Die MacGregors - Wie alles begann. Vom Schicksal besiegelt - Nora Roberts - E-Book

Die MacGregors - Wie alles begann. Vom Schicksal besiegelt E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Familie, Liebe, Leidenschaft: Der faszinierende MacGregor-Clan.

Massachusetts, 1773: Tief verschneit sind die Wälder, und Weihnachten steht vor der Tür, als Allana Flynn in ihrer Scheune einen schwer verletzten Mann entdeckt. Seine Schusswunde spricht von einer blutigen Auseinandersetzung mit den Engländern. Aber sein süßer Kuss verrät der jungen irischen Witwe, dass das Fest der Liebe naht – wenn sie, der irische Heißsporn, den Mut hat, sich zu ihm, dem Schotten Ian MacGregor, zu bekennen. Ihr Herz für immer zu gewinnen, das ist für den wagemutigen Schotten eine größere Herausforderung, als die Briten zu bekämpfen.

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Seitenzahl: 173

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Nora Roberts

Die Mac Gregors – Wie alles begann

Vom Schicksal besiegelt

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Riette Wiesner

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe In From the Coldist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCopyright © 1990 by Nora RobertsPublished by Arrangement with Eleanor WilderCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by MIRA Taschenbuchin der Harlequin Enterprises GmbH, HamburgUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von shutterstock/Mayovskyy AndrewSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12069-6V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

MacGregor! Er war ein MacGregor. Dieser Gedanke allein hielt ihn noch im Sattel, ließ ihn die Zügel mit letzter Kraft halten. Schmerz tobte in seinem Arm. Trotz des Dezemberwindes und des Schneetreibens glühte er. Das Fieber ließ ihn keine Kälte fühlen. Längst schon konnte er das Pferd nicht mehr lenken, ritt weiter in der Hoffnung, die Stute würde von allein einen Weg durch das Gewirr verschlungener Trampelpfade finden, die sich Indianer, Weiße und das Wild hier gebahnt hatten. Er war ganz allein in dem dichten Schneegestöber, um ihn herum nur düsterer Wald. Die Dämmerung war schon früh angebrochen. In dem Brausen vernahm der Reiter nichts anderes als das Knirschen der Hufe seines Pferdes auf dem frisch gefallenen Schnee.

MacGregor vermutete, dass er bereits weit von Boston entfernt war, von den Menschenmassen, den warmen Häusern und jeglicher Zivilisation. Aber befand er sich deshalb schon in Sicherheit? Vielleicht. Schon bald würde der Schnee die Hufabdrücke des Pferdes verwischen und sogar die verräterische Blutspur bedecken, die sein verwundeter Arm hinterließ. Doch nur einfach in Sicherheit zu sein, war nicht genug, hatte ihm nie genügt. Er war fest entschlossen, unter allen Umständen am Leben zu bleiben, und das aus einem einzigen Grunde. Ein Toter konnte nicht mehr kämpfen. Und bei allem, was ihm heilig war, hatte er sich geschworen, so lange zu kämpfen, bis er endlich frei sein würde.

Auf einmal fror er, zitterte trotz seiner Kleidung aus derbem Büffelleder und des schweren Pelzes. Die Kälte kam freilich nicht nur von außen, sondern aus dem tiefsten Inneren seines erschöpften Körpers. Er beugte sich vor, redete beruhigend auf die Stute ein, und es war, als spräche er sich dabei selbst Mut zu. Seine Haut war schweißnass vor Anstrengung, und er fühlte die Kälte des Todes in sich aufsteigen.

Mühsam, doch unverdrossen kämpfte sich das Tier durch den Schnee, der immer tiefer wurde. MacGregor betete, wie es nur ein Mensch vermag, der spürt, wie er langsam verblutet, betete um sein Leben. Denn es galt noch einen Kampf auszufechten, und bevor der nicht entschieden war, durfte und wollte er ans Sterben nicht denken.

Die Stute wieherte, als er kraftlos im Sattel zusammensackte und vornüber fiel. Unbeirrt trottete sie weiter gegen den Wind. Der angeborene Sinn zum Überleben trieb sie voran.

Der stechende Schmerz in MacGregors Arm holte ihn ins Diesseits zurück. Wenn ich nur aufwachen könnte, dachte er in seinem Fieberwahn, dann würde der Schmerz zugleich mit dem Traum vorüber sein. Doch er hegte noch andere Träume. Er wollte seinen ehrlichen Namen wiedergewinnen, sein Land, alles, was die Engländer ihm genommen hatten, wollte kämpfen für alles, was die MacGregors mit ihrem Stolz, ihrem Schweiß und ihrem Blut verteidigt und doch verloren hatten. Er war während des Krieges geboren worden, so schien es bloß recht und billig, auch in einem Kriege zu sterben. Nur noch nicht jetzt! MacGregor riss sich mühsam zusammen. Noch nicht! Der Kampf hatte gerade erst begonnen.

Vor sein inneres Auge trat ein anderes Bild: Männer mit geschwärzten Gesichtern, als Indianer verkleidet, drängten sich auf den Schiffen »Dartmouth«, »Eleanor« und »Beaver«. Es waren einfache Leute gewesen, erinnerte er sich, Händler, Handwerker und Studenten. Einige feuerte der Alkohol an, andere leitete ihre eigene Rechtschaffenheit. Sie hievten die Kisten mit Tee aus England hoch und zertrümmerten sie, warfen alles ins Meer aus Protest gegen den König, der seinen Untertanen in den amerikanischen Kolonien zu hohe Zölle und Abgaben für das Lebensnotwendige abverlangte. Welche Befriedigung hatte es ihnen bereitet, die zerbrochenen Holzbretter in das kalte Wasser des Bostoner Hafens klatschen zu hören! Die leeren Kisten türmten sich inmitten des Unrats zu wahren Bergen auf, als die Ebbe eintrat.

Das mag einen reichlich starken Tee für die Fische gegeben haben, dachte er nun. Ja, alle Beteiligten waren so ausgelassen gewesen und dabei doch so zielbewusst, so entschlossen und einig. Alle diese Eigenschaften würden sie brauchen, um zu kämpfen und diesen Krieg zu gewinnen, von dem viele noch nicht einmal begriffen, dass er bereits begonnen hatte.

Wie viel Zeit war wohl seit jenem ereignisreichen Abend vergangen? Ein Tag, zwei Tage? MacGregor war unglücklicherweise mit zwei betrunkenen und reizbaren Rotröcken aneinander geraten, als gerade der Morgen heraufdämmerte. Natürlich kannten sie ihn. Sein Gesicht, sein Name und seine politische Einstellung waren in Boston bekannt genug. Und er hatte seinerseits nichts dazu getan, sich bei den britischen Truppen beliebt zu machen. Vielleicht hatten die beiden Männer ihn auch bloß anrempeln und ein wenig einschüchtern wollen und gar nicht die Absicht gehabt, ihre Drohung wahr zu machen und ihn festzunehmen. Der Grund dafür war ihm ohnehin nicht klar geworden. Als jedoch der eine den Degen zog, griff auch MacGregor zur Waffe.

Der Kampf war nur kurz gewesen, und obwohl sein Gegner sofort zu Boden sank, wusste MacGregor nicht, ob er den ungestümen Soldaten getötet oder bloß verwundet hatte. Jedenfalls hatte dann der Kamerad mit Mordlust im Blick seine Muskete auf MacGregor angelegt. Obwohl er blitzschnell im Sattel gesessen und die Stute angetrieben hatte, war ihm die Kugel in die Schulter gedrungen.

Wieder fühlte er schmerzhaft das Geschoss in der Wunde. Obwohl sein Körper durch die Kälte ziemlich schmerzunempfindlich geworden war, quälte ihn die glühend heiße Stelle am Arm. Plötzlich schwanden seine Sinne, und dann spürte er nichts mehr.

Später war es wieder der Schmerz, der MacGregor zu sich brachte. Er lag ausgestreckt auf dem Rücken im Schnee und sah verschwommen das Niederwirbeln der weißen Flocken vor dem Hintergrund des düstergrauen Himmels. Noch schien er lebendig genug, Betroffenheit darüber zu empfinden, dass er vom Pferd gestürzt war. Mit großer Anstrengung gelang es ihm, sich auf die Knie aufzurichten. Geduldig wartete die Stute neben ihm und beäugte ihn mit einem Ausdruck sanfter Verwunderung.

»Ich verlasse mich darauf, dass du diesen kleinen Zwischenfall für dich behältst, altes Mädchen.« Der befremdliche Klang der eigenen Stimme ließ erstmals etwas wie Angst in ihm aufkeimen. Er biss knirschend die Zähne zusammen, griff nach den Zügeln und kam wankend auf die Beine. »Nun heißt es, schnell irgendwo Unterschlupf zu finden.« Er taumelte und begriff, dass er aus eigener Kraft nicht mehr aufsteigen konnte. So klammerte er sich fest, drückte sich gegen das Pferd und ließ sich todmüde weiterziehen.

Schritt für Schritt kämpfte er gegen das Verlangen, sich einfach fallen zu lassen und es der Kälte zu überlassen, ein Übriges zu tun. Man sagte ja, Tod durch Erfrieren käme fast schmerzlos, fast wie der Schlaf, kühl und ohne Qual. Aber wie konnte einer das wissen, noch nie war ein Toter ins Leben zurückgekehrt! Der Gedanke machte MacGregor lachen, doch das Lachen wurde zu einem Husten, der ihn noch mehr schwächte.

Er hatte jeglichen Sinn für Zeit, Entfernung oder Richtung verloren. Um sich wach zu halten, versuchte er krampfhaft, an seine Familie zu denken, an die Liebe der Eltern und Geschwister. Daheim im geliebten Schottland setzten sie alles daran, sich die Hoffnung zu bewahren. Seine Onkel, Tanten, die Vettern und Basen in Virginia taten ihrerseits alles, sich das Recht auf ein neues Leben in dem fremden Lande zu erhalten. Und er selbst stand irgendwo dazwischen, hin und her gerissen zwischen der Liebe zum Althergebrachten und der Begeisterung für das Neue. Hier wie dort hatten sie alle nur einen gemeinsamen Feind, die Engländer. Der bloße Gedanke daran gab MacGregor Kraft. Mochte der Teufel alle Engländer holen! Sie hatten seinen Namen auf die schwarze Liste gesetzt und seine Leute niedergemetzelt. Jetzt streckten die Rotröcke die gierigen Hände sogar über das Meer, damit der englische König seine zu strengen Gesetze durchdrücken und die harten Steuern eintreiben konnte.

MacGregor stolperte und verlor beinahe den Zügel. Einen Augenblick lang blieb er mit geschlossenen Lidern stehen, den Kopf an den Hals des Pferdes gelehnt. Das Gesicht des Vaters erschien ihm, sah ihn mit seinem stolzen Blick an.

»Erkämpfe dir deinen Platz im Leben«, hatte der Vater dem Sohn immer eingeschärft, »und vergiss niemals, dass du ein MacGregor bist!«

Nein, das würde er ganz gewiss nicht vergessen. Mühsam öffnete er die Augen, bemerkte durch das Schneegestöber hindurch die Umrisse eines Gebäudes. Behutsam blinzelte er, rieb sich mit der freien Hand die müden Augen. Das Bild blieb, grau zwar und verschwommen, aber wirklich.

»Na gut, altes Mädchen.« Er lehnte sich schwer an die Stute. »Vielleicht hat unsere letzte Stunde heute doch noch nicht geschlagen.« Schritt für Schritt schleppte er sich näher. Es war wohl eine Scheune, ziemlich groß und aus soliden Tannenstämmen gezimmert. Mit steifen Fingern machte er sich an dem Riegel zu schaffen. Die Knie drohten ihm den Dienst zu versagen. Und endlich stand MacGregor drinnen und spürte die wohltuend warme Nähe der Tiere im Zwielicht. Er wandte sich mit letzter Kraft einem Heuhaufen zu, bemerkte dahinter eine gescheckte Kuh. Sie äußerte ihre Ablehnung mit einem aufgeregten Muhen.

Es war das Letzte, was MacGregor wahrnahm.

Alanna legte ihren Wollumhang um. Das Feuer im Kamin in der Küche brannte hell. Es duftete schwach nach Holz. Selbst diese kleine Alltäglichkeit machte Alanna Freude. Heute war sie mit einem Gefühl glücklicher Erwartung aufgewacht. Wahrscheinlich hatte der Schnee diese Empfindung ausgelöst, obgleich der Vater beim Aufstehen das Wetter verwünscht hatte. Sie dagegen liebte das Schneetreiben und freute sich daran, wie das reine Weiß die kahlen Äste der Bäume bedeckte.

Schon ließ das Flockentreiben nach. Innerhalb der nächsten Stunde würde der Hof mit Fußspuren übersät sein, zu denen auch die ihren gehörten. Denn sie musste sich um die Tiere kümmern, Eimer mit Wasser heranholen, während die Männer Pferdegeschirre ausbesserten und Holz spalteten. Umso mehr genoss Alanna diesen Augenblick, schaute aus dem kleinen Fenster und freute sich an dem Anblick draußen.

Wenn der Vater sie bei so etwas überraschte, pflegte er den Kopf zu schütteln und sie eine Träumerin zu nennen. Das mag zwar rau klingen, dachte sie, aber niemals zornig, eher bedauernd. Auch die Mutter war eine solche Träumerin gewesen. Doch sie hatte sterben müssen, ehe ihr Traum von eigenem Land, einer Heimstatt und einem Leben ohne Not wahr geworden war.

Cyrus Murphy war kein harter Mann, war es wohl kaum jemals gewesen. Jetzt dachte Alanna anders darüber und verstand, dass einfach der Tod, der häufige Tod es gewesen sein musste, der den Vater rau und reizbar hatte werden lassen. Erst zwei kleine Kinder, dann die geliebte Frau, ihre Mutter, und schließlich ein erwachsener Sohn, der junge Rory, der im Krieg gegen die Franzosen gefallen war. Und Alannas eigener Ehemann, der gute Michael Flynn, war ihnen, wenn auch auf eine weit weniger dramatische Weise, genommen worden. Auch er war von ihnen gegangen.

Eigentlich dachte Alanna nicht mehr allzu oft an Michael. Schließlich war sie nur drei Monate lang verheiratet gewesen, dagegen seit drei Jahren schon Witwe. Er war ein guter Mensch gewesen, und sie bedauerte es zutiefst, dass ihnen die Möglichkeit versagt geblieben war, eine richtige Familie zu gründen.

Heute war jedoch kaum der Tag, alten Sorgen nachzuhängen. Mit dieser Überlegung zog Alanna die Kapuze des Umhangs über den Kopf und ging hinaus. Jetzt war es an der Zeit, an Verheißungsvolles zu denken, an einen Neubeginn. Weihnachten rückte schnell näher, und sie war fest entschlossen, das Fest fröhlich zu gestalten. So manche Stunde hatte sie am Spinnrad und beim Stricken verbracht und neue Schals, Handschuhe und Mützen für die Brüder angefertigt, in Blau für Johnny, für Brian in Rot. Als Geschenk für den Vater hatte Alanna ein kleines Bild, das ihre Mutter zeigte, von einem Silberschmied am Ort rahmen lassen, was nicht eben billig gewesen war. Alanna wusste, dass sie in allem die richtige Auswahl getroffen hatte, auch, was das Weihnachtsmahl betraf. Ihr lag so viel daran, die Familie zusammenzuhalten, ihr Sicherheit und häusliches Glück zu bieten.

Das Stalltor war nicht verriegelt. Ärgerlich zog sie es hinter sich zu. Immerhin war es besser, sie hatte es offen gefunden als etwa der Vater. Der hätte für den Jüngsten, für Brian, ein heftiges Wort gehabt. Beim Eintritt schob Alanna die Kapuze zurück und griff ganz mechanisch nach einem der Eimer, die neben der Tür hingen. Hier drinnen war es ziemlich dunkel, und Alanna entzündete eine Laterne. Nach dem Melken würden die Brüder das Vieh füttern und den Stall säubern, bevor sie die Eier holte und den Männern ein herzhaftes Frühstück bereitete.

Die junge Frau summte leise vor sich hin, während sie den breiten Mittelgang entlangging, und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen. Ein fremdes Pferd stand mit hängendem Kopf offensichtlich erschöpft neben der scheckigen Kuh.

»Gerechter Gott!« Alanna fuhr sich mit der Hand zum Herzen, das auf einmal wild hämmerte. Das Pferd schnaubte, als wollte es sie begrüßen, und begann auf der Stelle zu treten. Wo es ein Pferd gab, konnte der Reiter nicht weit sein. Mit zwanzig Jahren war Alanna nicht mehr jung oder ahnungslos genug, um etwa anzunehmen, alle Fremden kämen in guter Absicht und bedeuteten für eine Frau, die allein war, keine Gefahr. Nun hätte sie kehrtmachen und davonlaufen oder nach dem Vater und den Brüdern rufen können. Aber mochte Alanna auch Michael Flynns Namen tragen, so war sie doch eine geborene Murphy. Und die Murphys zeigten so schnell keine Angst.

Mit hoch erhobenem Kopf setzte sie ihren Weg fort und sagte laut: »Wer sind Sie, Sir, und was suchen Sie hier?«

Erneutes Schnauben der Stute war die einzige Antwort. Alanna trat näher und streichelte dem Tier die Nüstern. »Du scheinst ja einen recht nachlässigen Herrn zu haben, der dich nass und gesattelt einfach so stehen lässt.« Zornig über eine solche Behandlung des Tieres stellte sie den Eimer nieder und erhob die Stimme noch mehr. »Heraus mit Ihnen! Sie befinden sich hier auf Murphys Grund und Boden.«

Die Kühe muhten. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, sah sich Alanna um, bevor sie weitersprach. »Niemand macht Ihnen einen Vorwurf, dass Sie sich vor dem Schneesturm hierher geflüchtet haben, und Sie können auch ein anständiges Frühstück haben. Doch warum behandeln Sie Ihr Pferd derartig schlecht?«

Als sie immer noch keine Antwort bekam, wunderte sich Alanna sehr. Dann begann sie selbst, dem Tier den Sattel abzunehmen. Dabei stolperte sie beinahe über ein Paar Stiefel. Sie blickte erstaunt darauf nieder und stellte beiläufig fest, dass es sich sogar um sehr gute Stiefel handelte. Sie ragten aus der Box der gescheckten Kuh, und das feine braune Leder war von Schnee und Schlamm fleckig geworden. Alanna trat näher und bemerkte nun den Fremden in seiner wettergegerbten Büffellederkleidung, der regungslos dort im Heu lag. Was für ein stattlicher Mann! Vorsichtig kam sie noch dichter heran, musterte die schmalen Hüften, den kostbaren Ledergürtel. Über der Jacke trug der Schlafende einen schweren Pelz.

Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so gut aussehenden Mann in dieser Gegend bemerkt zu haben. Und da er sich ihren Stall als Zufluchtsort ausgesucht hatte, fand Alanna nichts dabei, sich ihn erst einmal richtig anzuschauen. Er ist sehr groß, stellte sie fest, als sie die Laterne hochhielt und ihn im Licht eingehend betrachtete. Größer als ihre Brüder auf jeden Fall. Sie beugte sich über ihn, ließ den Blick über das dunkle Haar gleiten. Es war nicht richtig braun, sondern von dunklem Rost, beinahe wie das Fell von Brians Fuchswallach. Der Fremde trug keinen Bart, aber jetzt war das Gesicht von Stoppeln bedeckt. Sehr ansprechend, dachte Alanna mit echt weiblichem Wohlgefallen, ein ausdrucksvolles Gesicht mit fest gefügten Zügen, fast ein wenig aristokratisch durch die hoch gewölbten Brauen und den markanten Schnitt. Genau so stellte man sich wohl einen Mann vor, bei dessen Anblick ein Frauenherz höher schlug. Aber das war es nun ganz und gar nicht, was sie interessierte. Sie machte sich nichts aus derartigen Gedanken. Ihr war bloß daran gelegen, dass dieser Mensch aufstehen und ihr aus dem Weg gehen sollte, sodass sie endlich anfangen konnte, die Kuh zu melken.

»Sir?« Sie stieß seinen Stiefel mit der Schuhspitze leicht an. Er rührte sich nicht. Alanna stemmte die Arme in die Hüften und nahm an, dass er sinnlos betrunken sein müsste. Aus welchem Grunde konnte er sonst schlafen wie ein Toter? »Aufwachen, Sie da! Ich kann nicht melken, wenn Sie mir so vor den Füßen liegen.« Ungeduldig versetzte sie ihm einen derben Stoß. Nur ein schwaches Stöhnen war die Antwort. »Na gut!« Sie beugte sich zu ihm nieder und wollte ihn eben tüchtig rütteln, darauf gefasst, dass ihr eine Wolke von Alkoholdunst entgegenschlagen würde. Stattdessen nahm sie süßlichen Blutgeruch wahr.

Mit einem Schlag war aller Zorn verflogen. Alanna kniete sich hin und schob behutsam den dichten Pelz von den Schultern des Fremden. Ihr stockte der Atem, als sie bemerkte, dass sein ganzer Arm rot von Blut war. Sie tastete nach dem Puls. »Immerhin ist er noch am Leben«, murmelte sie. »Und mit Gottes Hilfe und ein bisschen Glück soll es auch dabei bleiben.«

Gerade als sie nach ihren Brüdern rufen wollte, umklammerte er ihr Handgelenk, und sie sah, dass er die Augen geöffnet hatte. Sie waren grün, mit einem leicht blauen Schimmer, und ließen einen an das Meer denken. Jetzt freilich verrieten sie, dass der Mann Schmerzen litt. Sofort empfand Alanna Mitleid und beugte sich näher zu ihm, um ihm zu helfen. Dabei griff sie vergeblich Halt suchend ins Heu, weil er sie aus dem Gleichgewicht brachte und zu sich herunterzog, sodass sie beinahe auf ihm lag. Sein Körper strahlte glühende Hitze aus. Alannas empörten Ausruf erstickte der Fremde mit seinen Lippen.

Es war ein kurzer, doch erstaunlich fester Kuss. Dann sank der Kopf des Verletzten kraftlos zurück in den Heuhaufen. Er blickte sie mit seinen blau-grünen Augen an, hob eine Braue und schenkte ihr ein flüchtiges und ziemlich keckes Lächeln.

»Na, immerhin bin ich noch nicht gestorben«, sagte der Fremde mit leiser Stimme. »Lippen wie die Ihren gibt es wohl kaum in der Hölle.«

Wenn dies etwa ein Kompliment sein sollte, so habe ich schon bessere gehört, dachte Alanna und versuchte, ihrer Überraschung Herr zu werden. Ehe sie ihm dies aber sagen konnte, waren seine Sinne bereits wieder geschwunden.

2. KAPITEL

Er trieb jetzt wie in einem aufgewühlten Meer aus Schmerzen. Ein guter Schuss Whisky wärmte ihm den Magen und vernebelte seine Sinne. Trotzdem erinnerte er sich an einen betäubenden Stich, an ein glühend heißes Messer, das ihm ins Fleisch geschnitten hatte, und an derbe Flüche, die auf ihn herabgeprasselt waren. Dann umschloss eine warme Hand trostvoll die seine, hielt ihn, und er fühlte wohltuend kühle Tücher auf der fiebernden Stirn. Dann musste er eine grässlich schmeckende Flüssigkeit schlucken.

Er schrie auf. Hatte wirklich er aufgeschrien? War jemand gekommen, jemand, der weiche Hände hatte, eine sanfte Stimme, jemand, von dem ein leichter Lavendelduft ausströmte, und hatte beruhigende Worte geflüstert? War es nicht eher Musik gewesen als eine Frauenstimme, so leise und melodisch? Ein schottisches Lied? Schottland! War er in Schottland? Das konnte nicht sein, denn als sie wieder zu ihm sprach, vermisste er das vertraute gerollte »R« und hörte stattdessen einen irischen Akzent.

Das Schiff. War es vom Kurs abgekommen und hatte ihn nach Süden getragen statt zurück in die Heimat? Er erinnerte sich an ein Schiff. Aber es hatte im Hafen vor Anker gelegen. Lachende Männer mit geschwärzten und verschmierten Gesichtern schwangen Äxte. Der Tee. Dieser verdammte Tee! Nun wusste er wieder alles, und das ließ ihn aufatmen. Er war angeschossen worden.