Die Liebe der Inselärztin - Carin Winter - E-Book
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Die Liebe der Inselärztin E-Book

Carin Winter

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Beschreibung

Viola Herz, seit einem knappen Jahr Inselärztin auf Hiddensee, hat alle Hände voll zu tun: Eine Grippewelle hält sie auf Trab, ein undurchsichtiger Feriengast verlangt von ihr ungewöhnlich starke Medikamente, und dann wird auch noch in ihre Praxis eingebrochen. Viel Zeit für ihre große Liebe,den Biologen Florian Jung, bleibt da nicht – von einem gemeinsamen Urlaub ganz zu schweigen. Trotzdem träumt Viola von einer Familie. Doch warum weicht Florian dem Thema Kinder immer wieder aus?

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Das Buch

Die Inselärztin Viola Herz und der Biologe Florian Jung haben einen glücklichen ersten Sommer auf Hiddensee verbracht, doch an Routine ist nicht zu denken. Viola hat alle Hände voll zu tun, denn eine Grippewelle erfasst die Inselbewohner. Außerdem verlangt ein undurchsichtiger Feriengast ungewöhnlich starke Medikamente von ihr. Und als wäre es damit nicht genug, wird auch noch in ihre Praxis eingebrochen. Der geplante gemeinsame Urlaub mit Florian fällt leider ebenfalls ins Wasser. Und dennoch träumt ­Viola von ­einer Familie mit Florian. Dieser weicht dem Thema Kin­der jedoch immer wieder aus …

Die Autorin

Carin Winter hat Medizin studiert und mehrere Jahre als Ärztin in einem Dorf gearbeitet; später entdeckte sie die Lust am Schreiben. Teile ihrer Familie stammen von Rügen, ein Großonkel war dort auch Arzt. Carin Winter lebt in Weil der Stadt.

Von Carin Winter ist in unserem Hause bereits erschienen:

Die Inselärztin

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-taschenbuch.de

Alle Personen in der Geschichte sind der Phantasie der Autorin entsprungen und haben nichts mit den Bewohnern Hiddensees zu tun.

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Mai 2012 © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2012 Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München Titelabbildung: Landschaft: buchcover.com / © Dennis Williamson; Frau: gettyimages / © Image Source; Hut und Himmel: © FinePic®, München Ingo Baudach, Von Schmetterlingen und anderen Tieren. Aus: Renate Seydel (Hrsg.), Hiddensee. Geschichten von Land und Leuten. © Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2005 Karte: Erika Baßler Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0291-1

Leuchtturm, Schiffe, breiter Strand, weiße Wolken, weißer Sand, Möwen, Lerchen, Heidegras, Brandung, Buhnen, Badespaß, Donnerkeil und Feuerstein, Regen, Sturm und Sonnenschein, Ankunftsfreude, Abschiedsweh – alles das ist Hiddensee.

Ingo Baudach, Sohn von Otto Baudach (Arzt in Vitte 1928–34)

1

Viola fuhr mit einem Ruck im Bett hoch. Um sie herum war alles dunkel. Auch das Fenster zu ihrer Linken, an dem sie sich, wenn sie nachts aufwachte, immer orientierte, war kaum zu erkennen. Ein heftiger Regenguss prallte dagegen, angepeitscht von dem Sturm, der draußen tobte.

Winterstürme, dachte sie, Inselstürme, Nordwest − gut für die Bernsteinfischer, die morgen, sobald das Wetter es zuließ, ins Wasser marschieren würden, in hohen dichten Brusthosen und mit ihren Käschern in den Händen, um den angeschwemmten Tang aus dem Meer zu holen. In diesem Tang saßen sie dann, die kleinen oder großen Steine, noch unansehnlich, aber wenn sie erst einmal geschliffen waren, honiggelb oder goldbraun glänzend, wurden sie zu begehrtem Hiddenseer Bernstein.

Sie öffnete die Augen weit in der Hoffnung, wenigstens einen geringen Schimmer des Leuchtturmlichts zu erhaschen, der in den Nächten alle paar Sekunden seinen Arm über die Insel schwenkte und dabei einen schwachen Lichtschein durch ihr Fenster sandte. Aber es war nichts zu sehen. Auch ihr Freund, der Leuchtturm, kam durch diese Naturgewalten nicht hindurch, um sie zu beruhigen.

Nun, wenn der Leuchtturm nicht helfen konnte, musste eben Florian, der neben ihr in beneidenswert tiefem Schlaf lag, ihr in der Dunkelheit Schutz und Geborgenheit vermitteln. Und so hob Viola ihre Decke an, legte sie halb über die von Florian und rutschte vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, zu ihm hinüber und in Reichweite seiner Wärme.

Florian. Wie lange kannten sie sich nun schon? Zum ersten Mal hatte sie ihn an einem kalten Februartag gesehen, fast zwei Jahre lag das zurück. Sie war zum Strand gelaufen, einen Tag nach ihrer Ankunft auf Hiddensee, noch voller Unsicherheit und Furcht, ob sie es schaffen würde, als einzige Ärztin auf der Insel die Praxis des alten Arztes, der in seinen wohlverdienten Ruhestand gegangen war, weiterzuführen. Ihr Entschluss hierherzukommen war ziemlich schnell gefallen. Sie wollte die Münchner Klinik, in der sie zuvor gearbeitet hatte, so weit wie möglich hinter sich lassen, nachdem eine Liebesgeschichte mit einem Kollegen in die Brüche gegangen war. Und als sie damals die Anzeigen für Praxisübergaben durchsah, stieß sie auf Hiddensee, die Insel, von der ihr Rügener Großvater ihr so viele Geschichten erzählt hatte. Sie bewarb sich und wurde angenommen, und trotz der Ungewissheit, was sie hier erwartete, machte sie sich entschlossen auf den Weg, mit Kater Pauli an ihrer Seite. An diesem ersten Tag am Strand tauchte auf einmal Florian neben ihr auf, mit seinen langen schwarzen Locken und den dunklen Augen, eine Tüte frische Rosinenbrötchen in der Hand.

Ein Künstler, hatte sie vermutet. Bei der Erinnerung musste Viola leise lachen. Er sah eben aus wie einer der vielen Künstler, die auf Hiddensee den Berühmtheiten nach­eiferten, welche sich Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Insel getummelt hatten. Und es waren viele gewesen, die hier Inspiration und Ruhe suchten. Florian hatte ihr auf Anhieb gefallen. In ihrer Phantasie entstand damals das Bild eines Abenteurers, der kam und ging, wie er wollte, frei, unbekümmert und spontan. Ein Mann, von dem man träumen konnte, der aber in der Realität niemals zu ihrem Bedürfnis nach Familie und Nestwärme passen würde.

Später dann, als schon die ersten Tage in der Praxis gut überstanden waren und sie die Insel ein Stück weit Richtung Süden erkundete, begegnete sie ihm erneut, und er schnauzte sie an, weil sie in sein geheiligtes Vogelschutzgebiet eingedrungen war. Er entpuppte sich als der gestrenge Hüter der Vogelwelt im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft. Als der Biologe Florian Jung, der auch nicht davor zurückschreckte, die ehrenwerte Inselärztin in ihre Schranken zu weisen.

Diese Seite an ihm gefiel ihr schon weniger.

Aber auch eine Frau Doktor Mitte dreißig mit einer inzwischen gut gehenden Praxis kam an der Liebe nicht vorbei, wenn sie auch manchmal erst Umwege laufen musste, und so lag sie jetzt neben diesem Mann, diesem Zugvogel, wie sie ihn immer nannte, der schon viel in der Welt herumgekommen war, der vier Jahre jünger war als sie und eigentlich überhaupt nicht zu ihr passte. Doch sie war glücklich mit ihm.

Viola horchte auf den Regen vor dem Fenster und den Sturm, der übers Meer heulte und an den kahlen Bäumen vor dem Haus rüttelte. Dann schloss sie die Augen mit einem Gefühl von friedlicher Geborgenheit.

In diesem Moment klingelte das Telefon.

Nein, bloß kein Notfall, bitte, nicht jetzt, wenn der Rettungshubschrauber nicht fliegen kann. Nicht ausgerechnet in so einer Nacht!

Viola rutschte auf ihre Seite des Bettes zurück, knipste das matt schimmernde Nachtlicht an und hob den Hörer ab.

»Viola«, klang die Stimme der Insel-Hebamme aus dem Hörer, »ich bin in Grieben bei der jungen Frau Celle, bisher lief alles gut, aber nun sind die Presswehen da, und es geht einfach nicht vorwärts. Kannst du bitte kommen? Sie ist vollkommen fertig und hat keine Kraft mehr. Ich mache mir Sorgen um sie und das Kind.«

Um Himmels willen, auch noch eine Geburt! Viola war Allgemeinärztin, mit Geburten hatte sie nicht viel Erfahrung.

Trotzdem, sie würde sofort hinfahren, das war keine Frage.

»Irina, mach ihr Mut, sag ihr, wir schaffen das schon. Ich bin in 15 Minuten da. Ich könnte ihr, wenn nötig, eine Infusion legen, damit ihr Kreislauf in Gang kommt, und ein Wehenmittel verabreichen. Sind die Inselsanitäter mit dem Rettungswagen da, für alle Fälle?«

»Ja, die beiden Sanitäter sitzen in der Küche, und der Krankenwagen steht vor der Tür.«

Gut so, im Rettungswagen befanden sich Sauerstoff, Beatmungsgerät, EKG und vieles mehr, das in Notfällen benötigt wurde, und die beiden Männer waren gut ausgebildet.

Florian war aufgewacht und hob verschlafen den Kopf. »Musst du weg? Soll ich dich fahren?«

Viola schüttelte den Kopf. »Nein, dann habe ich viel zu viel Zeit, mir auszumalen, was alles passieren kann. Aber danke, Florian.« Sie war schnell angezogen und gab ihm noch einen Kuss. »Wenn ich zurückkomme, bist du da, das ist das Wichtigste.«

Und schon war sie zur Tür hinaus, rannte die Treppe hinunter ins Sprechzimmer, nahm Arzttasche und Notfallkoffer an sich und öffnete die Haustür. Die Nacht mit Regen und Sturm überfiel sie mit voller Kraft, als sie sich bis zum Auto kämpfte. Und auch unterwegs nach Grieben hatten die Scheibenwischer viel zu tun, um einigermaßen die Sicht frei zu halten.

Es gab nur eine einzige richtige Straße auf Hiddensee, sie verband die vier Orte von Norden nach Süden längs der Insel. Grieben lag ganz im Norden, am Fuß des Dornbusch, einer 72 Meter hohen Erhebung, und bestand aus einem Dutzend Häuser.

In Vitte, dem Hauptort, der ungefähr 600 Einwohner zählte, befand sich die Arztpraxis. Zwei Kilometer weiter nördlich zwischen Vitte und Grieben kam Viola noch durch Kloster, dem kulturellen Zentrum der Insel, rechts und links tauchten im Scheinwerferlicht die weiß gekalkten Häuser und Pensionen mit tief gezogenen Walmdächern aus roten Ziegeln oder dunklem Reet auf. Bei dem heftigen Regen konnte man aber keine der Einzelheiten ­erkennen, die so typisch für die Insel waren: farbige Fensterrahmen, schön geschnitzte Haustüren, aufgemalte Sprüche oder liebevoll dekorierte Vorhänge.

Auch einige Hotels gab es hier, zwei- oder dreistöckig, aber alle mit diesem gewissen Charme, den dunkles Fachwerk, Giebel auf dem Dach, verspielte Erker und Sprossenfenster erzeugten.

Im Sommer tauchten hohe dichte Bäume ganz Kloster in ein schimmerndes Grün, Linden, uralte Weiden, Erlen und andere − Florian wusste das besser. Bei schönem Wetter war die Insel, vor allem hier in Kloster, dicht bevölkert mit Urlaubern, und man musste langsam fahren, um den vielen Fahrrädern und Pferdewagen auszuweichen. Ein Auto gab es nur für besonders privilegierte Personen, zum Beispiel die Inselärztin.

Jetzt zwangen allerdings Nacht und Regen Viola dazu, langsam zu fahren, vom nahen Meer sah und hörte man nichts. Der Sturm pfiff und heulte von vorn und klatschte das Wasser an die Windschutzscheibe.

Hinter Kloster lief die schmale Straße in Richtung Ostküste mit Schilf und ausgedehnten Wiesen, dahinter kam auch schon Grieben, und bald fuhr sie auf ein erleuchtetes kleines Haus zu, vor dem ein Mann im Regenmantel stand und winkte.

Viola kannte ihn. Er war kräftig gebaut, hatte einen dichten blonden Haarschopf und fuhr im Sommer die Gäste mit seiner Pferdekutsche über die Insel, im Winter transportierte er Güter vom ankommenden Schiff zu ihren Zielen.

In letzter Zeit sah man auf dem Kutschbock oft auch seinen dreijährigen Sohn Marco, wie er strahlend vor Stolz neben dem Vater saß.

Als Viola ihren tropfenden Anorak abgelegt hatte und sich die hellbraunen Locken aus dem Gesicht schüttelte, kamen auch schon die Rettungssanitäter aus der Küche. »Kein Wetter zum Kinderkriegen«, sagte der eine und reichte ihr die Hand. »Aber wir hoffen, sie schafft es auch ohne uns.« Er nickte hinüber zum Wohnzimmer.

Viola holte tief Luft und trat in den warmen trockenen Raum mit der niedrigen Balkendecke. Die junge Frau lag mit geschlossenen Augen auf dem ausgeklappten Sofa, verschwitzt und blass.

Irina, die Hebamme, rieb ihr die Stirn mit einem feuchten Waschlappen ab.

»Die Frau Doktor ist da«, sagte sie ruhig zu der erschöpften Frau.

Diese wandte den Kopf, blickte Viola an und lächelte leicht. »Danke«, flüsterte sie, »jetzt wird alles gut.« Dann kam eine neue Wehe, und sie versuchte wieder, mit letzter Kraft zu pressen.

Irina war eine sehr erfahrene Hebamme. Sie hatte im hintersten Winkel der Erde Kinder zur Welt gebracht, zuletzt in Südafrika, dann aber mit über 50 Jahren beschlossen, es sich ein wenig leichter zu machen. Hiddensee mit Ärztin und Rettungswagen schien ihr der ideale Ort zu sein, um sich noch eine Weile unter weniger schwierigen Bedingungen zu betätigen. Inzwischen war sie seit vier Jahren hier und hatte es noch nie bereut.

Viola bewunderte stets aufs Neue ihre auffallend dichten rötlichen Haare, die wie ein dicker Pelz um ihren Kopf lagen und in denen noch kein bisschen Grau zu sehen war. Alles andere an ihr war schmal, der Körper, das Gesicht und die Hände, die aber durchaus kräftig zupacken konnten.

Während sie eine Infusion vorbereitete, erstattete Irina kurz Bericht. »Es lief alles gut bisher, genauso wie bei ihrem Sohn Marco vor drei Jahren, er ist auch zu Hause geboren. Aber sie kam in der letzten Nacht kaum zum Schlafen wegen ihm, Marco hatte Fieber und war sehr unruhig, und heute Morgen haben dann die Wehen eingesetzt. Jetzt hat sie keine Kraft mehr, zudem scheint das Kind ziemlich groß zu sein. Der Frauenarzt sagte aber letzte Woche, er habe nichts gegen eine weitere Hausgeburt einzuwenden.«

»Meinst du, sie braucht tatsächlich ein Wehenmittel in die Infusion?«, erkundigte sich Viola, während sie in einer Wehenpause die Nadel in eine Vene des Handrückens legte und den Tropf anschloss. »Wir schaffen das, Frau Celle«, erklärte sie der jungen Frau, »hier drin ist ein Stärkungsmittel, und der Kreislauf wird angeregt. Noch zwei- oder dreimal pressen, und das Baby ist da.«

Ganz so zuversichtlich war sie nicht, sie hatte in der Frauenabteilung der Klinik in München etliche Geburten begleitet, aber immer war alles ohne Komplikationen verlaufen, und wenn es welche gab, wurde der diensthabende Facharzt geholt. Nicht einmal eigene Kenntnisse konnte sie vorweisen, da sie ja selbst noch kein Kind hatte.

»Ich denke, die Wehen sind kräftig genug, sie ist nur völlig erschöpft«, versicherte Irina und wandte sich dann an die junge Frau: »Wir werden dich jetzt hoch nehmen, Martina, damit du knien kannst, dein Mann soll dich von hinten fest umfassen und stützen. Hans, komm her und hilf deiner Frau.«

Die ruhige und zuversichtliche Art von Irina wirkte auf alle ermutigend, vielleicht war es auch die Infusion oder die Anwesenheit von Viola, oder alles zusammen, auf jeden Fall war das Kind innerhalb von zehn Minuten da, ein gut gepolstertes kleines Mädchen, das sofort heftig schrie.

2

Viola fielen tausend Steine vom Herzen.

Vor so einer Situation hatte sie immer Angst, sie war nun mal keine Gynäkologin. Bei allen anderen Notfällen fühlte sie sich sicher, aber wenn Kinder auf die Welt kommen woll­ten und es traten Schwierigkeiten auf, war sie nicht ausreichend qualifiziert. Zum Glück gingen die meisten Frauen ins Krankenhaus, und die wenigen Hausgeburten, die noch hier stattfanden, hatten die Mütter in den letzten zwei Jahren, seit Viola da war, mit der Hebamme ohne Arzt selbständig er­ledigt.

Viola setzte sich leicht erschöpft auf einen Stuhl neben die junge Mutter und war ebenso erleichtert wie diese.

Irina sah lächelnd zu ihr hinunter, während sie die Nabelschnur abband und das Kind säuberte. Sie wusste, wie Viola zumute war.

Dann legte sie das Mädchen der Frau in die Arme. »Gratuliere, ihr beiden«, sagte sie in warmherzigem Ton zu Martina und ihrem Mann, »bei diesem Sturm und Regen mittenin der Nacht ein so wohl geratenes, kräftiges Kind, das machteuch so schnell keiner nach.«

»Na, hoffentlich passiert das nicht so schnell noch einmal«, entfuhr es Viola, und alle lachten, sogar Martina.

Während Hans in der Küche war, den noch immer dort wartenden Sanitätern die gute Neuigkeit mitteilte und eine heiße Kanne Tee bereitete, mit einem tüchtigen Schuss Korn, ging Viola ins Nebenzimmer. Hier lag der kranke Marco, nach dem sie erst gestern gesehen hatte. Er schlief und war auch nicht mehr heiß, offensichtlich hatte das Fieber nur kurz zugeschlagen.

»Die Plazenta ist schon da, ich muss aber den Dammschnitt noch nähen«, teilte Irina ihr mit, als sie wieder ins Zimmer kam, »hilfst du mir?«

»Aber sicher«, jetzt fühlte sich Viola wieder sattelfest, eine Naht im Dammbereich, das war ein Kinderspiel gegenüber einer Geburt. Und so arbeiteten beide, die Hebamme und die Ärztin, Hand in Hand. Draußen wütete der Sturm, aber hier drin in dem alten Haus mit den niedrigen Holzdecken und dem festen Reetdach war Friede eingekehrt, und eine müde, aber glückliche Mutter hatte wieder Farbe im Gesicht und sorgenfreie Augen.

Später saßen noch alle in der Küche zusammen, um den großen runden Holztisch, und tranken heißen Tee, auch die Sanitäter, die froh waren, dass keines ihrer Notfallgeräte zum Einsatz kommen musste.

Viola sah noch einmal nach Mutter und Kind, bevor sie ging. Sie nahm das kleine warme Bündel Mensch auf den Arm und fühlte, wie ihr die Tränen kamen. Vielleicht vor Erleichterung, dass alles gutgegangen war, oder vor Staunen über dieses kleine vollkommene Wesen. Ein wenig allerdings auch, weil sie sich schon so lange ein Kind wünschte, eine Familie, ein Nest wie dieses hier. Schon zweimal hatte sie geglaubt, den Mann gefunden zu haben, mit dem sie ihr weiteres Leben gemeinsam verbringen wollte.

Und zweimal hatte sich alles zerschlagen.

Aber nun war Florian da, Florian, bei dem sich die Liebe ganz anders anfühlte als bei Jochen oder Georg, nicht mehr Bewunderung oder die Suche nach Sicherheit standen im Vordergrund, sondern tief empfundene Geborgenheit, Zuversicht und glückliche Heiterkeit, auch wenn mit Florian die Zukunft nicht glatt und geplant vor ihr lag, sondern eher wie diese Insellandschaft hier: mit Höhen und Tiefen, mit blühender Heide und wildem Dickicht, mit windstillen Sandkuhlen und sturmumbrausten Steilufern, mit sonnigen Tagen und mit Orkanregen. Und so wie auf Hiddensee die sonnigen Tage bei weitem überwogen, so sollte es auch mit Florian werden.

Der Regen hatte nachgelassen, und als Viola ins Auto stieg, sah sie im Osten bereits den ersten hellen Schimmer, letzte Wolken flogen ungestüm über den noch dunklen Himmel, der Mond verschwand und tauchte wieder auf, und nun war auch wieder der Leuchtturm da, sein heller Strahl drehte sich schützend über der Insel.

Sie wendete und blickte zurück, und in diesem Augenblick bemerkte sie, wie eine dunkle Gestalt die schmale Straße über­querte und im letzten Haus von Grieben verschwand. Einen Moment zog sie verwundert die Augenbrauen zusammen, aber dann wanderten ihre Gedanken zu Florian, der auf sie wartete. Sie lächelte und fuhr an, jetzt wollte sie nur noch so schnell wie möglich nach Hause.

Florian umfing Viola mit warmen Armen, als sie wieder zu ihm unter die Decke schlüpfte. »Ein Mädchen«, flüsterte sie, »ein süßes kleines Mädchen mit einem dunklen Haarschopf, so wie auch unseres einmal aussehen könnte.«

»Ich hätte auch nichts dagegen, wenn es rehbraunes Kraus­haar hätte wie seine Mutter und deine Nase mit dem leichten Schwung nach oben, und sie dürfte ab und zu auch energisch und dickköpfig sein wie du«, murmelte er.

Viola hob den Kopf und sah ihn lächelnd an. »Oh, der Ge­danke an eine Tochter rückt näher. Das ist ja sehr erfreulich. Seit wann haben denn deine Ausflüge in die große weite Welt nicht mehr oberste Priorität?«

Florian lachte, zog sie an sich und rollte mit ihr schwungvoll auf die andere Seite, dass sie beinahe aus dem Bett fielen. »Du weißt, dass das schon eine Weile nicht mehr so ist. Aber du weißt auch, dass wir noch kein Jahr zusammen sind und dass wir ausgemacht haben, mit der Kinderplanung bis zum nächsten Sommer oder Herbst zu warten. Du musst dir eine neue Praxisvertretung suchen und sie ein­arbeiten, und ich brauche bei aller Liebe noch ein wenig Zeit, um mich an meinen ersten festen Arbeitsplatz zu gewöhnen, mit Bürostunden und geregeltem Urlaub. Und an einen Chef, der genau darauf achtet, dass ich meine Bürozeit auch einhalte und nicht davonlaufe. Außerdem …« Er machte eine Pause, dann räusperte er sich und fuhr Viola durch das Haar.

»Außerdem was?«, hakte sie nach.

Nach einer Weile sagte er: »Außerdem sind wir noch nicht mal verheiratet.«

Viola hatte den Eindruck, dass er etwas anderes hatte sagen wollen, aber er schwieg.

»Nächsten Sommer werde ich 37, ist dir das klar?«, fragte sie ihn.

»Aber ja, du hochbetagte Frau, und dann gehen wir das Thema Nachwuchs an, versprochen, es muss doch nicht so schnell sein, oder?«

»Ich kann die Pille bald nicht mehr sehen«, erklärte Viola unglücklich, »immerhin nehme ich sie seit Jahren, obwohl ich gerne ein Kind möchte. Immer wenn es so weit war, dass ich sie hätte absetzen können, ist die Beziehung zum potenziellen Vater in die Brüche gegangen! Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt schwanger werden kann, ich konnte es noch nie ausprobieren.«

»Aber wir gehören zusammen, und werden es auch bleiben. Weißt du was? Wir könnten doch im kommenden Herbst heiraten, wenn die Kraniche einfliegen und die Insel wieder uns gehört, du hast dann weniger Patienten, dann feiern wir ein richtig schönes Fest und laden eine Menge Leute ein, wenn du willst. Und dann unterhalten wir uns auch in aller Ruhe über das Thema Elternwerden, einverstanden?«

»Klingt gut«, bemerkte Viola, schon wieder versöhnt, »da bin ich jetzt schon gespannt auf Florian als Ehemann und Vater. Also, ich nehme dich beim Wort. Sag mal, willst du unbedingt Florian Jung bleiben? Du könntest doch zu Florian Herz wechseln. Stell dir mal all die Inselbewohner vor, die sich an den neuen Namen der Inselärztin gewöhnen müss­ten. Nachdem sie schon zum ersten Mal in ihrer Geschichte eine weibliche Medizinerin vorgesetzt bekamen. Wo sie doch bei Neuerungen immer erst sehr skeptisch sind.«

»Die meisten Inselbewohner haben dich inzwischen anerkannt, sie würden auch einer Viola Jung zustimmen. Aber wenn du es möchtest, kann ich gern deinen Namen annehmen. Und weißt du, ein wenig lockerer als vor 50 Jah­ren sind die Leute hier schon geworden, denke ich.«

»Aber ein ganz besonderes Völkchen sind sie immer noch«, wandte Viola ein.

»O ja«, stimmte Florian lächelnd zu, »deshalb befindet sich mein Heimathafen ja auch inzwischen auf Hiddensee, abgesehen davon, dass die allseits beliebte und bekannte Inselärztin endlich die Kurve bekommen hat und zu mir an Bord gekommen ist.«

Ja, dachte Viola, diese schmale, am Westrand von Rügen gelegene Insel, die schon so viel Geschichte und so viele Geschichten erlebt hat, sie hat sich als der richtige Ort für mich erwiesen. Vor zwei Jahren war ich noch voller Ängste und Zweifel, ob ich es aushalte, ob ich mich als einzige Ärztin auf Hiddensee bewähre, ob ich nicht eines Tages den Inselkoller erleide und nach Hamburg flüchte, in die Großstadt, unter die Fittiche meines Vaters in seine Klinik.

Und nun liege ich hier, mit diesem jungen Mann an meiner Seite, dem Biologen und Weltenbummler, der wegen mir seine jahrelangen Abenteuer bei Greenpeace und ähnlichen Organisationen aufgegeben hat, oder zumindest den Vorsatz gefasst hat, sesshaft zu werden.

Ich bin glücklich. Wohin wir zusammen auch schippern werden, es wird hoffentlich nie an einer Klippe enden.

Draußen wurde es jetzt langsam heller, doch da Samstag war, konnten sie länger im Bett bleiben. Florian zog Violas Kopf zu sich heran, und sie legte ihn in seine Halsbeuge. Er schloss die Augen, aber Viola war mit dem Kinderthema noch nicht ganz fertig.

»Es gibt Paare, die finden es nicht so schlimm, wenn ein Kind sich schon vor der Heirat ansagt«, bemerkte sie und schmiegte sich fester an ihn, »und deine Mutter wird sich bestimmt über ein Enkelkind von ihrem einzigen Sohn freuen, meinst du nicht?«

Er schwieg, war er schon eingeschlafen? Sie hob den Kopf und sah in seine geöffneten Augen, die irgendwo auf die Wand hinter ihr blickten.

»Florian, ich habe dich etwas gefragt.«

Sein Blick kehrte zu ihr zurück. »Ich habe es gehört«, murmelte er, »ja, ich denke schon, dass sie sich freuen wird. Aber im Moment ist sie ja mit den sechs Kindern meiner zwei Schwestern Renata und Antonia ausreichend beschäftigt. Viola, komm, lass uns noch eine Stunde schlafen, bevor die ersten Wochenendpatienten anrufen.«

Doch Viola konnte nicht mehr schlafen. Florians Argumente, mit dem ersten Kind noch ein wenig zu warten, waren durchaus einleuchtend. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es noch einen anderen Grund gab. Vielleicht war es die Angst vor der Verantwortung, oder davor, noch mehr gebunden zu sein als jetzt. Das war durchaus möglich. Er selbst war mit einem Vater aufgewachsen, der oft wochenlang als Schiffskoch unterwegs gewesen war, auch heute noch, und die Erziehung seiner drei Sprösslinge seiner Frau überlassen hatte.

Wie könnte man ihm diese Angst nehmen? Sie seufzte und spürte, wie er langsam aus- und einatmete und seine Brust sich dabei leise hob und senkte. Er schlief bereits wieder. Wenn ich ihm Träume senden könnte, dachte sie, würde ich ihm ein kleines Mädchen schicken, das lachend am Strand entlangläuft und ihren Vater an seiner kleinen warmen Hand hinter sich herzieht. Und dann würde er sich in den Sand fallen lassen, auf den Rücken legen und sie hochheben, so dass er nur noch ihr niedliches verschmitztes Gesicht über sich hätte und den weiten blauen Himmel. Dann könnte er sicher darüber lachen, über sein Zögern und seine Bedenken. Und dann würde er mir voller Begeisterung erklären: Ich hätte nicht gedacht, dass eine kleine Tochter so etwas Bezauberndes ist. Warum haben wir sie nicht schon früher bestellt? Viola lag ganz ruhig da, lächelte und sah dieses Bild vor sich, während draußen der Morgen heraufzog.

3

Beim verspäteten Frühstück sagte Viola auf einmal nachdenklich: »Heute Nacht, eigentlich war es ja schon beinahe Morgen, als ich aus der Wohnung der Familie Celle kam, musste ich mit dem Auto wenden. Es hat kaum mehr geregnet, deshalb konnte ich durch die kahlen Bäume dieses alte Haus am Ende der Straße sehen. Du weißt schon, in dem seit vier Wochen der ältere Mann wohnt, ganz allein. Da kam er auf einmal aus den Wiesen über die Straße gelaufen, eigentlich habe ich nur einen menschlichen Schatten erkannt, aber er muss es gewesen sein, denn er ist schnell in seinem Häuschen verschwunden, mich hat er nicht bemerkt. Ist das nicht seltsam?«

Florian sah von seinem frischen Honigbrötchen hoch. »Nun, alte Leute wachen oft früh auf. Vielleicht hat er einen Spaziergang gemacht, um diese Jahreszeit kann man ja sonst nicht viel unternehmen.«

»Ja, vielleicht, aber ein wenig eigenartig ist er schon, die Leute reden. Er ist allein, er lässt sich nicht im Dorf blicken, außer wenn er etwas einkaufen muss, er spricht mit keinem Menschen, keiner weiß genau, woher er kommt und weshalb er hier ist. Niemand hat bisher sein Haus betreten, er schottet sich völlig ab. Ich habe schon gedacht, dass er vielleicht krank ist oder Hilfe braucht, psychisch krank meine ich, es könnte ja sein, dass er etwas Schlimmes erlebt hat und sich nun hier verkriecht. Unser Pastor Busche hat auch schon versucht, nach ihm zu sehen. Aber auf sein Klopfen hat niemand geöffnet. Er war mehrmals dort.«

»Das ist noch lange kein Grund, sich Sorgen zu machen«,erwiderte Florian beruhigend, »vielleicht ist er einfach nicht sehr kontaktfreudig. Wir wissen ja, dass sich hier alle Einwohner kennen und jeder über jeden Bescheid weiß. Wie oft hast du dich schon beschwert, dass du keinen Schritt tun kannst, ohne dass die halbe Insel dabei ist? Und natürlich macht dann ein fremder Mann, der da draußen einzieht und sich bedeckt hält, neugierig. Ich denke, man sollte respektieren, dass er so zurückgezogen lebt. Er wird sich schon melden, wenn er Hilfe braucht.«

Viola war nicht wirklich überzeugt, aber im Moment konnte sie nichts tun. Sie würde in den nächsten Tagen noch einmal bei der jungen Mutter in Grieben vorbeischauen. Bei dieser Gelegenheit konnte sie ja auch einen kurzen Blick auf das Haus werfen. Es war ein altes niedriges Reetdachhaus, abseits gelegen, dicht am Ufer. An den Außenwänden bröckelte der Putz, ein Fensterladen hing lose herunter, und Gebüsch wucherte ungeschnitten an den Seiten hoch. Einige hohe Weiden überragten es wie ein zweites Dach, ihre Blätter moderten auf dem Reet vor sich hin.

Nun, irgendwann einmal, spätestens im Frühling, musste der Bewohner hier etwas tun. So konnte man es nicht lassen. Und dann gab es sicher die Gelegenheit, mit ihm ein Gespräch anzufangen und etwas von seiner Geschichte zu erfahren.

»Was hast du heute vor?«, fragte sie Florian, der aufstand und begann, den Tisch abzuräumen. Das war auch eine Seite an ihm, die sie liebte: Wie selbstverständlich er sich stets ums Geschirr kümmerte. So auch heute, er stellte Teller und Tassen in die Spüle, ließ Wasser einlaufen und fing an abzuwaschen. Dabei sang er einen alten Schlager, und zwischendurch fasste er Viola mit seinen nassen Händen um die Taille und küsste sie ausgiebig.

»Ich werde zum Alten Bessin fahren und dort nach dem Rechten sehen«, erklärte er nach einigem Nachdenken. »Das Wetter ist wunderbar klar nach diesem Sturm, da kann ich mit dem Fernstecher alles überblicken.«

Der Alte Bessin war ein Teil des Naturschutzgebietes auf der Insel, die aus der Luft wie ein Seepferdchen aussah. Die Orte Vitte und Kloster lagen am Hals des Tierchens, der 70 Meter hohe Dornbusch bildete den Kopf und der Alte und Neue Bessin die schmale Schnauze. Es gab noch ein weiteres Vogelschutzgelände am Schwanz des Seepferdchens, den Gellen, und dazwischen befand sich die Heide, die Insel bildete dort den breiten Bauch des Seepferdchens.

Diese Schutzgebiete und einige Küstenabschnitte an der Westseite von Rügen, die alle zum Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft gehörten, waren Florians Bereich, er hatte hier seit einem halben Jahr in der Verwaltung und Beaufsichtigung zu tun und war Herr der Tiere und Pflanzen, ein gestrenger Herr, denn wenn er Touristen erwischte, die seine Vögel störten, konnte er sehr zornig werden. Ab und zu besuchte er die Zentrale auf dem Darß, wo die Mitarbeiter in einem wunderschönen alten Forsthaus mit Reetdach im Wald bei Born residierten, und dann gab es noch das Nationalparkhaus am nördlichen Ende von Vitte, das er betreute. Er war also reichlich beschäftigt.

»Und ich werde meine beiden Sorgenkinder besuchen«, teilte Viola ihm mit. Sie sah mit gefurchter Stirn aus dem Fenster. Die Sonne schien, der Sturm der Nacht hatte alle dunklen Wolken vertrieben, aber er wehte immer noch hef­tig über die Insel. »Er hat gedreht, wir haben jetzt Ostwind«, stellte sie fest, »sicher eiskalt. Wir werden bald den ersten Schnee bekommen in diesem Winter. Am liebsten würde ich mitkommen zum Bessin. Na, der Spaziergang zu meinen Patienten wird mir auch guttun, und auf dem Rück­weg gehe ich am Strand entlang.«

»Hoffentlich bläst der Wind dich dann nicht ins Meer, mein leichtes Mädchen«, meinte Florian munter, während er bereits seinen dicken Anorak anzog, die schwarzen ­Locken zusammenband und unter eine Mütze steckte, Handschuhe und Fernstecher nahm und sich zu Pauli, dem Kater, bückte, der in seinem Korb lag und schnurrte. »Kein Wetter zum Mäusefangen, nicht? Die sind alle in ihrem Bau. Armer Kater.« Er winkte Viola zu, die nachdenklich in der Küche stand und mit ihren Gedanken schon bei den zwei Kranken war, die sie besuchen wollte. Dann lief er die Treppe hinunter, am Eingang zur Praxis vorbei und hinaus auf die schmale Straße, die durch Vitte führte. Er ging zu Fuß, denn mit dem Fahrrad kam man bei diesem heftigen Wind auch nicht schneller vorwärts, zudem konnte man auf dem Weg über den Damm an der Ostseite der Insel sogar ziemlich in Schwierigkeiten geraten. Zum Bessin waren es ungefähr vier Kilometer, gut so, da würde ihm richtig warm werden beim Ausschreiten.

Viola ließ sich Zeit, machte Paulis Katzenklo noch sauber, sah kurz in die Zeitung und stieg dann schließlich hin­unter in die Praxisräume.

Jedes Mal, wenn sie das Sprechzimmer im Erdgeschoss des Arzthauses betrat, holte sie tief Luft. Es war der vertraute Geruch, der sie hier empfing, nach Desinfektionsmitteln, Sauberkeit und einem Hauch Nonchalance. Das war ihr Reich. Sie strich über die glänzend weiße Ober­fläche der Schränke, erfreute sich an den silbern blitzenden Pinzetten, Scheren und Klemmen in den Glasschalen und griff schließlich nach ihrem Arztkoffer.

Er war groß und schwer, sie hielt nichts von kleinen Damentaschen, außerdem musste man hier mehr bereithalten als zum Beispiel in einer Stadt, in der die Apotheke nicht weit war. Auf der Insel gab es keine Apotheke. Die Medikamente kamen von Gingst auf Rügen und wurden dann an die Patienten an der Ausgabestelle abgegeben. Aber ein Grundsortiment hatte Viola immer in der Tasche, Antibiotika zum Beispiel, Schmerztabletten, Kinderzäpfchen, und dann natürlich alles zum Behandeln von Wunden und die Ampullen für Notfälle.

Ein zweiter Koffer enthielt Atemgerät und Absaugpumpe und einige kleinere Instrumente, aber den brauchte sie jetzt nicht.

Sie holte sich aus dem Vorzimmer die Unterlagen der zwei Patienten. Hier residierten abwechselnd Lisa und Doris, schon beim Vorgänger Dr. Roth hatten sie für Ordnung gesorgt, und in den ersten Wochen hatten sie Viola oft hilfreiche Hinweise gegeben.

Lisa übernahm in der Regel die Vormittage, sie war eine Arzthelferin mit viel Erfahrung, Doris kam an drei Nachmittagen. Sie betreute als ausgebildete Krankenschwester zusätzlich einige Pflegefälle und war ein echtes Inselkind, hier geboren und aufgewachsen.

Viola fuhr, wenn sie Zeit hatte, gern mit dem Rad auf der autofreien Insel, oder sie ging zu Fuß. Das hatte sie heute vor. Die zwei Patienten, die sie besuchen wollte, wohnten in Kloster, zwei Kilometer waren gut zu schaffen, auch wenn der Koffer schwer war. Und so ging sie, genau wie Florian dick eingemummt, durch Vitte, dann das Norder­ende entlang in Richtung Kloster.

Die Insel war in Vitte sehr schmal, vom Hafen bis zum Westufer nur ungefähr 500 Meter, dann lief die Straße ganz nah am West-Strand weiter, unterhalb des Dünenkamms. Rechts dehnten sich jetzt Wiesen aus, dahinter war der Ostdeich zu sehen, auf dem Florian zum Alten Bessin marschiert war.

Viola kämpfte gegen den scharfen Wind, der sie von der Seite angriff, es waren kaum Menschen unterwegs, aber diejenigen, die sie traf, begrüßten sie mit einem aufmunternden »Moin, Frau Doktor« oder auch »Kein Wetter zum Baden, Dokting, nicht?«.

4

Viola lächelte in sich hinein. Es gab da eine Geschichte über den früheren Pastor Arnolds, als er im Sommer mit seiner Badeausrüstung Richtung Strand gegangen und unterwegs einem alten Fischer begegnet war, der zu ihm sagte: »Pasting, sünd Sei in all dei Johr’n noch nich tau’n echten Hiddenseer word’n?«

»Wie meinen Sie das?«, hatte der gefragt. »Na, en echten Hiddenseer boat doch nich!«, bekam er zur Antwort.

Sie fühlte sich inzwischen fast wie ›en echten Hiddenseer‹, zumindest was das Baden betraf, denn es kam selten vor, dass sie in der Hochsaison dazu Zeit hatte. Und außerdem war ihr das Wasser zu kalt, aber barfuß durch die Wellen zu laufen, die an den Strand ausliefen, das war ein häufiges Vergnügen.

Und den Winter auf der Insel hatte sie auch zu schätzen gelernt, er hatte den Vorteil, dass es hier dann sehr ruhig war, weil kaum Gäste kamen.

Vor fast zwei Jahren, als Viola mit dem Schiff an diesem nasskalten Februartag angekommen war, war sie sich gar nicht sicher gewesen, ob sie es lange aushalten würde. Und nun war sie hier schon richtig zu Hause, sie kannte die Einwohner und wurde freundlich begrüßt, und der kalte Wind konnte sie nicht mehr umwerfen.

Sie blickte an einem Durchlass in der Düne auf das Meer zu ihrer Linken, das heftig schäumte und toste, als wollte es die Insel in der Mitte entzweireißen, dann sah sie voraus auch schon die ersten adretten, weiß gestrichenen Häuser mit den korallenroten Ziegeldächern oder den dunklen Reetdächern von Kloster. Dahinter konnte man das aufsteigende Gelände des Dornbusch erkennen, auf dessen Höhe der Leuchtturm stand, und die Kiefern, die sich im Wind beugten. Der erste Patient, den sie besuchte, saß im Rollstuhl. Ein kräftiger untersetzter Mann, der seine tiefe Verzweiflung und Verbitterung, durch einen Schlaganfall so hilfsbedürftig geworden zu sein, hinter einem mürrischen, abweisenden Gesichtsausdruck verbarg.

»Guten Tag, Herr Rupert«, begrüßte ihn Viola, doch er sah kaum auf. Seine linke Hand lag verkrümmt und versteift in seinem Schoß, das linke Bein war über die Fußstütze gerutscht und hing auf den Boden.

»Wie geht es Ihnen?« Sie stellte ihre Tasche auf den Tisch und klappte sie auf, während seine Frau begann, ihm die Jacke auszuziehen.

»Ich messe Ihnen jetzt den Blutdruck, wie immer, Herr Rupert«, sagte Viola ohne auf seine unwirsche Miene zu achten. »Und dann habe ich noch etwas mit Ihnen zu besprechen.«

Er wandte den Kopf ab. »Was gibt es mit einem Krüppel schon zu bereden?«, entgegnete er. »Sie können mich nicht wieder gesund machen, oder? Weiter ist dazu nichts zu sagen.«

»O doch«, erwiderte Viola mit fester Stimme, »es ist jetzt drei Monate her, seit Sie den Schlaganfall hatten, und ich denke, trotz allen Unglücks, trotz aller Mutlosigkeit ist es jetzt an der Zeit, dass Sie aufhören, mit dem Schicksal zu hadern. Herr Rupert, Sie waren immer ein Mann, der die Ärmel aufgekrempelt und ›Jetzt erst recht‹ gesagt hat, wenn etwas schiefgegangen ist. Das weiß ich von Ihrer Frau und den Nachbarn.«

»Jawohl, Frau Doktor«, stimmte diese zu, die neben ihm stand, ihr rundes Gesicht zeigte einen bekümmerten Ausdruck, »sagen Sie es ihm nur mal deutlich. Wenn ich daran denke, wie er sein ganzes Leben lang auf den Dächern saß und das Reet festgezurrt hat, und als dann die Wende kam und nichts war mehr wie vorher, da hat er immer gesagt, man kann aus allem etwas Gutes machen, nicht wahr, Heinz?«

Sie bekam nur ein Brummen zur Antwort, aber er richtete sich ein klein wenig in seinem Rollstuhl auf.

»So, der Blutdruck ist in Ordnung«, stellte Viola nach einer Weile fest, entfernte die Armmanschette wieder und legte sie auf den Tisch. »Und nun, Herr Rupert, hören Sie mir gut zu. Ich kann für Sie einen elektrischen Heimtrainer beantragen, zusätzlich zu den Therapien, die Sie schon bekommen, aber nur, wenn Sie bereit sind, täglich darauf zu üben. Und ich kann Ihnen versprechen, dass Sie wieder ­einige Schritte gehen können und den Rollstuhl zumindest in der Wohnung nicht mehr brauchen werden. Aber Sie müssen mitmachen und sich anstrengen. Außerdem habe ich noch einen kleinen Anschlag auf Sie vor: Sie waren ­einer der Ersten hier, der einen Computer hatte, und Sie kennen sich gut damit aus. Ihr Kopf ist in Ordnung, und Ihre rechte Hand ebenfalls. Also, wir brauchen jemanden, der seine Kenntnisse auf diesem Gebiet weitergibt. Es gibt viele ältere Herrschaften auf der Insel, die ein Interesse daran haben, etwas mehr über Textverarbeitung, Buchhaltung, Internet und so weiter zu erfahren. Sie könnten es ihnen zeigen.«

Herr Rupert runzelte die Stirn, aber Viola meinte, einen Hauch von Interesse an ihm wahrzunehmen.

»Überlegen Sie es sich«, sagte sie und sah ihn eindringlich an, »und wenn ich nächste Woche wiederkomme, möchte ich gern eine Antwort.« Sie legte die Hand auf seine Schulter. »Ich weiß, dass Sie ein guter Lehrer sein können«, setzte sie mit warmer Stimme hinzu. »Ihre Lehrlinge haben immer gern bei Ihnen gearbeitet, und Spaß werden Sie bestimmt auch haben. Stellen Sie sich vor: Heinz Rupert, Computerkurse für Anfänger und Fortgeschrittene, klingt das nicht interessant? Und vergessen Sie nicht: Man kann aus allem etwas Gutes machen.«

Er legte den Kopf zurück und sah Viola zum ersten Mal richtig an. »Sie haben leicht reden«, meinte er, doch seine Miene entspannte sich etwas, während sein Blick hinüber zum Schreibtisch mit dem Rechner wanderte.

Viola genügte dieser kleine Fortschritt. Immerhin hatte er nicht sofort abgewunken. Jetzt konnte sie nur noch abwarten, ob der Keim, den sie gelegt hatte, weiter wuchs. Man durfte ihn nicht drängen, er musste es von selbst wollen.

Als sie kurz noch mit seiner Frau im Flur stand, sagte sie zu ihr: »Verwöhnen Sie ihn nicht, er soll alles, was irgendwie geht, selbst machen, auch wenn es ihm schwerfällt.«

Frau Rupert nickte. »Ich weiß, ich bin eine Glucke, schon immer gewesen, jetzt müssen wir beide umdenken, auch wenn es mir das Herz zerreißt, wenn ich sehe, wie er versucht, mit einer Hand sein Brot zu schneiden.«

»Er kann und soll die andere dazu nehmen, es ist noch lange nicht Zeit, zu resignieren«, erklärte Viola bestimmt. »Und vielleicht ist es auch gut, ihn ab und zu ein wenig zu provozieren, ein Krach in Maßen kann eine ganze Menge Kräfte und Lebenswillen mobilisieren.«

Frau Rupert lachte. »Das dürfte nicht schwer sein«, meinte sie, »ein Sturkopf war er schon immer. Na, Streit auf ärztlichen Rat, das habe ich auch noch nicht gehört, aber ich könnte mir denken, dass es ihm tatsächlich guttut. Er fühlt sich dann wieder für voll genommen.«

5

Die zweite Patientin, die Viola an diesem Samstag noch besuchte, war eine junge Frau, 32 Jahre alt. Sie hatte zwei Kinder und wollte im Frühjahr eine Pension eröffnen. Drei Doppelzimmer mit Frühstück konnte sie anbieten. Als vor vier Wochen Brustkrebs bei ihr diagnostiziert worden war, hatte man sie sofort operiert. Jetzt wurde die Behandlung mit Chemotherapie fortgesetzt, für die sie regelmäßig nach Bergen hinüber ins Sana-Krankenhaus musste.

Es ging ihr nicht gut. Viola konnte nicht viel mehr tun, als ihr Mut zuzusprechen.

Im Wohnzimmer, in dem die junge Frau auf dem Sofa lag, war Lisa am Werk, Violas unentbehrliche Sprechstundenhilfe. Man konnte sich kaum einen größeren Gegensatz vorstellen als diese beiden Frauen. Die stämmige Lisa mit den energischen Bewegungen, dem rheinländischen Dialekt und der lauten Herzlichkeit, bereits im Oma-Alter, wie sie immer betonte. Allerdings hatte sie keine Kinder oder Enkel, da sie erst spät geheiratet hatte, den Postmann der Insel. Aber sie war immer bereit, jemanden zu adoptieren, der Hilfe brauchte.

Und auf dem Sofa die schmale zarte Liana Engel mit den großen blauen Augen.

Viola nannte sie insgeheim immer die Elfe, weil sie im Sommer in pastellfarbenen langen Flatterkleidern durch den Ort schwebte und ihre beiden Töchter von vier und sechs Jahren mit ebenso entzückenden Röckchen ausstattete, bei denen Viola immer bewundernd seufzte.

Und nun war diese junge Frau an Brustkrebs erkrankt, und Lisa brachte den Haushalt auf Vordermann.

»So viel Schnickschnack«, murmelte sie, als sie Viola begrüßte, »alles Staubfänger.« Trotzdem bearbeitete sie die ›Staubfänger‹ sorgfältig mit dem Wedel. Mehrere Katzen aus Ton standen auf den Fensterbrettern, in einem Regal tummelten sich große bunte Glaskugeln, selbst gefädelte Ketten hingen an einem Zweig in einer Vase, und über zwei Sessel waren gewebte Decken mit bunten Phantasiemustern gelegt. Ein heiteres Zimmer, über das von heute auf morgen das Unglück hereingebrochen war.

Viola setzte sich neben die junge Frau, die sich ein wenig aufgerichtet hatte und ihre Hausärztin mit einem gequälten Lächeln begrüßte. Sie war blass und trug ein Kopftuch, die langen blonden Haare waren bereits dabei auszufallen.

»Danke, dass Sie auch am Wochenende kommen«, sagte sie. »Auch Lisa ist so tüchtig, alle bemühen sich um mich. Horst ist mit den Kindern draußen, sie wollen in den Wald auf dem Dornbusch, da pfeift der Wind nicht so eisig. Und ich liege hier und bin so müde, dass ich es kaum auf die Toi­lette schaffe.«

»Sie dürfen hier liegen«, entgegnete Viola. »Sie brauchen jetzt alle Kraft, um die Chemotherapie zu überstehen und wieder gesund zu werden. Und das werden Sie. Ich habe noch einmal mit dem Arzt in der Sana-Klinik telefoniert und zusätzlich noch mit dem Tumorzentrum in Heidelberg. Ihre Chancen stehen gut, Sie sprechen gut auf die Therapie an. Bis zum Sommer werden Sie wieder mit den Kindern am Strand entlanglaufen.«

Liana nickte, aber mit zweifelnder Miene. »Ich kann es mir noch gar nicht vorstellen. Diese ewige Übelkeit, ich weiß schon gar nicht mehr, wie es ist, ohne Brechreiz zu sein.«

»Ja, das macht mir auch Sorgen, und Sie sollten auch nicht weiter abnehmen. Aber nachdem bisher alles, was wir versucht haben, nicht viel geholfen hat, war ich bei unserer Krankengymnastin. Sie hat gemeint, wir könnten es einmal mit Akupressur probieren. Keine Medikamente mehr, sondern ein Versuch, über die richtigen Druckpunkte eine Besserung zu erreichen. Was meinen Sie?«

Lianas Augen leuchteten auf. »Akupressur? Ja, das könnte mir helfen. Kann ich gleich am Montag eine Behandlung bekommen?«

»Birgit will schon heute Mittag vorbeischauen, da sie sowieso in Kloster zu tun hat. In Ordnung?«