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Familie, Liebe, Leidenschaft: Der faszinierende MacGregor-Clan.
Gefühle verbietet sich die schöne Diana, zu groß ist die Angst vor einer Enttäuschung. Die Wurzeln dafür liegen in ihrer freudlosen Kindheit. Dann tritt der attraktive Anwalt Caine MacGregor in ihr Leben. Der begehrt Diana nicht nur, sondern will der brillanten Anwältin zeigen, wie sehr es sich lohnt, für die Liebe zu kämpfen. Doch er hat eine Reputation, was seine Aktivitäten in Gerichtssälen und in Schlafzimmern angeht. Wie kann er sie überzeugen, dass sie ein perfektes Team wären, als Kollegen und als Paar?
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Seitenzahl: 273
Nora Roberts
Die MacGregors 2
Lebe die Liebe
Roman
Aus dem Amerikanischen von Ursel von der Heiden
Wilhelm Heyne Verlag
1. KAPITEL
Nachdenklich blickte Diana aus dem kleinen Flugzeugfenster auf die sonnenbeschienenen Wolken und überlegte zum wiederholten Male, ob es wirklich richtig war, dieser Einladung zu folgen. In einer halben Stunde sollte die Maschine bereits landen, und noch immer plagten sie Zweifel.
Fast zwanzig Jahre waren vergangen, seit sie ihren Bruder zum letzten Mal gesehen hatte. In ihrer Erinnerung war er immer noch der Teenager von sechzehn Jahren, zu dem sie als kleines Mädchen bewundernd aufgeblickt hatte. Sechs Jahre alt war sie damals gewesen, und für sie hatte es kein anderes Vorbild als ihren Bruder gegeben.
Wenn sie die Augen schloss, sah sie Justin wieder vor sich. Ein gut aussehender junger Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, schwarzem Haar, das ihm immer ein wenig wild in die Stirn fiel, und kühlen grünen Augen, die sehr selbstsicher und mit einer Spur Arroganz in die Welt blickten. Justin Blade – der Einzelgänger.
Diana lehnte sich in ihren Sitz zurück und rief sich die Ereignisse von vor zwanzig Jahren wieder in Erinnerung. Als ihre Eltern starben, hatte Justin sich rührend um sie gekümmert, ohne dass er ihr in dem Durcheinander ihrer kindlichen Gefühle wirklich hätte beistehen können. Sie konnte nicht verstehen, dass ihre Eltern niemals zurückkommen würden, und glaubte fest daran, dass alles wieder so werden könnte wie früher, wenn sie nur recht lieb wäre, keine Dummheiten mehr anstellte und in der Schule besser aufpassen würde.
Aber dann war Tante Adelaide gekommen, und Justin war aus ihrem Leben verschwunden. Lange hatte sie geglaubt, dass ihr Bruder nun auch im Himmel sei, weil er ihre Tränen und ihre immer wieder gleich lautenden Fragen nicht mehr hatte ertragen können. Ihre Tante hatte sie mit an die Ostküste genommen, in eine ihr völlig fremde Welt. Von Justin hatte sie nie wieder etwas gehört.
Und jetzt war er verheiratet. Sosehr Diana sich auch bemühte, sie konnte sich ihren Bruder einfach nicht als Ehemann vorstellen. In all den Jahren hatte sie beinahe vergessen, dass sie überhaupt einen Bruder hatte. Und nun wartete nicht nur er auf Diana, sondern auch Serena MacGregor, ihre Schwägerin.
Die MacGregors aus Hyannis Port. Natürlich kannte sie diesen Namen. Tante Adelaide hatte dafür gesorgt, dass sie gesellschaftlich auf dem Laufenden war – und dazu gehörte selbstverständlich auch, dass sie diese Familie kannte, die zu den ältesten im Land gehörte.
Daniel MacGregor war das Oberhaupt, ein gebürtiger Schotte und eine bekannte Größe in der Finanzwelt. Anna MacGregor, seine Frau, war eine hoch angesehene Ärztin, und Alan, der älteste Sohn, hatte bereits Karriere als Senator gemacht.
Und dann gab es da noch Caine MacGregor, den jüngeren Sohn. Über ihn hatte Diana in Harvard mehr gehört, als ihr lieb war. Er hatte die berühmte Universität einige Jahre vor ihr durchlaufen, war wie sie selbst Jurist geworden. Genau ein Jahr, bevor sie ihr Studium begann, hatte er seines abgeschlossen und war jetzt bereits dabei, sich einen Namen als Anwalt zu machen.
Ganz zu Anfang, als sie noch ein Neuling in Harvard gewesen war, hatte Diana eine Unterhaltung zwischen zwei Studentinnen mit angehört, die sich einige pikante Einzelheiten aus Caine MacGregors Leben erzählt hatten, die darauf schließen ließen, dass er seine Zeit nicht nur über Büchern und in Hörsälen verbrachte.
Ja, und dann war da noch ihre Schwägerin Serena. Sie hatte genauso wenig versagt wie ihre Brüder. Das lag offenbar im Blut der MacGregors, die, nach allem, was man so hörte, die geborenen Sieger waren. Serena hatte ebenfalls ein Studium absolviert, es mit Auszeichnung abgeschlossen und die nächsten Jahre damit verbracht, alle möglichen akademischen Grade zu erringen. Zumindest von ihrem Ehrgeiz her schien sie zu Justin Blade zu passen.
Diana erinnerte sich wieder an die Hochzeit der beiden und überlegte für einen Moment, ob sie zu der Feier gegangen wäre, wenn sie zu der Zeit in Amerika gewesen wäre. Ja, entschied sie ganz spontan, ja, ich wäre hingegangen. Und wenn es nur aus Neugierde gewesen wäre. War es nicht auch vornehmlich Neugierde, die sie jetzt nach Atlantic City fliegen ließ?
Andererseits hätte sie Serenas Einladung kaum ausschlagen können, ohne einen kindischen oder zumindest unhöflichen Eindruck bei ihrer Schwägerin zu hinterlassen. Und wenn es etwas gab, das Tante Adelaide ihr eingebläut hatte, so war es die Einsicht, dass eine Dame sich niemals kindisch oder unhöflich benehmen durfte.
Schnell schob Diana die Gedanken an ihre Tante beiseite und holte den Brief von Serena aus der Tasche.
Liebe Diana,
ich war so enttäuscht, als ich im letzten Herbst zu unserer Hochzeit erfuhr, dass du in Paris warst und nicht an der Feier teilnehmen konntest. Ich habe mir immer eine Schwester gewünscht, aber leider haben mir meine Eltern diesen Wunsch nicht erfüllt. Daher ist es für mich jetzt doppelt traurig, dass ich eine – zumindest angeheiratete – Schwester habe und sie noch nicht einmal kennenlernen konnte.
Justin spricht oft von dir, aber natürlich ist das kein Ersatz dafür, dich endlich einmal zu sehen, zumal seine Erinnerungen sich nur auf das kleine Mädchen beschränken, das du damals warst. Ich lege diesem Brief ein Flugticket bei und hoffe sehr, dass du es benutzen und zu uns kommen wirst. Justin und du, ihr beide habt Jahre aufzuholen, in denen ihr euch nicht gesehen habt, und ich möchte endlich die Schwester kennenlernen, die ich mein Leben lang vermisst habe.
Liebe Grüße, Serena
Diana seufzte und steckte den Brief wieder in ihre Handtasche. Sie kannte diese Frau überhaupt nicht, aber allein der warmherzige, freundliche Ton des Briefes hatte sie neugierig darauf gemacht, sie kennenzulernen.
Eigentlich war Serena nicht der Typ Frau, den sie an der Seite ihres Bruders erwartet hatte. Zu ihm passte wohl eher eine kühle, nur auf ihren Vorteil bedachte Frau. Stimmt das wirklich? korrigierte Diana sich sofort. Schließlich wusste sie gar nicht, wie Justin sich entwickelt hatte, zu welcher Art Mann er geworden war.
Wenn es wirklich Zeiten gegeben hatte, in denen sie sich nach ihrem Bruder gesehnt hatte, so waren diese lange vorbei. Sie hatte die Sehnsucht nach ihm begraben müssen, um in der Welt ihrer Tante überleben zu können. Wenn Tante Adelaide wüsste, dass sie jetzt unterwegs war, um ihren Bruder in seinem Hotel zu treffen, in dem er das meiste Geld mit dem angeschlossenen Spielcasino machte, würde sie wohl voller Entsetzen die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Unausweichlich würde dann ein längerer Vortrag darüber folgen, in welchen Kreisen eine Dame verkehren dürfe und in welchen nicht.
Mit einem Lächeln blickte Diana wieder hinaus in die Wolken. Heute konnten ihr die Vorträge ihrer Tante nichts mehr anhaben. Mittlerweile war sie erwachsen und konnte selbst entscheiden, was für sie gut war und was nicht. Sie würde ihren Bruder wiedersehen, ihre Schwägerin kennenlernen und dann zurück nach Boston fahren und ihr gewohntes Leben weiterführen. Sie brauchte niemanden mehr zu fragen und niemandem Rechenschaft abzulegen über die Art und Weise, wie sie lebte und wie sie vor allem ihre Karriere vorantrieb.
Ein neues Jahr hatte gerade begonnen und damit für Diana auch ein neuer Abschnitt ihres Lebens. Der erste, in dem sie für sich allein verantwortlich war. Sie war gespannt auf alles Neue, das ihr begegnen würde.
Sicher ist sie gar nicht in der Maschine, überlegte Caine, als er auf das Flughafengebäude zuging. Er wusste nicht, woher seine Schwester die feste Überzeugung nahm, dass Diana ihre Einladung annehmen würde, schließlich hatte sie auf ihren Brief überhaupt keine Antwort bekommen. Nur widerwillig hatte er sich von Rena dazu überreden lassen, für sie die Rolle des Chauffeurs zu übernehmen, nachdem sie im Hotel durch unvorhergesehene Terminverschiebungen festgehalten worden war.
Es wäre ihm wesentlich lieber gewesen, er hätte seine erste freie Woche seit Monaten mit Skifahren in Colorado verbringen können, statt ausgerechnet im Januar an die eisige Atlantikküste zu fahren. Aber nach den schrecklichen Vorfällen vor einigen Monaten konnte er seiner Schwester einfach keinen Wunsch abschlagen und hatte sich daher ohne Murren bereit erklärt, sie in Atlantic City zu besuchen und dabei zu sein, wenn sie zum ersten Mal ihrer Schwägerin begegnete.
Der Wind pfiff ihm um die Ohren, als er die Tür zur Ankunftshalle öffnete. Eine hübsche Blondine in einem auffälligen Fuchsmantel kam ihm entgegen, und er hielt ihr die Tür auf. Die Frau zögerte einen Augenblick, musterte ihn von oben bis unten und lächelte Caine dann vielsagend zu. Er erwiderte dieses Lächeln eher amüsiert und ging weiter.
Caine war an diese Blicke von gut aussehenden Frauen gewöhnt. Sie schmeichelten ihm, brachten ihn aber nicht weiter aus der Ruhe. Seine Wirkung auf Frauen war vornehmlich auf seinen athletischen Körperbau, die breiten Schultern und schmalen Hüften zurückzuführen. Sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen, der geraden Nase und den tiefblauen Augen hatte sehr markante, männliche Züge, die auf sehr viel Selbstsicherheit und Durchsetzungsvermögen schließen ließen. Seine blonden Haare waren vom Wind zerzaust und verstärkten noch den wilden, ungebärdigen Eindruck.
Caine ging durch die große Halle zur Anzeigetafel, auf der der Flug aus Boston bereits angezeigt wurde. Der Ausgang für diesen Flug lag ganz in der Nähe, und so setzte er sich in einen der Sessel, steckte sich eine Zigarette an und wartete auf eine Frau, die er gar nicht kannte und von der er auch nicht annahm, dass sie überhaupt auftauchen würde.
Als die Maschine aufgerufen wurde, beugte er sich etwas vor und nahm die ersten Passagiere in Augenschein, die sich bereits hinter der großen Glasscheibe um das Gepäckband versammelten. Er nahm sich vor, wirklich zu warten, bis auch der letzte Fluggast herausgekommen war, und dann zum Hotel zurückzufahren.
Es würde ihm leidtun, seine Schwester enttäuschen zu müssen, aber schließlich hätte sie von Anfang an nicht fest damit rechnen dürfen, dass Diana tatsächlich kam. Den Rest des Nachmittags konnte er dann in Ruhe im Fitnessraum des Hotels verbringen und die ersten freien Stunden seit langer Zeit genießen. Seitdem er sich als Rechtsanwalt mit eigener Kanzlei niedergelassen hatte, war ihm kaum eine freie Stunde geblieben.
Das wird jetzt anders, versprach er sich selbst. In dieser Woche wollte er ausspannen und den voll bepackten Schreibtisch in seiner Kanzlei völlig vergessen.
Caine erkannte sie sofort. Die hohen Wangenknochen, die beinahe bronzefarbene Haut, die dunklen, leicht schräg gestellten Augen – das alles ähnelte Justin so sehr, dass man es gar nicht übersehen konnte. Wenn auch der indianische Einschlag bei Justins Schwester beinahe noch deutlicher zu sehen war. Die Augenlider schienen halb geschlossen, die Nase war schmal und gerade, der Mund weich geschwungen und leidenschaftlich.
Oder auch eigensinnig, dachte Caine und stand auf, um ihr entgegenzugehen. Es war ein Gesicht, das ein Mann leicht einordnen konnte – hübsch, ansprechend, sexy. Aber trotzdem war es kein Allerweltsgesicht, das man sah und schnell wieder vergaß. Selbst auf den ersten Blick wusste Caine, dass er sich immer daran erinnern würde.
Als sie ihre Tasche auf die andere Schulter hängte, schwang ihr dichtes schwarzes Haar mit. Es ging ihr fast bis zu den Schultern, die Spitzen waren leicht nach innen gedreht, und in ihrer Stirn hingen einige Ponyfransen, die das schmale Gesicht hübsch umrahmten.
Unbemerkt ließ Caine seinen Blick über Dianas schlanke Figur wandern. Sie hatte schmale Hüften, der Gürtel ihres Mantels betonte die Taille, während ihre Schultern unter dem dicken Stoff breit und kräftig erschienen. Sie bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Tänzerin, und als Caine sich ihr in den Weg stellte, hielt sie grazil mitten in der Bewegung inne und sah ihn an. Ihr Blick hatte nichts gemein mit dem der Frau vorhin im Fuchsmantel. Keine abschätzende Musterung, noch nicht einmal sonderliches Interesse war daraus zu lesen.
»Entschuldigen Sie bitte.« Diana wollte schon an ihm vorbeigehen und ließ keinen Zweifel daran, dass er ihr im Weg stand.
»Diana Blade?«
Erstaunt sah sie ihn an. »Ja?«
»Ich bin Caine MacGregor, Renas Bruder.«
Das ist er also, Caine MacGregor, dachte Diana und nahm die Hand, die er ihr entgegenstreckte.
»Rena wollte Sie selbst abholen«, sagte Caine und nahm den Blick immer noch nicht von ihrem Gesicht, »aber dann hielt sie im Hotel etwas auf.« Er griff nach ihrem Koffer. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie kommen würden.«
»So?« Diana ging neben ihm her auf den Ausgang zu. »Und Ihre Schwester?«
Irgendetwas in ihrem Blick ließ Caine nicht so höflich und freundlich zu ihr sein, wie er das sonst Fremden gegenüber für selbstverständlich hielt. »Sie war sicher, dass Sie kommen würden«, sagte er und zuckte abschätzig mit den Schultern. »Rena meint immer, alle Leute müssten so enge Familienbande haben wie sie selbst.«
Diana blieb abrupt stehen und sah ihm voll ins Gesicht. »Sie mögen mich nicht, nicht wahr?«
Caine wich ihrem Blick aus. »Wie kommen Sie darauf? Schließlich kennen wir uns ja noch gar nicht. Im Übrigen würde ich vorschlagen, dass wir die Formalitäten lassen, da wir doch jetzt quasi miteinander verwandt sind. Ich heiße Caine.«
Diana zögerte nur einen Augenblick. »Okay, Caine. Mich würde interessieren, woran du mich erkannt hast.«
»Du hast sehr viel Ähnlichkeit mit Justin.«
»Wirklich?«
Nachdenklich ging sie neben ihm her, die Augen gesenkt. Ihr fiel gar nicht auf, dass Caine sie sehr genau betrachtete. »Die Familienähnlichkeit ist unverkennbar«, sagte er, griff nach ihrem Arm und führte sie aus dem Flughafengebäude in die eisige Winterluft hinaus. »Justin wird sich freuen, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen.«
»Ja, vermutlich«, gab ihm Diana einsilbig zur Antwort. »Kennst du ihn schon länger?«
»Ja, seit über zehn Jahren. Er war schon lange mein Freund, bevor er mein Schwager wurde.«
Diana wollte ihn schon ausfragen über ihren Bruder, aber dann unterdrückte sie diesen Wunsch. Es war besser, wenn sie sich selbst ein Bild machte. Völlig ohne Einwirkung und Beeinflussung anderer.
»Wohnst du auch im ›Comanche‹?«, fragte sie stattdessen.
»Ja, für eine Woche.«
Als sie auf den Parkplatz kamen, schlug Diana den Kragen ihres Wintermantels hoch. Der Wind pfiff eisig vom Meer her, der Himmel war von schnell dahintreibenden Wolken bedeckt, und der hart gefrorene Boden zeigte überall noch Reste von Schnee.
»Nicht gerade die beste Zeit, um den Urlaub am Meer zu verbringen«, sagte sie.
»Die meisten Leute, die jetzt hier sind, kommen nicht des Meeres wegen, sondern um zu spielen. Wenn sie erst einmal in den Casinos sind, hat das Wetter keine Bedeutung mehr.«
Diana reichte ihm nur bis zur Schulter. Sie musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. »Bist du auch deswegen hier – um im Spiel dein Glück herauszufordern?«
»Nein, nicht unbedingt.« Caine sah sie an. Der wolkenverhangene Himmel spiegelte sich in ihren dunklen Augen. »Ich habe nichts gegen ein Spielchen dann und wann, aber der wirkliche Spieler in unserer Familie ist Rena.«
»Dann passt sie zu Justin.«
Caine stellte den Koffer ab und holte die Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich überlasse es dir, das herauszufinden.« Dann packte er ihr Gepäck in den Kofferraum und schloss ihr die Beifahrertür auf. »Diana …« Er legte ihr die Hand auf den Arm und hielt sie fest.
Noch nie hatte jemand ihren Namen so ausgesprochen – sanft, beinahe zärtlich hatte es geklungen. Erstaunt sah sie zu ihm auf. Er stand ganz nah vor ihr, und plötzlich strich er mit einem Finger die Ponyfransen aus ihrer Stirn. Diese merkwürdige Berührung überraschte Diana so sehr, dass sie stehen blieb und kein Wort sagte.
»Diana, es gibt Dinge im Leben, die sind ganz anders, als es zuerst den Anschein hat.«
»Ich verstehe nicht. Was willst du damit sagen?«
Einen Augenblick lang standen sie in der kalten Winterluft. Vom Flugfeld her hörten sie den Lärm der landenden und startenden Maschinen. Diana war es, als könnte sie die Wärme seiner Hand durch den dicken Mantelstoff hindurch spüren. Seine Augen blickten sie so sanft an, wie es eigentlich gar nicht zu dem harten, männlichen Gesicht passte. Für einen Moment vergaß sie den Ruf, den Caine MacGregor wegen seinen ständig wechselnden Frauenbekanntschaften hatte. Am liebsten hätte sie sich an ihn geschmiegt und ihn um Rat und Trost gebeten – obwohl sie nicht hätte sagen können, wovor er sie beschützen sollte.
»Du bist sehr hübsch«, murmelte Caine und nahm den Blick nicht von Dianas Gesicht. »Gib Justin eine Chance, ja?«
Völlig verwirrt sah sie ihn an. »Aber habe ich das denn nicht schon getan, indem ich gekommen bin?«
»Vielleicht.« Caine ließ sie los und ging hinüber zur Fahrerseite.
»Du scheinst nicht davon überzeugt zu sein.« Diana setzte sich und schlug die Tür zu.
»Nun, ich würde eher meinen, dass deine Neugierde dich hierher gebracht hat.«
»Zumindest kann man dir keine mangelnde Offenheit nachsagen«, erwiderte Diana schmunzelnd.
Nur kurz sah Caine zu ihr hinüber und lächelte. Dann drehte er den Zündschlüssel, und der schwere Jaguar startete. »Wir sollten versuchen, Freunde zu sein«, sagte er und wechselte abrupt das Thema. »Wie war es in Paris?«
Diana lehnte sich in ihrem Sitz zurück und beschloss, auf dieses unverfängliche Thema einzugehen. »Ziemlich kalt und ungemütlich.«
»Ich kenne da ein kleines Café in der Rue du Four.« Caine lenkte den schweren Wagen geschickt durch den dichten Verkehr. »Dort gibt es die besten Soufflés diesseits und jenseits des Atlantiks.«
»Du meinst das ›Henri‹?«
Überrascht sah er sie an. »Ja, kennst du es?«
Diana nickte lächelnd. »Henri« war ein winzig kleines Lokal, in dem nur einige Tische Platz hatten. Tante Adelaide wäre niemals auch nur über die Schwelle geschritten, aber Diana hatte es genossen, so oft sie in Paris war, wenigstens einmal für ein oder zwei Stunden dorthin zu gehen. Seltsam, dass Caine MacGregor es ebenfalls kannte. »Bist du häufig in Paris?«
»Nein, früher während meiner Studienzeit einige Male, aber jetzt nicht mehr.«
»Meine Tante lebt jetzt dort. Ich war mit ihr drüben und habe geholfen, ihre neue Wohnung einzurichten.«
»Du wohnst in Boston, habe ich gehört? In welchem Stadtteil?«
»Ich bin gerade in meine eigene Wohnung gezogen. In der Charles Street.«
»Die Welt ist doch klein«, murmelte Caine. »Da sind wir ja beinahe Nachbarn. Was tust du in Boston?«
Diana legte ihre langen Beine übereinander und sah ihn von der Seite an. »Dasselbe wie du.« Caine zog überrascht die Brauen hoch. »Erinnerst du dich noch an Professor Whiteman?«, fuhr sie fort. »Er hat eine sehr hohe Meinung von dir.«
Caine blickte kurz zu ihr hinüber. »Nennt man ihn immer noch Skelett?«
»Natürlich. Das gibt wohl eine Studentengeneration an die nächste weiter.«
Caine lachte und schüttelte den Kopf. »So, dann hast du also Jura in Harvard studiert. Es scheint, dass wir beide doch mehr Gemeinsamkeiten haben, als zunächst angenommen. Eine Familie, eine Uni, derselbe Beruf. Wo arbeitest du?«
»Bei Barclay, Stevens und Fitz.«
»Hm, gute Kanzlei.«
Diana lachte und lehnte sich wieder in ihren Sitz zurück. »Ja, und vor allem bekomme ich dort ungeheuer interessante und wichtige Fälle. Vorige Woche zum Beispiel musste ich den Sohn eines Senators verteidigen, der der festen Überzeugung ist, dass Geschwindigkeitsbegrenzungen für ihn nicht gelten.« Sie war sichtlich amüsiert über den Fall.
»Immerhin hast du die Möglichkeit, dich in zehn oder zwanzig Jahren hochzuarbeiten – falls dir das nicht zu lange dauert.«
»Nein, ich habe andere Pläne«, sagte Diana leise und blickte wieder zum Fenster hinaus. Sobald sie genug Erfahrung in dieser bekannten Kanzlei gesammelt hatte, wollte sie sich selbstständig machen. Das hatte sie sich fest vorgenommen, und es passierte immer wieder, dass sie bereits jetzt davon träumte. Ein hübsches, elegant eingerichtetes Büro, eine eigene Sekretärin …
»Und die wären?«, unterbrach er ihre Gedanken.
Diana zögerte einen Moment. Schließlich kannte sie ihn erst seit etwa einer halben Stunde. Warum also sollte sie ihm ihre Karten offenlegen? »Ich möchte mich auf Strafrecht spezialisieren.«
»So? Und warum?«
»Weil mich das am meisten interessiert«, antwortete Diana. »Außerdem liebe ich die Auseinandersetzung vor Gericht.«
Caine war überrascht. Offensichtlich hatte er sie doch falsch eingeschätzt. Hinter der ruhigen, beinahe uninteressierten Fassade dieser Frau steckte wohl viel mehr. »Meinst du, du schaffst das?«
»Ein Student im zweiten Semester könnte die Fälle bearbeiten, die mir im Moment auf den Tisch kommen«, sagte Diana mit fester Stimme. »Ich kann viel mehr, das weiß ich, und ich werde es beweisen!«
»An mangelndem Selbstbewusstsein leidest du offenbar nicht.« Um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln, als er den schweren Wagen von der Straße in die Zufahrt zum Hotel lenkte. »Dann werden wir wohl Kollegen, ich habe mir nämlich den gleichen Weg vorgenommen.«
Diana sah ihn mit einem abschätzenden Blick an. »Schön. Dann werden wir ja sehen, wer von uns beiden besser ist.«
Caine lächelte nur, und zum ersten Mal spürte sie etwas von der Energie, die diesem Mann nachgesagt wurde. Nun, sie hatte keine Angst, und sie brauchte sich vor ihm nicht zu verstecken. Wenn Diana sich auf einem Gebiet völlig sicher war, dann war das ihr Beruf. Caine MacGregor würde ihren Namen in den nächsten Jahren vielleicht häufiger hören, als ihm lieb war. Sie würde dafür sorgen, dass er sich an diese Unterhaltung erinnerte, wenn es so weit war.
»Miss Blades Gepäck ist im Kofferraum«, sagte Caine und gab dem Portier die Wagenschlüssel. »Rena will dich bestimmt sofort sehen.« Er griff nach Dianas Arm und führte sie zum Hoteleingang. »Das heißt, wenn du nicht zuerst in dein Zimmer möchtest, um dich frisch zu machen.«
»Nein.« Diana fiel sofort auf, dass er seine Schwester, nicht aber Justin erwähnt hatte.
»Okay, dann komm mit.«
Sie sah sich in der eleganten Hotelhalle um. »Das gehört also alles Justin?«
»Nein, eigentlich nur die Hälfte«, berichtigte Caine, während er sie zum Aufzug führte. »Rena ist im vorigen Jahr als gleichberechtigter Partner eingestiegen.«
»So? Haben die beiden sich dabei kennengelernt?«
»Nein.« Caine lachte und sah, dass Diana ihm einen erstaunten Blick zuwarf. »Rena wird dir bestimmt erzählen, wie Justin und sie sich kennengelernt haben. Aber ich fürchte, du musst erst meinem Vater vorgestellt werden, bevor du das verstehst.« Plötzlich wurde er wieder ernst, sah sie nachdenklich an und spielte gedankenverloren mit einer Strähne ihres Haares. »Wenn ich es mir richtig überlege«, sagte er langsam, »wäre es vielleicht doch besser, du würdest meinen Vater nie kennenlernen. Sonst bin ich schneller in einer ähnlichen Situation, als mir lieb ist.« Er sah ihren Augen an, dass sie kein Wort verstanden hatte, aber er machte keine Anstalten, das Geheimnis aufzuklären. »Du bist sehr hübsch, Diana«, murmelte er stattdessen.
Es war die Art, wie er ihren Namen aussprach, die Diana kleine Schauer über den Rücken jagte und sie veranlasste, seinem Blick nicht zu begegnen.
Sie erinnerte sich wieder an den Ruf, den Caine in der Uni gehabt hatte. Demnach hatte er häufig genug Gelegenheit gefunden, seine Verführungstaktik zu vervollkommnen.
»Du bist auch heute noch ziemlich bekannt in Harvard«, sagte sie und sah zu ihm auf. »Und das bezieht sich nicht nur auf deine juristischen Leistungen.«
»Wirklich?« Er lächelte amüsiert. »Darüber musst du mir unbedingt mehr erzählen.«
»Ich glaube kaum, dass das nötig ist.« Diana trat aus dem Aufzug hinaus und blieb dann stehen. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich mich manchmal gefragt habe, ob diese Geschichte in der Bibliothek wirklich passiert ist.«
»Hm.« Mühsam beherrscht rieb er sein Kinn und sah sie aufrichtig an. »Euer Ehren, da möchte ich von meinem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch machen.«
»Feigling.« Sie sagte das ein wenig zu frech und zu herausfordernd.
Er steckte den Schlüssel, den Serena ihm mitgegeben hatte, in die Tür des Penthouse und zögerte dann. »Bist du wirklich neugierig?«
Diana zuckte mit den Schultern. Offenbar war es ihm überhaupt nicht peinlich, dass sie davon angefangen hatte. »Nun, eine Champagner-Orgie zwischen Gesetzbüchern … Du musst zugeben, das ist nicht alltäglich – vorausgesetzt, es hat sich wirklich so abgespielt.«
Caine schloss die Tür auf. »In Wahrheit war es Bier, kein Champagner. Du siehst, im Nachhinein wird so etwas immer viel zu sehr aufgebauscht.« Er lächelte ihr freundlich zu. »Man soll nicht immer alles glauben, was so erzählt wird.«
»Da hast du wohl recht.« Diana schob die Tür auf und ging an ihm vorbei.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber jedenfalls nicht diese gemütliche, unaufdringliche Einrichtung in der Wohnung ihres Bruders. Vor ihr lag ein großer Raum, dessen gegenüberliegende Wand aus Glas bestand und den Blick freigab auf den winterlichen Atlantik. Die Einrichtung bestand aus wenigen, ausgesucht eleganten Möbelstücken, bequemen Polstermöbeln und einigen wunderschönen Teppichen, die farblich mit dem Bezug der Polster harmonierten.
Entsprach das dem Geschmack ihres Bruders, oder zeigte sich hier Serenas Handschrift? Wieder einmal wurde Diana bewusst, wie fremd Justin ihr doch war und wie wenig sie von ihm wusste. Hätte sie nicht doch lieber auf diese Reise verzichten sollen? Bestimmt war es besser, wenn sie gar nicht erst versuchen würde, die Lücke der Jahre zu schließen, in denen sie sich nicht gesehen hatten. Plötzlich stieg Panik in ihr auf. Sie drehte sich um und wollte aus dem Raum fliehen – aber da stand Caine vor ihr. Er schien ihre Gedanken erraten zu haben, sah sie eindringlich an und rührte sich nicht vom Fleck.
»Vor wem willst du weglaufen?«, fragte er ganz ruhig und hielt sie an den Armen fest. »Vor Justin oder dir selbst?«
»Das geht dich gar nichts an«, antwortete Diana aggressiv.
Schweigend hielt er ihre Arme umklammert. Wenn sie wütend ist, ist sie noch hübscher, dachte er und blickte in ihr Gesicht. Wie würde sie wohl reagieren, wenn man diesen Panzer knackte, den sie um sich herum aufgebaut hatte? Zeugte dieser weich geschwungene Mund wirklich von Leidenschaft? Bisher hatte er immer Frauen bevorzugt, die ohne viel nachzudenken auf sein Spiel eingingen, die keine großen Ansprüche stellten und die er nachher schnell wieder vergessen konnte. Bei Diana war das anders. Es reizte ihn, hinter diese Fassade zu schauen.
Einen Augenblick lang zögerte er. Sollte er es jetzt schon ausprobieren? Er brauchte sie nur etwas enger an sich zu ziehen. Wie würde sie reagieren?
Diana spürte die Spannung, die zwischen ihnen herrschte. Entsetzt stellte sie fest, dass sie sich am liebsten an ihn geschmiegt hätte, dass sie sich danach sehnte, ihn zu küssen.
In diesem Augenblick hörte sie ein Geräusch, und geistesgegenwärtig schob Caine ihr den Mantel von den Schultern, als hätte ihre Nähe keinen anderen Grund gehabt.
Als sie ihren Kopf drehte, sah sie an einer Seite des Raumes eine Aufzugtür aufgehen, und heraus trat eine schlanke blonde Frau.
»Diana.« Mit ausgestreckten Armen kam Serena auf sie zu und umarmte sie. »Ich bin so glücklich, dass du gekommen bist!« Sie hielt ihre Schwägerin an den Händen fest und sah sie lächelnd an. »Du bist sehr hübsch, Diana«, sagte sie und wandte sich an ihren Bruder. »Und sie hat Ähnlichkeit mit Justin, findest du nicht auch?«
Caine nickte nur und steckte sich eine Zigarette an.
Etwas verlegen trat Diana einen Schritt zurück. »Ich danke dir für die Einladung, Serena.«
»Das ist die erste und letzte förmliche Einladung gewesen, die ich dir geschickt habe«, antwortete Serena lächelnd. »Schließlich sind wir jetzt eine Familie, nicht wahr? Caine, wie wäre es mit einem Drink? Diana, was möchtest du?«
»Einen Sherry vielleicht«, antwortete Diana und trat nervös etwas näher an die hohe Glaswand. »Das Hotel ist sehr schön, Serena. Caine hat mir erzählt, dass Justin und du jetzt Partner seid?«
»Ja, das stimmt. Außerdem haben wir gerade ein Hotel auf Malta gekauft. Die anderen kenne ich noch nicht, aber irgendwann werde ich es bestimmt schaffen, sie mir anzusehen.« Sie nahm das Glas, das ihr Bruder ihr reichte, und setzte sich.
»Übrigens, Diana und ich sind in Boston praktisch Nachbarn«, mischte Caine sich in die Unterhaltung ein und ging hinüber zu Diana, um ihr ein Glas zu geben.
»Oh, wirklich?«
Ihre Blicke begegneten sich, als Diana das Glas nahm und dabei kurz Caines Hand streifte. Nur zu gern hätte sie sich gesagt, dass diese Spannung vorhin zwischen ihnen nur auf ihre etwas überreizten Nerven zurückzuführen war, aber als sie in seine Augen blickte, war sie sich da nicht mehr so sicher.
»Ja.« Abrupt drehte sie sich zur Seite und schaute Serena an. »Das ist wirklich Zufall, nicht wahr?«
»Wahrscheinlich schon mehr als ein Zufall.« Caines Stimme war so leise, dass wohl nur Diana das gehört hatte. »Außerdem haben wir auch noch denselben Beruf«, sagte er lauter.
»Du bist Rechtsanwältin?« Serena sah, wie ihre Schwägerin Caine mit den Augen folgte, und lächelte. Offenbar hatte ihr Bruder die kurze Zeit seit ihrer Ankunft gut genutzt.
»Ja, ich habe einige Jahre nach Caine in Harvard studiert. Man erinnerte sich übrigens noch sehr gut an ihn.«
Serena lachte laut auf. »Das wundert mich gar nicht, schließlich kenne ich doch meinen Bruder.«
»Reizend, wie du über mich denkst«, brummte Caine.
Die beiden sind sich sehr nah, dachte Diana und spürte so etwas wie Neid. Sie kam sich vor wie ein Eindringling. »Serena, ich habe mich wirklich sehr über deine Einladung gefreut«, begann sie stockend. »Aber bist du sicher, dass Justin mich tatsächlich sehen will?«
»Er weiß gar nicht, dass du hier bist.« Als sie Dianas entsetzten Blick bemerkte, fuhr sie schnell fort: »Ich wusste ja gar nicht, ob du überhaupt kommen würdest, Diana. Und da wollte ich ihm eine Enttäuschung ersparen.«
»Meinst du, es wäre eine Enttäuschung für ihn geworden?« Diana hatte die Frage sehr leise gestellt und nahm noch einen Schluck von ihrem Drink.
»Du kennst ihn nicht«, antwortete Serena. »Aber ich kenne ihn.« Der kühle Blick, mit dem Diana sie daraufhin musterte, erinnerte Serena noch mehr an ihren Mann. Schnell stellte sie ihr Glas auf den Tisch und ging auf ihre Schwägerin zu. »Diana, ich kann mir vorstellen, was jetzt in dir vorgeht. Bitte, mach es ihm nicht so schwer. Er …«
Als sie das Geräusch des Aufzugs hörte, brach sie ab. Verflixt, Justin kam zu früh! Sie hatte erst noch mit Diana etwas reden wollen, bevor die beiden sich begegneten.
Diana war plötzlich wie erstarrt und hatte nur noch Augen für die Aufzugtür, die in diesem Augenblick aufging. Serena warf ihrem Bruder einen hilflosen Blick zu, aber er antwortete nur mit einem lässigen Schulterzucken.
»Da bist du ja.« Justin ging direkt auf seine Frau zu und sah Diana gar nicht, die sich mit einigen Schritten bis ans Fenster zurückgezogen hatte. »Ich habe dich schon gesucht.«
»Justin …« Serena kam nicht dazu, mehr zu sagen. Er hatte sie schon in die Arme genommen und verschloss ihren Mund mit einem Kuss.
Wie groß er ist! Das war das Erste, was Diana durch den Kopf schoss. War das wirklich ihr Bruder? Dieser selbstbewusste, elegante Mann, der nur wenige Schritte von ihr entfernt stand, hatte wenig gemein mit dem zurückhaltenden, etwas eckigen Jungen, der sie auf seine Schultern genommen hatte, wenn ein Zirkus in die Stadt kam, damit sie besser sehen konnte. Warum kam ihr ausgerechnet dieses Bild jetzt in den Sinn?
»Justin«, begann Serena atemlos, als er sie endlich wieder freigegeben hatte. »Wir sind nicht allein.«
Er warf einen Blick auf Caine und zog seine Frau dann noch enger an sich. »Caine, du störst. Merkst du das nicht?«
»Justin.« Halb lachend presste Serena ihre Hände gegen seine Brust und deutete mit dem Kopf zum Fenster.
Justin folgte ihrem Blick, wandte sich dann aber sofort wieder seiner Frau zu. »Ich habe gar nicht bemerkt, dass Caine jemanden mitgebracht hat«, sagte er lächelnd und strich Serena übers Haar.
Er erkennt mich nicht mehr, dachte Diana und umfasste ihr Glas so krampfhaft, dass ihre Hände wehtaten. Wir sind wie zwei Fremde, die auf der Straße aneinander vorbeigehen würden.
Plötzlich zog Justin die Brauen zusammen, seine Hand lag immer noch auf dem Kopf seiner Frau, aber seine Finger griffen plötzlich so fest zu, dass es schmerzte. Ganz langsam ließ er sie los, und aus seiner Miene sprach ein ungeheures Staunen. »Diana?«
Sie stand ganz still, die Hände immer noch um ihr Glas verkrampft. »Justin.«
Mit wenigen Schritten war er bei ihr. Es schien, als wollte er sie in die Arme nehmen, aber dann blieb er vor ihr stehen und sah sie nur an. Er konnte es nicht fassen. Das war nicht das kleine Mädchen, das er getröstet hatte. Vor ihm stand eine erwachsene Frau mit den Augen ihres Vaters. Er starrte sie an. Ihr Gesicht war wie eine Maske, völlig ausdruckslos.
»Du hast keinen Pferdeschwanz mehr«, sagte er und wusste genau, wie albern das klang.