicke vermisst. Es war mein Plan gewesen, die Magie umzulenken. Wäre es schief gegangen, hätte ich all das nie wieder zurückbekommen.
Luc hob seine Hand und strich mir liebevoll eine Strähne hinter das Ohr. Die bloße Berührung kribbelte auf meiner Haut und brachte meine Magie zum Flattern.
»Und ich werde nicht zulassen, dass uns irgendetwas erneut entzweien wird. Das verspreche ich dir.«
Ich lächelte, spürte die aufkeimende Hitze in mir, aber auch ein schmerzhaftes Ziehen. Die erste Klinge umzuwandeln, ihr die Schärfe einer tödlichen Waffe zu nehmen, hatte die gesamte Hexenmagie gefordert, die unser Hof zu bieten hatte. Ihre und meine Magie vereint, denn ich hatte sie mit meinem Licht geschwächt. Immer weiter und weiter, bis die Hexen ihre Kräfte wirken konnten – und ich spürte noch immer, wie meine Kraft unangenehm pulsierte. Sie hatte an Stärke verloren, wie auch die der Hexen.
Luc schien meine verkrampften Hände bemerkt zu haben, denn er hob meine Rechte in seine und betrachtete die Lichtfetzen, die noch immer aus ihr peitschten. Die Magie kribbelte übergriffig unter meiner Haut, als wolle sie mir zeigen, dass ich etwas mit ihr getan hatte, wofür sie nicht vorgesehen war.
Vorsichtig malte Luc meine Finger mit seinen nach und die Magie prickelte nicht mehr so unangenehm. Einige Zeit lang standen wir schweigend voreinander, hielten uns an den Händen, versuchten, den anderen zu ertasten. Als die Verbindung durch seinen Tod erloschen war, hatte es sich so angefühlt, als hätte ich mir alle Knochen gleichzeitig gebrochen. Da war so viel Schmerz gewesen. Jetzt war sie zurück. Fester, stärker als zuvor. Und dennoch ungewohnt. Das Band reichte von ihm zu mir und doch fühlte es sich ... anders an.
»Wie hat es sich angefühlt?«, flüsterte ich erstickt.
Er suchte meinen Blick und hielt mich einige Momente damit gefangen. In seinen Augen lag Wärme, bis sich ein kleines hinterlistiges Lächeln in sie hineinschlich. »Meinst du, erneut ein Messer von dir in die Brust zu bekommen, oder das Sterben an sich?«
Mir entwich ein Lachen, dass ich sofort zu verstecken versuchte, indem ich den Kopf nach unten neigte. Leider funktionierte das nur bedingt, denn meine verräterischen Wangen glühten jetzt. Zu dieser Zeit hatte ich ihn noch gehasst, hatte gedacht, er hätte Nick und die anderen umgebracht, bis er mir gezeigt hatte, was Wahrheit und was Lüge war. »Na ja, beides irgendwie.«
Luc hauchte einen Kuss auf meine Hand, die noch immer in seiner lang, dann ließ er sie langsam los. Sein Lächeln versiegte, seine Augen wurden tiefschwarz und ein Schmerz brannte durch unsere Verbindung. »Als du ins Verlies kamst und die erste Klinge in der Hand hieltest, habe ich nur Leere gespürt. Ich ... ich wollte deine Stimme hören. Ein letztes Mal.«
Mein Kiefer verkrampfte. Ich schluckte und schaffte es nicht mehr, ihm in die Augen zu sehen.
»Aber dann kam das Glück.«
Verwirrt hob ich den Kopf. »Glück?«
Er holte tief Luft. »Du warst bei mir. Ich konnte dir in die Augen sehen, während das Leben aus mir wich. Ich habe dich gespürt.« Seine Finger fuhren über meine Schulter. Er verfolgte die Spuren mit seinen Augen und etwas Wehmütiges trat auf sein Gesicht. »Es hätte für mich kein schöneres Ende geben können, als dich dabei anzusehen.«
Mir stiegen Tränen in die Augen und mein Hals schnürte sich zu. Ich zitterte wieder, hatte das Gefühl, erneut in seine Zelle einzutreten und mit gezogener Waffe einen Schritt näher zu kommen.
»Du warst so stark.«
Langsam – zu langsam – hob ich den Kopf, blickte tief in die dunklen Augen. Er war nicht mehr in den Ketten gefangen. Er war hier, lebendig. Und doch fiel es mir schwer, all das hinter uns zu lassen. Sobald ich einen Moment lang die Augen schloss, sah ich seine in Schatten getauchte Gestalt vor mir. Die Ketten und seinen schmerzverzerrten Ausdruck. Alles, einfach alles war noch so real.
Ich holte tief Luft, schmiegte mich enger an ihn und sog seinen Duft nach einem Wasserfall in eisigen Bergen ein. Die kleinen Härchen an meinem Nacken stellten sich auf und wir gaben uns einige Sekunden, um es zu genießen – um den anderen zu fühlen. Und wir gaben unseren Seelen Zeit, zueinanderzufinden, sich zu einem undurchdringbaren Knoten zu vereinen.
»Ich liebe dich.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Einem wunderschönen, hoffnungsvollen Lächeln voller Licht. »Es gab eine Zeit, in der ich mir oft gewünscht habe, du hättest es gesagt. Ich habe mir vorgestellt, wie es sich anfühlen würde. Doch es wirklich zu hören«, er strich mit seiner Nasenspitze über meine, »ist noch viel besser als in meiner Vorstellung.« Die Schatten tanzten bei diesen Worten, umwirbelten ihn und mich.
»Und zu deiner Frage, wie sich das Sterben anfühlt. Es war wunderschön.«
Verwirrt runzelte ich die Stirn. »Wunderschön?«
»Mhm. Du spürst keine Schmerzen, fühlst nichts. Und dann ist da dieses helle Licht und dich umgibt nichts als Glücklichkeit. Dein Körper ist schwerelos und du watest durch Helligkeit. Dann wurde ich plötzlich zurückgerissen.«
Einige Sekunden ließ ich verstreichen, in denen ich nicht wusste, was ich antworten sollte. Ich ... wir hatten ihn verloren und er fühlte Glück? »Es klingt wehmütig.« Die Worte kamen mir fast nicht über die Lippen, so sehr hingen sie in meinem Hals fest.
»Oh nein«, gab er sofort lachend zurück. Dann zog er mich dicht an seinen Körper. »Denn das hier ist viel besser.«
Er streichelte über meinen Rücken, über mein Haar, küsste meinen Nacken. »Das hier«, raunte er an meinem Hals, »ist so viel besser als zu sterben. Allein dafür lohnt sich das Leben. Sei es auch noch so grausam.«
Seine Küsse wanderten höher, hinterließen ein heißes Kribbeln auf meiner Haut. Ich legte den Kopf in den Nacken, krallte mich an ihm fest, bis er plötzlich stoppte.
Nach Luft ringend suchte ich bettelnd seinen Blick.
»Ich würde wirklich gern weitermachen«, er deutete auf mich, auf meine Lippen, »aber ich muss mich ins Bild setzen lassen. Danach gehört der Abend uns.«
Ich setzte den sehnsüchtigsten Schmollmund auf, den ich zu bieten hatte, und er lachte. Dann packte er mich und drückte seine Lippen hart gegen meine. Fordernd und voller Begierde. Das Brummen, dass seine Kehle verließ, vibrierte in mir nach. Und als er von mir abließ, mit dem Kopf auf die Tür deutete, wäre ich am liebsten vor seinen Füßen zerbröselt.
»Meine Spione berichten, dass Michael seit gestern nicht mehr gesehen wurde. Nicht einmal Uriel scheint zu wissen, wo er sich befindet«, informierte Calár Luc. Auch sie sah fertig aus. Ihr sonst schönes glattes Haar war zerzaust, ihre Augen noch immer rötlich. Sie hatte die Hexen angeleitet, hatte selbst so viel ihrer Magie gegeben, um die erste Klinge zu schwächen. Doch damit nicht genug. Die Hexen hatten Lucs Seele in der Schwebe gehalten, sodass sie nicht zu Gott aufsteigen konnte. Stück für Stück stellte sich sein Körper wieder her. So, wie er einst erschaffen wurde.
Luc stand resigniert am länglichen Tisch und hätte sich alles angehört. Hatte sich angehört, wie der Angriff von Michael in Rom vonstatten gegangen war, wie er unsere Hexe und die Engel umgebracht hatte. Wie wir von der Macht der ersten Klinge erfahren hatten, wie Sar und ich in die Hölle gereist waren, wie Eva uns geholfen hatte und wie alle Hexen an dem Zauber beteiligt gewesen waren. Und natürlich, wie ich allein zum vierten Himmel gereist war und meine Schauspielkunst einsetzen musste, damit ich die Klinge schon vor dem tödlichen Schlag in die Finger bekommen konnte.
All die Zeit über war er still. Nicht ein Mal hatte er etwas gesagt. Dafür spürte ich seine innere Zerrissenheit. Es belastete ihn, dass wir so viel auf uns nehmen mussten, um ihn bei uns zu haben. Dabei wären wir noch viel weiter, sehr viel weiter gegangen, wenn es nötig gewesen wäre.
»Was hat Michael zu dir gesagt, als du ihm seinen Tod angedroht hast?«, fragte mich Sar, der bisher für seine Verhältnisse recht still war.
Ich hob beide Brauen, zuckte mit den Schultern. »Danke für die Warnung.«
»Danke für die Warnung?«, blaffte Calár. »Das ist alles? Du drohst ihm an, dass du das Letzte sein wirst, was er sieht, und er sagt danke für die Warnung? Das ist doch ein schlechter Scherz.«
»Ja, mehr hat er nicht gesagt. Dann ist er weggeflogen.«
»Zu den Toren der Hölle«, kam es das erste Mal von Luc.
Es wurde still im Raum.
»Die Herrschaft über die Hölle wird im Falle eines Ablebens immer auf den nächst ranghöchsten Engel übertragen. In dem Fall war das Michael.«
»Und du denkst, er hat irgendetwas mit ihr angestellt?« Die Frage kam von Sar. »Spürst du irgendetwas?«
»Im Moment sind meine Empfindungen noch abgestumpft. Also nein, aber ich werde es gleich herausfinden.«
»Luc.« Sar trat vor ihn und verschränkte die breiten Oberarme. »Du bist erst seit ein paar Stunden wieder hier. Willst du den Abend nicht etwas genießen«, er zeigte mit der flachen Hand auf mich, »bevor du dich den Problemen stellst? Beauftrage Calárs Spione, sich bei den Gewalten zu erkundigen. Michael ist machtlos. Was immer er wollte – diese Information kann doch bis morgen warten.«
Luc hob den Kopf, blickte seitlich an Sar vorbei zu mir. In seinen Augen tobte es. Mal waren sie hellbraun, dann tiefschwarz. Er würde sich nicht entspannen können, solange er nicht wusste, was Michael in seiner Abwesenheit angestellt hatte. Die Hölle war sein Reich. Und, was immer passiert war, er wollte es jetzt wissen. Nicht morgen, nicht in ein paar Stunden. Jetzt.
Ich hielt seinem Blick stand und nickte seicht. »Ich werde mit dir gehen.«
Kapitel 3
Die zwei Tore ragten gigantisch vor uns auf und die Abenddämmerung erleuchteten sie von hinten. Obwohl ich bereits das zweite Mal hier war, würde ich mich an ihren magischen Anblick nie gewöhnen. Genauso wenig wie an die Gewalten, die jeden normalen Engel um zwei Höhen überragten. Sie waren wirklich gigantisch, kein bisschen menschlich und würden mir mit ihren in Stein gehauenen Gestalten wohl für immer einen eisigen Schauer schenken.
Das erste Mal fiel mir auf, dass es hier eigenartig nach Pfefferminze roch. Meine Augen führten mich über den Boden, aber ich konnte keinerlei Gewächse oder andere Dinge sehen. Nur die Tore und die Gewalten. Mehr existierte auf dieser winzigen Insel nicht.
Luc lief voran, ich folgte ihm und als wir direkt vor den steinernen Engeln standen, passierte etwas Eigenartiges: Sie verbeugten sich.
Ihre Bewegungen knarrten, als würde ein Gesteinsbrocken über Kieselsteine schleifen, und dann schlugen sie alle gleichzeitig ihre Faust gegen die Brust. Der vereinte Aufprall donnerte durch die Luft. Unauffällig biss ich die Zähne aufeinander, zwang mich, nicht zu überrascht zu wirken, und wartete, bis sie sich aufrichteten.
»Erstattet mir Bericht«, verlange Luc hart. Die warme Stimmlage, die ich von ihm kannte, war verschwunden. Neben mir stand der Herr der Unterwelt, der Morgenstern und Herrscher über zwei Reiche.
Ich versuchte, mich an sein Auftreten anzupassen, blieb aber anstandshalber stumm. Sie wussten auch so, wer ich war. Schließlich hatte ich vor einigen Tagen genau hier gestanden und von ihnen verlangt, mir die Tore zu öffneten. Sie hatten gesagt, ich würde den Weg zurück nicht mehr finden. Ich würde wahnsinnig werden, mich in den Lichtern verlieren. Aber nichts davon war eingetroffen. Ich stand lebendig vor ihnen, neben Luc. Mehr war im Moment nicht wichtig.
»Würdet ihr jetzt sprechen oder sollen wir das Gespräch in der Hölle fortsetzen?«
Vorsichtig wagte ich einen Blick auf Lucs unergründliches Gesicht. Keiner seiner Bewegungen, kein Zucken verriet etwas von seinem Inneren. Seitdem er auferstanden war, war er sogar noch undurchschaubarer als vorher. Als würde die Macht seine Gefühle verschleiern und seine Regungen in einen sanften Nebel tauchen. Fernab vom Sternenlicht, weit weg von jeglicher Helligkeit. Nur die gewaltige Finsternis und seine nichtssagenden Augen blieben zurück.
Schluckend schielte ich zu den Gewalten, von denen bisher keiner sprach. Luc hatte mir im Wirbel erzählt, dass sie zur Verschwiegenheit verpflichtet waren. Was immer Michael in seiner Herrschaftszeit in der Hölle getan hatte – es war nicht Lucs Zuständigkeit, sondern seine. So kurz sie auch gewesen war. Aber jetzt war er zurück. Mächtiger als je zuvor, und wenn jemand in seiner Abwesenheit Schabernack mit seinem Reich angestellt hat, dann sollten die Gewalten es ihm sagen. Zumindest hoffte ich das. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, was Luc mit ihnen anstellen würde, sollten sie sich ihm verweigern.
»Michael war hier«, verkündete der Erste, der wohl dieselben Gedanken hatte wie ich.
Ich fuhr zu der Richtung, aus der ich die Stimme vermutete, erkannte aber niemanden, der redete. Die Engel bewegten sich nicht einen Millimeter, blinzelten nie. Nicht mal ein Fingerzucken war zu erkennen und die gemeisterten Augen hatten keine Iriden. So war es mir unmöglich zu erahnen, ob sie uns ansahen oder nicht.
Selbst ihre Schwingen zeigten keine Regung. Sie waren einfach nur aus Stein. Ob ihr Herz auch daraus gefertigt worden war? Oder wurden sie gemacht?
»Und was wollte er hier?«
»Er verlangte nach Geborenen.«
Ich riss die Augen auf, gaffte die Gewalten unverfroren an, blinzelte, konnte es dennoch nicht glauben. »Er hat was?«, warf ich ein. »Und ihr habt das einfach zugelassen?«
»Er war unser Herr«, gab mir ein anderer Antwort und das vehemente Dröhnen seiner Stimme hallte von den Wänden wider.
Es war nicht nur ein Brüllen, es ging mir durch Mark und Bein. Plötzlich begann ich zu zittern, blickte zu Luc auf und erschrak noch mehr. Unter seinen Augen hatten sich tiefschwarze Adern abgezeichnet. Seine Iriden verfärbten sich leuchtend rot und damit stierte er die Gewalten nieder.
»Ihr habt sie ihm gegeben?«, fauchte er sie an und diese Tonlage hatte ich noch nie bei ihm gehört. Es war ein so gefährliches Zischen, dass ich hoffte, er würde niemals so mit mir sprechen. »Ihr habt euch an die Regeln zu halten. Kein Geborener darf die Hölle ohne die Prüfungen verlassen!«
Lucs Stimme bebte vor Zorn. Er spie die Wörter heraus und seine Augen leuchteten noch intensiver. Selbst die schwarzen Nebelschwaden erzitterten unter seinem Zorn und in dieser Statur jagte er sogar mir Angst ein.
»Das waren Eure Regeln, Herr. Sie verlieren ihre Bedeutung, wenn ein Neuer das Reich übernimmt.«
Mir wurde übel. Ich schluckte, schluckte immer wieder, bis mein Mund staubtrocken wurde. Sie hatten es wirklich getan. Sie hatten Michael Geborene gegeben, ohne Prüfungen. Ungeschulte Männer und Frauen, die die Regeln des Himmels nicht kannten. Zusammen mit den hunderten Gefallenen, die er hatte ... Meine Gedanken brachen ab, da sich mein Sichtfeld verschleierte.
»Wie viele?«
Die Stille wehte um uns, bis Luc so laut schrie, dass ich innerlich und äußerlich zusammenzuckte: »Wie viele?«
Nachdem Luc und ich in die Hölle hinabgestiegen waren und er sich vergewissert hatte, dass sie sonst keinen Schaden genommen hatte, kehrte etwas Ruhe ein. Wenig später waren wir zurück im Beratungsraum. Sar und Calár wirkten weniger überrascht, als wir ihnen von der neuen Erkenntnis erzählt hatten.
»Was will er denn mit 200 Geborenen?«, blaffte der Heerführer, als wäre das alles ein Witz. »Selbst mit denen, seinen erbärmlichen Rest-Kriegern und den Gefallenen hat er uns nichts entgegenzusetzen.«
Stumm beobachtete ich Sar, der sich in einen Ohrensessel gequetscht hatte und gelassen an einem Whiskey nippte. Ja, wir hatten hunderte Krieger mehr. Viele hunderte. Aber es war Michael.
»Unsere Armee ist bestens aufgestellt, wir haben ausgebildete Kämpfer, was man von den Geborenen nicht sagen kann, und der Schutzschild um unser Reich ist noch immer erhoben.« Er zuckte mit den Schultern. »Was immer er vorhat, weit wird er nicht kommen.«
Nur Calár, die genauso stumm wie ich blieb, beobachtete Sar nachdenklich. Ihre Augen verengten sich bei jedem seiner Worte mehr. Sie tippte sich ans Kinn, sah aber keinen von uns direkt an. »Das ist merkwürdig.«
Sar zuckte gelangweilt mit den Schultern. »Vermutlich will er nur die Bewohner seines Reiches erhöhen. Er hat ja beinahe niemanden mehr, und ein Reich ohne Bewohner ist nun mal nichts wert.« Er stellte das Glas auf einem Beistelltisch ab und dehnte seine Nackenmuskulatur. »Selbst, wenn er sie in Zukunft zu Kriegern ausbildet, es sind 200.« Dann verdrehte er belustigt die Augen. »Die verspeise ich zum Frühstück.«
Es war erstaunlich, wie ruhig Sariel war. Wäre es nicht Michael, würde ich diese Tatsache vielleicht auch etwas lockerer sehen, aber wir hatten schon mehr als einmal mitbekommen, wozu er fähig war.
»Uns hat schon weniger zu Fall gebracht«, gab ich zu bedenken. Ich trat einen Schritt vor, sodass ich vor Sar und Calár stand. »Was immer er vorhat, wir sollten darauf vorbereitet sein. Wenn Michael die Geborenen nicht als Krieger braucht, dann vielleicht für etwas Größeres als das. Wäre Luc wirklich ... gestorben, dann hätte ihm die gesamte Hölle gehört. Er muss einen Plan haben. Einen Plan, was ... danach passiert.« Mir fielen die Wörter schwer und einige davon blieben in meinem Hals stecken.
Jetzt verstummte Sar, presste die Lippen aufeinander und nickte leicht. »Hast recht, Liebes. Ich glaube dennoch nicht, dass er sie gegen uns verwenden wird. Mit welcher Streitmacht? Luc«, er zeigte auf seinen Herrn, bevor er die Finger ineinander verschränkte und sie auf seinem trainierten Bauch ablegte, »hat seine vollständige Macht. Die Macht von damals. Er allein könnte einmal über sie fegen und der Spuk wäre vorbei.«
»Dazu müssten wir Michael erst einmal finden«, warf Calár ein.
Langsam wandte ich den Blick von den beiden ab. Luc stand zwei Schritte von mir entfernt, lehnte nachdenklich an der Wand und starrte in die Leere. Erst nach einer Weile drückte er sich ab und trat in unseren kleinen Kreis.
»Wenn Michael nicht auffindbar ist, ist das nie ein gutes Zeichen.« Er hob den Kopf und blickte die Wände an, als könne er durch sie hindurchsehen und etwas erkennen, was wir nicht sahen. »Die Stille ist gefährlich. Das war sie bei Michael schon immer.«
Noch immer war seine Haltung zu steif. Als würde die Gefangenschaft in seinen Knochen hängen wie eine mahnende Erinnerung.
»Geht es dir gut?«, fragte ich ihn leise.
Er hob eine Braue und sah zu mir herunter. Seine Augen hatten noch immer diesen scharfen Ausdruck, der sich langsam verflüchtigte, bis er mich schließlich anlächelte und nickte.
Ein Glücksgefühl durchströmte mich und ich lächelte zurück.
»Es wird immer komisch bleiben, wenn ihr zwei in Gedanken miteinander redet«, warf Sar tadelnd ein. »Man fühlt sich so schrecklich außen vor gelassen.«
Lachend drehte ich mich zum Heerführer. »Ich habe ihn nur gefragt, ob es ihm gut geht.«
»Das hättest du ja auch laut aussprechen können.«
»Sei nicht eingeschnappt«, versuchte ich ihn aufzumuntern.
Das half nicht viel, denn er verschränkte schmollend die Arme.
»Werte Anwesende, lasst uns das mit Michael mit ein paar letzten Worten beenden und dann bitte feiern. Wir haben so viel hinter uns.« Calár zeigte auf die Wände des Besprechungszimmers, als seien sie ein Mahnmal für die Kämpfe, die hinter uns lagen. Im Grunde waren sie das auch, denn hier waren wir, als Michael uns nach Jophiels Feier aus dem Wirbel gerissen hatte. Die Theke mit Alkohol hinter uns war jene, an der sich Luc blutend einen Drink eingeschenkt hatte. Am Tisch hatte ich gekauert, als Calár meine Wunden geheilt hatte. Hier war viel passiert und beinahe meinte ich, die Schatten der Vergangenheit durch den Raum laufen zu sehen.
»Die letzten Tage waren grauenhaft. Es ehrt dich, dass du sofort nach dem Rechten sehen möchtest, wirklich. Aber sag uns, was wir tun sollen, und dann beenden wir das Thema.«
»In Ordnung«, lenkte Luc ein und ich hörte ein erleichtertes Schnauben von Calár. »Aktiviere deine Spione in den Höfen. Wenn irgendjemand Michael gesehen hat, müssen wir es erfahren. Sie sollen nicht nur beobachten, sie sollen fragen und ausspionieren. Auch das normale Volk.« Sein Blick wechselte zu Sar. »Und du schickst ein paar deiner Männer zu den Himmelsinseln. Sie sollen jede der 125 Stück absuchen. Auch die verlassenen. Nehmt ein paar Hexen mit, zur Sicherheit.«
»Sie sind noch sehr geschwächt«, gab Calár zu bedenken.
»Sie sollen auch keine Magie wirken. Aber sie sind feinfühliger für selbige. Was immer er vorhat, wir finden es heraus.«
Luc bedachte alles und genau das machte mir Angst. Die Siegel konnten ihm nichts mehr anhaben. Sie hatten ihre Magie verloren. Ebenso wie die erste Klinge. Im Grunde gab es nichts, was Michael tun könnte, um ihn aus dem Weg zu räumen. Er hatte kaum Männer, die Geborenen waren keine Krieger, die Gefallenen hatten keine Flügel und Wirbel, um sie zu uns zu führen, und er konnte sie auch nicht allein erschaffen. Selbst mit Uriels Hilfe könnte er niemals so viele durch den Strudel gehen lassen. Und dennoch schien Luc genau das zu belasten. Ob da noch etwas war?
»Gut, ich werde alles in die Wege leiten«, antwortete Calár. »Aber bitte, solange wir keine Informationen haben, entspann dich etwas. Gerade kannst du sowieso nichts anderes tun.«
Lucs innere Unruhe zerrte an unserer Verbindung. Es war ein unangenehmes Ziehen in meinem Inneren, als würde er meine Hand nehmen und einen Schritt vorwärts laufen, während ich an Ort und Stelle verharren musste.
Vorsichtig öffnete ich die Augen und erkannte, wie er rastlos an der Glasfront zur Terrasse entlanglief. Nach einer Weile blieb er stehen und starrte in den Himmel hinauf.
Der Mond beleuchtete seinen nackten Oberkörper und zeigten mir einmal mehr die unzähligen Namen auf seiner Haut, die von noch mehr Leid begleitet waren.
Lautlos stieg ich aus dem Bett. Meine Hand war bereits auf dem Weg zu seinem Rücken, doch ich hielt mich zurück und zwang meine Finger zu einer Faust, die ich langsam senkte.
»Was beschäftigt dich?« Meine Stimme war leise. Ich hatte Angst, ihn damit aus seiner Starre zu reißen. Angst, dass er gerade lieber allein wäre und noch sehr viel mehr.
Er drehte mir den Kopf zu, hob seine Braue, dann wandte er sich ganz um. Auf seinen Lippen ruhte ein Lächeln. Das tat es immer, wenn er mich ansah. Doch dieses Mal wirkte es trauriger, als er vermutlich beabsichtigte.
»Mein gesamtes Leben wurde von Krieg überschattet«, begann er heiser. »Wenn sich jeder Tag danach anfühlt, sehnt man sich nach ... Ruhe.«
Ich konnte seine Worte verstehen, konnte alles nachvollziehen. Meine bisherige Zeit im Himmel war kurz und dennoch gab es nur wenige Tage, an denen ich nichts tat, nicht meine Magie suchte, nicht trainierte, nicht gegen die Dämonen ankämpfte. Wann hatte ich nicht den Angstschweiß im Nacken gespürt oder musste nicht damit rechnen, umgebracht zu werden?
Aber ich lebte erst seit ein paar Monaten im Himmel und hinter mir war keine gesamte Engelschar her wie hinter Luc. Er kämpfte nicht nur gegen eine Person, sondern im Prinzip gegen alle. Die Himmelswelt war gegen ihn. Egal, wie lange der erste Himmelskrieg zurücklag, sie würden ihn immer bekämpfen wollen. Wenn sich jeder Tag nach Krieg anfühlte, konnte ich mir gut vorstellen, wie sehr man sich ein ruhigeres Leben wünschte.
»Wir bekommen diese Zeit.« Ich lächelte in Gewissheit. »Das verspreche ich dir. Wir werden sie bekommen.«
Mein Gefährte sah mich lange an. Gleichzeitig rauschten dutzende Gefühle durch unsere Verbindung. Angst davor, was kommen wird, Liebe, Verzweiflung, Zuversicht und alles dazwischen. Und dann war die Was-wenn-nicht-Frage auf seinen Zügen. Eine Frage, die ich ihm nicht beantworten konnte oder wollte. Ich wollte nicht einmal daran denken oder die Worte durch meinen Kopf rauschen lassen, denn es gab noch Hoffnung. Die würde es immer geben.
»Erinnerst du dich an das Fest mit den Nordlichtern?« Er kam mir näher, seine Hände fuhren über meinen Rücken, seine Wange legte sich an meine.
Ich schloss die Augen bei dieser Berührung, ließ meine Finger über seine nackte Brust wandern und hauchte ihm zu: »Wie könnte ich das vergessen?«
Er lächelte. »Damals habe ich dir gesagt, man verbringt den Abend nur mit der Person, die einem Hoffnung gibt.« Bedacht zog er den Kopf zurück, damit er mir tief in die Augen blicken konnte. »So ist es noch heute und so wird es immer sein. Du bist meine Hoffnung, aus Millionen von Gründen.«
Mein Lächeln wurde breiter, strahlender. Vorsichtig löste ich mich aus seiner Umarmung, ging einen Schritt rückwärts und hielt ihm meine Hand entgegen.
Zuerst sah er zu ihr hinunter und als er aufblickte, veränderte sich mein Lächeln. Ich deutete mit dem Kopf auf das Bett, doch er ergriff sie nicht, sondern lief auf mich zu, hob mich an und schob sich mit mir auf die Matratze.
Kapitel 4
Am nächsten Morgen war ich mit Sar zum Training verabredet und wünschte, ich hätte abgesagt, denn sein Schlag traf mich unvorbereitet und ich landete schon wieder keuchend auf dem Boden.
Jammernd seufzte ich dem wolkenlosen Himmel entgegen und spürte einen brennenden Schmerz von der Schulter bis in den Daumen hinein. Warum tat ich mir das eigentlich an?
»Deine linke Seite ist immer noch schwächlich.«
Zur Antwort hob ich den Mittelfinger, mit dem linken Arm natürlich, was Sar ein glucksendes Lachen entlockte. Neuerdings griff er mich mit Absicht immer nur auf meiner schwachen Seite an. Mein linker Arm und dessen Muskeln waren nicht so ausgeprägt wie rechts, und das kostete er genüsslich aus.
»Stemme ein paar Holzscheite, dann zittert dein Arm beim nächsten Mal nicht so.« Er stellte sich über mich und grinste mich schief an.
»Freu dich nicht zu früh«, antwortete ich ihm, traute meinem Körper aber noch nicht zu, mich auf die Beine zu hieven.
Seine Geschwindigkeit war nicht von dieser Welt und langsam zuckte mein kleiner Finger. Ich spürte ihn kaum noch, so oft hatte ich heute meine Fäuste und meine Klinge gegen ihn eingesetzt. Meine Knöchel waren trotz der Bandagen aufgeschürft und mein Rücken ... Gott, der Schmerz zog bis in meine Schädeldecke.
»Nächstes Mal binde ich dir den rechten Arm hinter den Rücken und wir trainieren nur deine Linke.«
Ich grummelte zur Antwort, was vielleicht auch einem Grunzen glich, denn ich rollte mich zur Seite, trieb mich auf die Beine und ging in Kampfstellung. Meine Beine brannten mittlerweile wie Feuer und jeder Muskel meines Körpers wollte sich widersetzen, noch einmal anzugreifen. Aber ich hatte mir nach Michaels ersten Angriff vor dem Verlies geschworen, mich nie schwach zu fühlen. Das Training mit Sar war eine Qual, aber es würde mir helfen, irgendwann gegen einen Erzengel ankommen zu können. Und das selbst dann, wenn meine Magie versagen sollte. Aber zusammen mit der Magie der Seraphs wäre ich kein leichter Gegner mehr für ihn. Nie wieder! Das konnte ich schaffen, egal wie oft mich Sar verprügelte. Irgendwann würde ich auch ihn treffen. Außerdem tat es nach allem, was ich hatte durchstehen müssen, gut. Ich konnte kreischen und schlagen, angreifen und blocken, und jeder Schlag zerrte die schlimme Erinnerung etwas von mir weg.
Ich atmete stockend in die Nase ein und sah kurz zu Calár, die etwas abseits von uns stand und unser Kampftraining beobachtete. Sie sagte, sie wäre nur hier, um meine Fortschritte zu sehen. In Wahrheit aber hatte sie wohl Angst, Sar könnte mir aus Versehen einen Arm abhaken.
Aber da war noch etwas anderes. Mir entging nicht, dass sie den Truppenanführer immer wieder ansah. Wann immer sie sich unbeobachtet fühlte, ruhte ihr Blick auf ihm. Damals auf Jophiels Feier war es genau andersherum gewesen. Sar hatte sie nicht einmal aus seinem Blick gelassen. Ganz besonders nicht, wenn ein männlicher Engel in ihrer Nähe war. Seine Muskeln waren zu jeder Sekunde angespannt gewesen. Erst recht, wenn unsere Heilerin sich an einige Anführer schmiegte, um mehr Informationen zu bekommen. Dann hatte sich zusätzlich die Ader an seinem Hals aufgepumpt. Einige Stunden später hatte er mit einer schönen Frau getanzt, um Calárs Aufmerksamkeit zu erregen, doch sie hatte nicht einmal hingesehen. Was immer da zwischen den beiden vor sich ging – weder Sar noch sie redeten darüber.
»Du hast mir befohlen, nicht zimperlich zu sein, Eure Hoheit.« Lässig ließ Sar das Langschwert in seiner Hand kreisen, schob sich mit einer Verbeugung in mein Sichtfeld und setzte einen Fuß seitlich neben den anderen. Er grinste mich dabei so frech an, dass ich die Zähne fletschte. Er war nicht einmal außer Puste, während ich immer noch zu stark japste.
Tief einatmend reckte ich das Kinn, konnte mir das Lachen aber nicht verkneifen. Eure Hoheit. »Das sollst du auch nicht.«
»Dann will ich kein Gejammer hören.« Mit diesem Satz hechtete er auf mich zu.
Ich duckte mich unter seinem Angriff, schleuderte ihm mein Licht entgegen, was ihn zurücktaumeln ließ und das von den Wänden des Innenhofes zurückgeschleudert wurde, umerneut gegen Sar zu stoßen. Inzwischen war ich mit der Kombination aus meiner Magie und einer Klinge besser geworden. Und ich konnte die Wirbel annähernd beherrschen. Nicht weit, nur ein paar Meter, aber ich wurde besser!
Und so schmiss ich mich in einen Wirbel, gab mich hinter Sar frei und rammte ihm meinen Fuß in den Rücken. Er taumelte vorwärts, konnte sich aber fangen und wirbelte mit gezogener Klinge zu mir herum.
In dieser Sekunde machte ich einen Satz nach hinten, sodass mich die Spitze nur knapp verfehlte, dann holte ich aus, schmiss ihm erneut meine Magie entgegen. Dieses Mal heftiger, sodass er keuchend auf dem Boden landete. Bevor er sich zur Seite wegrollen konnte, hechtete ich nach vorn und drückte ihm gespielt lässig die Klinge unter die Kehle.
»Das hab ich schon mal besser gesehen.«
Ich schnaufte, japste heftig nach Luft und konnte nicht überspielen, wie kaputt ich war. Aber das spielte keine Rolle, denn ich hatte ihn das erste Mal besiegt. Mit Schnelligkeit und Wendigkeit!
Sar grinste mich unter mir kess an und ich senkte meine Waffe lächelnd. Die Genugtuung müsste aber dennoch auf meinem Gesicht hängengeblieben sein. Ich. Hatte. Ihn. Besiegt!
Sars Blick ruhte auf meinen nach oben gezogenen Mundwinkeln. »Du bist so eine schreckliche Gewinnerin! Und gehässig obendrein«
»Besser als ein schlechter Verlierer zu sein, oder?« Ich zwinkerte ihm zu.
Sar lag noch immer auf der Wiese, drückte seine Hand gespielt schmerzvoll gegen seine Brust und jammerte theatralisch. »Noch immer so brutal.«
Lachend reckte ich ihm meine Hand entgegen, die er feindselig anstarrte. »So weit kommt es noch. Ich wurde gerade von der Hoheit besiegt. Wie erniedrigend. Da lass ich mir doch nicht noch aufhelfen.«
Links von uns hörte ich Calár kichern. Sie hatte sich auf dem Boden niedergelassen und versteckte ihr Lachen sofort hinter der Hand, als sie unsere Blicke bemerkte.
»Na wunderbar«, quengelte Sar weiter und wir gesellten uns zu der schönen Hexe.
Die Sonne stand hoch oben am Himmel, brannte auf uns hinunter, es roch nach Sommer und ein seichter Wind blies durch die Pflanzen auf dem Übungsplatz. In dieser Schönheit könnte man beinahe vergessen, was alles hinter uns lag.
»Es tut gut, einen Tag lang nicht über Krieg zu reden, findet ihr nicht?«, begann Calár.
Jetzt schlich sich ein schlechtes Gewissen in mich hinein, da ich genau über das nachgedacht hatte.
»Ja«, Sar holte tief Luft, »es soll ja noch so etwas wie ein normales Leben geben.«
Calár lachte. Ich würde auch gern lachen, das Leben genießen und alles, was passiert war, vergessen – doch ich konnte nicht. Vielleicht, weil ich wusste, dass der Krieg noch kommen würde. Ganz sicher. Es war noch lange nicht vorbei. Und vielleicht, weil Luc so betrübt war. Er war mein Seelengefährte. Was er fühlte, fühlte auch ich. Vor allem jetzt, nach seiner Wiederauferstehung. Wenn er nachdenklich war, war es auch ich, und so konnte ich sicher sagen, dass er gerade nicht glücklich war.
Einige Momente beobachtete ich die beiden, wie sie miteinander sprachen und lachten. Calár wirkte an Sars Seite so gelöst und fröhlich. Natürlich behielt sie stets ihre Eleganz und Erhabenheit, aber sie wirkte ... glücklich. Auch, wenn sie wahrscheinlich nie eine ausgelassene Person sein würde. Eigentlich waren sie und Sar sogar sehr unterschiedlich. Da fiel mir auf, dass ich über die Zwei eigentlich gar nicht so viel wusste. Wir hatten schlimme Zeiten zusammen durchgestanden, aber die grundlegenden Dinge wusste ich nicht.
»Calár«, unterbrach ich die beiden.
Sie blickte mich mit einem Lächeln an und erneut fiel mir auf, wie atemberaubend schön sie war. Nicht einmal Jophiel war so anmutig wie sie. Wobei diese auch noch einen widerlichen Charakter hatte.
»Mir ist aufgefallen, dass ich gar nicht so viel über euch weiß.«
»Oh, Liebes. Du weißt mehr, als uns lieb ist«, sprang Sar ein.
»Ach ja?«
Er zuckte mit den Schultern. »Klar. Du hast gesehen, wie Michael mir die Beine gebrochen hat. Das ist mir immer noch peinlich.«
»Nichts davon braucht dir peinlich zu sein.«
Ich beobachtete, wie Calár ihre Hand auf Sars legte, sie aber sofort zurückzog, als hätte sie ein Blitz durchzogen. Auch Sar starrte darauf, verkrampfte den Kiefer und die heitere Stimmung wechselte in unangenehmes Schweigen.
Ich rieb mir über den Nacken. Bei allen Göttern, die beiden mussten unbedingt miteinander reden. Bevor es noch unangenehmer wurde, griff ich das Thema wieder auf. »Sie hat recht. Daran gibt es nichts Peinliches.« Ich zog die Lippen zusammen und nickte, um meiner Aussage Nachdruck zu verleihen.
Das allererste Mal erkannte ich auf Sars Gesicht wirkliche Scham. Er war der Kommandant, befehligte unsere Armee und war wohl der beste Krieger in diesem Hof. Dass er nicht gegen Michael hatte bestehen können, fraß ihn offensichtlich auf. Ich verstand dieses Gefühl. Mir ging es ähnlich, als der Erzengel mich vor dem Verlies verprügelt hatte. Es war ekelhaft zu versagen. Erst recht, wenn so viel davon abhing.
»Wollten wir nicht einen Tag lang nicht über die Vergangenheit reden?«, fragte uns Calár etwas leiser. »Es reicht doch schon, dass Luc gestern nicht mehr mit uns feiern wollte und immer dieses Gesicht zieht.« Sie zog die Mundwinkel übertrieben nach unten und nahm eine starre Haltung an. »So hat er nicht mehr geschaut, seit du an Uriels Hof gelebt hast.«
»Stimmt«, warf Sar ein, dann traf sein Blick mich. »Unsere kleine Wandlerin hat den Teufel ziemlich verzaubert.« Er grinste mich mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Sorge um seinen Herrscher an.
Ich schnaufte. Wie könnte ich Luc die Dunkelheit nehmen, in der er gerade war? Und in der ich noch immer gefangen war?
»Ihr habt Recht«, antwortete ich ihr schnell und versuchte mich an einem freudigerem Thema: »Erzählt mal, lieber dunkle oder helle Schokolade?«
»Helle.«
»Dunkle, natürlich.« Das kam von Sar.
Ich musste lächeln. »Okay, Tag oder Nacht?«
»Nacht.« Auch das kam vom Heerführer.
»Wie kann man denn die Nacht bevorzugen, wenn der Tag viel schöner ist?«
Sar blickte Calár entsetzt an. »Du magst den Tag lieber? Was willst du denn damit?«
»Na ja, mich mit anderen unterhalten, die Sonnenstrahlen und das Treiben in der Stadt genießen zum Beispiel?«
Sar pfiff belustigt. »Ich bin froh, wenn ich mal ein paar Minuten meine Ruhe habe.«
Da waren Sar und ich uns einig. Mir war die Nacht auch lieber, wenn das Leben leiser wurde und ich die Sterne zählen konnte. Alles wirkte so friedlich, wenn es dunkel und still war.
»Wo ist eigentlich der Boss?«, riss Sar mich aus meinen Gedanken. »Ich hab ihn seit gestern nicht gesehen.«
Ich seufzte. »Er muss sich heute um die Angelegenheiten am Hof kümmern. Eine weitere Schmiede errichten lassen, Bewässerungssysteme ausbauen und den Schild verstärken. Das sind zumindest die Dinge, die ich auf seiner Agenda lesen konnte.«
Sar schüttelte sich, als würde ihm allein die Aufzählung der öden Büroarbeit einen kalten Schauer bescheren. »Und du bist nicht dabei?«
Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Er sagte, ich solle lieber trainieren.« Vielleicht brauchte er aber auch ein wenig Abstand, um mit alldem, was passiert war, klarzukommen. Diesen Gedanken behielt ich jedoch für mich.
»Ewig kannst du dich vor der Verantwortung aber nicht drücken. Ein Reich will auch regiert werden«, warf Calár ein. »Und du wusstest sehr genau, was auf dich zukommt, wenn du an Lucs Seite sein wirst.«
Und wieder seufzte ich: »Ja, ich weiß. Das nächste Mal bin ich dabei. Versprochen.«
»So, genug der Schuldzuweisung. Wie wäre es, wenn wir heute endlich in die Bar gehen und Lucs Wiederauferstehung feiern?«, Sars Stimme quietschte beinahe vor Vorfreude. Ob seine Trübsinnigkeit von vorhin dadurch wirklich verschwunden oder ob es nur Show war, konnte ich nicht ganz einschätzen. Tatsächlich vermutete ich aber das Letzte.
Calár grinste. »Eine großartige Idee. Das haben wir schon ewig nicht mehr getan.«
»Ihr wart früher öfter in den Bars?«
Sie nickte. »Ziemlich oft sogar. Und Sar kennt sich bestens mit Cocktails aus.«
Der Kommandant grinste von einem zum anderen Ohr. »Hör auf die Dame. Wir treffen uns also, sobald es dunkel wird?« Sar zog erwartungsvoll die Brauen nach oben. »Und bring ihn mit.«
Kapitel 5
Stöhnend ließ ich mich in das heiße Wasser in der Badewanne gleiten und kleine Wellen schwappten mir bis unter das Kinn. Obwohl die Wärme guttat, brannte jeder noch so kleine Muskel durch Sars Training. Meine Knochen, meine Sehnen, einfach alles schmerzte.
Aber auch die Anstrengung von Lucs Befreiung zehrte noch immer an meinen Kräften.
Ich brauchte Ruhe. Dringend. Seit meiner Unsterblichkeit schlief ich nicht mehr wie früher. Dennoch, ich war kein Engel. Nicht einmal im Ansatz – und brauchte gelegentlich einfach eine Pause. In letzter Zeit schaffte ich es jedoch kaum, mir die notwendige Erholung zu verschaffen, obwohl ich unendlich erschöpft war.
Lange atmete ich aus und ließ mich tiefer in das Wasser gleiten. Calár hatte mir einen Badezusatz aus Kiefernnadeln, Lavendel und anderen Blumen bringen lassen. Der Duft erfüllte das gesamte Badezimmer und drang tief in meine Lunge. Mit jedem Atemzug entspannten sich meine Glieder ein wenig und mein Innerstes wurde ruhiger, sodass ich lange die schwarze Decke über mir anstarrte, ohne sie wirklich zu sehen.
Der wirbelnde Dunst erinnerte an einen farblosen Wirbel. Die Wirbel, deren schillernde Gegenstücke ich noch immer nicht beherrschen konnte. Es zu versuchen, tat weh. Der Schmerz brannte durch meine Venen wie kochendes Gift. Wie Luc das ohne Regung schaffte, war mir ein Rätsel. Nicht einmal seine Augenlider zuckten. Er bewegte nur einen Finger und das Universum kniete vor ihm nieder. Mich lachte es aus.
Nachdem ich eine Ewigkeit in der Wanne verbracht hatte, stand ich jetzt in einen dünnen cremefarbenen Morgenmantel gehüllt vor der Glasfront zur Terrasse. Die Sonne ging allmählich unter, legte sich blutrot über den schwarzen Stein, und bald schon müsste ich in die unterste Etage gehen, um ein paar Cocktails mit den beiden zu trinken. Ich freute mich auf ein paar Stunden Frieden, aber mein Körper würde sich noch viel mehr über eine Matratze freuen. Die weichen Kissen und die kuschlige Decke riefen meinen Namen.
»Da bist du ja«, hörte ich Luc in meinen Gedanken.
Mir kroch ein wohliger Schauer über den Rücken. Die schwarzen Nebelschwaden, die über den Boden tanzten, zeigten mir, dass er hinter mir war, doch ehe ich mich zu ihm umdrehen konnte, umarmte er mich.
Ich lehnte meine Schläfe gegen seinen Hals und genoss jeden einzelnen Moment; jede Sekunde, jede Berührung.
»Hast du mich gesucht?«
»Mhm«, brummte er gegen meinen Hals. »Eigentlich wollte ich dich fragen, wie das Training läuft, aber du riechst nach Blumen und das lenkt mich etwas ab.«
Ich musste lachen. »Macht dich dieser Geruch an?«
»Wenn du danach riechst«, er zuckte mit den Schultern, »dann ja.«
Ich drehte mich in seinen Armen, sodass ich ihn sehen konnte. Noch immer lag ein Lächeln auf meinen Lippen, während meine Augen unnachgiebig sein Gesicht abfuhren. Er wirkte ausgelassener als gestern. Nicht mehr so steif und die Härte in seinen Augen war weniger.
Ich verlor mich in seinen traumhaften Iriden, fuhr gleichzeitig mit dem Zeigefinger über seine Wange und konnte es trotz der zwei Tage noch immer nicht fassen, ihn bei mir zu haben.
Sein Blick wanderte zu meinen Lippen. Unsere Verbindung rauschte, als versuchte er, noch mehr herauszufinden, als ich ihm mit Worten sagen konnte. »Wenn du mich mit diesem intensiven Blick ansiehst, kann ich mich schwer unter Kontrolle halten.«
Ich ließ die Zunge zwischen den Zahnreihen hervorblitzen, was ihn leise fluchen ließ. Ohne Vorwarnung schälten sich seine Schwingen aus dem Rücken und legten sich schützend um uns. Eine lange Zeit sah ich sie an, saugte jede Feder, jede Dunkelheit, die von ihnen ausging, in mein Gedächtnis auf. Sie waren so wunderschön und genauso tintenschwarz wie sein Blut. Vorsichtig hob ich die Hand und fuhr über sie. Sie fühlten sich zart, beinahe zerbrechlich an. »Fühlst du jede Feder?«, fragte ich ihn leise.
Ich spürte ihn nicken und eine Gänsehaut rann seine Arme hinab, als ich meine Finger weiter wandern ließ. »Jede Einzelne.«
Langsam hob ich den Kopf. Mein Herz raste bei seinem Anblick und ich spürte die Schmetterlinge in meinem Bauch. Ob das jemals aufhören würde?
Seine Schwingen zuckten.
»Ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie es sich anfühlt, deine Flügel wieder zu haben.«
Luc senkte den Kopf, sodass sein Gesicht direkt vor meinem war. Ich spürte seine Wärme auf meiner Haut und die Hand, die er sanft über meinen Rücken wandern ließ.
»Es ist ungewohnt. Noch immer. Ich habe ganz vergessen, welches Gewicht sie haben.«
Bevor ich begriff, was er vorhatte, hob er mich auf seine Arme, stieß die Glastür mit dem Fuß auf und trieb uns beide in die Lüfte.
»Was machst du denn da?«, quiekte ich lachend und schlang die Arme um ihn.
Der Wind peitschte an unseren Seiten entlang, seine Flügel donnerten durch die Luft, bis er seinen Auftrieb stoppte und uns mit regelmäßigen Flügelschlägen auf einer Höhe hielt.
Ich klammerte mich an seinen Nacken und folgte seinem Blick. Er war auf sein gigantisches Reich unter uns gerichtet. Die Lichter der Stadt strahlten zu uns hinauf, wirkten wie tausende Sterne in tiefschwarzer Dunkelheit. Genauso hatte ich vor vielen Monaten sein Reich das erste Mal gesehen. So viel hatte sich seither verändert. Es war nicht mehr nur sein Reich, sondern auch meines. Unseres. Und obgleich ich es jeden Tag von der Terrasse aus überblicken konnte, war es hier oben etwas anders.
Lächelnd wandte ich den Blick von den Lichtern ab und suchte Lucs Augen. Er hatte noch immer dieses diabolische Grinsen auf dem Gesicht.
Misstrauisch legte ich den Kopf schief. »Du hast doch nicht vor ...«
»Und ob ich vorhabe.« Mit diesem Satz wirbelte er mich in der Luft herum, sodass ich meine Beine um sein Becken schlang und er bereits begann, meinen Hals mit Küssen zu bedecken.
Meine Hände fuhren über seinen Rücken bis zu seinen Schulterblättern, aus denen seine Schwingen ragten. Seine Muskeln tanzten und die Kraft, die seine Flügel hatten, war überwältigend. Sie durchschlugen die Luft, spannten sich gigantisch um uns und blendeten die Welt aus.
Jeder Kuss, den er auf meiner Haut hinterließ, kribbelte. Abertausende Schmetterlinge durchzogen meinen Bauch und ich bekam eine allumfassende Gänsehaut.
»Du riechst so gut«, raunte er und die bloße Vibration seiner Stimme ließ mich trotz geschlossener Lider Sterne sehen.
Stöhnend legte ich den Kopf in den Nacken, als seine Hand unter meinen Morgenmantel glitt, und schielte hinunter zur Stadt. »Sie werden uns sehen.«
Er löste nur kurz seine Lippen von meinem Hals. »Sollen sie.«