Die Magie der Gemeinschaft - Karsten Brensing - E-Book

Die Magie der Gemeinschaft E-Book

Karsten Brensing

0,0
23,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tierisch glücklich sein in einer komplexen Welt Trotz seiner mentalen Leistungsfähigkeit und des technischen Fortschritts ist der Mensch im Laufe der Evolution nicht gleichsam zufriedener geworden. Im Alltag handeln wir mehrheitlich wie Tiere: unbewusst und irrational. Bauchgefühl Selbst bei den beiden wichtigsten Lebensentscheidungen - Wer wird mein Lebenspartner und was soll ich werden? - verlassen wir uns lieber auf unser Bauchgefühl als auf unsre Ratio. Und das ist auch gut so. Doch wie gelingt es uns, mit unserem Steinzeitgehirn, das sich seit mehr als 100 000 Jahren nicht maßgeblich verändert hat, auf die modernen Lebensanforderungen mit KI & Co. zu reagieren? Das Tier in uns Karsten Brensing ist zwischen Technikbegeisterung und seinem Wissen um unsere biologischen Wurzeln im Tierreich hin- und hergerissen. Der technische Fortschritt ist nicht aufzuhalten und verspricht einen nie dagewesenen Wohlstand für alle. Doch wenn wir das Tier in uns nicht akzeptieren und freudig umarmen, laufen wir Gefahr, unglücklich zu werden. Als Biologe und Verhaltensforscher plädiert Brensing dafür, das Tier in uns zu respektieren. Erst dann werden wir ertüchtigt für die technologischen und gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit und für ein glückliches Leben. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte:

Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.berlinverlag.de

© Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin/München 2024

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: zero-media.net, München

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorwort

I. Unseren tierischen Wurzeln auf der Spur

Savannenglückstheorie

Tod und ewiges Leben

Bewusstsein

Das Denken über das Denken

Die Qual mit der Qualia

Selbstkontrolle und der eigene Wille

Selbsterhaltungstrieb

Individualität

Spiritualität und Innovation

II. Das Sozialleben, die Triebfeder des Geistes

Die Magie der Gemeinschaft

Gemeinsam sind wir stark

Die Erfindung der Lüge, und warum wir trotzdem vertrauen

Freundschaft und Allianzen

Fairness und Moral

Kultur

Erfolgsrezept Unterordnung

Irrationale Entscheidungen

Der Fokus auf das Negative

Verlustaversion & Finanzkrise

Schmetterlingspolitik (Endowment-Effekt)

Prospect Theory

Die Markt-Moral-Falle

Die Nachhaltigkeitsillusion

Sind wir wirklich so dumm oder …

Kognitive Dissonanz – Wie man sich die Welt richtig redet

Unser Steinzeitgehirn im modernen Alltagsleben

Die Aufmerksamkeitsspanne

Der wichtigste Vortrag der Welt

Vom Tribe zur Einsamkeit?

Komplexität ist unser Hauptproblem

III. Mein Freund, die KI

Was ein selbstfahrendes Auto denkt

Künstliche Neuronale Netzwerke

Quo vadis, Big Data?

Auf der Suche nach der Wahrheit

Haben Computer Gefühle, und können sie träumen?

Penislänge und programmierte Moral

Freunde, die es nicht gibt

Von Robotern, Affen und Cyborgs

Wann wird ein Etwas zu einem Wer?

Die Stufen zur Superintelligenz

Wittgensteins Löwe

Kein Brief an Gott und in die chinesische Vergangenheit

Brauchen wir eine starke KI als Weltchefin?

Dank

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorwort

Die letzten Jahre haben uns alle ganz schön auf Trab gehalten: Inflation, Corona, Kriege und Handelskonflikte. Doch zwei wissenschaftliche Durchbrüche aus dem Jahr 2020 werden die vergangenen Jahre wie ein leichtes Aufwärmtraining erscheinen lassen: die Veröffentlichung der künstlichen Intelligenz ChatGPT-3 und die Entdeckung der Formel für das ewige Leben. Ja, Sie haben richtig gelesen, der Alterungsprozess ist umkehrbar.

Als Verhaltensbiologe, der sich für die grundlegenden Mechanismen des Verhaltens von Tieren und Menschen interessiert, bin ich elektrisiert. Wie können wir Menschen mit diesem Tsunami an Veränderungen klarkommen? Werden wir vielleicht in Zukunft so lange leben können, wie wir wollen? Wird unser bester Freund eine künstliche Intelligenz sein? Was geschieht mit unserem Sozialleben, unserem Familienkonzept, mit uns, wenn künstliche Entitäten praktisch alles besser können als wir?

Als Mensch und Vater schwanke ich zwischen Begeisterung und Sorge. Als Verhaltensbiologe halte ich kurz inne und besinne mich: »Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.« (Wilhelm von Humboldt)

Richtig: Wir kennen zwar nicht die Zukunft, aber wir kennen die Mechanismen, die uns innerlich steuern, die uns glücklich und zufrieden oder frustriert und wütend machen. Und wir kennen den grundlegenden Mechanismus, der unsere biologische Welt möglich gemacht hat: die Magie der Gemeinschaft. Vom einfachen Einzeller bis hin zur menschlichen Gesellschaft, immer wenn zwei sich zusammengetan haben, war es von Vorteil. In diesem Sinne lade ich Sie ein zu einer Reise in die Vergangenheit und Zukunft der Menschheit. Wir werden die Grenzen unseres Denkens ausloten und erfahren, wie wir mit künstlichen Intelligenzen in Gemeinschaft leben können.

I. Unseren tierischen Wurzeln auf der Spur

Schon wieder ein Update, denke ich zähneknirschend und drücke auf »Aktualisieren«. Zum x-ten Mal ärgere ich mich über die Sekunden der Umgewöhnung und Unsicherheit. Doch ob es mir gefällt oder nicht, so wie unsere elektronischen Begleiter ist auch unser Sozialleben permanenten Veränderungen unterworfen. Ich suche Stabilität und Verlässlichkeit und bekomme Ungewissheit. Doch warum freue ich mich über manche Veränderungen, und warum machen mir andere Angst oder ärgern mich?

Mit der künstlichen Intelligenz (KI) wird die wichtigste menschliche Domäne, unser Sozialleben, eine nie da gewesene Umwälzung erleben. Wenn KI alles besser kann als wir und selbst Ärzte und Juristinnen wie auch Mütter und Väter nur noch die Vorschläge ihrer KIs ausführen, dann werden die Wertesysteme aller Kulturen infrage gestellt.

Wie kann uns das Wissen über unsere Biologie bei dieser Herausforderung helfen, wie können wir als soziale Wesen einer Pandemie der Einsamkeit begegnen, und wie können wir komplexe Systeme durchschauen? Dies sind die Fragen, die uns in diesem Buch beschäftigen werden.

Trotz aller scheinbaren Widersprüche will dieses Buch versöhnen: Natur mit Technik, Mensch und Tier, Steinzeitgehirn und Cyborg, Frau und Mann und nicht zuletzt unser junges mit unserem erwachsenen Ich. Wir werfen auch einen Blick auf das Spirituelle, wo nicht immer alles erklärt werden kann, wo alles miteinander verwoben und eins ist. Dem gegenüber steht die Wissenschaft, wo alles scharf voneinander getrennt und in seinen Einzelteilen verstanden werden muss. Beides existiert in jedem von uns und ist viel weniger unversöhnlich, als wir glauben. Um dies alles in Einklang zu bringen, werfen wir einen Blick zurück auf unsere tierischen Wurzeln und nach vorn in eine Welt, in der wir womöglich ewig leben und die wir mit starken künstlichen Superintelligenzen teilen werden. Ich weiß, das klingt wie Science-Fiction, und doch werden vermutlich viele Leserinnen und Leser genau das noch erleben.

Begonnen hat es natürlich mit mir selbst. 2018 hat mich das Märchen »Die Prinzessin und der Fuchs« der Gebrüder Grimm kalt erwischt. Ich hatte gerade meinen Durchbruch als Sachbuchautor und sollte schon zum alten Eisen gehören, denn das Märchen hatten nicht die Gebrüder Grimm, sondern ein Computer geschrieben. Von diesem Moment an klebte ich an dem Thema. Was erwartet mich als Autor in einer Welt, in der Computer genauso überzeugende Texte schreiben wie Menschen? Auf welche sozialen Veränderungen muss ich mich einstellen, und vor allem: Was soll ich meinen Kindern beibringen? Letztere Frage ist für mich und meine Frau besonders wichtig, denn wir können die Verantwortung nicht auf eine Schule abschieben. Wir leben und schreiben auf einem Segelboot und befinden uns auf einer Weltreise. Für unsere heute elfjährigen Zwillinge sind wir somit nicht nur Eltern, sondern auch Lehrer.

Als Verhaltensbiologe versuche ich, möglichst wenig anthropozentrisch zu sein, und lege daher weniger Gewicht auf Philosophie und Psychologie als auf die Biologie. Meist lassen sich dadurch komplizierte menschliche Verhaltensweisen sogar einfacher beschreiben und besser verstehen.

Ein Beispiel: Über unser Bewusstsein wird vermutlich philosophiert und gestritten, seitdem die Menschheit denken kann. Für die einen ist unser Bewusstsein untrennbar mit einer Seele verbunden, für andere ist es ein Grundelement der Natur, ähnlich der Zeit oder der Materie. Völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit und der breiten Wissenschaft hat ein kleines Team Bostoner Ärzte 2022 eine Theorie veröffentlicht, die das Bewusstsein und alle damit verbundenen Phänomene auf eine extrem einfache biologische Art und Weise erklärt. Ihrer Meinung nach ist das Bewusstsein ein Teil unseres biografischen Gedächtnisses und der Bewusstseinsstrom eine Erinnerung, die der Realität ein paar Hundert Millisekunden hinterherhinkt (→ Selbstkontrolle und der eigene Wille).

Für unser Gehirn und unser Denken ist nicht nur das Verständnis des Bewusstseins möglich, nein, wir können sogar das ganze Universum erfassen. Trotzdem steuern unbewusste tierische Verhaltensmuster den größten Teil unserer Entscheidungen und unseres Soziallebens. Doch diese Verhaltensmuster sind in unserer komplexen Welt hoffnungslos überfordert. Das Ergebnis: Trotz Wohlstand und technischen Fortschritts werden wir nicht glücklicher, und manche unserer Verhaltensmuster führten und führen zu globalen Katastrophen.

Mein Fokus liegt daher auf den unumstößlichen biologischen Grundlagen unserer Natur und Existenz: Was sind die ursächlichen Gründe für Glück? Was befriedigt uns nachhaltig? Können wir überhaupt Freundschaft mit künstlichen Intelligenzen schließen, und ist diese vielleicht sogar besser als eine echte Freundschaft? Wie weit dürfen wir uns von unserem natürlichen Lebensraum entfernen, und wie lebt der Mensch eigentlich artgerecht? Was ist besser: eine Höhle im Wald oder eine Raumstation auf dem Mars? Für viele Eltern ist die Antwort klar: Sie wollen zumindest, dass ihre Kinder artgerecht aufwachsen.[1]

 

Seit Generationen unterscheiden wir zwischen dem instinktgesteuerten Tier und dem rational denkenden und handelnden Menschen. Doch jahrzehntelang haben Wissenschaftler den Instinkt gesucht und nicht gefunden, und dass wir rational denken und handeln, ist die Ausnahme, wie man am Zustand der Welt und unzähligen wissenschaftlichen Untersuchungen erkennen kann (→ Irrationale Entscheidungen). Trotz all unseres Wissens gilt nur eines als wirklich sicher: Egal ob die Natur oder wir dafür verantwortlich sind, die Welt ändert sich, und wir müssen irgendwie damit zurechtkommen. Zum Glück sind sowohl unser Gehirn als auch unser Körper extrem anpassungsfähig, und es muss schon viel geschehen, bevor wir überlastet sind und versagen. Ist dieser Punkt erreicht, gibt es keine Fragen mehr, denn dann ist klar, dass wir unser Verhalten ändern müssen. Viel wichtiger ist es aber, schon vorher die Signale zu erkennen. Gibt es eine Formel: Leben wir artgerecht, sind wir glücklich? Fest steht, weichen wir von dieser Formel ab, reagiert unser Körper mit Unwohlsein und startet Millionen Jahre alte Steuerungsmechanismen, die alle nur eines wollen: glücklich sein.

Doch bitte verwechseln Sie dieses Buch nicht mit einem Glücksratgeber. Ich bin weder Psychologe noch Therapeut und werde keine Empfehlungen geben. Aber ich möchte Ihnen die Grundlagen für verschiedene psychologische Phänomene aus Sicht der Biologie und der evolutionären Psychologie nahebringen. Natürlich hoffe ich, dass Sie daraus für Ihr eigenes Leben einen möglichst großen Nutzen ziehen und künftig Ihre Entscheidungen mit einem tieferen Verständnis der ursächlichen Mechanismen fällen. Wenn es mir gelingt, Ihnen plausibel zu machen, dass die Abwesenheit von Glücksgefühlen und die damit verbundenen negativen Gefühle nur ein uralter biologischer Mechanismus sind, dann bin zumindest ich glücklich. Letztlich wollen schlechte Gefühle ein Verhalten anregen, das Sie aus einer unangenehmen Situation herausführt.

Grundvoraussetzung für den Erkenntnisprozess ist aber das schmerzhafte Eingeständnis, dass wir Menschen nichts Besonderes sind. Zumindest nicht im biologischen Sinne: Wir gehören zu den Trockennasenaffen, einer kleinen Untergruppe der Primaten, und von unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen (Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans), trennen uns nur wenige Gene. Auch wenn wir mit unseren nahen Verwandten viele äußere Merkmale teilen, unser Inneres – also wie wir denken und fühlen – hat sich lange vor den ersten Menschenaffen entwickelt. Haben wir das akzeptiert, verstehen wir, warum es unserem Steinzeitgehirn, das tatsächlich lange vor der Steinzeit entstanden ist, manchmal schwerfällt, mit unserer gesellschaftlichen und technologischen Entwicklung Schritt zu halten, und warum uns unsere eigenen Entscheidungen oft unglücklich machen. Leider bekommen wir viele der Fehleinschätzungen gar nicht mit, doch mit ein bisschen Wissen und Aufmerksamkeit können wir große Veränderungen für unser Leben bewirken. Aus diesem Grund sollten wir das Tier in uns nicht nur akzeptieren und respektieren, nein, wir sollten es freudig umarmen und lieben. Am Ende des Buches hoffe ich, dass diese ganze verrückte Welt ein wenig mehr Sinn für Sie ergibt.

Savannenglückstheorie

»Dummheit schafft Freizeit« oder »Dummheit macht glücklich«. Mit diesen oder ähnlichen Weisheiten sind wir aufgewachsen, und natürlich steckt in diesen Sprüchen eine gehörige Portion Wahrheit. Da Sie nun dieses Buch lesen und sich mit mir auf die Suche nach Erkenntnis begeben, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie ein fauler Mensch sind, praktisch gleich null. Nach der Savannenglückstheorie leben Sie vermutlich in der Stadt und haben wenig Freundinnen. Erwischt oder voll daneben?

Doch der Reihe nach: Zunächst einmal sind wir Menschen ziemlich komplizierte Geschöpfe, und starke Verallgemeinerungen führen auf individueller Ebene oft ins Leere. Dennoch sind wir biologische Wesen mit einer biologischen Vergangenheit. Die Evolution hat nicht nur unseren Körper, sondern auch unseren Geist geformt. Genau genommen schöpfen wir aus dem Erfahrungsschatz all unserer Vorfahren. Immerhin müssen diese es geschafft haben, wenigstens so lange zu leben, bis sie mindestens einen Nachkommen hatten.

Früher ging man davon aus, dass unsere Gene nur für unseren körperlichen Aufbau verantwortlich sind. Aber seit Jahrzehnten wissen wir, dass auch Verhalten vererbt wird. Aktuelle Erkenntnisse aus dem Bereich der Epigenetik zeigen sogar, dass es dafür verschiedene Mechanismen gibt. Vererbt wird kein eindeutiges Wissen, sondern so etwas wie genetisch prädisponierte Tendenzen. Ein Beispiel: Kinder musikalischer Eltern lernen tendenziell schneller und besser ein Instrument als andere, die Begabung wird vererbt. Die Wissenschaft, die die entsprechenden Grundlagen erforscht, nennt sich Verhaltensgenetik. Wendet man diese Erkenntnisse in der Psychologie an, spricht man von evolutionärer Psychologie, und aus diesem Bereich stammt die Savannenglückstheorie.

Für mich ist sie so etwas wie die Spitze des Eisbergs. Sie ist viel zu anthropozentrisch und greift meiner Meinung nach zu kurz, da sie sich im Wesentlichen auf steinzeitliche Mechanismen in der Verhaltenssteuerung stützt. Die meisten Steuerungsmechanismen, denen wir als heutige hoch entwickelte Menschen unterliegen, sind aber viel älter als die ersten Menschen und reichen bis in eine Zeit zurück, als das Leben auf der Erde entstanden ist. Keine Sorge, diesen Standpunkt werde ich im Verlauf des Buches mit vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen belegen. Trotzdem, der Name der Theorie illustriert bestens, dass die Mechanismen, die uns von innen steuern, uralt sind.

Doch was genau besagt die Theorie? Zunächst einmal hat sie einen coolen Namen, das ist in der Welt der Wissenschaft genauso wichtig wie in der Werbung. Sie wissen, dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt. Dort veränderten sich vor ungefähr zwei Millionen Jahren die Klimabedingungen, und aus dichtem Dschungel wurde eine Savanne mit weit auseinanderstehenden Bäumen. In dieser Graslandschaft ist vermutlich der aufrechte Gang entstanden, und unsere Vorfahren lernten, noch geschickter mit ihren Händen umzugehen. Wir lebten in kleinen, übersichtlichen sozialen Gemeinschaften und zogen von Nahrungsquelle zu Nahrungsquelle. Unter diesen Bedingungen hat praktisch die gesamte Menschwerdung stattgefunden. Bis es vor ungefähr 50 000 bis 70 000 Jahren dann so richtig spannend wurde: Wir besiedelten fast die gesamte Erde, benutzten aufwendig hergestellte Werkzeuge und konnten durch klug erdachte Jagdstrategien selbst die größten Tiere erbeuten.

Bitte nageln Sie mich aber nicht auf genaue Jahreszahlen fest. Einerseits ändern sich diese mit neuen Erkenntnissen, andererseits gab es mehrere Besiedlungswellen, die von Afrika aus über unseren Planeten rollten. Hier geht es lediglich darum, festzuhalten, dass ein Großteil der Menschheitsgeschichte in der afrikanischen Savanne geschrieben wurde. Die Savanne steht somit als Synonym für unsere menschliche Vergangenheit und ist daher die Namensgeberin der Theorie.[2] Grundgedanke ist natürlich, dass sich viele unserer Verhaltensmechanismen unter diesen Bedingungen entwickelt haben und dass besonders unser Sozialleben auf diese Umweltbedingungen eingestellt ist. Die Forschung sucht daher intensiv nach Daten, die dieses einleuchtende Konzept untermauern.

Fündig wurde man bei 15 000 Nordamerikanern im Alter von 18 bis 28 Jahren, die in einer groß angelegten Studie (National Longitudinal Study of Adolescent Health) in drei Wellen untersucht wurden.[3] Die folgenden Erkenntnisse beruhen also auf den Beobachtungen an jungen Amerikanern nach der Schulzeit. Eigentlich ist eine Studie mit 15 000 Teilnehmern eine gewaltige Sache, aber um daraus eine Theorie für die gesamte Menschheit abzuleiten, ist der Fokus auf junge Erwachsene in Nordamerika ein wenig mager. Nehmen Sie also die Studie bitte als das, was sie ist: eine nicht repräsentative Stichprobe. Trotzdem ist die Auswahl dieser Gruppe klug getroffen, denn junge Erwachsene, die die Obhut ihrer Eltern verlassen, befinden sich in einer sehr dynamischen Lebensphase, in der viele für das künftige Leben wichtige Entscheidungen getroffen werden.

Eine dieser Entscheidungen ist die Wahl des Lebensraums. Lebt man lieber auf dem Land in einer meist festen und verlässlichen sozialen Gemeinschaft, oder lebt man in einer Stadt, in der man viele Menschen ein bisschen, aber wenige richtig gut kennt. Die Forschenden wollten nun wissen, ob diese Entscheidung etwas mit Intelligenz zu tun hat. Tatsächlich entdeckten sie einen klaren Zusammenhang: Menschen mit einem höheren Intelligenzquotienten (IQ) zog es in die Stadt, Menschen mit einem geringeren IQ bevorzugen das Landleben. Hinzu kam noch die Beobachtung, dass die Menschen in der Stadt eher introvertiert sind und weniger Freunde brauchen und dass die Menschen auf dem Land eher extrovertiert sind und die Nähe zu anderen suchen. Aber Achtung: Das alles gilt nur für junge Amerikaner nach der Schulzeit.

Aus Sicht der Evolutionspsychologie ergibt diese Beobachtung Sinn: Menschen mit einem geringeren IQ suchen grundsätzlich Lebensbedingungen, in denen sie in einer stabilen Gruppe leben und sich dadurch auch vor Fehlentscheidungen schützen. Klügere Menschen sind nicht ganz so sehr auf die Sicherheit einer festen sozialen Gemeinschaft angewiesen. Sie suchen die Herausforderung in einer komplexeren Umwelt. In der Stadt leben sie dann zwar mit vielen Menschen zusammen, aber diese Gruppe ist keine aufeinander angewiesene soziale Gemeinschaft, man ist eher gemeinsam einsam.

Doch ob die Entscheidung, in der Stadt oder auf dem Land zu leben, für den Einzelnen die richtige ist, weiß natürlich niemand. Was wir aber beobachten können, sind Mechanismen, die manche zu der einen und manche zu der anderen Entscheidung treiben. Genau darum geht es mir in diesem Buch: Je früher wir erkennen, dass diese Steuerungsmechanismen aus unserer evolutiven Vergangenheit stammen und einmal sinnvoll waren, desto eher haben wir die Möglichkeit, diesen inneren Antrieb als solchen zu erkennen und uns Gedanken darüber zu machen, ob wir ihm folgen wollen oder nicht.

Wenn wir beispielsweise das persönliche Wohlergehen und Glück im Fokus haben, dann hat die Wissenschaft eine klare Antwort: Ein reiches und verlässliches Sozialleben macht langfristig glücklich. Müssen wir demnach alle aufs Dorf ziehen? Nein, denn tendenziell sind klügere Menschen[4] und auch klügere Gesellschaften[5] glücklicher. In einer kürzlich erschienen Studie konnte auch gezeigt werden, warum: Demnach verhalten sich klügere Menschen vernünftiger im Verhältnis zu ihrer körperlichen und geistigen Gesundheit, sie sorgen einfach besser für sich.[6]

Doch was macht nun glücklich, welche Entscheidungen müssen wir treffen, um glücklich zu sein? Wie oben schon angesprochen, geht es um ein reiches und verlässliches Sozialleben. Das Tierchen in uns will kuscheln, Kinder haben und in einem sozialen Netz geborgen sein. Bevor ich selbst Kinder hatte, habe ich diesen Aspekt gern abwertend als Säugetierreflex bezeichnet und mich ein bisschen darüber lustig gemacht. Die reine biologische Aufgabe des Arterhalts schien mir nicht Lebenssinn genug. Heute bin ich Vater von Zwillingen und weiß, dass ich noch nie in meinem Leben auf Dauer so glücklich war wie mit meinen Jungs. Natürlich bedeutet das nicht, dass es nicht auch andere wichtige Dinge gibt. Und fairerweise muss erwähnt werden, dass Kinder nicht grundsätzlich glücklich machen, wissenschaftliche Untersuchungen zeigen keinen eindeutigen Effekt. Dies liegt daran, dass Kinder oft mit glücksfördernden Effekten wie dem sozialen Status und dem Verheiratetsein einhergehen. Auch spielen das Lebensalter der Eltern sowie politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen eine Rolle. Kinder müssen in das eigene Leben passen, sonst bedeuten sie Stress und machen unglücklich. Laut einer genetischen Untersuchung lassen aber populationsstabilisierende zwei Kinder die Eltern am längsten leben.[7]

Die Grundlage zum Glücklichsein wird aber vermutlich schon in unserer frühesten Kindheit gelegt, und zwar durch einen ganz einfachen Mechanismus. Ein nigerianisches Sprichwort sagt: Es braucht ein Dorf, um ein Kind zu erziehen. Wie treffend es ist, zeigt eine neuere Studie, die bei einer Jäger-Sammler-Gruppe in der Republik Kongo durchgeführt wurde: Kinder erfahren dort von Geburt an eine intensive liebevolle und körperliche Zuwendung, nicht nur durch die Eltern, sondern auch durch andere Mitglieder der Gemeinschaft.[8] Dies deckt sich auch mit der Bindungstheorie aus den 1960er-Jahren.[9] Unter dem Begriff Urvertrauen versteht man seither einen Mechanismus, bei dem Bezugspersonen sich bemühen, praktisch immer für ihre Kinder da zu sein und so ihr Vertrauen in die Welt zu stärken. Noch heute, 70 Jahre nachdem die westliche Welt diese alte Selbstverständlichkeit wiederentdeckt hat, kennen wir Eltern, die dem Rat ihrer Eltern folgen und ihre Kinder auch mal schreien lassen. Das kräftige ihre Stimme, und sie würden lernen, dass es nicht immer nach ihrem Willen geht. Tatsächlich lernen die Kinder in diesem Moment nur zwei Dinge, die sie langfristig unglücklich machen. Erstens, dass sie offensichtlich nicht so viel wert sind, dass sich ihre Eltern um sie kümmern, und zweitens, dass sie selbst sehen müssen, wie sie klarkommen, wenn es ihnen schlecht geht. Signalisiert man Kindern dagegen zu jeder Zeit, dass man für sie da ist, legt man den Grundstein für ihr Glücklichsein. Der Aufwand ist sicher beträchtlich, und ich kann mir gut vorstellen, dass ein Dorf, das Kinder mit genauso viel Liebe und Aufmerksamkeit beschenkt wie die Eltern, diese zeitlich entlastet. Für unsere Kultur der Kleinfamilie ist das aber eine echte Herausforderung.

Am Ende muss ich mir eingestehen, dass mein ursprünglicher Standpunkt meinem persönlichen Glück im Wege stand. Wir sind nun mal Säugetiere, und wenn die Bedingungen passen, wäre es eigentlich dumm, sich dieser inneren Steuerungsmechanismen nicht zu bedienen und es sich gut gehen zu lassen. Mit dieser Erkenntnis stehe ich natürlich nicht allein, denn genau das empfiehlt die größte, seit über 80 Jahren durchgeführte Glücksstudie. Bereits 1938 starteten Forschende der Harvard University ihr Projekt »Harvard Study of Adult Development«.[10] Sie begannen mit über 700 männlichen Testpersonen in zwei Gruppen: Harvard-Studenten und Männern aus einem verhältnismäßig armen Stadtteil von Boston. Die Probanden wurden von Beginn an bis heute – über ihre gesamte Lebenszeit hinweg – regelmäßig befragt, getestet und medizinisch untersucht. Das bisherige Ergebnis: Gute und verlässliche Beziehungen machen am glücklichsten, lassen Menschen länger und körperlich und geistig gesünder leben. Beruflicher Erfolg und Aspekte der Leistungsgesellschaft hatten keinen so hohen Anteil am empfundenen Glück. Demgegenüber waren die Probanden, die angaben, sich einsam zu fühlen (egal ob sie in einer Gemeinschaft lebten oder nicht), am wenigsten glücklich, häufig krank und starben früher.[11]

An dieser Stelle könnte ich unzählige weitere Studien anführen, doch dieses Buch ist kein Glücksratgeber. Es geht mir vielmehr darum, die Ursachen für unser Verhalten zu erklären. In diesem Fall ist es ganz deutlich, dass uns innere Steuerungsmechanismen glücklich machen, wenn wir den biologischen Arterhalt fördern. Vergleichbares gilt aber auch, wenn wir in unsere soziale Gemeinschaft im Freundeskreis oder im beruflichen Umfeld investieren.

Ich weiß, das klingt nüchtern, überhaupt nicht schön und auch nicht wirklich selbstbestimmt. Doch im Ernst: Ich freue mich darüber, dass es diese Mechanismen gibt und sie mich glücklich machen. Warum soll man sie also nicht nutzen? In den kommenden Kapiteln werden wir deshalb weit zurück in unsere Vergangenheit reisen. Diese Reise ist auch deshalb wichtig, weil wir uns im Zusammenhang mit einer Superintelligenz darüber im Klaren sein müssen, was eigentlich das Leben als solches und das Bewusstsein ist. Begeben Sie sich also mit mir auf eine Reise zu den spektakulären Erkenntnissen der aktuellen Wissenschaft.

Tod und ewiges Leben

In diesem Kapitel geht es um zwei wichtige Fragen: Können Computer leben, und können wir den Tod besiegen? Noch vor wenigen Jahren waren diese Fragen rein hypothetisch, doch heute müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir mit dieser Realität umgehen.

Der Tod ist eine geniale Erfindung der »Natur«,[12] ohne die es keine höher entwickelten Lebewesen geben würde. Doch was ist das eigentlich, Leben? Leben nur biologische Organismen, oder kann auch eine Maschine, eine künstliche Intelligenz, leben? An dieser Stelle müssen wir einige Begriffe klären. Seit ungefähr 50 Jahren wird zwischen schwacher und starker künstlicher Intelligenz unterschieden. Schwache KIs haben so etwas wie eine Inselbegabung, sie können besonders gut Sprache verstehen, Dialoge führen, die Struktur von Proteinen berechnen, ein Auto fahren oder andere komplizierte Dinge meistern. Sie haben aber kein Bewusstsein. Im Prinzip beruht ihre Fähigkeit auf Statistik.

Wenn man die unterschiedlichen Inselbegabungen miteinander kombiniert, dann kommt man zu einer multimodalen KI (General Purpose Artificial Intelligence). In der Verhaltensbiologie wird unsere Multimodalität in einzelne Fähigkeiten aufgeteilt. So können beispielsweise logisches oder abstraktes Denken oder Gefühle wie Angst oder Freude unabhängig voneinander untersucht werden. Im Prinzip setzt sich also die biologische Kognition aus unterschiedlichen Fähigkeiten zusammen.[13] Irgendwann ist daraus so etwas Grandioses wie unser menschlicher Verstand geworden. Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass sich eine multimodale KI zu etwas uns Ebenbürtigem oder sogar Überlegenem entwickelt. In diesem Fall spricht man von einer starken KI, einer Singularität oder auch Superintelligenz. Die Bezeichnung AGI (Artificial General Intelligence), die aktuell synonym für eine starke KI verwendet wird, werde ich in diesem Buch vermeiden. Der Grund dafür wird im Kapitel Kognitive Dissonanz verständlich.

Doch zurück zum Thema: Kann eine starke KI leben? Aus heutiger biologischer Sicht kann sie das nicht und wird entsprechend behandelt. Denn wenn sie nicht lebt, kann man sie auch nicht töten, wenn man sie abschaltet.

Schauen wir uns als Erstes an, was wir aktuell über das Leben und Sterben wissen. Mit wenigen Ausnahmen – wie der im Mittelmeer lebenden Qualle Turritopsis dohrnii – geht das Leben auf unserem Planeten nur in eine Richtung: von jung nach alt. Aus unerfindlichen Gründen wird aber diese Qualle nach ihrer Alterung wieder jung, bis sie nur noch aus ein paar undifferenzierten Zellen besteht. Dann beginnt sie erneut zu wachsen und zu altern.[14] Für uns Menschen als Individuen wäre das vermutlich eine unerfreuliche Entwicklung, denn wir würden unser Selbst in diesem Prozess verlieren, und irgendwann würde ein neues Individuum aus unseren Zellen entstehen. Es hätte zwar unsere Gene, aber nicht unsere Erfahrung, unser Wissen, unser Selbst, wäre also so etwas wie ein Klon von uns, aber nicht wir selbst. Außer dieser biologischen Kuriosität (ich liebe die Biologie für solche Überraschungen) müssen alle uns bekannten mehrzelligen Lebewesen irgendwann einmal sterben. Selbst das langlebigste Wirbeltier, der Grönlandhai, der 200 bis 400 Jahren alt werden kann,[15] war einmal jung und stirbt alt. Doch diese Regel, die seit Jahrmillionen gilt, wird schon in wenigen Jahren Geschichte sein. David Sinclair, einer der bedeutendsten Alterungsforscher, vertritt seit Kurzem den Standpunkt, dass wir uns das Alter, in dem wir sterben, bald aussuchen können. Er meint damit, dass jeder seine biologische Uhr auf ein Alter zurückdrehen kann, in dem er gern lebt, und dass man in diesem Alter so lange lebt, wie man will. Als Mitautor einer Studie, in der es gelungen ist, den Alterungsprozess bei Mäusen umzukehren,[16] sollte er es wissen. Seine Erkenntnis wurde übrigens nicht in irgendeinem kleinen Fachjournal veröffentlicht, sondern in der renommiertesten Fachzeitschrift überhaupt, in Nature. An der Studie haben 30 Forschende aus den wichtigsten Instituten der ganzen Welt mitgewirkt.

Können Sie sich die gesellschaftlichen Konsequenzen verstellen, wenn Menschen nur noch durch Krankheit oder Unfall sterben müssen? Vermutlich denken Sie, dass eine entsprechende Behandlung für die Normalbevölkerung unbezahlbar wäre und dass die Gesellschaft das nicht zulassen würde. Man denke nur an die Überbevölkerung. Doch zum einen sind diese Eingriffe in biologische Organismen nicht teuer, denn ist erst einmal ein Medikament entwickelt, dann ist die Wirkstoffherstellung meist preiswert. Zum anderen ist der Massenmarkt für Pharmafirmen lukrativer als der Luxusmarkt. Überlegen Sie mal: Wie viel wäre es Ihnen wert, 200 Euro pro Monat? Oder mehr? Die hypothetischen Umsätze sind gigantisch. Und ob die Gesellschaft sich dagegenstellt, ist aus meiner Sicht sehr zweifelhaft. In der westlichen Welt ist die demografische Entwicklung problematisch. Immer weniger Junge müssen für immer mehr Alte arbeiten, und am Ende sinkt auch noch die Bevölkerungszahl. Manche Länder kompensieren das mit Einwanderung, haben aber Sorgen um ihre eigene Kultur. Was wäre aber, wenn sich die Zahl der Alten reduziert und diese wieder arbeiten würden. Die Volkswirtschaften müssten kein aus den Fugen geratenes Rentensystem am Leben erhalten und wären nicht mehr auf Einwanderung angewiesen. Es wird nicht viele Politikerinnen und Politiker geben, die sich gegen diese schnell wirksame und allumfassende Problemlösung stellen werden.

Nun muss ich schmunzeln, denn ich beschreibe etwas, was mir gut begründet und logisch vorkommt, und kann es selbst nicht glauben. Ich bin wie Sie in der festen Überzeugung aufgewachsen, dass der Tod der große Gleichmacher ist, und die Forschung hat diesen Standpunkt bestätigt. Theoretisch glaubte man, es wäre in fernerer Zukunft möglich, die Alterung zu stoppen, aber eine Umkehrung galt als ausgeschlossen. Dass sich dieser Grundsatz nun geändert hat, muss erst einmal verdaut und verstanden werden, und deshalb werfen wir kurz einen Blick auf das Leben selbst.

Nach unserem bisherigen Verständnis der Natur gibt es für mehrzellige Organismen kein Leben ohne Tod. Der Tod ist letztendlich der Preis, den wir für unseren Sex bezahlen müssen. Der Tod der Eltern und die zufällige genetische Veränderung der Nachkommen sind der Motor der Evolution, und ohne dieses Entstehen und Vergehen hätte sich das Leben, wie wir es heute kennen, nicht entwickelt und wäre auch nicht vorstellbar.

Damit alle Lebewesen dieses Spiel mitspielen, hat sich die Natur ein paar Tricks einfallen lassen.

Ein Beispiel: Meine Frau und ich sind uns darin einig, dass unsere Jungen unser größtes Glück sind. Trotzdem könnte ich eine lange Liste von Nachteilen erstellen, die Kinder mit sich bringen. Es beginnt mit dem radikalen Schlafmangel im ersten Lebensjahr der Kleinen und endet damit, dass Kinder aus finanzieller Sicht ein Desaster sind. All diesen Nachteilen steht das empfundene Glück gegenüber, und das ist jeden Preis wert. Wie oben schon geschrieben, liebe ich es, ein biologischer Organismus zu sein und mit diesen wunderschönen Gefühlen versorgt zu werden. Doch blockt man den körpereigenen Botenstoff Oxytocin, ist Schluss mit diesem wohligen Gefühl der Nähe, und das Verhalten gegenüber den engsten Familienangehörigen, aber auch Freunden verändert sich.

Es gibt aber auch Steuerungsmechanismen, die mich ziemlich nerven. Wenn ich aufgrund irgendeiner blöden biologischen Programmierung jungen Frauen hinterherglotze, dann bin ich regelrecht verärgert über mich. Auch wenn ich mich bemühe, wegzusehen, spüre ich doch, wie mein Belohnungssystem mir kleine Dopamin-Schübe verpasst, wenn ich hinsehe.

Diese inneren Steuerungsmechanismen gehören einfach zum Leben auf unserem Planeten dazu, sie sind evolutionär sinnvoll, und wir teilen sie mit anderen Tieren. Im Hinblick auf Teil III des Buches ist es aber unerlässlich, zu klären, ob Leben so sein muss oder ob ein »totes« Ding wie ein Computer auch leben kann oder sogar ein Jemand ist. Um das herauszufinden, ist es vermutlich das Beste, zum Ursprung des Lebens zurückzukehren. Irgendwann muss es doch den Moment gegeben haben, in dem etwas gerade noch tot war und dann plötzlich lebendig wurde, oder?

Nach der Panspermie-Hypothese des schwedischen Chemikers Svante Arrhenius wurde die Erde von Außerirdischen besiedelt. Er formulierte 1908 die Hypothese, dass Mikroorganismen in höhere Schichten der Atmosphäre transportiert und dort vom Sonnenwind verweht werden könnten. Auf diese Weise könnte also theoretisch irdisches Leben unseren Planeten verlassen und sich auf eine interstellare Reise begeben haben. Umgekehrt könnte natürlich auch die Erde von solchen Organismen belebt worden sein. Das Ganze ist derzeit nicht mehr als ein Gedankenspiel, von dem man annimmt, dass es zumindest möglich sein könnte. Aber es erklärt natürlich nicht das Leben an sich, es verschiebt das Problem nur woandershin.

Obwohl wir sie nicht beweisen können, gibt es doch einige sehr gute Hypothesen und Theorien, wie das Leben auf der Erde entstanden sein könnte. Vermutlich kennen Sie die Experimente mit der Ursuppe (Miller-Urey-Experiment),[17] mit denen schon vor 70 Jahren gezeigt wurde, dass organische aus anorganischen Verbindungen entstehen können. Organische Verbindungen sind aber noch lange kein Leben, sie sind die Bausteine, aus denen Leben aufgebaut ist. Vermutlich sind am Beginn der Entstehung des Lebens nur sehr wenige Moleküle entstanden, und vermutlich waren diese viel zu weit voneinander entfernt, als dass sie eine Chance gehabt hätten, miteinander komplexere Strukturen zu formen. Das Hauptproblem lag in der Konzentration.

Es gibt aber einen Bereich auf unserem Planeten, in dem sich auf ganz natürliche Art und Weise die Konzentration von gelösten Stoffen ändert, und das ist die Gezeitenzone. Dort verdunstet regelmäßig Wasser, konzentriert ganz automatisch die gelösten Salze und eben auch die möglicherweise vorhandenen Biomoleküle wie Phospholipide, eine Verbindung zwischen Fettketten, Phosphat und Cholin. Dumm nur, dass diese schön konzentrierte Suppe einige Stunden später von der nächsten Flut wieder überspült wird und sich verdünnt. Nicht viel Zeit für die Entstehung von Leben. Zum Glück haben Phospholipide eine beeindruckende Eigenschaft: Ihre Phosphatköpfe lieben Wasser, und ihre Fettketten lieben Fett. Sie kennen das: Wenn Sie Öl ins Wasser gießen, bilden sich kleine Tröpfchen, die sich auch durch starkes Umrühren nicht auflösen. Die Phospholipide setzen sich ganz automatisch zu einer Kugel zusammen. In der Mitte liegen die fettigen Schwänze und außen die wasserliebenden Köpfchen der Moleküle. Auf diese Weise entsteht etwas Unverzichtbares: ein Raum. In diesem Raum können Dinge geschützt von der Außenwelt ablaufen, und zwischen diesem und einem anderen Raum kann sich ein chemisches oder auch ein elektrisches Gefälle aufbauen. Die Energie, die in einem solchen Gradienten steckt, kann dann für weitere Prozesse genutzt werden.

Doch Prozesse sind an Proteine, die Maschinen der Zellen, gebunden, und diese wiederum müssen gebaut werden. In unseren heutigen, hoch entwickelten Zellen sind für den Bau die Ribosomen und RNA-Moleküle verantwortlich. Letztere liefern den Bauplan für die komplexen Proteine, die mithilfe unzähliger kleiner Fabriken, der Ribosomen, hergestellt werden. Aber die RNA kann auch selbst Reaktionen auslösen, weshalb man davon ausgeht, dass am Anfang der Entstehung des Lebens die RNA-Moleküle standen (RNA-Welt-Hypothese).[18] Interessanterweise können auch diese Moleküle, wie wir seit Kurzem wissen, unter bestimmten Bedingungen in der Ursuppe entstehen.[19]

Wie mithilfe von RNA Proteine entstehen und welche Aufgaben die einzelnen Zellorganellen haben, steht in jedem Biologiebuch und muss hier nicht weiter beschrieben werden. Was mich im Jahr 2020 aber wirklich umgehauen hat, war, dass eine künstliche Intelligenz entschlüsselt hat, wie Proteine sich falten und dadurch ihre eigentliche Funktion erhalten.[20] Dies war jahrzehntelang fast so etwas wie ein Mysterium und hat mich regelrecht geärgert. Schüler und Studentinnen mussten lernen, wie Proteine durch ihre Struktur Funktionen erfüllen und Prozesse durchführen, doch niemand konnte vernünftig erklären, wie die Proteine überhaupt zu ihrer Struktur kommen. Wir mussten glauben, dass das irgendwie auf natürliche Weise geschieht und dass dort keine göttliche Kraft am Werkeln war.

Aber jetzt rühren wir noch mal ein bisschen in der Ursuppe, in der sich kleine Lebensraumbläschen und RNA gebildet haben. Auch RNA kann sich zu bestimmten Strukturen verknoten. So bestehen zum Beispiel die Ribosomen zu zwei Dritteln aus RNA und können mithilfe von Messenger- oder Boten-RNA (mRNA) und Aminosäuren Proteine bauen. Im Prinzip haben wir jetzt schon ein echtes Lebewesen – eine Bakterie. Es gibt zwar noch keinen Zellkern, aber alles, was das Leben braucht, um sich selbst zu erhalten. Zu diesem Zeitpunkt gibt es noch keinen Tod, denn wenn sich eine Bakterie teilt, so teilt sie sich in zwei Lebewesen, ohne dass eines stirbt.

Der nächste Schritt, also die Entstehung von DNA und Zellkern, war gar nicht mehr so schwer. Schließlich unterscheiden sich RNA und DNA kaum, lediglich eine der vier Basen ist chemisch ein wenig anders aufgebaut. Wir nennen die Base bei der DNA Thymin und bei der RNA Uracil. Auch der Zellkern ist nichts Besonderes, er ist nichts anderes als eine Membran, wie wir sie auch von den ersten einfachen Bläschen kennen. In dieser Blase wird die DNA aufbewahrt. Die heutigen Zellen haben aber noch ein bisschen mehr zu bieten. Cyanobakterien (früher bekannt als Blaualgen) waren vermutlich die ersten Lebewesen, die Licht als Energiequelle zur Zuckerherstellung verwendet haben. Irgendwann hat sich wohl ein größerer Organismus eine solche Cyanobakterie einverleibt, aber nicht verdaut, sondern festgestellt, dass diese Bakterie Nahrung produziert.

Auch die Mitochondrien in unseren Zellen waren früher einmal Bakterien, die von unseren einzelligen Vorfahren aufgenommen wurden. In unseren heutigen Zellen sind sie dafür verantwortlich, aus Zucker Adenosintriphosphat (ATP), also die Energieform der Zellen, zu produzieren. Diese sogenannte Endosymbiontentheorie wird dadurch gestützt, dass sowohl die Chloroplasten in den Pflanzenzellen als auch die Mitochondrien in Pflanzen und Tieren ein eigenes Erbgut und sogar eigene Ribosomen haben. Seitdem leben diese Bakterien in jeder einzelnen unserer Zellen und teilen sich immer wieder. Über die weiblichen Eizellen werden sie an die nächste Generation weitergegeben und sind, wenn man so will, unsterblich. Skurril: Im Mai 2023 wurde weltweit in den Medien über den ersten Menschen berichtet, der drei Eltern hat.[21] Eine Frau hatte ihre leere Eizelle gespendet. Der Zellkern kam von der Mutter und das Spermium vom Vater. Die DNA der Mitochondrien aus der leeren Eizelle stammte von der Spenderin.

Letztlich können wir also heute recht gut nachvollziehen, wie aus nicht belebter Natur Organismen entstanden sind. Bei all diesen ineinandergreifenden und aufeinander aufbauenden Prozessen ist es schwierig zu sagen, wann genau etwas zu leben begonnen hat. Nach unserem heutigen Verständnis hat ein Lebewesen folgende Merkmale: Es hat einen Energie- und Stoffwechsel, eine Selbstregulation, Sinneswahrnehmung, kann sich fortpflanzen, wachsen und entwickeln. Viren zum Beispiel haben keinen eigenen Stoffwechsel, sondern müssen Zellen infizieren, um sich fortzupflanzen. Sie gelten daher nicht als Lebewesen.

Jetzt aber kommen wir zu der Frage, die Sie vermutlich am meisten beschäftigt: Können wir ewig leben? Wie schon beschrieben, ist die Evolution ohne das Sterben der Elterngeneration nicht denkbar, und daher ist der Tod eine recht alte Erfindung. Besonders die alten Mechanismen sind oft relativ einfach und lassen sich leicht beeinflussen. Bis 2020 gingen wir davon aus, dass unser Altern durch unzählige komplexe Mechanismen erzeugt wird, mit einer Degeneration unseres Erbgutes einhergeht und letztlich nicht umkehrbar ist. Dies äußerte sich hauptsächlich in drei Mechanismen: schrumpfende Chromosomenenden (Telomere), ein begrenzter Pool an Stammzellen und schwächelnde Reparaturwerkzeuge. Heute schreiben wir das Altern hauptsächlich einem primären Mechanismus zu, der Epigenetik. Um das wenigstens im Grundsatz zu verstehen, muss ich diesen neuen Ansatz der Genetik kurz vorstellen.

Wie Sie vielleicht wissen, ist die menschliche Erbinformation, unser Genom, in einer knapp zwei Meter langen DNA-Kette gespeichert. Diese Kette besteht aus 46 einzelnen DNA-Molekülen mit einer Länge von 1,7 bis 8,5 Zentimetern. Das sind unsere Chromosomen. Aus diesen 46 Molekülen bilden sich 23 Chromosomenpaare, wobei ein Paar aus zwei gleichen Chromosomen besteht: eines mit der Kopie des Genoms unserer Mutter und eines mit einer Kopie des Genoms unseres Vaters. Welche Gene wir verwenden, ob wir also die dunklen Haare vom Vater oder die blonden von der Mutter bekommen, ist größtenteils dem Zufall überlassen. Nur wenn ein Gen defekt ist, bedient sich unser Körper einfach bei dem funktionstüchtigen Gen. Problematisch wird es natürlich, wenn die gleichen Gene defekt sind, dann kommt es zu Erbkrankheiten.

Sicherlich haben Sie schon einmal eine Abbildung unserer DNA-Doppelhelix gesehen. Im Prinzip besteht jedes einzelne Kettenglied aus zwei sich gegenüberliegenden Basen. In der Abfolge der Basen steckt der Bauplan für unseren Körper. Allerdings ist diese Kette nicht frei schwimmend, jeweils 147 dieser Basenpaare wickeln sich um ein kleines Körnchen, ein sogenanntes Histon; man spricht dann von einem Nukleosom. Als Hobbysegler werde ich blass vor Neid, wenn ich bedenke, wie ich mich mit den unzähligen Leinen an Bord herumschlagen muss und wie schön das alles in unserem Zellkern geordnet ist. Doch das ist noch nicht alles, denn diese zusammengerollten Knäuel heften sich wiederum an andere. Die Moleküle, die normalerweise die Abfolge der Basen ablesen, passen dann einfach nicht mehr dazwischen. Unser Erbgut ist praktisch weggeschlossen. Braucht nun die Zelle den Bauplan für ein bestimmtes Protein, um einen bestimmten Prozess durchzuführen, dann wird dieses Knäuel an der richtigen Stelle entwirrt, und die Information kann abgelesen werden.

Der ganze Prozess ist natürlich viel komplizierter, als ich ihn hier beschrieben habe, aber er ist gut verstanden, und wir wissen ziemlich genau, was unter welchen Bedingungen wie abläuft. Nun kommt der Knackpunkt: Jede einzelne unserer Körperzellen enthält den gesamten Bauplan für unseren Körper. Eine Leberzelle braucht aber andere Gene als beispielsweise eine Hautzelle. Hat sich eine Zelle erst einmal an irgendeiner Stelle festgesetzt, dann aktiviert sie nur die Gene, die sie braucht. Dieser Prozess galt lange als unumkehrbar. Doch 2006 fand der japanische Forscher Shinya Yamanaka eine Methode, um aus adulten Zellen wieder nicht festgelegte Stammzellen zu erzeugen.[22] Diese Stammzellen waren wiederum in der Lage, sich in jede andere Zellform zu verwandeln.

Mit dieser Entdeckung, für die er 2012 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie bekam, legte er im Prinzip auch den Grundstein für das ewige Leben. Er bediente sich dabei Mechanismen der Epigenetik. Die Epigenetik beschäftigt sich mit der Art und Weise, wie unsere DNA verknotet und wieder entwirrt wird. Das war lange Zeit ein Rätsel. Die oben beschriebenen Knäuel werden mit sogenannten Methylgruppen miteinander verklebt. Auf diese Weise passen sich unsere Zellen an ihre Rolle im entsprechenden Organ, aber auch an aktuelle Bedingungen an. Außerdem ändert sich die Methylierung im Laufe des Lebens. Aus der Zwillingsforschung ist bekannt, dass eineiige Zwillinge zu Beginn ihres Lebens eine fast identische Methylierung haben, die sich aber durch die Erfahrung und das Leben selbst unterschiedlich entwickelt. Bei älteren eineiigen Zwillingen kann sich dann ein gänzlich anderes Bild ergeben.

In unserem Lebensalltag ist die Methylierung auch für ganz andere Dinge verantwortlich. In Untersuchungen an Mäusen konnte gezeigt werden, dass die mutigen und explorativen Mäuse im Verhältnis zu den anderen mehr Dopamin-Rezeptoren im Gehirn hatten (später werden wir noch näher auf den Aspekt unterschiedlicher Persönlichkeiten eingehen).[23] Das Rezept für den Bau der Rezeptoren ist bei allen Mäusen gleich, aber die Anzahl kann durch die Zugänglichkeit der Gene beeinflusst werden. Auf diese Art steuert die Methylierung unser Verhalten. Die Auswirkungen einer verringerten Anzahl von Dopamin-Rezeptoren haben Sie vermutlich schon selbst erlebt oder zumindest bei anderen beobachtet. Ältere Menschen werden vorsichtiger, sind weniger risikofreudig, weniger explorativ. Der Grund dafür ist die verringerte Anzahl von Dopamin-Rezeptoren im Alter.[24] Auch dies macht aus evolutiver Sicht Sinn. Denn Tiere, die ein hohes Alter erreicht haben, sollten kein Risiko mehr eingehen, sondern das erworbene Wissen mit anderen teilen. Bei den Jungtieren ist es genau umgekehrt: Es muss einen inneren Mechanismus geben, der sie motiviert, neue Erfahrungen zu sammeln. Die Risiken für den Einzelnen sind für die Gemeinschaft oder Population nahezu irrelevant. Wird so ein junger Hüpfer gefressen oder baut einen Unfall, ist das nicht weiter schlimm, die nächsten kommen ja schon nach. Ja, ich weiß, das klingt nicht nett, aber es ist eine erfolgreiche Strategie, die durch die Epigenetik gesteuert wird.

Kommen wir nun zum eigentlichen Altern. Mit wenigen Ausnahmen wie dem Muskel- und Nervengewebe teilen sich unsere Zellen von Zeit zu Zeit. Dabei stellt die Zelle ihre eigentliche Aufgabe ein, verdoppelt ihre DNA und verpackt sie in Chromosomen. In dieser Phase können keine Informationen aus dem Zellkern abgelesen werden, und die Zelle macht nichts anderes, als sich um ihre Teilung zu kümmern. Dabei verdoppelt sie unter anderem auch ihr gesamtes Erbgut, und jede neue Zelle bekommt ein vollständiges Genom. Glücklicherweise machen das nicht alle Zellen gleichzeitig, die meisten Zellen befinden sich den größten Teil ihrer Existenz in einem aktiven Status zwischen den Zellteilungen (Interphase). In dieser Phase kann die Methylierung jederzeit aufgehoben werden, und die Zelle kommt, je nach Bedarf, an die entsprechenden Baupläne.

Im Verlauf des Lebens und beim Altern verändert sich die Methylierung, es werden immer mehr Informationen verknotet. Ab einem bestimmten Alter kommen unsere Zellen einfach nicht mehr so gut an ihre Erbinformation heran. Entweder werden nicht genügend Proteine hergestellt oder zu einem falschen Zeitpunkt, oder sie sind fehlerhaft und funktionieren überhaupt nicht. Das Resultat: Die Funktionstüchtigkeit unserer Zellen ist eingeschränkt. Unsere Haut wird faltig, unsere Muskeln reagieren nicht mehr so schnell und bauen sich ab, und unsere Organe funktionieren nicht mehr so gut. Unser Körper versucht uns umzubringen, damit wir für die nächste Generation Platz machen. Dabei haben wir sogar Glück gehabt, denn die allermeisten Tiere sterben kurz nach dem Ende ihrer Fortpflanzungsphase. Nur Tieren, die in einer Kultur leben, gestattet die Evolution, länger zu leben. Der Grund dafür ist ganz einfach: Kulturelle Informationen sind wichtig, und ältere Individuen haben Wissen, das sie an kommende Generationen weitergeben können. Doch mehr dazu in TeilII, dort kommen wir auf die sogenannte Großmutter-Hypothese zurück.

Wichtig ist hier zunächst nur, dass es Mechanismen gibt, die uns von innen heraus töten, wenn wir aus Sicht der Evolution keine biologisch wichtige Rolle mehr spielen. Natürlich war allen Wissenschaftlern klar, dass dieser programmierte Tod ein Mechanismus ist, den wir irgendwann austricksen können, aber man vermutete, dass man eine einmal beschädigte DNA nicht wieder reparieren kann. In der Gedankenwelt der Alterungsforschung war es theoretisch möglich, jemanden ewig leben zu lassen, aber es war unmöglich, jemanden wieder zu verjüngen. Diese Vorstellung konnte jedoch widerlegt werden, wie es David Sinclair und andere Forschende in dem oben erwähnten Nature-Artikel von 2020 beschrieben haben. Es gelang, bei Mäusen das Altern zu beschleunigen und typische Altersleiden wie den grauen Star zu erzeugen. Es gelang aber auch, die biologische Uhr zurückzudrehen und die Trübung der Augenlinse wieder aufzulösen. Dazu wurden nicht die Gene, sondern die Methylierung der DNA beeinflusst. Es sieht also so aus, als würden unsere Zellkerne das ganze Leben lang fehlerfreie Baupläne enthalten. Lediglich die Art und Weise, wie unsere Gene verknotet sind, ändert sich im Laufe unseres Lebens und lässt uns altern. Die Forschenden haben einige Gene, die für diese Methylierung verantwortlich sind, ganz spezifisch beeinflusst, und das biologische Alter konnte nach vorn oder nach hinten geschoben werden. Das bedeutet: Nach heutigem Kenntnisstand können wir theoretisch wieder jung werden.[25]

Doch wann können wir eine »Verjüngungspille« schlucken? Vom Tierversuch bis zum marktreifen Medikament vergehen normalerweise zehn bis 15 Jahre. Wirkstoffe, die das Altern beeinflussen, müssen aber nicht als Medikament zugelassen werden – denn das Altern ist per definitionem keine Krankheit – und könnten sehr rasch in Form eines Nahrungsergänzungsmittels auf den Markt gelangen. Es ist durchaus denkbar, dass Sie bald vor der Frage stehen: Will ich wieder jung werden? Zweifellos werden die meisten Menschen zunächst zögern, doch sobald sich einige Hunderttausend oder Millionen verjüngt haben, werden sich die Zweifel in Luft auflösen, und wir werden einen unvorstellbaren, noch nie da gewesenen gesellschaftlichen Wandel erleben.

In diesem Moment geschieht aber noch etwas anderes, nie Dagewesenes: Wir beenden bewusst und willentlich die biologische Evolution und übernehmen endgültig die Verantwortung für uns als Art.

Ein unglaublicher Schritt, nachdem wir seit etwa 10 000 Jahren den Aufstand gegen die Evolution proben. Ein Beispiel: Mit der Domestizierung des Rindes haben wir uns, besonders im Winter, eine neue Nahrungsquelle erschlossen. Doch als Erwachsene Milch anderer Tiere zu trinken, ist nicht normal. Vermutlich hatten unsere Vorfahren 5000 Jahre lang Durchfall, bis sich durch die Beständigkeit unserer Kultur die »Evolution« gebeugt hat und wir eine Laktosetoleranz entwickelt haben.[26]

Eingangs hatte ich die Frage gestellt, ob auch Computer leben können. Nach unseren bisherigen Vorstellungen vom Leben muss diese Frage mit einem eindeutigen Nein beantwortet werden. Wenn man sich aber die Grundmechanismen des biologischen Lebens ansieht, dann kann man sich vorstellen, dass auch eine andere Form von Leben auf Grundlage einer anderen Mechanik entstehen kann. Wie aber werden wir Menschen diese Form des Lebens bewerten? Hat es den Wert einer Bakterie oder eines Insekts? Hat dieses Leben ein Recht auf sich selbst? In unserer Kultur knüpfen wir eine solche Frage oft an ein Bewusstsein. Also lohnt es sich, genauer anzusehen, was das eigentlich ist.

Bewusstsein

Eine Ameise mit Bewusstsein? Vor fast zehn Jahren hat diese wissenschaftliche Erkenntnis mein Weltbild erschüttert. Ist das möglich? Haben auch Tiere ein Bewusstsein wie wir? Ist Bewusstsein am Ende gar keine komplexe kognitive Leistung, und hat vielleicht mein nächstes Handy eines? Doch wie kann man Bewusstsein erforschen?

Die große Herausforderung in der Verhaltensbiologie besteht darin, komplizierte Dinge einfach zu machen. Man hat ein komplexes Verhalten und braucht ein Experiment, um auch bei Tieren zu zeigen, welche Fähigkeiten sie haben. Die Zeiten, in denen wir das Gehirn von Tieren als Blackbox betrachteten und in der die Behavioristen in Tieren eine Art biologische Roboter sahen, sind längst vorbei. Heute wissen wir, dass Tiere im Prinzip ganz ähnlich funktionieren wie wir und dass fast 100 Prozent unserer Gene tierischen Ursprungs sind. Es geht darum, mit ganz einfachen Mitteln bei Tieren so etwas wie ein Bewusstsein nachzuweisen. Wir Menschen können uns über unser Bewusstsein und die winzigsten Details dieser kognitiven Fähigkeit sprachlich austauschen. Doch woher sollen wir wissen, was im Kopf eines Tieres vor sich geht, wir können es nicht einfach fragen. Man kann sich leicht vorstellen, dass Bewusstsein auch ohne Sprache existiert, also galt es, ein Experiment zu erfinden, um das zu klären. Das sah dann folgendermaßen aus: Man markierte die Stirn eines Schimpansen mit weißer Farbe und ließ ihn in einen Spiegel gucken (Mirror Self-Recognition). Seine Reaktion war ausgesprochen menschlich, er griff sich an die Stirn und versuchte, die Markierung zu entfernen.[27] In den 1980er-Jahren, als dieses Experiment zum ersten Mal durchgeführt wurde, gab es eine heftige Kontroverse. Die einen sahen darin den Beweis für Selbstbewusstsein, denn wieso sollte sich jemand an die Stirn greifen, um eine Markierung zu entfernen, wenn er im Spiegel nicht gesehen hätte, dass er selbst die Markierung auf der Stirn hat? Für andere war dies eine unzulässige Vermenschlichung.

Damit Sie sich selbst eine Meinung bilden können, möchte ich Ihnen kurz erklären, warum das mit dem Spiegel eine wirklich gute Idee war. Die meisten Tiere ignorieren Spiegel, sie gehen einfach dran vorbei, als gäbe es ihr Spiegelbild nicht. Möglicherweise ist ihre optische Wahrnehmung nicht so gut wie unsere, möglicherweise werden aber auch relevante Informationen aus der Umwelt nur verarbeitet, wenn mehrere Sinne angesprochen werden. Vielleicht muss ein Spiegelbild in unmittelbarer Nähe auch nach dem riechen, was man sieht. Diese Taktik ist schon sehr früh in der Evolution entstanden, denn das Abgleichen zweier Sinneseindrücke hat den Vorteil, dass lebensgefährliche Fehler minimiert werden: Doppelt hält besser. Aus diesem Grund müssen wir bei einem Waldspaziergang auch zwanghaft nach dem Grund eines Raschelns schauen.

Letztlich kann man mit diesem Experiment aber nicht ausschließen, dass ein Tier vielleicht doch Selbstbewusstsein hat, auch wenn es den Spiegeltest nicht besteht. Dazu gibt es eine lustige Karikatur: Ein Versuchsleiter steht vor einer Reihe unterschiedlicher Tiere – einem Elefanten, einem Hund, einem Goldfisch, einem Vogel und einem Schimpansen – und sagt: »Aus Gründen der Fairness ist die Aufgabe für Sie alle gleich, klettern Sie auf den Baum!« Verhaltensbiologische Experimente müssen also immer so konstruiert sein, dass Tiere sie auch bewältigen können. Desgleichen gilt für uns Menschen. Ein Außerirdischer, der unsere Intelligenz testet, sollte nicht von uns verlangen, dass wir drei voneinander entfernte Knöpfe gleichzeitig drücken, denn damit hätten wir mit unseren zwei Armen echte Schwierigkeiten.

Viele Tiere reagieren auf einen Spiegel mit sozialem Verhalten. Der Kampffisch zum Beispiel kämpft mit seinem Spiegelbild bis zur Erschöpfung, und so manch einsamer Wellensittich schnäbelt mit seinem Spiegelbild. Es gibt aber auch Tiere, die das Konzept eines Spiegels verstehen und ihn für sich nutzen können: Wenn Schweine,[28] Makaken,[29] Graupapageien,[30] Krähen[31] und einige wenige Hunderassen[32] Nahrung im Spiegel sehen und die Nahrung befindet sich von einer Wand verdeckt direkt neben ihnen, dann gehen sie einfach um die Wand herum zur Nahrung. Hätten sie das Konzept des Spiegels nicht verstanden, würden sie zum Spiegel laufen und sich dort verdutzt umsehen.