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Als Viola Herz die Arztpraxis auf Hiddensee übernimmt, fühlt sie sich anfangs noch fremd. Doch die Schönheit der Insel nimmt sie gefangen, und bald freundet sie sich auch mit der rauen, aber liebenswerten Art der Bewohner an. Und sie lernt zwei Männer kennen: Florian, den jungen, spontanen Biologen, und Georg, den verlässlichen Buchhändler. Wird Viola bei einem von ihnen das Glück und die Liebe finden?
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Das Buch
Als Dr. Viola Herz, 34 Jahre alt, von ihrem Verlobten betrogen wird, wirft sie kurzerhand alles hin: ihre Stelle als Assistenzärztin in München sowie ihre Aussicht auf baldige Heirat, ein gemütliches Eigenheim und ein oder zwei Kinder. Mit Sack und Pack und ihrem Kater Pauli macht sie sich auf den Weg nach Hiddensee. Dort hat sie sich erfolgreich auf die Übernahme der verwaisten Arztpraxis beworben.
An einem kalten, windigen Februartag kommt Viola im Hafen von Vitte an. Ein neues Leben beginnt. Schnell lernt sie die kleinen und großen Patienten kennen, die froh sind, wieder eine Ärztin auf der Insel zu haben. Trotzdem fühlt Viola sich zunächst fremd. Aber dann trifft sie auf Ottilie, die eine gemütliche Kneipe und immer einen guten Rat für Viola hat. Bei einem Strandspaziergang begegnet ihr der Biologe Florian, ein charmanter, unverschämt gut aussehender Abenteurer. Und sie lernt den Buchhändler Georg kennen, der Viola mit leckeren Menüs verwöhnt.
Das Frühjahr kommt, dann der Sommer, und Viola fühlt sich langsam heimisch. Wenn da nur nicht die Frage wäre, für welchen der beiden Männer sie sich entscheiden soll. Schließlich fasst sie einen folgenschweren Entschluss.
Die Autorin
Carin Winter hat Medizin studiert und mehrere Jahre als Ärztin in einem Dorf gearbeitet; später entdeckte sie die Lust am Schreiben. Teile ihrer Familie stammen von Rügen, ein Großonkel war dort auch Arzt. Carin Winter lebt in Weil der Stadt.
Von Carin Winter ist in unserem Hause bereits erschienen:
Die Liebe der Inselärztin
Hiddensee
Hett di de Welt watt dohn
Un dä di weh
Un will di nich verstohn,
Denn pack dien Leed un Krohm
Un go noh Hiddensee.
Do warst du licht un free!
Nikolaus Niemeier
»GUT EINGEFÜHRTE ARZTPRAXIS IN Vitte auf Hiddensee abzugeben, engagiertes Personal vorhanden, Einzugsgebiet 1200 Einwohner«, stand in der Anzeige im Ärzteblatt.
Viola hatte sich ein wenig lustlos an ihren Schreibtisch gesetzt, um die Angebote durchzusehen, aber nun hob sie den Kopf. Hiddensee! Irgendwo tief in ihrem Gedächtnis hatte dieser Begriff wie Dornröschen im Schlaf gelegen und war nun plötzlich wieder aufgewacht, verbunden mit dem Bild eines grauhaarigen alten Mannes mit gütigen Augen und erhobenem Zeigefinger beim Erzählen.
Großvater, dachte sie, unser Großvater von Rügen, der in einem kleinen, mit Stroh gedeckten Pfarrhaus in Rappin aufgewachsen war, mit sechs Geschwistern. Und der unzählige Geschichten und Sagen von den Inseln Rügen und Hiddensee gewusst hatte.
»Wenn ich einmal im Ruhestand bin«, pflegte er am Schluss immer zu sagen, »dann werde ich nach Hiddensee umsiedeln, und dort möchte ich begraben werden, auf dem Friedhof neben der Kirche, zwischen den alten Seeleuten, die mir all diese Geschichten erzählt haben.«
Leider ging sein Wunsch nicht in Erfüllung, und nun ruhte er in Rappin, wo er bis zuletzt gelebt hatte.
Aber genau auf dieser kleinen Insel an der Westküste von Rügen wurde jetzt ein Arzt gesucht.
War das ein Wink des Schicksals?
Viola schob den Stuhl zurück, trat an das Regal neben dem Schreibtisch und holte sich den Autoatlas herunter.
Tatsächlich, da befand sich Hiddensee, schmal, langgezogen, die südliche Spitze nicht weit vom Festland entfernt. Rechts direkt daneben Rügen, sehr viel größer. Man musste schon genau hinschauen, um festzustellen, dass Hiddensee nicht einer der langen Zipfel Rügens war, sondern eine eigene Insel.
Und ganz weit weg von München, dachte Viola. Das ist schon mal gut.
Sie erhob sich und stellte das schwere Buch wieder zurück. Dabei fiel ihr Blick auf das Foto, das immer noch in einem hellen Holzrahmen im Regal stand. Jochen, Oberarzt in der Chirurgie, 42 Jahre alt, geschieden, zwei Kinder, lachte mit blitzenden Augen in die Kamera. Ein gutaussehender Mann mit hellem, dichtem Haar und selbstbewusster Haltung.
Er hatte den rechten Arm locker um Violas Schultern gelegt, und sie, einen Kopf kleiner als er, sah ihn strahlend an, die rotbraunen Locken wie immer ein wenig zerzaust, die schmale Nase mit einem leichten Schwung nach oben, Mund und Kinn energisch, immerhin. Das Beste, fand sie, waren ihre Augen, groß und von einem hellen Grau. Sprechende Augen, hatte Jochen immer gesagt.
Wenn man allerdings genauer hinsieht, dachte sich Viola, kann es dann vielleicht sein, dass Jochen gar nicht die Kamera anlacht, sondern sein Strahlen der attraktiven Kollegin gilt, die das Foto gemacht hatte? Warum hatte sie das nie bemerkt?
Viola straffte sich, packte das Bild mit fester Hand und knallte es in den Plastikeimer neben dem Schreibtisch. Das hätte sie schon vor Wochen machen sollen. Aber diesen letzten, endgültigen Schlusspunkt unter ihre Liebesgeschichte mit Jochen zu setzen, hatte sie bisher noch gescheut.
Doch jetzt spürte sie wieder ihre alte Entschlusskraft, und das schien mit einer kleinen Insel in der Ostsee zusammenzuhängen.
Sie setzte sich an den Schreibtisch und sah sich die Anzeige im Ärzteblatt noch einmal an. Dann griff sie nach dem Telefon.
Ja, die Praxis sei noch nicht vergeben, erklärte ihr eine sympathische Frauenstimme, die sich mit »Gemeindeverwaltung Hiddensee« gemeldet hatte.
»Wir haben schon mehrere Bewerbungen und werden dieses Mal sehr genau hinschauen, wer zu uns passt. Mit unserem letzten Arzt haben wir keine gute Erfahrung gemacht.«
»Was war denn mit ihm nicht in Ordnung?«, wollte Viola wissen.
»Er hat die Praxis vor einem Jahr übernommen, nachdem unser bisheriger Arzt nach vierzigjähriger Tätigkeit abgemustert hat. Und zehn Monate später ist er nach Rostock verschwunden mit der Bemerkung, er habe es sich anders vorgestellt.«
Ich weiß eigentlich auch nicht, was auf dieser Insel auf mich zukommt, dachte Viola, aber da klärte die junge Frau sie auch schon auf: »Im Winter geht es hier gemächlich zu, da gibt es nur die Inselbewohner zu versorgen. In den Sommermonaten allerdings kommen die Urlauber und die Tagesgäste, da bleibt nicht viel Zeit zum Segeln oder um am Strand zu liegen, das müssen Sie sich klarmachen. Andererseits«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu, »ist Hiddensee der Ort mit den meisten Sonnenstunden in Deutschland. Und wenn Sie Ruhe und Stille suchen, die finden Sie hier auf jeden Fall.«
Wollte sie Ruhe und Stille? Auch das war ungewiss. Abernun hatte Viola schon den ersten Schritt getan, und sie würde nicht wieder zurückrudern.
Alles Weitere passte. Die Ablösesumme war erschwinglich, was aber auch bedeutete, dass man sich nicht unbedingt eine goldene Nase verdienen konnte. Doch das war ihr nicht wichtig. Sie sollte so bald wie möglich ihre Bewerbungsunterlagen schicken, man würde ihr dann Bescheid geben. Die Entscheidung liege vor allem bei den Einwohnern, da es dem flüchtigen jungen Arzt in Rostock egal sei, wer nach ihm komme, Hauptsache, er erhielte sein Geld wieder.
Dr. Viola Herz, 34 Jahre alt, wieder Single und mit in den Papierkorb entsorgten Träumen und Wünschen, stand also noch einmal auf und ging zum selben Regal, in dem nicht nur der Autoatlas seinen Platz hatte, sondern auch alle ihre Ordner, ihre medizinischen Bücher, ein kleiner anhänglicher Teddybär, der immer dabei gewesen war, wohin es sie auch gezogen hatte in den letzten Jahren, ein Duftstein und daneben ein Fläschchen Lavendelöl zur Entspannung und ein Glas mit Sand und Muscheln. Sie war früher oft am Meer gewesen, schließlich stammte sie aus Hamburg, und da war die Küste nicht weit.
Sie nahm die Akte heraus, die ihr ganzes Leben enthielt, und sah die einzelnen Papiere durch.
Ihr Lebenslauf las sich beruhigend einfach: Grundschule, Gymnasium, Abitur, Medizinstudium. Dann die erste Stelle in der Hamburger Klinik bei ihrem Vater, der dort Chefarzt war. Und danach der Rutsch nach Süden. Seit vier Jahren war sie nun schon hier in München. Mit der Ausbildung zur Allgemeinärztin war sie fertig, nur die Kassenzulassung fehlte noch. Aber die würde sie im Handumdrehen bekommen.
Und vor zwei Jahren hatte sie Jochen kennengelernt, den Herrn Oberarzt, der begehrteste Mann auf der Station. Sein Charme, seine Wärme und die Tatsache, dass er sie ziemlich schnell ganz offen umworben hatte, hatten sie damals fast schwindelig vor Glück werden lassen.
»Jetzt hole ich dich doch noch ein«, hatte sie ihrer älteren Schwester Ina freudestrahlend am Telefon erklärt. »Ich habe vor, so schnell wie möglich eine Tochter und einen Sohn zu bekommen, dann bist du mir mit deinen zwei Kindern nicht mehr voraus.«
»Glückwunsch!« Ina lachte. »Ich freue mich für dich, Viola. Wann ist denn die Hochzeit?«
»Wir haben uns Weihnachten vorgenommen, wenn Jochens Kinder Ferien haben. Du wirst natürlich eingeladen, und ich hoffe, dass du mit der ganzen Familie anreist!«
Doch dann war alles ganz anders gekommen.
Jochen hatte seinen Charme und seine Wärme auch mit anderen Frauen geteilt, immer wieder. Zuletzt war es die Diätassistentin im Erdgeschoss gewesen, eine dunkelhaarige, rassige Schönheit, die Viola mit spöttischem Blick musterte, wenn sie ihr begegnete.
Und so hatte diese schließlich die Konsequenz gezogen und gekündigt. Ihren Arbeitsplatz und ihrem Oberarzt. Und sie war wieder in ein möbliertes Zimmer gezogen, nachdem sie in Jochens eleganter Wohnung so lange Zeit viel Raum und Luxus genossen hatte.
Wie viele Tränen und schlaflose Nächte sie das alles gekostet hatte, hatte sie niemandem erzählt. Und wie viel Kraft, nach Jochens Anrufen nicht sofort wieder zu ihm zu fahren und in seine Arme zu sinken.
Viola sah auf die Papiere hinab, die nichts davon verrieten, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und hing ihren Gedanken nach, die immer noch viel zu oft um diesen verdammten Mann kreisten. Sie sah sein Gesicht vor sich mit dem ansteckenden Lächeln, bei dem seine Augen ganz schmal wurden, sie dachte daran, mit welcher Begeisterung er immer seinen Rucksack packte, wenn es ihn in die Berge zog, an die ruhige, feste Art, wenn er im Operationssaal seine Instrumente einsetzte, an seine Zärtlichkeit und Wärme, wenn sie bei ihm war. Aber mit Täuschungen und Ausflüchten konnte sie nicht leben.
»Aha, der Herr handelt nach dem Prinzip ›festmachen und weitersuchen‹«, war der vorlaute Kommentar ihres Bruders Dirk gewesen, als Viola ihm erklärt hatte, warum es keine Hochzeit geben würde.
»Knallkopf!«, hatte ihn Viola angefaucht, obwohl er eigentlich recht hatte.
Viola schrak hoch, als der graue Tigerkater, der schon die ganze Zeit neben ihrem Stuhl gelauert hatte, plötzlich mit einem weichen Sprung auf ihrem Schoß landete.
»Pauli«, sie kraulte ihn leicht im Nacken, und er fing an, wohlig zu schnurren, »willst du nach Hiddensee? Mit mir zusammen? Aber sicher willst du. Es ist ziemlich weit, wir werden einen ganzen Tag unterwegs sein, aber es wird dir dort gefallen. Es gibt Sand und Meer und strohgedeckte Häuser und viele, viele Vögel, und vielleicht auch einen Leuchtturm. Aber der interessiert dich wahrscheinlich weniger.«
Pauli schnurrte leise und legte sich bequem auf Violas Schoß zurecht. Und Viola griff jetzt endlich nach ihren Unterlagen und schrieb ihre Bewerbung.
ALS VIOLA EINE STUNDE später aus dem Haus trat, blieb sie überrascht stehen. Die Luft war kalt und klar, auf dem Gras im Vorgarten lag im Schatten eine glitzernde Reifschicht. Daneben, wo die Sonne bereits angekommen war, hatte sie die Eiskristalle schon geschmolzen, und winzig kleine funkelnde Wassertropfen hingen an den Grashalmen.
Wo war sie die letzten Wochen eigentlich gewesen? Hatte sie sich so in ihrem Kummer vergraben, dass sie kein Auge mehr für die Schönheit ihrer Umgebung gehabt hatte? Andererseits hatte der Januar bis jetzt fast ausschließlich Nebel und trübe Wolken geboten, und so konnte sie sich nicht vorwerfen, nur aus lauter Niedergeschlagenheit bis auf den Tiefpunkt abgesackt zu sein. Das Wetter in der letzten Zeit hatte kräftig nachgeholfen.
Aber jetzt schien die Sonne, und als würde sie Violas Trübsinn ebenso wegschmelzen wie die Eiskristalle auf dem Gras, so fühlte sich Viola auf einmal fast wie neugeboren. Oder war es das erfreuliche Gespräch mit der Dame von der Gemeindeverwaltung in Vitte, dem Hauptort von Hiddensee, gewesen? Egal, das Leben begann, sich wieder zu regen.
Auf die beiden Blumenbeete im Vorgarten hatte die Vermieterin im Herbst eine dicke Schicht Pferdemist aufgebracht. Im Jahr zuvor waren hier Hunderte kleiner Schneeglöckchen aus dem Boden gekommen, hoffentlich wurden sie von dem Dünger nicht erdrückt.
Viola bückte sich und schob mit einem Zweig, der in der Wiese gelegen hatte, an einer Stelle vorsichtig die oberste Schicht beiseite. Und siehe da, unter der wärmenden Decke zeigten sich schon die ersten Spitzen der Schneeglöckchen. Sie würden es schaffen, sie würden sich durch Kälte und Dung vorarbeiten bis zum Licht und blühen. Das war ein gutes Zeichen.
Es mochten weitere Tage kommen, an denen sie deprimiert war und sich am liebsten im Bett verkriechen würde, aber nie, nie wieder würde sie wegen eines Mannes wochenlang abtauchen und das Leben an sich vorbeigehen lassen, das nahm sie sich fest vor.
Langsam und tief die kalte Luft einatmend, ging Viola mit dem Umschlag, der ihre Bewerbung enthielt, zum Briefkasten. Der Kater Pauli lief zunächst eine kleine Strecke hinter ihr her, drehte dann aber wieder um. Auf einem Holzstapel neben dem Haus wartete er in der Sonne auf seine Herrin.
Viola entschloss sich, noch einen kleinen Abstecher in die Bücherei zu machen. Sie wollte sehen, was es dort an Büchern zu Hiddensee gab, und bei der Gelegenheit auch gleich im Internet forschen. Außer den Sagen und Geschichten von ihrem Großvater und dem Klang seiner Stimme mit den immer wieder eingestreuten Wörtern auf Plattdeutsch wusste sie nicht viel über die Insel. Und jetzt war sie neugierig, auf was sie sich da überhaupt einlassen wollte.
»Die Insel Hiddensee ist ungefähr 17 km lang und maximal 3,7 km breit«, las sie. »Sie erinnert in der Form an ein Seepferdchen.« Stimmt, mit einiger Phantasie konnte man tatsächlich dieses kleine Wassertier erkennen.
»Im Norden befindet sich der Dornbusch, ein bis zu 72 m hohes, hügeliges Gelände mit Wald, im Süden ist die Insel flach mit Dünen, Heide, Salzwiesen und Sand. Es gibt vier Dörfer auf Hiddensee. Ganz im Norden Grieben, das nur aus wenigen Häusern besteht. Dann Kloster mit Heimatmuseum, Inselkirche, Gerhart-Hauptmann-Haus und Künstlergalerien.« Kultur konnte man also auch erwarten.
Dann gab es noch Vitte, den Hauptort, in dem sich die Arztpraxis befand, sowie ein kleines Fischerdorf am Südende der Insel namens Neuendorf mit seinem alten Ortsteil Plogshagen. Neuendorf war denkmalgeschützt, also sicher sehr romantisch. Die Einwohnerzahl lag bei um die 1200 für die ganze Insel, und in Vitte wohnten gerade mal 600 Insulaner.
»Die Insel ist autofrei.« Ach du liebe Zeit, wie sollte sie da ihre Besuche machen? »Ausnahmen sind landwirtschaftliche Zugmaschinen, Feuerwehr, Polizei sowie Arzt und Rettungsdienst.« Sehr schön, das hätte sie sich denken können. Damit konnte man leben.
Nach einer halben Stunde schwirrte Viola der Kopf. So eine kleine Insel und so viel Information! Sie holte sich noch einen Bildband mit wunderbaren Fotos aus dem Regal: »Alle vier Jahreszeiten auf Hiddensee«. Dann ging sie langsam und nachdenklich wieder heimwärts.
Pauli erwartete sie auf dem Holzstoß. Er schnurrte wohlig, als sie ihn streichelte; sein Fell war sonnenwarm und seidig.
»Sonne«, teilte Viola ihm mit, »Sonne gibt es auf Hiddensee reichlich. Ich glaube, es könnte dir dort gefallen. Wie es mit mir ist, weiß ich noch nicht. So ganz allein … Aber egal, wo ich demnächst lande, allein werde ich auf jeden Fall erst einmal sein.«
DREI WOCHEN SPÄTER WAR Viola mit ihrem vollgepackten Kombi unterwegs in Richtung Norden. Auf dem Nebensitz saß Pauli in seinem Transportkorb und sah sie mit vorwurfvollem Blick an.
Viola fuhr gemächlich. Es regnete, einzelne Schneeflocken mischten sich unter die Tropfen, aber je weiter Viola vorankam, desto heller wurde es.
Die Autobahn verlief schurgerade, es herrschte wenig Verkehr. Viola fragte sich, wie es jetzt wohl in der Klinik in München aussah.
»Vielleicht ist gerade Visite«, sagte sie zu Pauli, dem treuen Zuhörer. »Weiße Kittel, strenge Hierarchie, der Chef vorne, dann der Oberarzt, dahinter Assistenten, schließlich Frau Dr. Viola Herz, schon an der Grenze zu den Pflegerinnen, ganz hinten ein oder zwei Schwesternschülerinnen. So war das. Eigentlich lächerlich, immer noch diese Halbgott-Mentalität. Deshalb wollte ich ja auch irgendwann einmal eine eigene Praxis. Zusammen mit Jochen.« Sie seufzte und sah zu Pauli hinüber. Er blickte sie aus seinen großen, schrägen Katzenaugen aufmerksam an.
An ihrem Schreibtisch saß nun ein fremder Arzt, und Jochen würde nicht mehr hereinkommen können und ihr verstohlen einen Kuss auf den Nacken drücken. Ob er sie wohl vermisste? Er hatte bis zum letzten Tag mehrmals angerufen und sie von ihrem Entschluss, die Praxis auf Hiddensee zu übernehmen, abbringen wollen, der Schuft, und es war Viola nicht immer leichtgefallen, fest zu bleiben. Wenn sie seine Stimme am Telefon gehört hatte, war die alte Sehnsucht wiedergekommen, aber auch der alte Zorn.
»Dabei ist er immer noch mit seiner neuen Flamme zusammen, und die wird nicht die letzte bleiben«, stellte sie verbittert fest und schlug mit der Faust aufs Lenkrad, so dass Pauli erschrocken zusammenzuckte.
Eigentlich, überlegte sie, gehört so ein Mann verboten. Viel zu leicht hatte er Erfolg bei den Frauen, mit seinem Lächeln und seiner zielstrebigen Art, sie zu umwerben. Und vor allem mit dieser gewissen hauchdünnen Spur von Melancholie im Hintergrund seiner Augen – damit konnte er jedes Herz rühren. Warum schmelzen Frauenherzen nur so schnell, wenn sie meinen, bei einem Mann heimlichen Weltschmerz zu spüren? Und letzten Endes ist es dann gar kein heimlicher Weltschmerz, sondern vielleicht nur unheimliches Selbstmitleid.
Also war ihr zum Schluss nichts anderes übriggeblieben, als das Gefühl aus- und den Verstand einzuschalten. Und eines Tages würde das Gefühl sagen, du hast recht gehabt, danke.
Doch nun war sie unterwegs. Und voller widersprüchlicher Empfindungen. Sie war aufgeregt und neugierig, hatte aber auch Angst vor dem eigenen Mut und Zweifel, ob die Entscheidung richtig war.
Was würde sie vorfinden in Hiddensee? Würde sie es schaffen, die Praxis weiterzuführen? Würde sie mit den Inselbewohnern klarkommen? Würde sie es überhaupt aushalten auf so einer kleinen Insel? Sicher war sie keineswegs.
Zwei Tage vor ihrer Abfahrt hätte sie am liebsten einen Rückzieher gemacht. Auf einmal hatte sie Panik überkommen. Sie hatte sich ans Telefon gehängt und ihre Schwester Ina angerufen, vier Jahre älter und weiser als Viola.
»Ina, ich sage den Insulanern ab«, stieß sie hervor, »ich komme nach Hamburg. Was soll ich ganz allein auf einer Insel? Und dazu noch im Winter! Ich werde die Leute dort nur enttäuschen, wenn ich es auch nicht aushalte wie der Arzt vorher. Und wer weiß, vielleicht mögen sie mich gar nicht!«
»Sie mögen dich jetzt schon, Viola«, beteuerte Ina. »Sie haben sich für dich entschieden, weil du eine Frau bist, also sind bereits fünfzig Prozent der Einwohner auf deiner Seite. Und es gibt zwei Sprechstundenhilfen und Rettungssanitäter, das hast du mir letzte Woche alles selbst erzählt. Und sicher auch noch mehr gute Geister. Außerdem«, sie machte eine bedeutungsvolle Pause, dann fuhr sie fort: »Du hast eine gute Ausbildung, du warst fast ein Jahr lang in einer Landpraxis in Bayern, und du liebst deinen Beruf. Das zählt, Viola. Die Menschen auf einer Insel haben keine anderen Krankheiten als die auf dem Festland.«
»Und wenn ich den Inselkoller bekomme?«
»Dann lauf am Meer entlang, bis du außer Atem bist, und hinterher rufst du mich an, abgemacht?«
Viola lachte. »Gut, das mit dem Absagen war auch nicht so ganz ernst gemeint. Trotzdem, in einer Ecke meines Herzens sitzt ein kleines Kind und hat schlicht und einfach Angst.«
»Das gehört dazu«, meinte die große weise Schwester, »und wenn du es schaffst, die Insel zu erobern, dann wirst du ein ganzes Stück gewachsen sein und Sieger in der Disziplin ›Wer hat Mut zur Insel?‹. Ich werde dir höchstpersönlich einen Orden basteln.«
Viola runzelte die Stirn, als sie an Inas Worte dachte. Sie hat gut reden, diese gestandene Familienmutter mit zwei guterzogenen Kindern, dachte sie, sie hat ihren Platz gefunden.
Während ich, das Nesthäkchen der Familie, mal wieder auf der Suche bin.
Sie holte sich einen Keks aus der Packung neben Paulis Korb und gähnte. Demnächst sollte sie eine Pause einlegen.
»Pauli«, sagte sie kopfschüttelnd zu dem Kater neben sich, »noch nie hat mein Leben so einen ungeplanten Satz in eine andere, ungewisse Richtung gemacht.« Ja, immer war jemand da gewesen und hatte gewusst, wo es für sie langging, zuerst ihr Vater, dann Jochen. Vielleicht hatte diese ganze Geschichte sogar etwas Gutes, vielleicht musste sie sich wirklich einmal allein durchbeißen.
»Und außerdem habe ich ja dich«, sagte sie mit fester Stimme zu Pauli und kraulte ihm durch das Gitter seiner Behausung mit dem Zeigefinger das Fell.
HIDDENSEE KONNTE MAN VON Stralsund aus in zwei Stunden mit dem Personenschiff erreichen. Oder aber man fuhr nach Rügen und nahm von Schaprode aus die kürzere Strecke übers Wasser mit der Fähre.
Es gab auf Hiddensee drei Anlegestellen, in Kloster, Vitte und Neuendorf; Viola wurde in Vitte erwartet.
Sie musste also über den Rügendamm und zu dem kleinen Schaproder Hafen, da sie ihren Kombi auf die Insel mitnehmen durfte, die Genehmigung hatte sie in der Tasche– ein erstes Privileg als angehende Inselärztin.
Als die Fähre ablegte, fühlte sie sich wieder ziemlich mutlos und ging aufs Deck hoch, um einen Tee zu trinken. Nur wenige Menschen waren mit ihr unterwegs, einige sahen sie neugierig von der Seite an. Bereits die ersten Hiddenseer? Sie traute sich nicht, jemanden anzusprechen.
Nach einer Weile stieg sie wieder nach unten zu ihrem Auto und stellte sich an die Reling. Es war erbärmlich kalt. Viola hatte ihren Wintermantel angezogen, einen dicken Schal um den Hals gewunden und die Wollmütze auf den Kopf gestülpt, trotzdem spürte sie die Kälte bis auf die Haut.
Eine ganze Zeitlang schon war die Fähre Richtung Ostküste auf die Insel zu gefahren, und Violas Eindruck war: Wind, der einem die Tränen in die Augen trieb, eine Weite, die fast schwindelig machte, darin verloren ein langer, schmaler Streifen Land, der im Norden zu einer Anhöhe anstieg. Ein paar weiße Häuser leuchteten auf braungrünen Wiesen herüber, Schilf zog am Ufer vorbei, dann näherte sich das Schiff schließlich einer größeren Ansammlung grauer Reet- und roter Ziegeldächer. Jedes Haus war von großen, noch winterlich kahlen Bäumen umgeben und lag wie in einem Nest.
Eine eckige Bucht tauchte auf: der Hafen von Vitte. Er war klein und gut übersehbar, mit drei Anlegestellen für die Fähren der »Weißen Flotte«. Ein halbes Dutzend Fischkutter lag an der Längsseite des Hafens, Scheinwerfer waren installiert, damit die Fischer auch bei Nacht landen konnten. Ein gepflasterter Platz umgab den Hafen, an einer Stelle waren Fahrräder abgestellt. Gepflegte Häuser mit tief herabgezogenem Walmdach standen um den Platz. Auf dem Wasser trieben einige Eisschollen, man hatte also Frost gehabt in letzter Zeit.
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