Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Kurz nach dem Abitur erfährt Meduse, dass sie von einer ominösen Großtante ein Haus auf der abgelegenen Atlantikinsel St. Pierre & Miquelon geerbt hat. Abenteuerlustig reist sie hin. Doch der Empfang dort ist kühl, die Bewohner sind abweisend. Eine Freundin findet sie nur in Maddy, der Wirtin des Café de la Gare. Auch deren Sohn Frank gefällt ihr sehr. Und eine alte Frau namens Bertanne begegnet ihr, die erstaunlich viel über sie zu wissen scheint. Die Insel birgt Geheimnisse, von denen die junge Frau nichts ahnt. Fremde kommen und gehen. Und im Meer gibt es eine dunkle Stelle, an der sich das Wasser auf merkwürdige Weise verwirbelt. Eines Tages taucht ein Italiener mit seinen zwei Bodyguards auf. Als er sich für die Insel interessiert wird es brenzlig. Wer ist Freund und wer Feind? Glaubt Meduse den falschen Leuten? Und kann sie am Ende auf sich selbst vertrauen? Meduse braucht ihren ganzen Mut, um sich im Strudel der Ereignisse zurechtzufinden.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 264
Veröffentlichungsjahr: 2020
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rotraut Mielke
Die letzte Zuflucht
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
41.
42.
43.
44.
45.
46.
Impressum neobooks
Die letzte Zuflucht
Roman von
Rotraut Mielke
Zur Autorin:
Rotraut Mielkes bevorzugtes Genre sind locker geschriebene Geschichten mit viel Humor. Doch sie kann auch anders.
‚Die letzte Zuflucht‘, ihr sechster Roman, ist ein Thriller, bei dem sich die Spannung von Seite zu Seite steigert und das Ende nicht vorhersehbar ist.
Die gebürtige Frankfurterin lebt in Friedberg/Hessen.
Weitere Bücher von Rotraut Mielke:
Rentner-WG
Rentner-Disco
Herrengolf und andere Irrtümer
Windstärke 4 mit leichter Dünung
Das blutige Buch
(unter Pseudonym Sam R. Milekey)
Mehr Informationen finden Sie unter www.Rotraut-Mielke.de
Impressum:
Texte: Rotraut Mielke
Titelfoto: Peter Brandt
Lektorat: Ute Hamann
Die Handlung dieses Romans sowie alle Personen, die darin vorkommen, sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Personen oder Vorkommnissen wären rein zufällig.
St. Pierre & Miquelon ist eine Inselgruppe in der Nähe von Neufundland. Auch hier wären etwaige Ähnlichkeiten mit örtlichen Gegebenheiten rein zufällig.
1.
Das Boot hatte keine Positionslichter gesetzt. Nur das Motorengeräusch verriet, dass es sich der Insel näherte. In einen schweren, dunklen Umhang gehüllt hatte die Frau am Ufer ausgeharrt. Als das Geräusch lauter wurde, stand sie auf. Sie entzündete eine Sturmlampe, hob sie hoch und schwenkte sie hin und her. Sofort wurde der Motor gedrosselt, und das Boot hielt auf sie zu. Dann erstarb das Geräusch. Es war nichts zu hören außer dem leisen Klatschen des Wassers. Die Frau stellte die Lampe auf einem Felsen ab und ließ sich auf den schmalen Streifen Sand hinuntergleiten, der die Klippe vom Meer trennte.
„Hallo?“ Die Männerstimme klang gedämpft.
„Hier!“, antwortete sie ebenso leise.
Knirschend schob sich der Rumpf des Bootes auf den Sand, und ein Mann sprang heraus. Mit schweren Schritten kam er auf sie zu. Erst als er direkt vor ihr stand, knipste er eine Taschenlampe an. „Ein Mann und eine Frau.“
Sie drehte sich weg, damit der Lichtstrahl nicht ihr Gesicht traf. „Ja, richtig.“
„Wie immer?“, fragte er und streckte fordernd die Hand aus.
Sie gab ihm einen gut gefüllten Umschlag. „Beeilt euch!“
Er prüfte den Inhalt und nickte zufrieden. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus. Nacheinander kletterten zwei Gestalten aus dem Boot. Jede trug eine Tasche bei sich.
„Ein bisschen schneller! Ich hab noch einen langen Rückweg.“ Ungeduldig schaute der Mann zu, wie die beiden ans Ufer wateten.
Die Frau half ihnen auf den Felsen hinauf. Dann hob sie die Hand. „Bis bald!“
Der Mann drehte sich um und verschwand. Kurz darauf wurde der Motor angelassen. Sofort verschluckte die Dunkelheit die Umrisse des Bootes. Dann war es wieder still.
Reglos standen die beiden Menschen da, ihre Taschen umklammert. Die Frau trat näher an sie heran. „Das muss sein“, murmelte sie, während sie die Ankömmlinge von oben bis unten abtastete.
„In Ordnung.“
„Wo sind wir hier?“, flüsterte der Mann.
„Sie sind auf französischem Hoheitsgebiet“, kam die Antwort.
Die Frau stellte die Sturmlampe in eine vom Meer ausgewaschene Höhlung und drehte an einem Knopf. Das Licht erlosch. Aus ihrer Tasche holte sie eine starke Taschenlampe und richtete den Lichtkegel auf die unebene Grasfläche vor sich. „Wir haben einen langen Fußweg vor uns. Passen Sie auf, dass Sie nicht stolpern.“
Ohne eine Antwort abzuwarten wandte sie sich zum Gehen.
Der Brief war eine echte Sensation. Die Postbotin, sonst eher kurz angebunden, konnte ihre Neugier kaum zügeln. „Der kommt aber von weit her“, bemerkte sie und überreichte Meduse einen Umschlag. Aber sie wartete vergeblich auf eine Antwort. Nach einem knappen „Danke“ wandte sich das Mädchen ab. Enttäuscht schaute die Postbotin ihr nach. Was für ein merkwürdiges Ding sie war, diese schwarzen Haare, und immer so düster angezogen. Dabei hätte sie ausgesprochen nett aussehen können, groß und schlank wie sie war.
Gut konnte sich die Postbotin noch daran erinnern, wie das Mädchen als Baby ausgesehen hatte. Flammend rote Haare. Und dazu seltsame grüne Augen, die einem bis in die Seele zu schauen schienen. In dem kleinen Ort im Odenwald hatte es über Wochen kein anderes Thema gegeben. Man raunte von einem Wechselbalg. Sogar der Pfarrer hatte sich bekreuzigt, als er sich über die Wiege beugte. Das Mitleid galt dem Vater, dem Herrn Professor Brunner. Aber das kam davon, wenn man eine heiratete, die nicht von hier war.
Meduse kümmerte sich nicht weiter um die Postbotin. Neugierig betrachtete sie die fremden Briefmarken und einen Absender, der Rätsel aufgab. ‚Jean-Baptiste Legrand, Advocat‘. Sie hielt den Umschlag eine Weile in der Hand, bevor sie ihn öffnete. Das Schreiben war in Französisch abgefasst, einer Sprache, die ihr keine Mühe machte. Sie war zweisprachig aufgewachsen, wofür sie Sophie, ihrer französischen Mutter, dankbar war.
Es war eine amtliche Nachricht. Der Notar Jean-Baptiste Legrand schrieb, dass sie, Meduse Brunner, die alleinige Erbin ihrer verstorbenen Großtante, einer gewissen Antoinette Crédel, sei. Er teilte sein tiefes Mitgefühl über das Ableben der sehr geschätzten Dame mit und bat um baldige Entscheidung, ob sie gewillt sei, das Erbe anzunehmen.
Meduses Herz trommelte wild. Sie setzte sich auf die Bank vor dem Haus, um jedes Wort noch einmal genau zu lesen. Dann starrte sie eine Weile auf die Beete mit Blumen und Kräutern, der ganze Stolz von Maman, wie sie ihre Mutter nannte. Die hatte immer gesagt, dass es niemand mehr gab aus ihrer Familie. Das war eine Lüge gewesen.
Wenig später machte sie sich auf den Weg zu dem kleinen Waldsee. Sie wusste, dass das ihrer Mutter nicht gefallen würde. Maman hatte schon immer versucht, sie vom Wasser fernzuhalten. Aber es war ihr nicht gelungen.
Das Gewässer lag versteckt in einem Seitental. Für Meduse gab es nichts Schöneres als sich im Wasser zu bewegen. Es war ihr Element. In dem grünlichen Zwielicht fühlte sie sich leicht und schwerelos. Auch heute glitt sie mit tanzendem Herzen in den See, der sie warm umfing. Mit offenen Augen tauchte sie zum Grund und schaute zu, wie die langen Bänder der Wasserpflanzen sich träge bewegten. Dann schob sie sich wieder nach oben und ließ sich treiben. Sie blinzelte hinauf zur Sonne, und ihre Gedanken flogen.
Das Abitur war vorbei, die Schulzeit endlich zu Ende. Schon immer hatte sie sich nach Freunden gesehnt. Aber sie stach heraus mit ihrem Aussehen und ihrer Art. „Hexe“ hatten die Kinder ihr nachgerufen, und die großen Jungen hatten sie an ihren langen, roten Haaren gezogen. Sie war davongerannt, hatte niemand gezeigt, wie weh es tat. Trotzig hatte sie dem Blick des Vaters standgehalten, als sie eines Tages mit kurzen, schwarz gefärbten Haaren nach Hause kam. Von da an hatte sie sich tief über ihre Bücher gebeugt und alle in ihrer Klasse dumm aussehen lassen.
Jetzt genoss sie die Zeit des Nichtstuns. Und während ihre Eltern nach Möglichkeiten für ihre Zukunft suchten, machte sie selbst sich keine Gedanken darüber. Sie hatte das sichere Gefühl, dass etwas auf sie zukommen würde ganz ohne ihr Zutun. Aber sie sprach nicht darüber.
Nun war dieser Brief gekommen. Er war der Schlüssel zu allem, da war sie ganz sicher. Allerdings würde es nicht einfach sein, die Eltern zu überzeugen. Es brauchte einen kühlen Kopf. Und sie musste ihre Trümpfe gut ausspielen.
Beim Abendessen ließ sie die Bombe platzen.
„Tante Antoinette ist gestorben“, sagte sie wie nebenbei, während sie ihre Mutter genau beobachtete.
Sophie zuckte zusammen und starrte sie an. „Woher weißt du das“, fragte sie mit rauer Stimme.
Meduse stand auf und holte den Brief aus ihrem Zimmer. Als sie zurückkam, fand sie ihre Eltern miteinander tuscheln.
„Meint ihr nicht, dass ihr mich beteiligen solltet an eurem Gespräch? Es sieht so aus, als hätte mich diese Tante zu ihrer Erbin eingesetzt. Ich würde sehr gerne wissen, wer sie war.“ Kämpferisch schob sie ihre Unterlippe vor.
Ihre Mutter sah blass aus. Hatte der Tod der Tante sie so mitgenommen oder die Tatsache, dass Meduse jetzt von ihrer Existenz wusste?
„War sie das schwarze Schaf in deiner Familie?“, bohrte Meduse. „Und wo ist das eigentlich, St. Pierre et Miquelon?“
Sie vermutete Inseln in der Karibik. Das war die einzige Gegend, in der Frankreich noch Kolonien hatte, soweit sie wusste.
Sophie streckte wortlos ihre Hand nach dem Umschlag aus. Meduse überließ ihn ihr bereitwillig.
„Kennst du diese Tante auch?“, wandte sie sich an ihren Vater, der sein Besteck beiseitegelegt hatte. „Ich dachte, Maman hat keine Familie. Jedenfalls habt ihr mir das immer erzählt.“
Meduse war entschlossen, die Fährte zu verfolgen, bis sie auch das letzte Detail herausgepresst hatte. Wieder suchte sie den Blickkontakt zu ihrer Mutter, aber die schaute wortlos auf das Schreiben des Notars, als könne sie den Inhalt nicht fassen. Die Stille wurde unbehaglich.
„Sophie?“ Stefans Stimme klang gefährlich ruhig.
Die Mutter hatte sich wieder gefasst und zuckte mit den Schultern, als wäre das Ganze eigentlich nicht der Rede wert.
„Das hatte ich völlig vergessen. Ja, meine Tante. Sie ist vor vielen Jahren weggegangen, und niemand wusste, wohin es sie verschlagen hat.“ Sie legte nachdenklich einen Finger an ihren Mund. „Sie muss schon sehr alt gewesen sein.“
Wieder studierte sie das amtliche Schreiben, und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „St. Pierre also. Das Meer hat sie weit getragen.“
Sie legte den Brief beiseite und griff nach Messer und Gabel.
„Du willst doch jetzt nicht einfach weiteressen?“, fragte Meduse fassungslos.
„Wir reden nachher darüber“, beendete ihr Vater die Diskussion.
Mühsam riss sich Meduse zusammen und begann, das Essen in sich hinein zu schlingen.
Endlich war der Tisch abgeräumt, und Stefan saß in seinem bequemen Sessel im Wohnzimmer. Sophie stellte ein Tablett mit drei Espressotassen auf den Tisch und setzte sich auf die Couch, wie sie es jeden Abend tat.
Meduse konnte ihre Anspannung kaum noch zügeln.
Unverhofft erwies sich ihr Vater als Verbündeter. „Also, wer war diese Tante? Und wenn nicht bekannt war, wo sie lebte, woher wusste sie dann von Meduse? Und wieso hat sie unsere Tochter als Erbin eingesetzt?“
Soweit hatte Meduse noch gar nicht gedacht. Ihr Vater hatte Recht, woher wusste diese geheimnisvolle Tante überhaupt von ihrer Existenz?
Sophie reichte ihrem Mann eine Tasse. Das Zittern ihrer Hand war unübersehbar.
Ungeduldig rutschte Meduse auf ihrem Hocker herum. „Nun sag schon.“
„Da gibt es nicht viel, was ich über sie weiß“, begann Sophie zögernd.
Stefan zog die Augenbrauen hoch. „Sie war also tatsächlich deine Tante?“
Sophie nickte. „Ja, die ältere Schwester meines Vaters, sehr viel älter. Sie sollte eigentlich das Familiengeschäft weiterführen, aber…“
„Was für ein Geschäft?“, hakte Meduse sofort nach.
Irritiert schaute Sophie sie an. „Meine Familie verkaufte Kräuter und Heiltränke. Die Rezepturen sind uralt und wurden von Generation zu Generation weitergegeben. Die Frauen bereiteten Salben und Säfte zu, und die Männer verkauften sie auf Märkten und in den größeren Städten.“
Meduse blieb der Mund offen stehen. „Ihr wart so was wie Quacksalber?“
Sophie verzog das Gesicht. „Diese Arzneien waren sehr wirksam und halfen den Menschen. Du musst dir vorstellen, dass da ein Wissen dahintersteckt, das über unvorstellbar lange Zeit zusammengetragen wurde. Heutzutage nennt man das Homöopathie.“
Meduse stieß ein Schnauben aus. Wahrscheinlich hatte Sophies Familie gefärbtes Wasser verkauft und den Leuten damit das Geld aus der Tasche gezogen.
„Das tut jetzt nichts zur Sache“, mischte sich ihr Vater ein. „Also weiter. Diese Tante ist also eines Tages verschwunden?“
Sophie nickte. „Ja. Ich habe sie nie kennen gelernt. Oder zumindest weiß ich es nicht mehr. Ich war noch ein Baby, als sie die Familie verlassen hat. Es wurde danach nie mehr über sie gesprochen. Denn sie hat die Tradition verraten und sich einfach davon gemacht.“
„Vielleicht steckt eine unglückliche Liebe dahinter“, mutmaßte Meduse. „Oder sie wollte nicht mehr länger die Leute betrügen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur Lust auf Abenteuer.“
Ihr Vater warf ihr einen tadelnden Blick zu.
Meduse wurde rot. Sie hatte sich hinreißen lassen. Schon von klein auf war ihre ausufernde Fantasie bei ihm nicht gut angekommen. Als Naturwissenschaftler verließ er sich auf logisches Denken und exakte Beweise. Stets hatte er versucht, ihre übersprudelnden Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken, wobei er allerdings wenig Erfolg hatte. „Das muss unsere Tochter von dir haben“, hatte er anfangs lachend zu seiner Frau gesagt. Im Laufe der Jahre war aus dem Lachen jedoch Missbilligung geworden. So hatte Meduse sich angewöhnt, ihre Gedanken für sich zu behalten.
„Und niemand hat jemals wieder etwas von ihr gehört?“, lenkte sie wieder auf den ominösen Brief zurück.
Sophie zögerte einen Moment zu lang, um noch zu verneinen.
Stefan hob den Kopf, auch er hatte bemerkt, dass da mehr war.
„Bis zum Tod meines Vaters kurz nach deiner Geburt wusste ich nichts darüber. Erst als ich zusammen mit meiner Mutter seine Sachen ordnete, haben wir ein paar Briefe gefunden, die von Toinette stammten. Allerdings gab es die Umschläge nicht mehr und damit auch keinen Absender.“
„Zeig her!“ Meduse sprang auf, aber Sophie schüttelte den Kopf.
„Als meine Mutter gestorben ist, bin noch einmal in die Bretagne gefahren und habe alles verbrannt.“
Enttäuscht setzte sich Meduse wieder hin. „Und es gibt nichts, an das du dich sonst noch erinnerst?“
Das Bedauern ihrer Mutter schien echt zu sein. „Ich hätte nie erwartet, noch einmal von ihr zu hören.“
„Tja, nun ist sie also wieder aufgetaucht“, stellte Stefan fest. „Und unser Kind hat eine Erbschaft gemacht. Was ist es eigentlich?“
Sophie wollte nach dem Brief greifen, aber Meduse war schneller.
„Hier steht es: Ein Haus. Und es ist auf St. Pierre et Miquelon. Wo immer das sein mag.“
Stefan schüttelte tadelnd den Kopf. „Hat man euch in der Schule überhaupt nichts beigebracht? Das ist eine kleine Inselgruppe im Atlantik, in der Nähe der kanadischen Ostküste. Sie gehört auch heute noch zu Frankreich. Außer ein wenig Fischerei gibt es dort nicht viel. Soweit ich weiß, wird sie vom Mutterland kräftig subventioniert.“
Meduses Herz klopfte bis zum Hals. „Da fahre ich hin“, verkündete sie, und ihre Stimme verriet, dass sie diesen Entschluss bis aufs Messer verteidigen würde. Es war einfach perfekt, genau jetzt war der ideale Zeitpunkt für eine aufregende Reise.
„Das kommt überhaupt nicht infrage.“
Meduses Kopf ruckte herum. Sofie hatte die Arme über der Brust verschränkt und schaute sie streng an.
Der Vater schwieg, ein gutes Zeichen. Aus Erfahrung wusste Meduse, dass er seine Überlegungen noch nicht abgeschlossen hatte.
„Ich hab mir eine Auszeit verdient. Schließlich habe ich das Abitur mit Einserschnitt gemacht. Andere gehen auf Weltreise, und das kostet einen Haufen Geld. Oder sie machen eine Zeitlang gar nichts. Ich will ja nur meine Erbschaft antreten, dagegen ist doch nichts einzuwenden!“
Sie bemerkte die Blicke zwischen ihren Eltern und fuhr eifrig fort.
„Ich könnte mir dort einen Job suchen. Für meine Sprachkenntnisse wäre es sicher nicht schlecht, wenn ich mal eine Weile nur Französisch höre.“
Ihr Vater schmunzelte. „Ein Job, hm. Und was hast du dir da so vorgestellt?“
„Keine Ahnung. Ich nehme, was ich kriegen kann. Kellnerin, Au pair, es wird sich schon was finden.“
„Wir werden sehen“, sagte er und griff zu seiner Espressotasse.
Seit sie ihr Zuhause verlassen hatte, war Meduse kaum zum Denken gekommen. Zu viele Eindrücke waren während der letzten zwei Tage auf sie eingestürmt. Der Flug über den Atlantik, das Umsteigen auf dem verwirrend lauten und überfüllten Flughafen von Halifax, dem ein weiterer Flug nach St. John auf Neufundland folgte, es waren aufregende und anstrengende Stunden gewesen.
Mit dem Bus ging es dann durch eine Landschaft, die ihr völlig fremd war. Hohe, kahle Berge ragten auf. Grau und Schwarz, die Farben der Felsen und Steine, dominierten. Da war nichts Sanftes, Freundliches und nur wenig, das dem Auge schmeichelte. Es war ihr so vorgekommen, als habe sich seit Anbeginn der Welt nichts verändert an den gewaltigen Tafelbergen, als hätten die riesigen Felsen, die die Täler säumten, schon immer ihre Zacken in den Himmel gereckt. Weiter unten trotzten ein paar vereinzelte Ortschaften mit ihren bunten Häusern der Natur, die strenges Regiment führte. Emsig und klein wie eine Ameise hatte sich der Bus auf gewundenen Straßen über Berge und Täler geschleppt, entlang der steilen Küste und vorbei an Seen und mit Wollgras getüpfelten Wiesen. Mit glänzenden Augen hatte Meduse die Bilder in sich aufgenommen.
Nun legte die Fähre nach St. Pierre endlich ab. Es war nur noch knapp eine Stunde, bis sie ihr Ziel erreichen würde. Meduse stand an der Reling und warf einen Blick zurück auf die Häuser, die allmählich hinter den grauen Wellen des Atlantiks verschwanden. Fortune, der letzte Zwischenstopp ihrer Reise, war ein seltsam leerer Ort gewesen. Der verheißungsvolle Name trog, hier bot sich dem Reisenden nicht viel Zerstreuung und rein gar nichts, was mit Glück zu tun haben könnte. Nach einer unruhigen Nacht im Hotel hatte sie von dem herzhaften Frühstück kaum einen Bissen heruntergebracht. Neugierig hatte die Frau an der Rezeption sie gemustert, als sie von ihrem Ziel erzählt hatte.
Mit jeder zurückgelegten Meile verschwand das alles mehr aus ihrem Kopf. Sie schmeckte die salzige Luft des Meeres und atmete tief. Zu aufgeregt, um sitzen zu können, schlenderte sie ein weiteres Mal entlang der Reling und schaute auf das Wasser, das in unregelmäßiger Folge gegen den Rumpf des Fährschiffes klatschte. Der Fahrtwind war kühl, und auch die Sonne, die jetzt Ende Juni eigentlich Kraft haben sollte, wärmte nicht sonderlich.
Ungeduldig warf sie erneut einen Blick auf ihre Armbanduhr. Die Hälfte der Fahrzeit war bereits um. Der schwere Rucksack drückte, und sie nahm ihn ab. Dann stellte sie sich ganz vorne an den Bug des kleinen Schiffes. Sie wollte den Moment nicht verpassen, wenn die Inseln in Sicht kamen. Auf der Weltkarte waren es nur ein paar winzige Punkte in der Weite des Atlantiks: St. Pierre et Miquelon, die französische Enklave.
Nach dem Eintreffen des Briefes war es noch ein schwieriger Weg gewesen, bis sie ihren Eltern die Erlaubnis zu der Reise abgetrotzt hatte. Zwar war sie volljährig, aber sie brauchte finanzielle Unterstützung. Es gab endlose Diskussionen, immer wieder wurde das Für und Wider durchgesprochen. Am Ende siegte Meduses Hartnäckigkeit über das fast schon verzweifelt anmutende Veto der Mutter, der schließlich die Argumente ausgingen.
Am Flughafen hatte der Vater ihr einen Umschlag mit Geld zugesteckt. Für Notfälle, hatte er gemurmelt. Maman hatte sie mit Tränen in den Augen fest umklammert. Schließlich musste Meduse sich von ihr losmachen, um den Flug nicht zu verpassen. Für einen kurzen Augenblick hatte sie Angst verspürt. Vielleicht gab es etwas, das ihre Mutter verschwiegen hatte. Aber dann brach die Freude durch über das große Abenteuer, und leichten Herzens war sie durch die Schleuse in den Passagierbereich gegangen.
Sie schrak aus ihren Erinnerungen hoch und sah, dass Nebel aufgezogen war. Das Meer war ruhiger geworden, und die Wellen schwappten in trägem Bleigrau um das kleine Fährschiff. Dunst waberte über das Wasser und schränkte den Blick ein, gab nur hier und da kleine Stücke frei, gespenstisch und die Orientierung verschleiernd. Fröstelnd zog sie den Kragen ihres Anoraks hoch, die Temperatur war weiter gesunken. Da vorne war etwas, schemenhaft tauchten helle Flecken auf, Felsen, an denen sich das Wasser brach. Meduse wischte sich über die Augen, als könne sie damit die Wolkenfetzen vertreiben. Undeutlich konnte sie einen kleinen Streifen Land erkennen, der langsam näher kam. Das musste eine der Inseln sein. Konzentriert starrte sie in das Grau. Da war eine Straße, gesäumt von ein paar weit auseinander stehenden Häusern. Der Nebel schluckte die Geräusche, es war jetzt so still, dass sie ihren eigenen Atem wahrnahm. Der Motor der Fähre wurde gedrosselt. Das Wasser traf mit einem dumpfen Ton gegen etwas Festes, und unwillkürlich hielt Meduse die Luft an. Da zerriss ein Windstoß ein Stück des Schleiers, und ein kleiner Leuchtturm kam in Sicht. Weiß gestrichen war er fast nicht auszumachen im Nebel. Die Fähre steuerte direkt auf ihn zu.
Plötzlich erregte etwas anderes Meduses Aufmerksamkeit. Da war etwas im Wasser, das ungewöhnlich aussah. Es kam ihr vor wie ein Strudel von gewaltigen Ausmaßen. Das Muster der Wellen war unterbrochen, und das Wasser sah dunkel aus, fast schwarz. Meduse stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, aber da waren weder Felsen noch ein Riff. Es schien, als würde das Wasser nach unten in eine Art Trichter gezogen. An einigen Stellen perlten Blasen auf. Was war das nur? Sie schaute sich um, ob einer der anderen Passagiere ebenfalls auf das Phänomen aufmerksam wurde. Aber die meisten Leute schwatzten miteinander oder starrten schläfrig vor sich hin.
Ein kräftiger Mann in Gummistiefeln und dicker Jacke kam aus dem Führerhaus aufs Deck und hantierte mit einem Tau.
„Entschuldigen Sie“, sprach sie ihn an.
Er schaute hoch.
„Was ist das da drüben? Dieser dunkle Fleck im Meer.“ Sie zeigte auf die Stelle, aber er schaute gar nicht hin.
„Wasser“, sagte er knapp.
„Aber das sieht so merkwürdig aus. Gibt es da Felsen? Eine Untiefe?“
Jetzt hob er unwillig den Kopf. „Ich weiß nicht, was Sie sich einbilden. Da ist nichts, gar nichts.“
Er griff wieder nach dem Tau, das sich verheddert hatte.
Enttäuscht wandte sie sich ab. Der Mann hatte genau gewusst, wovon sie sprach, da war sie sicher. Warum hatte er so abweisend reagiert?
Die Fähre umfuhr die seltsame Stelle in einem weiten Bogen, bevor sie in den Hafen einlief. Meduses Aufregung stieg. Gleich würden sie anlegen. Sie hoffte, dass der Notar sie erwartete, wie er es zugesagt hatte. Er war ihr einziger Kontakt hier. Trotz großer Anstrengungen war es ihr nicht gelungen, von zu Hause aus Arbeit zu finden. Ein Dach über dem Kopf hatte sie auch noch nicht. Auf ihre Anfragen bei den einzigen zwei Hotels hatte sie keine Antwort bekommen. Auf eine seltsame Weise schien diese Insel nicht greifbar zu sein. Und sogar jetzt, wo sie unmittelbar davor auf der Fähre stand, kam es ihr vor, als seien die Felsen und der Leuchtturm nichts weiter als ein Trugbild ihrer Fantasie.
Sie schrak zusammen, als dicht neben ihr eine Möwe schrie. Sie schaute hoch. Das graue Gefieder war kaum zu unterscheiden von der nebelschwangeren Luft. Da waren noch mehr von ihnen. Sie sahen ganz anders aus als die, die sie an der Ostsee beobachtet hatte. Sie waren größer, ihre Schwingen hatten eine beträchtliche Spannweite. Aus den runden, kindlich aussehenden Köpfen stachen die Schnäbel hervor. Wie eine Armada stürzten sie sich auf das ankommende Schiff und umkreisten es. Dunkle Knopfaugen schienen jeden Passagier genau zu beobachten. Meduse kam es so vor, als hätten sie längst gesehen, dass sie eine Fremde war. Das Gekreische wurde lauter und gellte durch die Luft, schrill und feindselig. Meduses Hände schossen hoch und legten sich um ihre Ohren. Unwillkürlich duckte sie sich und suchte Schutz an der Kabinenwand. Das feste Metall im Rücken gab ihr Sicherheit, und sie beruhigte sich wieder. Wie dumm sie war, wer hatte schon Angst vor Möwen? Diese Vögel waren nur auf etwas zu fressen aus.
Sie konzentrierte sich wieder darauf zu beobachten, was geschah. Der Motor blubberte leise vor sich hin, und nach einem kurzen Steuermanöver schob sich die Fähre längsseits an eine Pier. Nun kam Bewegung in die Passagiere. Sie standen auf und rafften ihre Habseligkeiten zusammen. Ein Tau flog durch die Luft und wurde von einem jungen Mann aufgefangen, der die Schlaufe um einen Poller legte. Es passierte alles gleichzeitig, so dass Meduse nicht wusste, wohin sie zuerst schauen sollte. Der Motor erstarb, und in der plötzlichen Stille hörte man nur noch das monotone Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf. Mit einem scharrenden Geräusch wurde eine Art Gangway angesetzt, und schon verließen die Ersten das Schiff.
Sie atmete tief durch. Es wurde Zeit, dass auch sie an Land ging. Der Koffer, den sie im Innenraum der Fähre abgestellt hatte, war schwer. Mit dem Rucksack auf dem Rücken packte sie mit beiden Händen zu, um das große Gepäckstück bis zur Gangway zu zerren, die nicht mehr war als ein stabiles Brett, das steil nach oben führte. Hilfesuchend schaute sie sich um. Ein paar Männer lungerten oben auf der Pier herum und warfen ihr neugierige Blicke zu. Aber keiner rührte sich. Die letzten Gäste verließen die Fähre. Nun war nur noch sie da, wenn man vom Kapitän und seinem wortkargen Gehilfen absah. Die beiden hatten sich in den Führerstand zurückgezogen und drehten ihr den Rücken zu, während sie gestenreich über etwas redeten.
Sie biss die Zähne zusammen. Es musste auch ohne Hilfe gehen. Zentimeterweise schob sie den Koffer die Planke hinauf. Er stand nun auf halber Höhe zwischen Boot und Pier, und als sie ihm einen weiteren Stoß versetzte, schwankte er bedrohlich.
Da erschien oben auf dem Kai der Kopf eines Mannes von etwa fünfzig Jahren. „Mademoiselle Brunner?“
Das musste der Notar sein. Sie nickte eifrig.
„Ja. Können Sie mir bitte helfen?“, bat sie in akzentfreiem Französisch.
Der Mann setzte einen Fuß auf das Brett und zerrte an dem Koffer, der seinen Widerstand endlich aufgab und mit unerwartetem Schwung auf dem Kai landete. Mit schnellen Schritten lief Meduse hinterher. Der Mann musterte sie neugierig. Trotz der niedrigen Temperatur schwitzte sie, sie musste völlig aufgelöst aussehen.
„Maitre Legrand?“, vergewisserte sie sich.
In einer wetterfesten Jacke und mit einer Wollmütze auf dem Kopf sah der Mann eher wie ein Fischer aus. Aber er nickte und streckte ihr seine Hand entgegen. „Willkommen auf St. Pierre. Ich hoffe, Sie hatten eine gute Reise.“
„Ja, das war okay. Bis auf das letzte Stück, das war anstrengend.“
Sie warf einen finsteren Blick auf die Männer, die sie immer noch anstarrten. „Besonders hilfsbereit sind die Leute hier wohl nicht?“
Der Notar schüttelte den Kopf. „Das dürfen Sie ihnen nicht übelnehmen. Hierher kommen nur selten Fremde. Die Menschen sind ein wenig zurückhaltend.“
Meduse kräuselte die Lippen. Pah, zurückhaltend! So konnte man das auch nennen. Aber nun, da ihr Gepäck sicher an Land war, konnte sie sich endlich umschauen. Viel war nicht zu sehen. Der Nebel umgab sie immer noch wie ein Kokon, man erkannte gerade noch das Ende der Pier und dahinter einen kleinen, gepflasterten Platz. Die Häuser ringsherum waren nur undeutliche Schemen.
„Ist hier oft Nebel?“, wollte sie wissen.
Der Notar lächelte. „Heute haben wir das gute Wetter des Sommers. In einer Stunde ist dieser Dunst weg, und dann werden Sie St. Pierre von seiner schönsten Seite kennenlernen.“
Ungläubig schaute sie ihn an. „Wenn Sie das sagen.“
Sie zog an dem Griff des Koffers, der jetzt mühelos hinter ihr her rollte, und nahm die kurze Strecke über die Pier in Angriff. Der groß gewachsene, schlanke Mann, schritt auf langen Beinen aus. Sie versuchte, sich seinem Tempo anzupassen. Aber als sie auf dem kleinen, jetzt menschenleeren Platz angekommen waren, war sie außer Atem. Erleichtert ließ Meduse den Koffer los und hievte den Rucksack von ihren Schultern. Die wenigen Passagiere hatten sich zerstreut, und als sie sich umdrehte, konnte sie die Fähre im Dunst kaum noch erkennen. Dafür entdeckte sie etwas anderes: Mitten auf dem Platz stand ein Kinderkarussell. Sie betrachtete die bunt bemalten Pferde. Es gab auch einen Löwen und eine Giraffe mit langem, geflecktem Hals. Oben am Rand hingen blaue und rote Lichterketten, die allerdings nicht brannten. Ob das Ding noch funktionierte? Die fröhlichen Farben passten so gar nicht in die trostlose Atmosphäre dieses Ortes. Vergeblich versuchte Meduse, sich lachende Kinder und eine fröhliche Menschenmenge vorzustellen. Aber die Fragen, die sich ihr aufdrängten, hatten Zeit. Erst einmal wollte sie das Haus sehen, das sie geerbt hatte.
Erwartungsvoll drehte sie sich zu ihrem Begleiter um. „Was passiert jetzt?“
Er musterte den Koffer, dessen enormes Gewicht er schon beim Hochzerren auf der Planke gespürt hatte. „Sie haben wohl vor, länger zu bleiben.“
„Was dachten Sie denn? Dass ich gleich wieder kehrt mache?“ kam es ruppig zurück. Sie konnte ihre Enttäuschung über diesen wenig einladenden Empfang nicht verbergen.
„Haben Sie schon ein Zimmer?“, fragte der Notar, um Verbindlichkeit bemüht.
„Ich dachte, das würde sich finden, wenn ich hier bin. Im Internet habe ich gesehen, dass es zwei Hotels gibt.“
Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir sind hier nicht gerade das, was man einen Touristenort nennt. Ab und zu kommt ein Kreuzfahrtschiff, aber die Besucher sind immer nur ein paar Stunden hier. Dann fahren sie wieder ab.“
„Für die ist wohl das Karussell gedacht? Ich habe mich schon gewundert…“
„Ja, genau. Ansonsten gibt es hier nichts, das einen Fremden besonders interessieren könnte. Manchmal kommen ein paar Vogelkundler, dann öffnet ein Hotel. Aber sonst lohnt es sich einfach nicht. “
Das hörte sich nicht gut an. Aber Meduse war gewappnet.
„Okay, dann wohne ich halt in dem Haus meiner Großtante.“
„Das ist nicht möglich“, beschied der Mann knapp.
Er hielt sie wohl für zimperlich. „Ich stelle keine großen Ansprüche. Hat es ein Dach?“
Der Notar nickte. „Ja, das schon…“
„Na also, vier Wände und ein Dach, das ist alles, was ich brauche. Der Rest findet sich“, erklärte sie energisch.
„Wenn Sie meinen…“
„Ich kann es mir ja mal ansehen. Gibt es hier ein Taxi? Oder kann ich hinlaufen? Wie weit ist es denn?“
Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Das Haus liegt etwas außerhalb. Mit diesem Koffer werden Sie nicht weit kommen.“
Er drehte sich um und zeigte auf ein Auto, das auf der anderen Seite des Platzes geparkt war. „Ich fahre Sie hin. Vielleicht sehen Sie dann ein, dass es unmöglich ist, dort zu wohnen.“
Es dauerte eine Weile, bis das sperrige Gepäck in dem mit allerlei Utensilien vollgestopften Kofferraum untergebracht war. Interessiert betrachtete Meduse einen durchsichtigen Plastikbehälter mit Blinkern und Haken.
„Angeln Sie?“, fragte sie.
Mit einer ausholenden Armbewegung wies er auf das Meer.
„Es gibt nicht sehr viel, was man hier machen kann in seiner Freizeit. Fische haben wir allerdings reichlich. Fische, Felsen und Nebel.“
„Das würde ich gerne mal ausprobieren“, erklärte sie eifrig. „Hier kann man doch sicher irgendwo Angelsachen kaufen.“
Er nickte bedächtig. „Das können Sie. Aber ich würde Ihnen wünschen, dass Sie nicht lange genug bleiben, um Spaß daran zu finden.“
Sie stemmte die Hände in die Hüften. „Wieso wollen Sie mich eigentlich so schnell wieder loswerden? Das ist es doch, worauf das Ganze hinaus läuft, oder?“
Er maß sie mit einem seltsamen Blick. „Hören Sie, Sie sind eine sympathische junge Frau. Diese Insel ist kein Ort für Sie. Hier gibt es nur noch die Alten. Und die, die schon immer hier waren. Nichts, das Sie interessieren könnte. Dieses Erbe, wahrscheinlich stellen Sie sich Gott weiß was darunter vor. Aber es ist nur ein leeres, heruntergekommenes Haus. Was sich die alte Toinette dabei gedacht hat, eine Fremde als Erbin einzusetzen, versteht niemand. Wahrscheinlich war sie nicht mehr ganz richtig im Kopf. Aber das ist ja nicht verwunderlich, sie war alt und allein, da wird man eben verschroben.“
Meduse senkte den Kopf. Bei diesen deutlichen Worten verflüchtigte sich ihre Euphorie. Was wollte sie eigentlich wirklich an diesem gottverlassenen Ort? Aber da war immer noch das deutliche Gefühl, dass genau hier etwas auf sie wartete, etwas Wichtiges.
„Ich hab kein Schloss erwartet“, sagte sie ruhig. „Aber ich möchte mich für eine Weile hier umschauen. Dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder?“
Der Notar schüttelte den Kopf. „Vermutlich nicht.“
Das Problem würde sich von ganz allein lösen. Ihr würde schnell langweilig werden, und dann würde sie wieder dorthin zurückgehen, woher sie gekommen war.
Er fuhr los. Meduse starrte durch die Autoscheibe und versuchte, so viel wie möglich von ihrer neuen Umgebung in sich aufzunehmen. Es ging die Uferstraße entlang. Zum Meer hin stand eine Reihe kleiner Holzhütten, die in bunten Farben angestrichen waren. Wahrscheinlich gehörten sie den Fischern, die darin ihre Netze aufbewahrten. Ein paar Boote lagen festgepflockt im dunklen Schlick der Ebbe. Weiter draußen dümpelte eine Handvoll Kutter im Wasser.