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Sie heißen Paula, Judith, Brida, Malika und Jorinde. Sie kennen sich, weil das Schicksal ihre Lebenslinien überkreuzte. Als Jugendliche erlebten sie den Fall der Mauer, und wo vorher Grenzen und Beschränkungen waren, ist nun die Freiheit. Doch Freiheit, müssen sie erkennen, ist nur eine andere Form von Zwang: der Zwang zu wählen. Fünf Frauen, die das Leben beugt, aber keinesfalls bricht.
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Seitenzahl: 309
Daniela Krien
Die Liebe im Ernstfall
Roman
Diogenes
Der Tag, an dem Paula feststellt, glücklich zu sein, ist ein Sonntag im März.
Es regnet. Bereits in der Nacht hat es angefangen und seither nicht mehr aufgehört. Als Paula gegen halb neun erwacht, prasselt es auf das schräge Schlafzimmerfenster. Sie dreht sich zur Seite und zieht die Decke bis ans Kinn. In der Nacht ist sie nicht ein einziges Mal aufgewacht. Auch an Träume kann sie sich nicht erinnern.
Ihr Mund ist trocken, und ein leichter Druck im Kopf erinnert sie an den vorangegangenen Abend. Wenzel hatte gekocht und einen französischen Rotwein dazu aufgemacht. Später hatten sie nebeneinander auf dem Sofa gesessen und Musik gehört – Mahlers Lied von der Erde, Beethovens letzte Klaviersonate, Lieder von Schubert, Brahms und Mendelssohn. Auf Youtube hatten sie nach diversen Interpreten gesucht, die sie miteinander verglichen, und sie freuten sich wie Kinder, wenn sie einer Meinung waren.
Paula hätte bei ihm bleiben können, die Nacht mit ihm verbringen können, aber sie behauptete, ihr Medikament zu Hause vergessen zu haben. Das Hydrocortison befand sich in ihrer Handtasche. Was fehlte, waren Zahnbürste und Gesichtsreinigung. Wenzel hätte diese Dinge unwichtig gefunden und sie zum Bleiben überredet.
Gegen zwei Uhr nachts war sie in ein Taxi gestiegen. Wenzel hatte vor dem Haus gestanden, bis das Auto um die Ecke bog.
Sie greift nach der Wasserflasche neben dem Bett und trinkt, dann schaltet sie das Telefon ein und liest seine Nachricht. Guten Morgen, Liebste. Mein erster Gedanke gilt wie immer Dir. Jeden Morgen und jeden Abend ein Gruß. Seit zehn Monaten schon, ohne Ausnahme.
Auch Leni mag Wenzel, und Wenzel mag Leni.
Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sie mit einer sekundenschnellen Zeichnung ihres Gesichts beeindruckt. Die Ähnlichkeit war frappierend, und Leni wollte mehr, um in der Schule damit angeben zu können.
Paula sieht auf die Uhr. Noch neun Stunden, bis Leni zurückkommt. Sie wird ihre Sachen abwerfen, ein Hallo murmeln und sich in ihr Zimmer zurückziehen oder aber einen ohne Punkt und Komma vorgetragenen Wochenendbericht abliefern, inklusive Fotos ihrer Halbgeschwister und Schwärmereien über Filippas Kochkünste.
Während Paula seinen Morgengruß beantwortet, sehnt sie sich nach Wenzel.
Früh ist ihre Lust auf ihn am größten. Als sie in der Küche den Kaffee aufsetzt, schreibt sie ihm eine eindeutige Nachricht.
Seit es Wenzel gibt, vermisst sie Leni an den Wochenenden weniger. Und was kann sie schon tun? Leni ist kein kleines Kind mehr. Morgens vor dem Spiegel übt sie auf unterschiedliche Weise zu lächeln, sie schneidet Löcher in Hosen, trägt Shirts, die ihr scheinbar beiläufig von der Schulter rutschen, benutzt Lipgloss und verschickt rätselhafte Nachrichten an den Klassenchat der 7b, meist bestehend aus Emojis und Abkürzungen. Sie redet manchmal ohne Unterlass, nur um kurz darauf in aggressives Schweigen zu verfallen. Mit nächtlichen Alpträumen kommt sie allein zurecht, und nackt hat Paula ihre Tochter schon lange nicht mehr gesehen. Nicht einmal, als Leni eines Morgens fragte, ob man mit dreizehn schon Hängebusen haben könne. Sie habe sich ihre Brüste angeschaut und festgestellt, dass sie so eine Form hätten. Und dann zeichnete sie mit der rechten Hand eine lächerlich übertriebene Form in die Luft, den linken Arm hielt sie vor ihren Oberkörper gepresst. Und noch bevor Paula etwas erwidern konnte, beschuldigte Leni sie, ihr überhaupt nur das Schlechteste vererbt zu haben, die Sommersprossen und die helle Haut, die roten Haare, die knochigen Knie, die Kurzsichtigkeit und die Begriffsstutzigkeit in den Fächern Physik und Chemie.
Vererbung sei Zufall und keine Entscheidung, hatte Paula bemerkt und wollte ihrer Tochter übers Haar streichen. Doch Leni entzog sich ihr, lief hinaus und schlug die Tür zu. Kurz darauf kam sie wieder und warf sich in Paulas Arme, wie um sich aufzufüllen für die nächste Stufe der Distanz.
Es regnet nach wie vor. Paula presst Orangen und schäumt Milch für den Kaffee auf. Auf dem Tisch steht ein Strauß Tulpen.
Noch ein Jahr zuvor hätte die Länge des vor ihr liegenden Tages Panik ausgelöst. Sie hätte angefangen zu putzen oder zu waschen, wäre joggen gegangen oder ins Kino, hätte Judith angerufen, um mit ihr hinauszufahren zu ihrem Pferd. Es war egal gewesen, was sie tat, entscheidend war gewesen, dass sie etwas tat. Denn sonst wären die Dämonen gekommen und hätten sie vor sich hergetrieben.
Nach der Trennung von Ludger hatte sie sich oft gefragt, wann das Ende seinen Anfang genommen hatte. Wann waren die Dinge außer Kontrolle geraten?
Johannas Tod war ein entscheidender Bruch gewesen. Doch mit der Zeit datierte sie ihr Scheitern auf andere, frühere Ereignisse, weiter, immer weiter zurück, bis es kein Weiter zurück mehr gab.
Begonnen hatte alles mit einem Fest.
Paula und Judith waren zufällig vorbeigekommen, als der Bioladen in der Südvorstadt eröffnete. Sie waren am See gewesen, hatten nackt in der Sonne gelegen, sich gegenseitig eingecremt, Eis gegessen und Blicke auf sich gezogen. Zufrieden mit sich und ihrer Wirkung waren sie anschließend am Wildpark vorbei durch den Auwald zurück in die Stadt geradelt, wo noch immer eine klebrige Hitze hing.
Schon von weitem hatten sie die Luftballons gesehen, die Pflanzkübel voller Blumen und die vielen Leute vor dem Geschäft. Sie hatten Lust auf ein kühles Getränk und deshalb angehalten.
Ludger stand nicht weit von der Tür entfernt, als sie den Laden betraten. Paula sah ihn sofort. Später sagte er, dass auch er sie aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte und seine Blicke ihr gefolgt waren. Paula trug ein moosgrünes, trägerloses Kleid und einen Sonnenhut, unter dem die roten Locken hervorquollen.
Draußen brannte die Sonne, der Geruch nach Abgasen und Lindenblüten stand in den Straßen, und jeder Windhauch wehte das stickig-süße Gemisch in den Laden herein. Ludger trug ein Leinenhemd. Seine Haare waren blond, die Augen blau. Er war kein Eroberer.
Kurz darauf verließen sie das Fest. Sie schoben ihre Räder nebeneinanderher und plauderten.
Immer wieder sah Ludger zu ihr herüber, aber er hielt ihrem Blick nicht stand. Wenn er länger sprach, blieb er stehen.
Wie Paula suchte er die schattigen Wege.
Am Ufer des Flusses streifte er beiläufig ihren Arm.
Auf einer Parkbank im Abendlicht küsste sie ihn.
In den ersten Wochen sahen sie sich täglich.
Die Treffen begannen an einer Eiche im Clara-Park. Paula, die immer zu früh kam, sah ihn mit seinem Rennrad in den Weg einbiegen und winkte ihm schon von weitem. Jedes Wiedersehen begann mit einer leichten Verlegenheit, die nach dem ersten Kuss jedoch verschwand.
Von dem Baum aus unternahmen sie Spaziergänge durch die Parks und die angrenzenden Stadtviertel. Paula mochte die Art, wie er den Kopf schieflegte und strahlte, wenn er sie ansah. Seine tiefe Stimme und sein ruhiges Erzählen gefielen ihr. Sein Bewegungsdrang steckte sie an, sein Wissen über ökologisches Bauen, autarkes Leben und Fauna und Flora beeindruckte sie.
Häufig kam Ludger sie in der Buchhandlung besuchen.
Manchmal sah sie zuerst seinen Kopf auftauchen, wenn er auf der Rolltreppe in die Abteilung Belletristik hochfuhr. Manchmal überraschte er sie, während sie mit Sortieren beschäftigt war oder Bestellungen aufgab. Dann berührte er dezent ihre Hand oder ihren Arm, und sie drehte sich zu ihm um und empfand eine heimliche Freude darüber, dass die Kolleginnen wohl bemerkten, wie gutaussehend er war.
Die gemeinsamen Nächte verbrachten sie bei ihm. Nur einmal übernachtete er in ihrer Wohnung, die sie damals mit Judith teilte. Bei Pizza und Rotwein waren sie zu dritt zusammengesessen. Von jedem Gesprächsgegenstand schlug Ludger den Bogen zu seinem Fachgebiet – dem ökologischen Fußabdruck, den ein Mensch hinterließ, und wie man ihn so klein wie möglich hielt. Immer wieder unterbrach er Judith, um ein Thema zu vertiefen, eine ungenaue Aussage zu korrigieren.
Paula hatte den wippenden Fuß und den angespannten Zug um den Mund ihrer Freundin gesehen und Bescheid gewusst.
Am Tag danach kam Judith in ihr Zimmer. Mit einem Stapel medizinischer Fachbücher in den Händen erklärte sie Paula, dass sie so kurz vor den Abschlussprüfungen Ruhe in der Wohnung brauchte und es besser sei, wenn Ludger vorerst nicht mehr käme.
Nachts lagen sie eng beieinander.
Immer berührten sich ihre Hände oder Füße. Paula strich über seinen Rücken, zählte dabei die Glockenschläge vom Kirchturm gegenüber, und wenn es noch lang genug bis zum Morgen war, legte sie ihre Hand zwischen seine Beine.
Sie sorgte sich nicht über die Art, wie sie miteinander schliefen, und dass Ludger zu allem, was sie taten, das sagte. Magst du das? Willst du das? Sie wunderte sich auch nicht, dass er zurückwich, als sie zum ersten Mal mit ihrer Zunge die unnennbaren Stellen seines Körpers erkundete. Schließlich ließ er es zu. Ganz still lag er da, seine Arme über dem Gesicht verschränkt.
Danach waren sie offen.
Ludger erzählte vom Tod seiner Eltern. Als er berichtete, wie sie am Ende eines Staus von einem LKW zerquetscht worden waren, wurde seine Stimme hölzern. Sie waren auf dem Weg zu ihm gewesen. Wenige Tage zuvor hatte er sein Architekturdiplom bekommen.
Paula küsste seine Schultern und seinen Hals, und er legte seinen Kopf an ihre Brust.
Ein paar Monate nach ihrem Kennenlernen bat Ludger sie, im Büro vorbeizukommen. Er klang aufgeregt, wollte den Grund aber nicht verraten. Als Paula bei Brinkmann & Krohn auftauchte, drehten sich die Brinkmann-Brüder zeitgleich auf ihren Stühlen um und grinsten. Ludger senkte den Kopf, nahm Paulas Hand und zog sie mit sich in den Besprechungsraum.
Auf dem Tisch lag der Plan einer Wohnung. Es war ein Loft mit vier Meter hohen Decken und einer Wohnfläche von dreihundert Quadratmetern. Ohne Luft zu holen, erklärte er ihr, an welchen Stellen Podeste den Raum strukturieren sollten, wo die Treppe zu einer offenen Galerie hinaufführte und warum Wohnen auch ohne einzelne Zimmer, ja sogar ohne Trennwände funktionierte. Von seiner eigenen Begeisterung mitgerissen, verkündete er schließlich wie beiläufig: Da werden wir wohnen.
Paula sagte nichts. Sie brauchte einige Augenblicke, um zu begreifen.
Ihr fiel ein, wie oft er erwähnt hatte, dass ihn die Kirche gegenüber seiner Wohnung deprimierte. Ludger wollte nicht täglich daran erinnert werden, welche Ehrfurchtsbauten die Christenmenschen, wie er sie nannte, ihrem Gott errichtet hatten.
Was sagst du dazu?, fragte er. Freust du dich?
Am nächsten Tag fuhren sie mit den Rädern zur Besichtigung. Sie trafen sich an der Eiche im Park. Mit Mützen, Schals und Handschuhen radelten sie in eines jener Viertel, in das Paula sich selten verirrte, dem Ludger aber einen raschen Aufstieg prophezeite. Das Loft lag in einer baumgesäumten Kopfsteinpflasterstraße, blickte auf den Kanal und war groß wie eine Bahnhofshalle. In der Nähe gab es nicht nur keine Kirchen, sondern auch sonst nicht viel. Unverputzt stand das Gemäuer vor ihr, kalt war es darinnen, und ihr erster Impuls war, so schnell wie möglich von dort wegzukommen.
Ludger legte den Plan auf dem Boden aus. Er schritt die Halle ab, prüfte Mauerwerk und Fenster und begann zu beschreiben. Schon sah Paula den Küchenblock auf dem Holzpodest stehen, schon fühlte sie die Dielenbretter unter den Füßen, ging die Treppe zum Schlafbereich hinauf und blickte, an das Geländer der Galerie gelehnt, über den ganzen Raum.
Der Abschied von Judith fiel ihr schwer.
Fünf gute Jahre hatten sie zusammengewohnt. Niemand sonst war ihr so nah. Als Babys waren sie von ihren Müttern in beinahe identischen Kinderwägen nebeneinanderher geschoben worden, sie hatten dieselbe Krippe, denselben Kindergarten, dieselbe Schule besucht. Sie waren gemeinsam konfirmiert worden, hatten ihre Regel im selben Monat, im selben Jahr bekommen, und beide hatten sie Naumburg mit achtzehn Jahren verlassen. Judith war zum Medizinstudium nach Leipzig gegangen, Paula für eine Buchhandelslehre nach Regensburg.
Beim Umzug stand Judith unbeteiligt im Weg herum. Dem Lobgesang aller auf die Wohnung hörte sie schweigend zu, und noch bevor die letzte Kiste aus dem Umzugswagen getragen worden war, verabschiedete sie sich von Paula.
In den ersten Monaten ihres Zusammenlebens gab es für Ludger nur ein einziges Thema – ein Sanierungsprojekt im Zentrum der Stadt. Es handelte sich um ein Haus aus dem siebzehnten Jahrhundert. Trotz Sanierung wurde es immer wieder von Feuchtigkeit und Schimmel befallen. Den ursprünglich beauftragten Architekten war der Auftrag entzogen worden. Ihre neue Kostenberechnung lag vielfach über der ursprünglich veranschlagten Obergrenze, und Ludger nutzte diese Chance. Er schrieb ein Angebot, das niemand unterbieten konnte. Es war so günstig, dass es Misstrauen erregte, und die Lösung klang zu gut, um wahr zu sein.
Der Erfinder der Methode, der Restaurator Henning Großeschmidt, hatte die Temperierung nach dem Wärmeverteilungsprinzip in vielen Schlössern und Museen erfolgreich erprobt. Ludger war sein Schüler gewesen. Mehrfach hatte er Seminare bei Großeschmidt besucht.
Statt gewöhnlicher Heizkörper wurden Heizungsrohre in die Außenwände unter Putz verlegt, und die gleichmäßige, auf allen Ebenen wirkende Wärme beendete das Problem mit Feuchtigkeit und Schimmel. Das Raumklima verbesserte sich, die Qualität der Luft nahm zu, der Energieverbrauch sowie der Wartungsaufwand waren gering.
Selbst während des Abendessens breitete er Pläne aus und erklärte Paula, wie weit unter Putz die Rohre liegen würden, aus welchem Material sie bestünden, in welchen Gebäuden die Methode bereits erfolgreich angewendet worden sei. Das Wort Temperierung klang fast ehrfurchtsvoll aus seinem Mund, und nicht ein einziges Mal rief die Planung der bevorstehenden Hochzeit die gleiche Begeisterung bei ihm hervor.
Eine kirchliche Trauung lehnte Ludger ab, und Paula fügte sich. Durch Zustimmung Gleichklang zu erzeugen fühlte sich richtig an. Von ihrer Seite kamen auch die meisten Hochzeitsgäste. Ludger hatte die Brinkmann-Brüder samt Frauen eingeladen und die Mannschaft, die schon beim Umzug dabei gewesen war. Aus seiner Verwandtschaft kam keiner. Seine Kontakte beschränkten sich auf Kollegen, Auftraggeber und Handwerker.
Die Planung des Essens hatte Paula übernommen, ebenso wie die Auswahl der Getränke, die Gestaltung der Einladungen und die Dekoration der Wohnung. Nur bei der Musik hatte Ludger mitreden wollen.
Eine halbe Nacht lang hatten sie zusammengesessen. Ludger suchte die Jazzplatten nach den besten Stücken ab, rauchte dabei, summte manchmal leise mit, und als Paula nach ihrem zweiten Glas Wein spontan zu tanzen begann, sah er ihr zu. Er tat es mit der typischen Verlegenheit, die Paula inzwischen kannte.
Mit gesenktem Kopf und hochgezogenen Schultern, die Bierflasche dicht am Mund, saß er da und schaute. Sein Blick folgte ihr.
Als Paula sich auf seinen Schoß fallen ließ, stellte er das Bier beiseite, legte seine Arme um ihre Taille und küsste sie. Gleich darauf schob er sie von sich und stand auf. Sein Körper spannte sich, sein Blick ging einmal rundherum, und begeistert verkündete er, dass auch in dieser Wohnung Temperierung die beste Lösung sei.
Kein Mensch war, wie man ihn haben wollte.
Paula hoffte, dass die Zeit die Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit schließen würde.
Sie trägt noch ihr Nachthemd, als sie nach dem Frühstück auf den Balkon hinausgeht und in den Garten hinuntersieht. Es ist Paulas fünfte Wohnung in dieser Stadt; endlich fühlt sie sich wohl.
Krokusse und Schneeglöckchen blühen in dem gemeinschaftlich genutzten Garten, der durch hohe Steinmauern von den benachbarten Gartengrundstücken abgegrenzt ist. Unter Paula und Leni wohnt eine Familie mit zwei kleineren Kindern, im Hochparterre ein älteres Ehepaar. Meistens existieren sie friedlich nebeneinander. Einzig der Garten führt gelegentlich zu Auseinandersetzungen. Der Wunsch des älteren Paares nach Ordnung kollidiert mit den planlosen und selten von Erfolg gekrönten Spontanpflanzungen der Familie im Mittelgeschoss. Insgesamt jedoch respektieren sie sich, und einmal im Jahr gibt es ein Sommerfest.
Paula geht langsam von einem zum anderen Ende des Balkons, der sich über die Breite dreier Zimmer streckt, von denen jedes einen Zugang hat. Der Regen lässt langsam nach, und von Wenzel noch keine Antwort. Vielleicht ist er im Atelier und arbeitet, vielleicht hat er ihre Nachricht noch nicht gelesen, vielleicht ist er auf dem Weg zu ihr. Daran, dass er kommen wird, zweifelt sie nicht.
Sie fährt mit den Händen über die hölzerne Balkonbrüstung, macht sich die Bewegung ihrer Arme bewusst, ihrer Hände, dann ihren Atem und die Tatsache, dass sie sich anstrengen muss, ihren Körper zu spüren. Er drängt sich nicht auf durch Schmerzen, Unbeweglichkeit oder übermäßige Mattigkeit. Schon lange hat sie aufgehört, die scheinbaren Selbstverständlichkeiten als selbstverständlich anzusehen.
Während der Ehe mit Ludger war ihr Blick in eine unscharfe Zukunft gerichtet gewesen, nach Johannas Tod in eine überscharfe Vergangenheit. In der Gegenwart hört sie die Türglocke und läuft zur Wohnungstür.
Wenzel hat gestohlene Blumen dabei. Er findet sie auf seinem Weg durchs Rosental, später werden sie auf winzige Vasen in Paulas Wohnung verteilt.
Sein lichter werdendes Haar hat er kurzrasiert. Wenzel ist der erste Mann, der sie nicht zu formen versucht. Der erste, der sich manchmal nur um ihre Lust kümmert. Der erste, den sie ihren Eltern nicht vorstellt.
Sie nimmt ihn an der Hand und geht mit ihm ins Schlafzimmer.
Während er sie langsam auszieht, ihr befiehlt, sich auf den Bauch zu legen, und ihr mit seinen Fingerspitzen hart vom Nacken abwärts bis zu den Schenkeln streicht und sie auseinanderschiebt, fühlt sie sich kurz an das erinnert, was sie in sich verschlossen hält. Und dann erzählt sie ihm von den Männern. Erzählt ihm, wie weit sie gegangen ist, welche Dinge sie ihnen erlaubt hat, nur um eine andere Art von Schmerz zu spüren. Einen Schmerz, der die Trauer, die wie ein freigelassener Dämon in ihr wütete, dominierte. Unter Tränen erzählt sie, wofür sie sich schämte, was ihr gefallen hat, obwohl sie sich schämte, und wie die Unterwerfung sie für einige Stunden den Tod ihres Kindes vergessen ließ. Und wenn sie aufhört zu sprechen, küsst er sie, folgt mit seinen Lippen dem Weg seiner Fingerspitzen.
Am Morgen der Hochzeit erwachten sie von einem Geräusch. Über Nacht hatte ein Fenster offen gestanden. Ein Vogel war hereingeflogen. Panisch flatterte er zwischen Lampen und Möbeln umher. Er flog gegen Scheiben und stürzte zu Boden, nahm neuen Anlauf und verfehlte den Weg nach draußen erneut.
Paula sprang aus dem Bett. Sie öffnete alle Fenster. Ihr Herz raste. Jedes Mal, wenn der Vogel sich anstieß, zuckte sie zusammen. Ludger half ihr. Gemeinsam scheuchten sie ihn durch den riesigen Raum. Doch vergebens. Er fand nicht hinaus. Es war noch früh; der Morgen dämmerte in rosafarbenem Licht. Der Vogel ruhte am Boden, und sie beschlossen zu warten.
Zurück im Bett rückte Ludger dicht an sie heran. Er legte einen Arm um sie und wühlte seinen Kopf in ihr Haar. Seine Fingerspitzen streichelten ihren Bauch. Als ein Zittern durch ihren Körper ging, hielt er in der Bewegung inne. Kurz darauf schlief er wieder.
Paula hörte auf das Flügelschlagen und die kurzen, schrillen Schreie des Vogels, während sich ihre Finger zwischen ihren geöffneten Beinen bewegten. Vorsichtig hatte sie sich aus seiner Umarmung herausgewunden. Sie lag auf dem Bauch und drückte ihr Gesicht ins Kissen.
Später ließ das Klingeln des Weckers sie hochfahren. Sofort stand sie auf und suchte den Raum ab. Der Vogel war verschwunden.
Von der Hochzeitsreise, die sie wandernd in den Vogesen verbrachten, kehrte Paula angenehm erschöpft zurück. Von Sainte-Odile hatten sie sich über Col du Kreuzweg nach Kaysersberg und dann südlich in das Naturschutzgebiet durchgeschlagen, bei ständig wechselndem Wetter und – nach Paulas Einschätzung – lebensgefährlichen Auf- und Abstiegen. Manchmal waren sie stundenlang wortlos hintereinandergelaufen, weil die Pfade schmal waren und das Reden zu viel Kraft verbrauchte. Dann wieder waren sie nebeneinandergegangen und hatten sich die Zukunft ausgemalt.
Über weite Strecken hinweg begegneten sie keinem anderen Menschen. Sie picknickten auf sonnenwarmen Felsen, in Burgruinen und alten Kriegsbefestigungen.
Sobald sie sich niedergelassen hatten, packte Ludger die Karten aus. Er besaß mehrere in verschiedenen Maßstäben und zeigte Paula stets, wo sie sich exakt befanden. Während sie Brot, Käse und Äpfel aßen, erklärte er ihr die Route für die nächsten Stunden. Seine Begeisterung über die Genauigkeit der Wanderkarten, in denen noch der kleinste Pfad verzeichnet war, kannte keine Grenzen.
In den Fermes Auberges, in denen sie übernachteten, teilten sie die Mehrbettzimmer mit anderen Wanderern. Nur in der ersten und der letzten Nacht der zehntägigen Reise nahmen sie Quartier in Hotels, mit eigenem Bad und bequemem Doppelbett, und nur in jenen beiden Nächten schliefen sie miteinander. Ludger hatte die Angewohnheit, sich danach zusammenzurollen und den Kopf an Paulas Brust zu verbergen. So schlief er am liebsten ein. Drehte Paula sich vorsichtig weg, weil sie in dieser Stellung nicht schlafen konnte, rückte er nach. Selbst im Tiefschlaf rückte er auf, sobald ihre Körper den Kontakt verloren. Paula stand dann auf der einen Seite des Bettes auf, nur um sich auf der anderen wieder hinzulegen. Dennoch mochte sie diese physische Bestätigung seiner Liebe.
An ihrem ersten Arbeitstag nach der Reise wurde Paula von den Kollegen mit ihrem neuen Namen begrüßt – Paula Krohn. Und als Marion, die mit ihr in der Abteilung Belletristik arbeitete, ihr am Ende jenes Tages Paula, dein Mann ist da! zurief, richtete sie sich auf und lächelte.
Es war einer jener Augenblicke, die sie auch nachträglich nicht entwerten würde.
In Jeans und Leinenhemd stand Ludger vor dem Tisch mit den Neuerscheinungen und winkte ihr zu. Warum sie das stolz machte, hätte sie nicht sagen können.
Der Schleier der Hormone hob sich.
An vielen Abenden war Paula allein in dem Loft. Wenn sie die Fenster zum Kanal hin öffnete, strömte der brackige Geruch des schmutzigen Wassers hinein, schloss sie die Fenster, wurde es unheimlich still. Ihre eigene Stimme hallte in dem riesigen Raum. Es gab keine abgetrennten Zimmer, nur einen Kubus in der Mitte, in dem sich das Bad befand.
Jeden Abend wartete sie auf Ludgers Heimkehr. Der Temperierungsauftrag beanspruchte ihn wie kein anderes Projekt, und oft kam er spät. In den Stunden des Wartens kochte oder las sie, telefonierte oder stand am Fenster, ohne je zu vergessen, dass alles Tun nur Überbrückung war. Die Angespanntheit endete erst mit dem Geräusch seines Schlüssels im Schloss, und Paula fragte sich, ob es wirklich nur die Wohnung war und die Leere darin.
Immer wieder verirrten sich Vögel in das Loft. Nicht alle fanden den Weg hinaus. Eine Taube mit gebrochenem Flügel saß eines Tages neben dem Esstisch auf dem Boden. Ein toter Spatz lag unterhalb des Fensters, durch das er hereingekommen war.
Fortan blieben die Fenster verschlossen.
Jeden Sonntag frühstückten sie im Café Telegraph.
Ludger las die FAZ und die Neue Zürcher Zeitung, Paula den Spiegel und die Zeit.
Sie fuhren die Radwanderwege an Saale und Mulde entlang, besuchten Ausstellungen, gingen ins Kino und stritten über die Auswahl des Films. Ludger bevorzugte Dokumentarfilme, Paula Künstlerbiographien. Ludger bemängelte daran, dass Paula in Wahrheit keinen Tag im Leben eines Georg Trakl ertragen hätte, keine Woche im Leben der Camille Claudel. Sie warf ihm vor, alles zu ernst zu nehmen, ohne Humor zu sein, ohne Leichtigkeit, und er konterte, dass eben diese Leichtigkeit, diese Sorglosigkeit die Welt zugrunde richte.
Sie stritten über Dinge, von denen sie nicht geglaubt hatten, dass man über sie streiten konnte. Beim Radfahren fuhr er schneller als sie. Er schaute sich nicht nach ihr um. Er raste mit seinem Fahrrad über Ampeln, die auf Rot umschalteten, und fuhr auf der anderen Seite weiter, während Paula auf die nächste Grünphase wartete. Auch die Strecke legte er fest. Von jedem beliebigen Punkt in der Stadt zu jedem beliebigen Ziel kannte er die beste Route. Paulas Widerspruch brach spätestens beim Blick auf die Karte, die er stets bei sich trug.
Manchmal ließ sie sich absichtlich zurückfallen und fuhr einen eigenen Weg. Sie wusste, wie sehr es ihn ärgerte, und sie wusste, dass die Versöhnung manchmal im Bett stattfand.
Wenn Ludger wütend war, hielt er seine körperliche Kraft nicht zurück. Der Sex war freier als sonst. Und jene Nächte waren es, die Paula Hoffnung machten. In anderen Nächten lag sie wach, wand sich aus seiner Umarmung und wusste nicht, wohin mit ihrer Lust.
Der Auszug aus dem Loft war die erste Entscheidung, die Paula durchsetzte.
Vernünftig war es nicht. Die Mietpreise stiegen, und Ludger steckte in einer Krise.
Trotz des Erfolgs hatte es keine weiteren Temperierungsaufträge gegeben. Sein Ziel war ihm so nah erschienen. Bald schon hätte Brinkmann & Krohn dafür bekannt sein können, das beste Architekturbüro auf dem Gebiet des ökologischen Bauens zu sein. Er hatte andere, lukrative Aufträge abgelehnt und mit den Brinkmann-Brüdern gestritten.
Zu diesem Zeitpunkt war das Kind in ihrem Bauch etwa acht Zentimeter groß. Es konnte den Daumen in den Mund stecken, die Nabelschnur zwischen den Fingern halten, und es bewegte sich lebhaft.
Das Ultraschallbild lag zwischen ihnen auf dem Tisch. Paula weinte. Sie hatte geredet und gefleht. Wände und Zimmer!, hatte Ludger wiederholt und den Kopf dabei geschüttelt. Das Bett sei groß genug für drei und das Loft ideal für ein kleines Kind. Spiele aller Art seien möglich. Fahrradfahren, Trampolinspringen, Schaukeln – was wolle sie mehr?
Als Paula vom Tisch aufstand, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, nahm das Ultraschallbild und steckte es in ihre Tasche.
In den folgenden Monaten fuhr sie mit ihrer Gazelle kreuz und quer durch die Stadt. Sie telefonierte mit Maklern und privaten Vermietern, besichtigte etliche Wohnungen und traf eine Vorauswahl, die sie Ludger am Abend vorlegte.
Es stellte sich dann heraus, dass die Wohnungen in Stadtteilen lagen, die für Ludger nicht in Frage kamen, in baumlosen und deswegen inakzeptablen Straßen, in Sanierungszuständen, mit denen er nicht leben konnte, mit Nachbarn, die ihm schon vom Hörensagen unsympathisch waren. Er lehnte es ab, Tür an Tür mit Anwälten, Steuerberatern oder Immobilienmaklern zu leben. Er hasste ihre SUVs, aus denen sie von oben auf die anderen herabsahen, die Vorfahrtsregeln außer Kraft setzten und in zweiter Reihe parkten. Ihm graute vor ihren Statussymbolen, ihren Baumfällanträgen zugunsten neuer Parkplätze, ihrem mangelnden Bewusstsein für das richtige Leben.
Als sie eines Tages auf dem Balkon einer halbsanierten Vierraumwohnung standen, über den südlichen Auwald blickten und Ludger endlich zustimmte, empfand Paula keine Freude. Der modrig-feuchte Geruch des Bärlauchs rief Übelkeit bei ihr hervor. Sie lehnte sich gegen die Brüstung des Balkons und schloss die Augen.
Die Wohnung lag in einem Hinterhaus. Es gab keinen Autolärm, kein Straßenbahnrattern, nur die grünen Kronen der Bäume und die Stimmen der Vögel. Bis in die innere Stadt waren es zehn Minuten mit dem Rad, beide Arbeitsstellen waren ebenso schnell zu erreichen. Das Treppenhaus stand voller Fahrräder, und egal, aus welchem Fenster man blickte, Autos waren keine zu sehen. Es war perfekt.
Am Tag des Umzugs konnte Paula nur zusehen und die Helfer anweisen. Es blieben ihr vier Wochen bis zum Geburtstermin. Ihre Beine schmerzten, und die Schuhe drückten auf die geschwollenen Füße. Sie hatte Sodbrennen und war unsagbar müde. Am liebsten hätte sie sich wie eine Schnecke in den Schutz ihres Gehäuses zurückgezogen.
Am Ende jenes Tages jedoch, inmitten des Durcheinanders von Kisten, Koffern und Möbelteilen, stand nur das Bett an seinem Platz. Und als sie endlich lag, dachte Paula an die Nächte, die sie schlaflos darin verbracht hatte, und an das noch namenlose Kind in ihrem Bauch.
Das Baby kam zwei Wochen vor dem Termin, und es landete in diesem Bett. Die Hausgeburt war Ludgers Idee gewesen. Judith, die in Hannover als Ärztin im Praktikum arbeitete, verschwieg sie das Vorhaben. Paula kannte die Meinung ihrer Freundin. Mittelalterlich, hätte sie gesagt, vollkommen bescheuert.
Ihre eigenen Ängste hatte sie mit der Gewissheit beruhigt, dass innerhalb weniger Minuten ein Arzt zur Stelle wäre, wenn es nötig sei. Auch die Kollegen hatten sie in der Entscheidung bestärkt, zu Hause zu gebären. Geschichten von multiresistenten Keimen kursierten. Das Krankenhaus war kein sichererer Ort als das eigene Bett.
Nun kniete sie davor und schaute nach oben. Eine nackte Glühbirne hing an einem Kabel. Noch mussten Lampen angeschlossen und Regale angebracht werden. Zwanzig Minuten waren seit ihrem Anruf vergangen. Nimm ein Taxi, hatte sie ohne große Hoffnung gesagt. Doch wie erwartet, kam Ludger mit dem Fahrrad nach Hause. Sie hörte seinen Schlüssel im Schloss, seine Schritte im Flur und das Geräusch der hingeworfenen Tasche und dann – nichts mehr. Eine Wehe fegte sie weg, ihre Wahrnehmung verengte sich auf Rücken und Unterleib.
In den folgenden neun Stunden ging er häufig hinaus und kam wieder herein. Kniete neben ihr, lag bei ihr, hielt ihre Hand und wischte ihr den Schweiß von der Stirn.
Haargummi!, rief sie. Musik aus!, befahl sie und Fenster zu!, und als die Hebamme endlich das Pressen erlaubte, hatte sie längst keine Kraft mehr für Worte.
Doch wie schnell die Details verblassten, wie schnell die Schmerzen vergessen waren. Die Hebamme legte das Baby auf Paulas Bauch, und als Paula sah, dass es ein Mädchen war, sank sie lächelnd zurück auf das Kissen. Ludger durchtrennte die Nabelschnur, und kurz darauf saugte Leni Antonia Krohn an Paulas Brust.
Drei Wochen blieb Ludger zu Hause.
In diesen drei Wochen waren er und sie und Leni die Welt. Selbst während des Stillens lag er bei ihnen. Die notwendigen Wege nach außerhalb erledigte er so schnell wie möglich. Sie waren wie ein Kraftfeld, das die Kraft verlor, wenn einer den geschlossenen Kreis verließ.
Sie habe selten eine Familie begleitet, in der alles so reibungslos lief, bemerkte die Hebamme bei ihrem Abschiedsbesuch.
An ihrem letzten gemeinsamen Tag standen sie im Morgengrauen auf. Paula wäre gern liegen geblieben. Alle zwei Stunden hatte sie Leni in der Nacht gestillt. Die Erschöpfung war so groß, dass ihr der Gang zur Toilette schon zu viel erschien.
Der Park war menschenleer. Frühnebel lag über den Wiesen. Es war herbstlich kühl. Als sie die Eiche erreichten, an der sie sich am Anfang stets getroffen hatten, setzte Ludger den Rucksack ab, packte Spitzhacke und Spaten aus und begann mit dem Ausheben der Grube. Als die Spitzhacke auf eine Wurzel traf, schnellte das Werkzeug zurück und traf ihn beinahe am Kopf. Er suchte eine andere Stelle.
Leni hatte zu weinen begonnen. Dick eingemummelt, lag sie im Wagen. Ihre Arme ruderten, und ihr Brüllen zerriss die Stille. Paula schuckelte den Wagen hin und her. Ein Fahrradfahrer schoss vorüber. Bald würden sich die Wege füllen, mit Radfahrern, Joggern und Hundebesitzern. Langsam entfernte sie sich einige Meter von Ludger. Tat, als gehörten sie nicht zusammen, als sei auch sie nur eine Passantin.
Nach etwa zehn Minuten hatte Ludger ein gut dreißig Zentimeter tiefes Loch gegraben. Wieder griff er in den Rucksack. Aus einer Plastiktüte holte er den angetauten Mutterkuchen heraus, hielt ihn eine Weile in den Händen und legte ihn schließlich in das Loch. Dann streckte er einen Arm in Paulas Richtung.
Seine Hand war feucht, und Paula bemerkte einen süßlichen Geschmack in ihrem Mund.
Als das Loch wieder zugeschüttet war, schrie Leni noch immer. Paula drehte sich um und schob den Wagen zügig über die Wiese bis zum Weg. Nur einmal schaute sie zurück. Ein großer Hund lief zielstrebig auf die Stelle zu, wo sich die frische Erde vom Grün des Rasens abhob.
Doch bevor er das Plazentagrab erreichte, wandte sie sich ab.
Allein mit dem Kind war alles anders.
Der Rhythmus ihres Lebens folgte den Trink- und Schlafbedürfnissen des Säuglings. Ihr Körper war ihr fremd. Die Brüste gehörten Leni, die Gliedmaßen waren schwer, das Haar stumpf, und ihr Bauch fand nur langsam zur alten Form zurück.
Wenn Ludger nach Hause kam, hatte er nur Augen für seine Tochter. Trug Paula sie auf dem Arm, griff er nach ihr und nahm sie ihr ungefragt ab. Papa war auf der Baustelle, sagte er dann, oder Papa hat einen neuen Auftrag bekommen. Und dann erklärte er Leni, warum Niedrigenergiehäuser schimmelanfällig seien, welchen Vorteil Lehmbauplatten brachten, wie er den Auftraggeber von der Temperierung überzeugen wollte und welche Gräser und Kräuter für eine Dachbegrünung mit Erdanschüttung geeignet seien.
In den Abendstunden werkelte er in der Wohnung. Was er anfasste, wurde schön. Das selbst gestaltete, beleuchtete Regal in der Abstellkammer, der von ihm entworfene Kleiderständer im Flur, die extravaganten Lampen – alles war auf perfekte Weise unperfekt.
Wenn etwas fertig war, rief er nach ihr. Und dann kam sie und lobte ihn, und seine Hand suchte nach ihrer.
Erst später im Bett, wenn Leni zwischen ihnen lag und er sie hingerissen anstarrte, fühlte Paula das Unbehagen. Die Zärtlichkeit in seinen Augen galt nur dem Kind. Jedes seiner kleinen Geräusche entzückte ihn.
Sie schämte sich für das, was sie empfand. Doch seine Rührung stieß sie ab.
Sooft es ging, traf sie nun Judith, die wieder in Leipzig war und ihre Facharztausbildung begonnen hatte.
Paula mochte diese Stunden. Mit Judith war sie schlagfertig, ironisch, selbstbewusst. Doch je mehr Zeit sie mit ihr verbrachte, umso schwerer fiel ihr die Anpassung an das Danach. Und umso schwerer wurde es, die Wahrheit vor der Freundin zu verbergen.
Von den Nächten, in denen sie erwachte, weil ihr Herz zu schnell schlug, erzählte sie nichts. Und nichts von den Momenten, in denen ihr alles falsch erschien, wie ein nicht wiedergutzumachender Fehler. Und nicht, dass Ludger seit Monaten nicht mit ihr schlief. Vor der Geburt war es das Baby im Bauch, nach der Geburt das Baby im Bett. Ein flüchtiger Kuss am Morgen, eine kurze Umarmung am Abend. Dazwischen nichts.
In jenen Wochen erwähnte Ludger oft, wie glücklich er sei. Paula erschien es, als bezahlte sie den Preis für dieses Glück. Als lebte er von ihr. Je mehr Energie er hatte, umso schwächer fühlte sie sich. Je besessener er Pläne schmiedete, umso antriebsloser wurde sie.
Es war die Zeit, als er sich einen Bart stehen ließ, als er aufhörte, Fleisch zu essen und Insekten zu töten. Als er einen Wasserfilter installierte und eine Kornquetsche kaufte. Als er begann, einen erheblichen Teil seines Gehalts an Tierschutzorganisationen und Menschenrechtsverbände zu spenden und den Umzug ihres Bankkontos zu einer ethisch vertretbaren Bank organisierte. Und die Begründung für sein Handeln war so schlicht wie wahr: weil es nicht falsch sein konnte, das Richtige zu tun.
Viele Abende dachte er laut über die Art und Weise nach, wie sie leben sollten. Wie sie die Spuren, die sie hinterließen, noch geringer halten konnten. Paula saß mit ihm am Tisch. Eine stumme Zuhörerin, die ab und zu nickte.
Gleichzeitig wuchs sein Leiden an der Welt und den Menschen. Für die Caféhausbesuche packte er Ohropax ein. Fetzen vom Privatleben anderer, die erzwungene Teilhabe an fremden Leben ertrug er nicht. Paula sah seinen Ekel an dem angespannten Ausdruck in seinem Gesicht.
Im Grunde teilte sie seine Ansichten. Sie hatte Ludgers moralische Integrität und seine Bereitschaft zum Verzicht von Anfang an bewundert. Anders als die meisten trat er für seine Überzeugungen ein und nahm Nachteile in Kauf. Auch die Empfindlichkeit verstand sie. Und genau wie er wollte sie, dass Leni in eine bessere Welt hineinwüchse. Und war dieser Gleichklang nicht die Liebe, von der Ludger sprach?
Doch all das hatte nichts mit ihr persönlich zu tun. Mit ihr – Paula.
Paula, flüstert er und streicht ihr die Haare aus dem verweinten Gesicht.
Wenzel versteht. Er scheint alles zu verstehen. Er verachtet sie nicht, er urteilt nicht, er runzelt nicht einmal die Stirn.
Bevor sie zum ersten Mal mit ihm geschlafen hatte, war sie zum Arzt gegangen. Sie war sich sicher gewesen, krank zu sein. Innerhalb eines Jahres hatte Paula mit fünfzehn Männern geschlafen. Laut den Angaben auf dem Seitensprungportal waren sie verheiratet gewesen. Paula kannte ihre Vornamen und ihr Alter, sonst wusste sie nichts. Wenn sie behauptet hatten, gesund zu sein, hatte sie ihnen geglaubt.
Und auch die Männer hatten nichts wissen wollen.
Als die Ergebnisse vorlagen, kannte sie Wenzel seit acht Wochen. Sie hatten eine Brahms-Sinfonie und ein Rachmaninov-Klavierkonzert gehört, waren im Theater gewesen, hatten lange Spaziergänge unternommen und sich auf Bänken im Park geküsst. In acht Wochen hatte sie früher eine Beziehung begonnen, geführt und beendet. Wenzel hatte sie noch nicht einmal nackt gesehen.
Anfangs fürchtete sie, er würde das Weite suchen, wenn er erkannte, wie beschädigt sie war. Doch als er immer wieder aufs Neue pünktlich an den verabredeten Orten erschien, ließ die Angst langsam nach.
Als sie in der Praxis vor dem Tresen stand, versuchte Paula vergeblich, aus dem Gesicht der Arzthelferin das Ergebnis abzulesen. Die Augen der Frau flogen über einen Bogen Papier, ihre Miene war ausdruckslos. Das Telefon klingelte, sie ging ran, vergab einen Termin, dann schaute sie erneut auf das Papier. Alles in Ordnung, Frau Krohn, sagte sie, ohne aufzusehen.
Paula fuhr Fahrrad. Der Wind in ihrem Gesicht war warm.
Auf dem Markt kaufte sie Fisch, Tomaten, Paprika, Gurken, Radieschen, grünen Salat, Zwiebeln und Knoblauch, frische Kräuter, Zitronen und Safran. Mit vollen Fahrradtaschen machte sie halt beim Weinhändler, probierte einen Grauburgunder, einen Weißburgunder und einen Sauvignon blanc, spürte die angenehme Wirkung des Alkohols und verließ den Laden mit einem fränkischen Silvaner.
Zu Hause band sie sich eine Schürze um, legte Chopin-Balladen ein und fing an zu kochen.
Es war der Tag, als die Mauersegler kamen. Wie in jedem Jahr waren sie plötzlich da. Von südlich des Äquators kamen sie angeflogen, in der ersten Woche des Monats Mai. In atemberaubender Geschwindigkeit jagten sie durch die Straßen. Ihre schrillen Rufe gellten durch den Abend und waren selbst durch die geschlossenen Fenster zu hören.
Paula lief ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Fensterbrett. Für ein paar Minuten spiegelte sich die Abendsonne in einem der gegenüberliegenden Fenster. Wie ein Scherenschnitt erschien ihr Halbprofil auf dem Vorhang, der das Zimmer teilte, und die Schatten der Mauersegler huschten darüber hinweg.
In jener Nacht schliefen sie miteinander. Wenzel tat nichts, was Paula nicht schon kannte, und doch war etwas an diesem Lieben anders. Es war wie eine komplexe Musik – nach dem ersten Hören traten andere, feinere Klänge hervor, zeigte sich die Schönheit noch im leisesten Ton und selbst in den Pausen. Und als sie am nächsten Morgen die Augen aufschlug, war Wenzel noch immer bei ihr.