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Mesut Özil ist Fußballweltmeister, Landesmeister, Pokalsieger - und der teuerste deutsche Spieler, der je transferiert wurde. Dass der schmächtige Junge, dessen Familie aus der Türkei stammt, einmal deutscher Leistungs- und Sympathieträger werden sollte, war nicht vorherzusehen. Ungewohnt offen erzählt Mesut Özil in seinem Buch, wie er zu dem geworden ist, der er ist, was für Eigenschaften man braucht, um ganz nach oben zu kommen - und wie wichtig es ist, seine Träume zu Zielen zu machen, an deren Erreichung man mit Leidenschaft arbeitet.
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Seitenzahl: 430
Cover
Über dieses Buch
Titel
Impressum
Widmung
VORWORT
PROLOG
Der wichtigste Anschiss meines Lebens
1.
MEIN PEINLICHES ZUHAUSE
Was Familienzusammenhalt bewirken kann
2.
LIEBER MATTHIAS ALS MESUT
Von Menschen, die erkennen, was in dir steckt
3.
DIE FUSSBALLWELT IST KEINE CASTINGSHOW
Das Wichtigste ist ein stabiles Fundament
4.
TÜRKISCH-DEUTSCHES STREITOBJEKT
Von der Kunst, die richtige Entscheidung zu treffen
5.
MIT SCHALKE ZUM VIZEMEISTER
Hab keine Angst davor, Fehler zu machen
6.
MIESE SCHMUTZKAMPAGNE
Für den Erfolg brauchst du ein gutes Netzwerk
7.
MESUT ALLEIN ZU HAUS
Gute Freunde kann man sich nicht kaufen
8.
FUSSBALLER SIND KEINE POLITIKER
Handeln, statt dumm daherreden
9.
KUNG-FU-WIESE
Mannschaftlich geschlossen durch stürmische Zeiten
10.
SIEG IM DFB-POKAL
Wie man Niederlagen wegsteckt
11.
MEIN KÖNIGSWECHSEL
Im richtigen Moment an sich selbst denken
12.
EINE NEUE WELT
Dein Job ist es, niemals zufrieden zu sein
13.
GALAKTISCHE DUELLE
Folge deinem Instinkt
14.
LONDON CALLING
Jeder Verlust ist die Chance auf etwas Neues
15.
RAUS AUS DEM GOLDENEN KÄFIG
Sei der, der du bist
16.
WELTMEISTER IN BRASILIEN
Ein gutes Ende braucht Leidenschaft und Disziplin
EPILOG
Danke schön, teşekkürler, gracias, thank you
DANKSAGUNG
QUELLEN
REGISTER
BILDNACHWEIS
Mesut Özil ist Fußballweltmeister, Landesmeister, Pokalsieger – und der teuerste deutsche Spieler, der je transferiert wurde. Dass der schmächtige Junge, dessen Familie aus der Türkei stammt, einmal deutscher Leistungs- und Sympathieträger werden sollte, war nicht vorherzusehen. Ungewohnt offen erzählt Mesut Özil in seinem Buch, wie er zu dem geworden ist, der er ist, was für Eigenschaften man braucht, um ganz nach oben zu kommen – und wie wichtig es ist, seine Träume zu Zielen zu machen, an deren Erreichung man mit Leidenschaft arbeitet.
MESUT ÖZIL
MIT KAI PSOTTA
DIE MAGIE DES SPIELS
Und was du brauchst, um deine Träume zu verwirklichen
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Originalausgabe
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Text- und Bildredaktion: Ramona Jäger
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © Horst A. Friedrichs, London
eBook-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-7325-4084-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine Eltern, ohne die ich nicht der wäre, der ich heute bin. Ohne die ich nicht dort stünde, wo ich heute stehe.
Ohne die ich die Welt mit anderen Augen sehen würde.
Für meine Eltern, die mich immer darin bestärkt haben, meinen Weg zu gehen. Ich habe euch lieb.
Ich bin ein Fan von Mesut Özil und schätze ihn in jeder Hinsicht sehr. Er ist eine absolute Säule unserer Nationalmannschaft und war in den meisten Spielen unter mir als Trainer dabei. Er ist jemand, auf den ich mich immer verlassen kann. Mesut ist außerdem ein Spieler, der durch seine Art zu agieren stets für besondere Momente auf dem Platz sorgt. Und die sind im Fußball oft der Schlüssel, um Spiele zu gewinnen. Mesut ist zudem sehr variabel und verfügt über eine hohe Spielintelligenz. Das macht ihn für mich als Trainer so wertvoll, denn ich kann ihn auf verschiedenen Positionen flexibel einsetzen. Mesut ist kein Lautsprecher, aber sein Wort hat innerhalb der Mannschaft viel Gewicht. Er ist ein hervorragender Teamplayer, und wir sind alle froh, dass wir einen Ausnahmespieler wie ihn in unseren Reihen haben.
Joachim Löw
Ich bin immer auf der Suche nach jungen Spielern. Und mit Mesut habe ich bei Bremen einen wunderbaren gefunden. Einen aufstrebenden Jungen mit dem Gefühl für zauberhafte Pässe, mit dem Sinn für Dribblings, einen, der Vorlagen geben und selbst Tore erzielen kann.
Aber war er schon bereit für ein Top-Team? Physisch noch nicht. Mental vielleicht. Technisch aber ganz sicher! In meinem Kopf setzte ich ihn auf meine goldene Liste.
Als ich dann nach Madrid ging, merkte ich, dass mir jemand für den magischen Pass fehlt. Jemand, der auf großartige Weise unsere Angriffe eröffnen kann. Da kam mir Mesut wieder in den Sinn.
Als er mir bei der Weltmeisterschaft bewies, dass er schon diesem großen Druck standhalten kann, fiel die Entscheidung, ihn zu holen. Wir kauften ihn – und eine wunderbare Beziehung ward geboren. Özil hinter Ronaldo und Di María, mit Benzema oder Higuaín.
Es gibt viele Dinge, über die ich mich freue – darunter natürlich auch die Titel und Rekorde, die wir zusammen mit Mesut erzielt haben. Aber am meisten sind mir viele Momente besonderer Fußballqualität in Erinnerung geblieben. Die Schönheit seiner Pässe und der Ballannahmen, manchmal auch seiner Tore.
Mesut Özil ist in einer besonderen Arena wie dem Bernabéu geliebt worden. Eine Vielzahl von Teamkollegen hat es genossen, mit ihm zusammenzuspielen. Und ich glaube, dass selbst seine Gegenspieler von der Schönheit seiner Dribblings manchmal verblüfft waren.
Habe ich ihm als Trainer etwas mitgeben können? Ich hoffe es sehr. Wobei Spieler wie Mesut nicht von Trainern gemacht werden. Sie werden einfach geboren.
Was soll ich sonst noch über diesen Jungen sagen? Ich vermisse ihn sehr. Er ist mein Freund. Er ist ein Star, der niemals vergisst, woher er kommt, und der nie die Freude vergisst, die einem das Spiel schenkt.
Er ist Weltmeister und zudem ein Champion im Leben, mit all den Herausforderungen, die es für einen mit sich bringt und die er meistert.
Ich bin stolz, Teil seiner Geschichte zu sein.
José Mourinho
Wenn er noch ein Wort sagt, platze ich. Nur noch ein einziges Wort. Was will der Kerl eigentlich von mir? Wieso hackt der so auf mir herum? Das ist doch nicht normal. Das ist verrückt. Ach, was weiß ich denn, was es ist. Hochgradig ungerecht ist es jedenfalls!
Ich sitze zur Halbzeit in der Kabine von Real Madrid. Meinem Verein. Der Platz rechts neben mir ist frei. Eigentlich sitzt Karim Benzema dort. Doch der macht sich schon warm, weil er in der zweiten Halbzeit eingewechselt werden soll. Sami Khedira spielt gedankenverloren an seinen Schuhen herum. Cristiano Ronaldo guckt in die Luft. Und José Mourinho, unser Trainer, schimpft. Und schimpft. Und schimpft. Vor allem mit mir. Eigentlich geht es in der gesamten bisherigen Ansprache nur um mich.
Dabei bin ich doch gerannt wie blöd. Habe ganz gut gespielt. Ehrlich. Ich würde es mir ja eingestehen, wenn es nicht so wäre. Wir führen 3:1 gegen Deportivo La Coruña. Nach sechzehn Minuten ist unser Gegner in Führung gegangen. Doch dann haben wir das Spiel gedreht. Innerhalb von 21 Minuten hat Cristiano Ronaldo zweimal getroffen, zudem war auch noch Ángel Di María erfolgreich.
Die beiden spielen auf den Flügeln, vorne drin steht Gonzalo Higuaín. Hinter mir spielen Khedira und Luka Modrić im defensiven Mittelfeld und halten mir den Rücken frei. Eigentlich ist alles okay. Aber anstatt uns zu loben, auch mich, bekomme ich wieder was auf den Deckel. Auch in den Wochen zuvor hat Mourinho mich schon auf dem Kieker gehabt. Gegen Rayo Vallecano ließ er mich zunächst auf der Bank schmoren. Bei unserer Niederlage gegen Sevilla holte er mich zur Halbzeit runter. Okay, da konnte ich ihn sogar verstehen. Wir lagen schon nach der ersten Minute nach einem Tor von Piotr Trochowski hinten und haben uns alles andere als mit Ruhm bekleckert.
Aber jetzt? Wir haben alle Charakter bewiesen. Ich hatte das Spiel im Griff. Die Pässe kamen an.
Na gut, ein bisschen, ein ganz kleines bisschen, habe ich die letzten Minuten vor dem Pausenpfiff schon nachgelassen. Das stimmt. Da kann ich dem Trainer, der meinen Einsatz kritisiert, nicht widersprechen. Statt im Vollsprint hinterherzugehen, fand meine Rückwärtsbewegung ein-, zweimal nur im Trab statt. Ich war nur noch mit achtzig, neunzig Prozent bei der Sache. Aber trotzdem war ich nicht schlecht. Ist das jetzt wirklich ein Grund, mich vor versammelter Mannschaft so anzublaffen?
Ich tausche einen flüchtigen Blick mit Sergio Ramos. Meinem Freund. Ich mag den Kerl wirklich gerne. Dann verliere ich mich wieder in meinen Gedanken, während Mourinhos Kabinen-Donnerwetter weitergeht.
Ich mag Kabinen nicht besonders. Ganz gleich, wo sie sich befinden. Egal, ob sie altehrwürdig wirken oder hochmodern. Egal, ob sie im Stadion sind oder am Trainingszentrum. Ich weiß, dass es Fußballfans auf der ganzen Welt in die Kabinen ihrer Teams zieht. Dass unsere Umkleiden wie ein Magnet auf sie wirken. Alle wollen einen Blick ins Heiligtum der Fußballvereine werfen. Viele sind sogar bereit, Geld zu bezahlen, um bei Stadionführungen den Spind von Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi zu sehen.
Für mich haben Kabinen aber nichts Mythisches. Sie versprühen keinen Zauber. Sie sind nicht besonders. Natürlich sind Kabinen Kontrollzentren. Sie erinnern an den Tower am Flughafen. Der Trainer agiert hier wie ein Fluglotse, der die Richtung vorgibt. Aber trotzdem ist es kein heiliger Ort. In der Halbzeitpause oder kurz vor dem Spiel sind Kabinen für mich vor allem wie ein Käfig. Ich will dort raus. So schnell wie möglich. Wie ein Tiger, der nach Freiheit lechzt. Aber in der Kabine läuft die Zeit langsamer. Die Viertelstunde bis zum Wiederanpfiff kommt mir immer viel länger vor. Weil ich endlich wieder in die Arena will, um weiterzukicken!
Die Kabine dient nur der Vorbereitung. Der Platz, der Rasen ist meine Bühne. Er elektrisiert. Hier gehöre ich hin. Es ist eine Befreiung für mich, den Platz zu betreten. Im Privatleben kann man zwischendurch immer mal wieder Schwierigkeiten haben, Streit, Diskussionen, Unstimmigkeiten. Aber auf dem Fußballplatz gibt es für mich keine Probleme. Diese neunzig Minuten, manchmal auch mehr, wenn es Verlängerung gibt, bedeuten Frieden für mich. Puren Genuss. Dabei muss der Rasen nicht einmal perfekt gemäht sein. Ich brauche keine akkurat gezogenen Kreidelinien. Ich muss für meine Zufriedenheit nicht einmal die perfekten Schuhe tragen. Ich muss einfach nur kicken können. Der Fußballplatz macht mich glücklich. Nicht die Kabine, dieser beengte Ort, mal sechzig Quadratmeter groß, mal achtzig.
Ich will raus aus diesem Käfig. Vor allem jetzt, in diesem Moment der Demütigung.
Mourinho steht in der Mitte der Kabine. Er redet und redet und redet. Eigentlich brüllt er mehr: Mesut hier, Mesut da. Mesut dies. Mesut das.
Ich versuche, auf Durchzug zu stellen. Die Kritik abprallen zu lassen. Weil ich merke, wie es innerlich immer mehr bei mir zu brodeln beginnt.
»Du denkst, zwei schöne Pässe reichen«, schreit Mourinho. »Du bist dir zu fein dafür, in Zweikämpfe zu gehen. Du denkst, dass du so gut bist, dass fünfzig Prozent genug sind.«
Er hält inne. Starrt mich mit seinen dunkelbraunen Augen an. Ich starre zurück. Wie zwei Boxer beim Stare-Down vor der ersten Ringrunde.
Er zeigt keine Regung. Wartet nur auf eine Reaktion von mir. Wie sehr ich ihn gerade hasse! Dabei liebe ich José Mourinho eigentlich.
Er allein ist der Grund, warum ich 2010 von Werder Bremen zu Real Madrid gegangen bin. Es war keine Entscheidung für den Verein. Es war eine Entscheidung für ihn. Für den Menschen José Mourinho. Ich wollte zu ihm. Und zu keinem anderen.
Seit 2008 hatte ich diesen dringenden Wunsch. Damals, Anfang Oktober, hatte ich mit Werder Bremen im Giuseppe Meazza gegen Inter Mailand gespielt. Im Tor der Italiener stand Júlio César. Die Sturmreihe bildeten Adriano, Zlatan Ibrahimović und Mario Balotelli. Was für Namen. Was für eine Mannschaft. Taktisch so brillant eingestellt eben von José Mourinho. Gleich in der ersten Minute lag Adriano quer in unserem Strafraum in der Luft und versuchte es mit einem Seitfallzieher, den er nur wenige Zentimeter über das Tor von Tim Wiese ballerte. Kurze Zeit später verfehlte Ibrahimović nur ganz knapp, als er das Außennetz traf. Nach vierzehn Minuten lagen wir durch einen Treffer von Maicon zurück.
Inter war stark. Machte in dieser Phase alles richtig. Manchmal schaute ich bei Spielunterbrechungen für wenige Sekunden zu Mourinho und beobachtete, wie er seine Mannschaft dirigierte. Diese Leidenschaft, mit der er sein Team von der Seitenlinie aus motivierte. Und wie positiv er dabei gegenüber seinen Spielern immer blieb. Das faszinierte mich.
In der 62. Minute setzte ich mich auf dem linken Flügel durch, flankte ziemlich perfekt auf Claudio Pizarro, der zum Ausgleich traf: 1:1. Wieder riskierte ich einen kurzen Blick zu Mourinho, der, so bildete ich es mir zumindest ein, ein wenig beeindruckt wirkte. Nach dem Spiel schüttelte er mir kurz die Hand. Beglückwünschte mich mit einem kräftigen Hieb auf den Rücken. Jetzt hatte er mich. Noch in der Nacht sagte ich zu meinem damaligen Berater Reza Fazeli: »Irgendwann werde ich unter José Mourinho spielen.«
Was mir an Mourinho so gefiel? Es war die Art, wie er sprach, wie er sich bewegte, sein eleganter Kleidungsstil, er wirkte in jedem Moment kontrolliert und unheimlich souverän. Diese Ausstrahlung kannte ich insbesondere zu dieser Zeit nur von ganz wenigen Trainern.
Zwei Jahre später, nach der Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika, wollte er mich dann tatsächlich in sein Team holen. Mourinho hatte gerade mit Inter Mailand die Champions League gewonnen. Anschließend wurde sein Wechsel zu Real Madrid bekannt.
Fünf Vereine kamen zu dieser Zeit für mich infrage. Arsenal London war bereits interessiert. Manchester United ebenfalls. Auch Bayern München. Sowie Barcelona und Real Madrid.
Mein Berater traf sich mit Bayern. Die Bosse erzählten ihm, was sie mit mir vorhaben, wie sie mich einsetzen wollen. Die gleichen Gespräche führte er anschließend mit den übrigen Klubs. Doch 2010 war Bayern noch ein deutliches Stück von Real Madrid und Barcelona entfernt. Gerade erst hatten sie unter Louis van Gaal das Champions-League-Finale in Madrid gegen Inter unter Mourinho verloren. Die beiden spanischen Klubs waren, ganz objektiv betrachtet und mit Blick aufs weltweite Ansehen, größer, glänzender, bedeutender. Nur sie kamen für mich daher infrage.
Als ich dann wenig später mit meinem Cousin Serdar, meinem Bruder Mutlu und guten Freunden, darunter Baris und Ramazan, einige Tage in einem Ferienhaus auf Mallorca verbrachte, kam mein Berater zu mir und sagte, dass sich José Mourinho telefonisch bei uns melden werde.
Ich weiß noch genau, wie sich meine Gedanken überschlugen, als mir mein Berater vom bevorstehenden Telefonat berichtete. Es war ja nicht irgendein Gespräch. Es war das Gespräch schlechthin.
Ich bin keiner, der gerne und viel redet, der von sich aus im Mittelpunkt steht und es schafft, dass die Leute gebannt an seinen Lippen hängen. Und vor allem konnte ich weder Portugiesisch noch Italienisch noch fließend Englisch. Ich hatte also keine Chance, direkt mit Mourinho zu sprechen. Dabei hatte ich so viele Fragen, die ich loswerden wollte. Während ich an das Telefonat dachte, wurde mir ganz schwindelig. Ich war so nervös wie vor dem ersten Telefonat mit einem Mädchen, in das ich als Junge verliebt war.
Kurskorrektur: José Mourinho gibt mir taktische Anweisungen an der Seitenlinie.
Mein Berater und ich zogen uns in ein Hinterzimmer der Finca zurück. Dann klingelte das Telefon. Mourinho rief mit unterdrückter Nummer auf dem Handy meines Beraters an. Als er sich meldete und seinen Namen sagte, brachte ich zunächst keinen Ton heraus. Mein Herz schlug schneller als nach zwanzig Steigerungsläufen in der Saisonvorbereitung.
Mein Agent sprach anschließend mit ihm, hatte das Telefon vor uns auf den Tisch gelegt und es auf laut gestellt, sodass ich jedes Wort mithören konnte. Ich lauschte dem Klang von Mourinhos Stimme. Ich versuchte, etwas zu verstehen, schnappte Wortfetzen auf, ohne zu wissen, was sie bedeuteten.
Zwischendurch unterbrach mein Berater das Gespräch immer wieder, um für mich zusammenzufassen und zu übersetzen, um was es gerade ging.
Das Telefonat machte mich wahnsinnig. Manchmal sprach mein Berater zehn Sätze am Stück mit Mourinho. Ohne zu übersetzen. Ich hörte die beiden lachen. Immer wieder stupste ich meinen Agenten an, forderte ihn auf, mir zu sagen, um was es gehe. Doch er wiegelte nur ab und bat mich um etwas Geduld.
Nach einer Dreiviertelstunde war das Gespräch beendet. Aufgeregt tigerte ich im Zimmer umher. »Er will mich wirklich. Hast du gehört, Mourinho will mich in seinem Team haben!«
Wenige Tage später stiegen wir in einen Privatflieger, den Real Madrid für uns organisiert hatte. Ich kam mir vor wie ein Hollywoodstar. Bis dahin wusste ich gar nicht, wie luxuriös man reisen kann. Ich hatte noch nicht einmal einen Privatflieger aus der Entfernung gesehen. Und nun wurde ich auf Mallorca an einem separaten Terminal abgefertigt. Ohne Warteschlangen beim Einchecken. Ohne mich anstellen zu müssen, um mein Gepäck abzugeben. Bis zu diesem Augusttag im Jahr 2010 hatte ich diese Welt nicht kennenlernen dürfen.
In Madrid wartete ein Fahrer auf uns, der uns mit einer Limousine zunächst zum Haus von Jorge Valdano fuhr, dem damaligen Sportdirektor von Real.
Ein ganz feiner Mann, der schon an den Transfers von Zinédine Zidane, meinem absoluten Idol, Cristiano Ronaldo und David Beckham zu den Königlichen beteiligt war. Sein Hemd war das weißeste, das ich jemals gesehen habe. Die Krawatte saß akkurat in der Mitte. An den Rest erinnere ich mich kaum noch. Weil ich in Gedanken schon wieder bei José Mourinho war, den ich gleich treffen würde. Ich würde ihm erstmals privat begegnen. Und dann kam er: der Mann, der Porto zur Meisterschaft und zum Champions-League-Sieg geführt hatte. Der Mann, der mit Chelsea die Meisterschaft und den Pokalsieg gefeiert hatte. Der Mann, der mit Inter Mailand alles abgeräumt hatte, was es national und international abzuräumen gab.
Gleich als er den Raum betrat, sprang mir das Logo von Real Madrid auf dem Trainingsanzug ins Auge, den Mourinho mit großem Stolz zu tragen schien. Diese goldene Krone. Diese kräftigen Farben. Sofort ging bei mir das Kopfkino los. Ich träumte davon, ins Bernabéu, das königliche Stadion, einzulaufen. Ich stellte mir vor, wie ich das weiße Trikot von Real Madrid überstreifen würde. Diese Bilder waren so überwältigend, dass ich nicht mal mitbekam, was Mourinho in den ersten Minuten erzählte.
Doch dann holte mich die Wirklichkeit wieder ein. Ich riss mich selbst aus meinen Träumen, aus dieser irrealen Welt. War diese legendäre Mannschaft nicht womöglich noch etwas zu groß für mich? Von Werder Bremen zu Real Madrid? Von einer guten Bundesliga-Mannschaft zum größten Verein der Welt? Wer war ich schon? Ein No-Name im Vergleich zu den Real-Madrid-Stars! Ein Niemand auf der großen internationalen Fußballbühne.
Ich bin ja weder naiv noch verblendet. Und natürlich setze ich mich auch mit dem Thema Scheitern auseinander. Es wäre ja fahrlässig, das nicht zu tun. Als junger Spieler ist es doch so: Es reicht nicht, ein gutes Spiel zu zeigen. Denn mit dem Abpfiff bedeutet deine Leistung schon nichts mehr. Zehn gute Spiele sind so schnell vergessen heutzutage. Als Fußballer hast du keinen Leistungskredit. Ein, zwei schlechte Spiele – dann bist du weg. Dann geht es wieder bei null los. Würde ich wirklich eine reelle Chance bei Real Madrid bekommen? Diese Frage spukte mir damals ständig im Kopf herum.
»Ja, die gebe ich dir«, sagte Mourinho. »Eine ganz reelle Chance! Trainier gut. Dann spielst du. Zeig mir, dass du willst, dann will ich dich auch. Wenn du besser werden willst, dann mache ich dich besser. Real Madrid ist kein zu großer Schritt für dich. Real Madrid ist der einzig richtige Schritt. Vertrau mir. Ich mach dich erst zum Stammspieler. Und dann stehen dir alle Türen offen. Dann kannst du der Welt zeigen, was noch alles in dir steckt. Und glaub mir: Das ist noch verdammt viel.«
Mourinho wischte alle meine Zweifel weg. Er gab mir ein gutes Gefühl, genau das, was ich brauchte, um den Mut für so einen Wechsel aufzubringen.
Nach dem Gespräch fuhren wir alle ins Estadio Santiago Bernabéu. Valdano führte mich durch die heiligen Hallen der Königlichen. Vorbei an all den Trophäen, die Real in seiner langen Geschichte bereits gewonnen hatte. Glitzerpötte, auf Hochglanz poliert, in denen ich mich spiegelte. Ein magischer Anblick. So verlockend. Mit der klaren Botschaft: Willkommen bei einem Siegerklub! Einem Verein für Gewinner. Einem Trophäen-Garanten.
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie mich die Real-Bosse beobachteten. Am liebsten hätte ich cooler getan, wäre viel abgeklärter an den Schalen, Pokalen und Skulpturen aus Glas vorbeispaziert. Aber ich konnte meine Begeisterung nicht überspielen. Die Pokale glitzerten, ich strahlte.
Als ich wenig später von Barcelona empfangen wurde, fehlte genau das. Diese Führung durchs Camp Nou, das Stadion der Katalanen. Diese Präsentation der Erfolge, die mir in Madrid Gänsehaut verursacht hatte. Barcelona hat mich im Gegensatz zu Real Madrid nicht wirklich berührt. Sie haben mir nicht ihr Stadion gezeigt. Ich wurde nicht übers Trainingsgelände geführt. Der ganze Besuch war weniger herzlich, obwohl ich von ihrem Spielstil begeistert war.
Und dann wog da vor allem noch die Tatsache schwer, dass sich beim großen spanischen Rivalen von Real der Trainer keine Zeit nahm, um mich persönlich zu treffen.
Bevor ich persönlich in Barcelona war, war ich davon überzeugt, dorthin zu gehen. Zumindest wies die Tendenz klar in diese Richtung. Keine Mannschaft der Welt spielte zu dieser Zeit schöneren Fußball. Es war wirklich ein Hochgenuss, ihnen bei ihrem Kombinationszauber zuzuschauen. Zwanzig, dreißig Mal ließen sie den Ball in den eigenen Reihen hin- und herlaufen. Mit einer Leichtigkeit und Präzision, dass es an eine fest einstudierte Choreografie erinnerte.
Aber die Abwesenheit von Pep Guardiola machte mich stutzig. Als mein Berater und ich aus Barcelona zurückflogen, stellte ich ihm immer und immer wieder eine Frage: »Warum war der Trainer nicht da?« Seine Antwort war immer die gleiche: »Der war im Urlaub.« Guardiola rief mich in den folgenden Tagen auch nicht an. Er schickte nicht mal eine SMS. Er sandte mir kein Signal, dass er mich auch wollte. Dementsprechend nahm meine Begeisterung für Barcelona stetig weiter ab.
Nachdem ich bei beiden großen Klubs war, setzte ich mich wieder mit meinem Agenten zusammen. »Mesut«, sagte er, »diese Optionen hast du. Durch diese fünf Türen kannst du gehen.« Dann haben wir eine Pro- und Kontra-Liste angelegt. Ganz klassisch, wie in der Schule.
»Geiler Fußball«, stand da zum Beispiel auf der Pro-Barça-Seite. Oder: »Mitspieler: Xavi, Iniesta, Messi.« Insgesamt kam ich bestimmt auf zehn Argumente, die für die Katalanen sprachen. Doch dieser eine einzige Punkt, den ich auf die Kontra-Seite schrieb, ließ Barça als möglichen Klub meiner Zukunft ausscheiden. »Pep Guardiola – will der mich überhaupt? Bin ich sein Mann?« Die Skepsis überwog.
Wegen Guardiolas Verhalten wollte ich letztlich nicht zu Barcelona. Vor allem auch, weil Mourinho gleichzeitig so sehr kämpfte. So überzeugend war. So herzlich. So bemüht. Er war das komplette Gegenteil vom Barça-Trainer. Also entschied ich mich für José Mourinho und Real Madrid.
Für jenen Mann also, der mich gerade in diesem Moment so rundmacht. Zehn Minuten der Halbzeitpause sind mittlerweile vorüber. Und noch immer ist Mourinhos Anschiss nicht beendet. Jetzt reicht es mir.
»Was willst du eigentlich von mir?«, blaffe ich lautstark zurück. Um dann etwas leiser zu Ramos zu sagen: »Der macht mich verrückt. Der soll die Klappe halten. Der ist immer unzufrieden.«
»Ich will, dass du so gut spielst, wie du es kannst«, schreit Mourinho. »Ich will, dass du in Zweikämpfe gehst wie ein Mann. Weißt du, wie Zweikämpfe von dir aussehen? Nein? Ich zeig’s dir.«
Dann stellt sich Mourinho auf die Zehenspitzen, legt seine Hände ganz eng an den Körper, spitzt seine Lippen und hüpft durch die Kabine. »So gehst du in Zweikämpfe. Bloß nicht wehtun. Hauptsache, nicht schmutzig werden«, brüllt er, während er seine Özil-Zweikampf-Parodie wiederholt.
Er steigert sich immer weiter rein. Sein Puls wahrscheinlich auf 180. Meiner ganz klar auf 200. Dann reicht es mir wirklich. Ich kann und will mich nicht mehr zusammenreißen. Mein südländisches Temperament überrollt mich.
»Wenn du so geil bist, dann spiel du doch«, schrei ich jetzt, während ich mir mein Trikot ausziehe und ihm vor die Füße schleudere. »Hier. Zieh es an. Los.«
Mourinho lacht nur gehässig. »Ach, gibst du jetzt auf?«, fragt er. »Du bist so ein Feigling«, sagt er scharf und steht inzwischen nur noch wenige Zentimeter von mir entfernt. »Was möchtest du? Dich unter die schöne, warme Dusche verkriechen? Dir die Haare schamponieren? Allein sein? Oder willst du deinen Mitspielern, den Fans da draußen und mir beweisen, was du kannst?«
Mourinho spricht jetzt ganz ruhig. Von jetzt auf gleich ist er nicht mehr cholerisch und laut, sondern kontrolliert, was mich noch wütender macht. Wieso kann der sich jetzt so zusammenreißen, während ich kurz davor bin, komplett durchzudrehen? Ich bin so sauer. Am liebsten würde ich ihm meine Schuhe an den Kopf feuern. Ich will, dass er aufhört. Dass er mich endlich in Ruhe lässt.
»Weißt du was, Mesut«, sagt Mourinho jetzt schon wieder lauter und für alle hörbar. »Wein doch! Heul doch! Du bist so ein Baby. Geh duschen. Wir brauchen dich nicht.«
Langsam erhebe ich mich, schlappe aus meinen Schuhen heraus, schnappe mir mein Handtuch und gehe wortlos an ihm vorbei Richtung Dusche, ohne Mourinho auch nur eines Blickes zu würdigen. Stattdessen schleudert er mir eine letzte Provokation hinterher. »Du bist nicht Zinédine Zidane. Nein! Never! Du bist weit von ihm entfernt!«
Mein Hals schnürt sich zu. Wie ein Stich ins Herz treffen mich diese letzten Worte. Mourinho weiß genau, was er sagt. Er weiß, wie sehr ich diesen Spieler bewundere. Dass der Franzose der einzige Fußballer ist, zu dem ich wirklich aufschaue.
»Du bist nicht Zidane!« Mourinhos Worte hallen noch lange in meinem Kopf nach. Mittlerweile bin ich allein in der Umkleide. Die Mannschaft steht wieder auf dem Platz. Für mich wird Kaká eingewechselt. Sergio Ramos hat, was ich allerdings erst später erfuhr, mein Trikot geschnappt und sich untergezogen. Die schwarzen Ziffern meiner Zehn schimmerten unter seinem Trikot hervor.
Pepe und Ronaldo treffen im Verlauf der zweiten Hälfte zum 5:1-Endstand gegen Deportivo, während ich gedankenverloren unter der Dusche stehe. Nie zuvor habe ich so einen Anschiss von einem Trainer bekommen. Nie zuvor bin ich in meiner Überzeugung von dem, was richtig und falsch ist, derart erschüttert worden. Was ist hier passiert? Warum hat mich Mourinho, dieser großartige Trainer, so vorgeführt? Was wollte er mir sagen?
An diesem Abend des 30. September 2012, irgendwann kurz vor 21 Uhr, fing ich an, mich selbst radikal zu hinterfragen. So sehr, wie ich es zuvor noch nie getan hatte. Über Wochen beschäftigte mich dieser Streit. Wer war ich? Woher kam ich? Und wo wollte ich hin? Um diese Fragen zu beantworten, begann ich, mein Leben Revue passieren zu lassen.
Zwei Brüder: Mutlu nimmt mich schützend in den Arm. Bis heute kann ich mich zu hundert Prozent auf ihn verlassen.
Ich stehe an der obersten Stufe der Kellertreppe und starre ins Dunkle. Der Lichtschalter oberhalb des Geländers ist, seitdem ich denken kann, kaputt. Wie so vieles hier in diesem Gebäude an der Bornstraße im Gelsenkirchener Stadtteil Bulmke-Hüllen – meinem Zuhause.
Die Eingangstür zum Beispiel ist so verzogen, dass zumindest wir Kinder uns mit unserem ganzen Körpergewicht dagegenwerfen müssen, um sie zu öffnen. Jedes Mal schrammt dabei die untere Metallleiste über den Fußboden, der schon deutliche Kratzspuren aufweist. Die grauen Briefkästen aus Metall sind zerbeult. Wir haben nicht mal eine ordentliche Hausnummer an der Außenwand. Wahrscheinlich hat jemand die Ziffern irgendwann geklaut. Oder sie sind nach Jahrzehnten, in denen sie Wind und Wetter ausgesetzt waren, einfach von der Wand gefallen und nie wieder aufgehängt worden. Die Zahl 30 jedenfalls, unsere Hausnummer, hat irgendjemand mit einer Spraydose in Grün an die weiße Hauswand gesprüht.
Ich will in den Keller runtergehen, um mein Fahrrad zu holen. Doch alleine traue ich mich nicht. Niemand von uns Kindern traut sich, alleine diesen gruseligen Ort zu betreten. Eigentlich müsste man vorm Runtergehen einatmen, die Luft anhalten, lossprinten und so schnell es geht wieder hochlaufen, so sehr stinkt es hier. Vor allem nach Urin. Wobei ich nicht weiß, ob irgendwelche Nachbarn hier einfach reinpinkeln oder ob der Gestank von den Ratten kommt, die hier zu Dutzenden leben.
Ja, es gibt große, eklige Ratten, die den Keller erobert haben und sich von Jahr zu Jahr vermehren. Die älteren Kinder haben uns von Nachbarn erzählt, die durch die Ratten schwer verletzt worden sind. Sie haben uns eingebläut, dass die Nager einen anfallen und fiese Bisswunden zufügen können, wenn man in ihr Territorium eindringt.
Vor dem Haus können wir unsere Räder aber nicht stehen lassen. Dort würden sie sofort geklaut. Und mein Fahrrad ist wie ein Schatz für mich. Ich habe nicht viele wertvolle Sachen. Für mein Fahrrad mussten meine Eltern sehr hart arbeiten und lange sparen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als jedes Mal den Gruselkeller mit den Gruselratten zu stürmen. Selbst zu zweit wagen wir uns nicht die steilen, ausgelatschten Betonstufen hinunter. Nur wenn mein älterer Bruder Mutlu dabei ist, trauen wir uns zu dritt runter. Meist sind wir allerdings fünf Kinder, die laut schreiend und fest mit den Füßen aufstampfend, damit die Ratten Angst bekommen, in den Keller hinuntersteigen.
Zusammen mit meiner Familie wohne ich im vierten Stock des Hauses, ganz oben. Die Wohnung ist klein. Meine Schwestern Nese und Duygu teilen sich ein Zimmer. Ich schlafe zusammen mit meinem Bruder Mutlu in einem Raum. Er hat ein Bett. Ich nur eine Matratze, die wir morgens zur Seite räumen, damit wir ein bisschen mehr Platz zum Spielen haben. Privatsphäre gibt es nicht.
Eigentlich mag ich unsere Wohnung. Trotz des Gruselkellers. Meine Eltern haben versucht, sie so schön wie möglich einzurichten.
Was Modeexperte Guido Maria Kretschmer wohl zu Mutlus und meinem Outfit sagen würde?
Als ich später bei Rot-Weiss Essen spiele und es einen Fahrdienst gibt, der uns Kinder aus dem Umland abholt, schäme ich mich dann aber doch für mein Zuhause. Einige der anderen Kinder wohnen unglaublich schön, sie kommen aus schicken Einfamilienhäusern mit einem eigenen Garten davor. Mein Zuhause ist mir dagegen so unangenehm, dass ich dem Fahrdienst vom Verein eine falsche Hausnummer sage. Statt mich an der Bornstraße 30 abholen zu lassen, gehe ich ein paar Meter weiter und stelle mich auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor ein Gebäude, in dem es zumindest keine eingeworfenen Fensterscheiben gibt.
Aber eine größere Wohnung, in der wir Kinder alle ein eigenes Zimmer hätten, in einem weniger heruntergekommenen Haus, ist undenkbar.
Meine Mama schuftet auch so schon wie eine Wahnsinnige. Sie putzt in einer Schule, macht täglich Doppelschichten. Die erste von 7 bis 16 Uhr, dann noch mal von 19 bis 22 Uhr. Sie macht sich richtig krumm für uns Kinder. Doch ich höre sie nie jammern. Aber ich sehe ihr die Erschöpfung an. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, hält sie sich den geschundenen Rücken, dehnt ihn und streckt sich.
Sie opfert sich für uns auf. Sie putzt und putzt und putzt. Ihr Leben dreht sich nur darum, die Familie versorgen zu können. Dass sie ihr eigenes Leben dabei vollkommen vernachlässigt, scheint ihr egal. Mama hat keine Zeit für Hobbys. Und weil sie immer arbeiten muss, hat sie auch keine Zeit für uns.
Wenn ich aus der Schule nach Hause komme, steht kein fertig gekochtes Mittagessen auf dem Tisch. Ich habe keine Mama, die mir lächelnd die Tür öffnet, mir über den Kopf tätschelt und mich nach meinem Tag fragt. Sie ist auch nicht da, wenn ich Fragen zu den Hausaufgaben habe.
Meine Großeltern haben meine Mutter nach der neunten Klasse aus der Schule genommen. Sie musste arbeiten, um Geld für die Familienkasse hinzuzuverdienen. Den Luxus einer guten Ausbildung konnten sich weder meine Großeltern noch meine Eltern leisten. Und auch wir Kinder haben unter der Geldnot gelitten.
Deswegen war ich auch nicht im Kindergarten. Meine Eltern konnten sich einen solchen Platz dort für mich schlicht und ergreifend finanziell nicht erlauben. Genauso wenig, wie es später möglich war, mir oder meinen Geschwistern einen Nachhilfelehrer zu bezahlen.
Wenn ich nach der Schule nach Hause kam, war ich für mich selbst verantwortlich. Niemand kontrollierte meine Hausaufgaben, Gutenachtgeschichten zum Einschlafen gab es nicht. Taschengeld sowieso nicht. Woher auch. Mein Vater musste ebenfalls um jeden Cent kämpfen. Erst arbeitete er in einer Lederfabrik. Dann betrieb er eine Zeit lang eine Teestube, später einen Kiosk. Dann wieder eröffnete er einen Billardsalon, ehe er als Arbeiter zu den Opelwerken kam. Immer wieder erfand er sich neu, um sich und der Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. Zwischenzeitlich war er mehrfach arbeitslos, aber er kämpfte sich immer wieder zurück ins Berufsleben.
In unserem Haus wohnten insgesamt zehn Familien. Neun davon kamen aus dem Ausland. In der gesamten Bornstraße gab es so gut wie keine Deutschen. Wir Ausländer – ja, so habe ich mich als Kind gesehen – lebten quasi unter uns. Es war kein Miteinander, sondern ein Aneinander-vorbei-Leben zwischen uns Ausländern und den Deutschen.
Bis zu meinem vierten Lebensjahr habe ich nur türkisch gesprochen. Zu Hause sowieso immer. Aber auch sonst gab es für mich ja keine Berührungspunkte mit der deutschen Sprache. Weil ich nicht in den Kindergarten ging, kam ich gar nicht in die Verlegenheit, die Sprache lernen zu müssen.
Der Keller hieß für mich eben »bodrum«. Er war nicht dunkel, sondern »karanlık«. Und er löste nicht Angst, sondern »korku« bei mir aus. Vor allem wegen der »sıçan«, der Ratten. Statt »Guten Morgen« sagte ich »Günaydın«, wenn ich in der Frühe nach dem Aufstehen in die Küche kam.
Die Libanesen, mit denen wir kickten, passten sich uns Türken auf dem Bolzplatz an, auf dem wir in der Überzahl waren, und lernten unsere Sprache.
Bevor ich eingeschult wurde, kam ich ein Jahr lang in die Vorschule, die eigentlich dazu dient, den Übergang vom Kindergarten in die Grundschule zu erleichtern. In erster Linie aber ist sie eine Fördereinrichtung für Kinder, die noch nicht so weit sind.
99 Prozent aller Schüler dort waren Ausländer. Die Lehrer unterrichteten zwar auf Deutsch. Aber in den Pausen, auf dem Schulhof und auf dem Nachhauseweg redete natürlich niemand von uns in der fremden Sprache. Und so musste ich fast nie deutsch sprechen. Außer, wenn mich der Lehrer dazu aufforderte. Ich lernte die Sprache meines Geburtslandes im Schneckentempo. Den vier Stunden Deutsch, die ich während eines Schultags hatte, standen dreimal so viele Stunden Türkisch gegenüber.
Dieses Deutsch klang im Übrigen so komisch, so grob, so hart. Die Sprachmelodie ist ganz anders als im Türkischen. Außerdem verwirrte es mich, dass die Aussprache einzelner Buchstaben anders war. Auf Türkisch wird das »Z« wie ein »S« ausgesprochen, um nur einen Unterschied zu nennen.
Meine Grammatik war eine Katastrophe, ich würde sogar sagen, eine Vollkatastrophe. Meine Aufsätze habe ich ganz lange ohne Satzzeichen geschrieben. Wenn ich sie korrigiert zurückbekommen habe, war es eine einzige Frustration – überall rote Kringel und Kreise, überall Korrekturen und ständig stand am Seitenrand ein fettes »F« für Fehler. Das gleiche Ergebnis bei Diktaten. Ich wusste ganz lange nicht, was Artikel sind. Ob es der, die oder das Hund heißt, habe ich erst ganz spät kapiert.
Wenn ich früher Bücher in die Hand nehmen musste, um etwas vor der Klasse vorzulesen, war es eine Qual. Bücher haben mich überfordert. Was ich heute sehr schade finde. Denn ich weiß inzwischen, wie wichtig Bildung ist. Meiner kleinen Schwester Duygu habe ich immer und immer wieder geraten, unbedingt ihr Abitur zu machen. Als Erste überhaupt in unserer Familie. Und nicht nur das. Ich habe ihr immer gesagt: »Abitur allein reicht heutzutage nicht mehr. Du musst zu den Besten deiner Klasse gehören. Du musst lernen. Du musst dich reinhängen.« Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Duygu irgendwann studiert, ich würde ihr das Studium selbstverständlich bezahlen. Deshalb habe ich meinen heutigen Berater Dr. Erkut Sögüt, der mich zusammen mit meinem Bruder Mutlu vertritt, auch gebeten, ihr ins Gewissen zu reden und ihr zu erzählen, wie wichtig ein Studium ist. Dass das Studentenleben Spaß macht. Ich selbst kann ihr davon nicht vorschwärmen. Wie soll ich glaubwürdig für die Universität Werbung machen, wenn ich selbst nie einen Hörsaal von innen gesehen habe? Aber Erkut kann das. Er hat sich selbst aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet, hat Jura studiert und ist heute ein anerkannter Rechtsanwalt. Wenn er Duygu ermutigt, hat das viel mehr Gewicht als mein ständiges Gerede.
Meine Mutter Gulizar hat mich und meine Geschwister immer bedingungslos unterstützt.
Ich bedaure heute auch, dass meine Eltern nicht von klein auf Deutsch mit uns Kindern gesprochen haben. Ich mache ihnen keinen Vorwurf deshalb, weil ihre Entscheidung, zu Hause türkisch zu reden, ja keine böse Absicht war. Sie wollten uns nicht schaden. Türkisch war eben immer die Sprache, in der sich meine Eltern wohlgefühlt haben. In der sie sich mit unseren Nachbarn und Freunden unterhalten haben. In der sie sich ausdrücken konnten. Vor allem aber war Türkisch die Sprache ihrer Eltern. Sie waren selbst mit Türkisch aufgewachsen.
Meine Großväter sind beide Mitte der 1960er-Jahre nach Deutschland gekommen. Sie waren Zechenarbeiter in Zonguldak, einer Stadt an der türkischen Schwarzmeerküste. Allerdings arbeiteten sie für ganz wenig Geld, und auch nur, wenn es Bedarf gab. Jobs waren zu jener Zeit vor allem in den ländlicheren Regionen rar. Als Deutschland dann nach Gastarbeitern rief, ein Abkommen mit der Türkei schloss, dank dem mehrere Hunderttausend Türken zum Arbeiten einreisen durften, folgten auch meine Großväter den Lockrufen eines besseren Lebens. Almanya. Land der Arbeit. Land des Reichtums. Land der Verbesserung. Die Deutschen wollten meine Großväter haben. Sodass sie, auch wenn es ihnen schwerfiel, ihre Frauen und Kinder zurückließen und die Reise ins Unbekannte antraten. Arbeiten, sparen, reich zurückkommen, so lautete der Plan. Sie bekamen sogar eine Art Betriebsanleitung mit, damit sie in diesem für sie so fremden Land auch ja nichts Falsches machen würden. »Işçi olarak Almanya’ ya nasıl gidilir?«, lautete der Titel einer Broschüre, verteilt von den türkischen Behörden. »Wie geht man als Arbeiter nach Deutschland?« Darin hieß es: »Arbeitet fleißig und lernt schnell, was ihr noch nicht wisst. Haltet euch strikt an die Firmen-Verordnung eures Betriebes. Kommt pünktlich. Lasst euch nie krankschreiben, außer wenn es nicht anders geht.«
Meine Opas nahmen sich die Richtlinien zu Herzen. Sie arbeiteten gewissenhaft. Fleißig. Hart. Ohne zu jammern. Sie leisteten Akkordarbeit. Mit Erkältung und Rückenschmerzen. Jeder verdiente Pfennig, damals gab es noch nicht Cent und Euro, wurde gespart. Für die Familie und den Traum von einem besseren Leben. Obwohl Deutschland um Gastarbeiter warb, finanzierte man ihnen, zumindest meinen Opas, keine Sprachkurse. Um die Anweisungen im Betrieb zu verstehen, gab es Dolmetscher, die die Aufgaben erklärten. Die Notwendigkeit, selbst in einen Sprachkurs zu investieren, sahen meine Großväter nicht. Schließlich war es eigentlich nicht ihr Plan, langfristig in Deutschland zu bleiben. Und vor allem wollten sie Geld für ein besseres Leben in der Türkei verdienen und nichts ausgeben.
Später holten meine Opas ihre Frauen nach Deutschland nach. Und die brachten die Kinder mit, meine Mutter und meinen Vater, der damals zwei Jahre alt war.
Meine Großeltern vermissten das Meeresrauschen vor der Haustür, die Strände von Kapuz und Uzunkum, ihre Spaziergänge zu den Tropfsteinhöhlen von Gökgöl Mağarasi. Ihnen fehlte das Tuten der Schiffshörner bei der Einfahrt in den Hafen. Das Kreischen der Möwen. Frischer Fisch, den mein Opa von der Hafenmauer aus selbst gefangen hatte. Ihnen fehlten ihre langjährigen Freunde. Ihr vertrautes Leben. Doch die Sicherheit, die ihnen die hart verdiente D-Mark bot, war wichtiger, als der Sehnsucht nachzugeben.
So blieben meine Großeltern mit ihren Kindern in Deutschland. Und als mein Vater und meine Mutter alt genug waren, wurden sie, so wie es meine Opas einst ausgemacht haben, miteinander verheiratet. Meine Eltern hatten nicht das Glück, sich einfach so kennenlernen zu dürfen. Sie hatten keine ersten Dates. Mein Vater musste Mama nicht umgarnen, um sie für sich zu gewinnen. Sie waren füreinander bestimmt worden, so wie es früher Tradition war. Wobei meine Eltern, so kam es mir vor, immer liebevoll und sehr vertraut miteinander umgegangen sind.
Mein Vater und meine Mutter hatten sich und ihre Eltern. Sie hatten türkische Freunde und türkische Nachbarn. Wenn sie ausgingen, waren sie mit Türken unterwegs. Und dementsprechend brauchten sie fast kein Deutsch, um zurechtzukommen.
Daher dachten sie wohl, dass auch wir, mein Bruder Mutlu, meine Schwestern Nese und Duygu und ich, kein Deutsch brauchten.
Ich glaube, viele Familien haben damals aus Unwissenheit den Fehler gemacht, ihren Kindern nicht von Anfang an die Sprache des Gastlandes richtig beizubringen.
Für mich war jede Deutschstunde in der Schule dann lange Zeit wie ein Hürdenlauf. Ein Lauf, den ich nicht souverän bewältigt habe. Stattdessen bin ich an jeder Hürde hängen geblieben oder außer Tritt geraten. Oft bin ich nicht nur gestolpert, sondern hatte das Gefühl, dass die Ziellinie für mich unerreichbar ist.
Daher möchte ich jeden ermutigen, der in ein anderes Land kommt, ganz gleich woher: Nutzt die Chance, die jeweilige Sprache zu lernen. Sucht euch deutsche Freunde beziehungsweise welche aus dem entsprechenden Land. Achtet auf euer Umfeld. Lebt nicht isoliert und aneinander vorbei. Und vor allem: lest!
Nazan Eckes, die Fernsehmoderatorin, schrieb ein Buch über ihre Erfahrungen als in Deutschland geborene Frau mit türkischen Wurzeln, für das sie mich interviewte. Guten Morgen Abendland heißt es, und sie schreibt darin den wunderbaren Satz: »Mein Herz schlägt türkisch, mein Herz schlägt deutsch.« Eine tolle Botschaft, die ich für mich genauso in Anspruch nehmen kann. Zudem gilt für mich: Ich denke deutsch, aber ich fühle türkisch.
Wie oft habe ich in meinem jungen Leben die Frage gestellt bekommen, was ich sei. Türke? Oder Deutscher? Ob ich mich mehr türkisch fühle? Oder ob ich mehr deutsche Eigenschaften habe?
Ich mag diese Ausschließlichkeit nicht. Ich bin nicht nur das eine oder das andere. Ich habe ganz tolle türkische Freunde. Und genauso habe ich deutsche Freunde gefunden, die mir sehr viel bedeuten. Fabian, meinen ersten deutschen Freund, habe ich in der F-Jugend bei Westfalia kennengelernt. Er spielte meistens als Torwart und war Kapitän der Mannschaft.
Mit Jungs aus dem Libanon bin ich aufgewachsen, habe im Laufe meiner Karriere Freunde auf der ganzen Welt gefunden. Karim Benzema aus Frankreich. Sergio Ramos aus Spanien. Cristiano Ronaldo aus Portugal. Ich habe in London gelebt und in Madrid.
Ich empfinde es als großes Glück, dass ich mir das Beste aus der türkischen und deutschen Kultur aneignen durfte. Ich habe türkische Bräuche mitgemacht, ebenso wie ich deutsche Gewohnheiten ausprobiert habe.
Ein Beispiel: In meiner Kindheit gab es weder den Nikolaus noch das Christkind. Das sind beides keine festgelegten religiösen Feste in der Türkei. Dass man in Deutschland am 5. Dezember abends seinen Stiefel vor die Tür stellt und dann über Nacht Süßigkeiten bekommt, habe ich erst in der Schule erfahren. Ausprobiert habe ich es nie.
Auch den 24. Dezember haben wir nicht zelebriert. Allerdings habe ich später, mit Mitte zwanzig, meiner damaligen Freundin Mandy zuliebe ganz klassisch Weihnachten mit allem Drum und Dran gefeiert. Mit einem Weihnachtsbaum, den wir gemeinsam ausgesucht und geschmückt haben, mit Geschenken und einem großen Familienessen. Das war eine schöne Erfahrung.
Das gemeinsame Essen sowie die Geselligkeit und das Besinnliche an Heiligabend sind übrigens ein wenig mit dem türkischen Zuckerfest vergleichbar. Einer dieser religiösen Bräuche, die wir als Kinder mit unserer Familie gefeiert haben.
Das Zuckerfest findet immer im Anschluss an die dreißigtägige Fastenzeit statt. Die Familien kommen zusammen und feiern das Ende des Ramadan. Ein mehrtägiges Miteinander.
Heute schaffe ich es nicht zu fasten. Das ist für mich persönlich nicht mit meinem Job als Leistungssportler zu vereinbaren. Vor allem im Sommer ist es schwer, die sportlichen Strapazen zu bewältigen, wenn man von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang nichts essen darf. Auch Wasser und sämtliche anderen Getränke dürften wir dann nicht zu uns nehmen. Das geht in meinem Fall nicht. Ich bewundere und respektiere aber jeden anderen Leistungssportler, der während des Ramadan fastet.
Da sich der Ramadan, im Türkischen heißt es übrigens Ramazan, immer um zehn Tage nach vorne verschiebt, findet er jährlich zu einer anderen Zeit statt. Als ich vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, fand die Fastenzeit also im Winter statt. Die Sonne ging erst gegen sieben Uhr morgens auf. Und verschwand bereits gegen fünf Uhr nachmittags wieder. Diese zehn Stunden durchzuhalten ist natürlich deutlich einfacher als die bis zu sechzehn Stunden im Sommer. Vergangenes Jahr zum Beispiel, als der Fastenmonat während der Europameisterschaft in Frankreich stattfand, ging bei meinen Eltern in Gelsenkirchen die Sonne gegen halb sechs morgens auf. Der Sonnenuntergang war nach 21 Uhr.
Als Teenager habe ich allerdings schon mal gefastet. Allein aus Neugier probierten wir Kinder es aus. Wir wollten wissen, wie es ist, den ganzen Tag nichts essen zu dürfen. Natürlich fühlten wir uns auch irgendwie erwachsener dabei. Es war eine Mischung aus allem: Man wollte cool sein, weil man durchs Fasten zu den Großen gehörte, Kinder sind vom Fasten schließlich ausgenommen. Und natürlich hatte es auch etwas von Gruppenzwang. Nachmittags verbrachten wir viel Zeit bei Freunden oder mit der Verwandtschaft. Man wäre sich blöd vorgekommen, wenn man sich als Einziger in der Runde den Bauch vollgeschlagen hätte, während alle anderen sich brav enthielten.
Meine Eltern haben uns nie zum Fasten gezwungen. Sie überließen es uns selbst, ob wir den Ramadan begehen oder nicht. Zwei-, dreimal habe ich es ausprobiert. Einmal habe ich fünf Tage gefastet, einmal habe ich sogar zehn Tage durchgehalten.
Ich weiß noch, wie ich mich beim ersten Mal völlig übermüdet aus dem Bett in die Küche geschleppt habe. Der Frühstückstisch war rappelvoll gepackt. Meine Eltern hatten gekocht wie die Weltmeister, sodass wir uns in der »sahur«, wie die Essenszeit vor der Morgendämmerung heißt, richtig den Bauch vollschlagen konnten.
Fasten heißt allerdings nicht nur, dass man nichts essen darf, sondern man darf zum Beispiel auch nicht fluchen oder sich unsittlich verhalten. Die Zeit des Fastenbrechens heißt »iftar«. Der Ablauf ist immer der gleiche. Zunächst wird ein kurzes Gebet gesprochen, dann isst man eine Dattel und trinkt Wasser.
Ich musste mich nie groß dafür rechtfertigen, dass ich nicht regelmäßig gefastet habe. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, jemals deshalb Vorwürfe von Türken bekommen zu haben. Und genauso wenig habe ich Erfahrungen mit Deutschen gemacht, die über fastende Muslime die Nase rümpften.
Im Rückblick kann ich sagen: Meine Kindheit mit all ihren Erlebnissen zwischen den Kulturen war entscheidend für meine gesamte Karriere. Das Bewusstsein, in unterschiedlichen Traditionen beheimatet zu sein, hat mir geholfen, mit den vielen ungewohnten Eindrücken klarzukommen, die die diversen Vereinswechsel stets mit sich brachten.
Von besonderer Bedeutung für meinen Weg war außerdem meine Mutter. Ich war immer beeindruckt davon, wie hart sie gearbeitet hat. Wie sie alles opferte, um uns Kindern in diesem für sie fremden Land ein besseres Leben zu ermöglichen, und wie liebevoll sie trotz des harten Alltags mit uns umging. Unbewusst hat mich das schon früh gelehrt, dass man nur durch sehr viel Arbeit etwas erreichen kann. Vor allem aber hat mich die aufopfernde Liebe meiner Mutter für uns Kinder und die Familie motiviert, ihr etwas zurückzugeben. Ich wollte etwas Großes leisten, damit sie stolz auf mich ist und das Gefühl hat, nicht umsonst geschuftet zu haben.
Früh übt sich: Auch ohne die perfekten Sportklamotten lässt sich gut kicken. Hauptsache gute Freunde, ein Ball und zwei Tore.
Meine Karriere als Fußballer nahm keinen geraden Weg. Das hing auch mit meiner Herkunft zusammen. Ich bin zwar nie als Kanake beschimpft worden, allerdings als »Ausweis-Deutscher«, vom NPD-Pressesprecher Klaus Beier, der wegen seiner Beleidigung auch eine Anzeige erhielt. Eine weitere ausländerfeindliche Erfahrung machte ich als Jugendspieler. Und die hat mich lange geprägt. Zwischen meinem zehnten und zwölften Lebensjahr versuchte ich mehrfach, durch Probetrainings in eine Jugendmannschaft von Schalke 04 zu kommen. Die dortige Förderung ist viel umfassender als bei kleinen Vereinen, weil diese nicht über die finanziellen Mittel für eine umfangreiche Nachwuchsarbeit verfügen.
Erst hatte ich es während meiner Zeit bei Teutonia Schalke probiert, dann, während ich bei DJK Falke Gelsenkirchen spielte. Viermal fuhr ich bis in die Haarspitzen motiviert zu den Auswahllehrgängen.
Ich dribbelte mich leichtfüßig durch die aufgestellten Slalomstangen. Ich ballerte dem Torwart die Bälle nur so um die Ohren. Und machte nach meinem Empfinden in den Abschlussspielen ziemlich viel richtig. Trotzdem gehörte ich nie zu denjenigen, die für Schalkes E- oder D-Jugend ausgewählt wurden. Es kam mir so vor, als würden ein Matthias oder Markus oder Michael, auch wenn sie nie besser waren als ich, immer bevorzugt ausgewählt. Haben sie mich also wegen meines Vornamens nicht genommen? Weil sie einen Mesut nicht wollten? Weil ich Ausländer war? So kam es mir jedenfalls vor.
Auch mein Vater hat es so empfunden. Als ich wieder einmal nicht ausgewählt wurde und wir traurig nach Hause fuhren, fragte ich ihn, was ich besser machen könne. »Papa, sag es mir, was habe ich falsch gemacht?« Aber er erwiderte nur: »Nichts mein Sohn. Du kannst ja nichts für den Namen, den du von deiner Mutter und mir bekommen hast.«
Doch nicht nur mein Name stand mir oft im Weg. Auch unsere finanzielle Situation machte es nicht einfacher. Wie zum Beispiel damals, als ich für Rot-Weiss Essen spielte, meinem Jugendverein nach Falke Gelsenkirchen. Bevor ich zu dem Klub wechselte, haben die Jungs eigentlich immer gegen Schwarz-Weiß Essen verloren. Es war zumeist eine klare Sache: Rot-Weiss fuhr hin und bekam eine Packung. Doch nach meinem Wechsel im Jahr 2000 änderte sich das. In meinem ersten Derby erzielte ich sieben Tore gegen den Konkurrenten! Rot-Weiss gewann völlig unerwartet mit 8:1 gegen Schwarz-Weiß. Mein erster Derby-Sieg.
Doch im nächsten Spiel saß ich auf der Bank. Für meine Leistung wurde ich nicht belohnt, sondern bestraft. Die Eltern eines Mitspielers hatten dafür gesorgt: Ihr Junge spielte nun für mich, denn schließlich, so erfuhren wir später, unterstütze sein Vater Rot-Weiss Essen finanziell. Und offenbar war das wichtiger als Tore, die zu Siegen führten.
Der Konflikt hielt allerdings nicht lange an. Nach ein paar Wochen war der Trainer dann doch davon überzeugt, dass Tore entscheidender sind als ein Satz Trikots für die Mannschaft.
Fabian Maraun, meinen ersten deutschen Freund, habe ich in der F-Jugend bei Westfalia 04 kennengelernt. Er hockt neben mir, mit Kapitänsbinde.
Zudem bekam ich große Unterstützung von Vereinslegende Werner Kik. Der hatte zwischen 1960 und 1970 293 Spiele für Rot-Weiss Essen bestritten und wurde sogar in die Jahrhundertelf des Vereins gewählt. Kik kaufte mir meine ersten echten Fußballschuhe. Bis dahin hatte ich immer in Billigmodellen spielen müssen. In ausgelatschten Tretern mit Löchern, in denen ich gar keinen stabilen Halt hatte. Doch nun besaß ich mit zwölf Jahren richtige Nike-Schuhe. Sie waren mein Ein und Alles und lösten meinen bisherigen wertvollsten Besitz in Sachen Sport ab, einen Lederfußball, den ich zu meinem achten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Jeden Abend rieb ich den mit Lederpflegemittel ein und putzte ihn stundenlang. Jeder einzelne Kratzer, den mein Ball abbekam, tat mir weh. Und er bekam viele ab, weil der Affenkäfig, so hieß der Fußballplatz in Gelsenkirchen, auf dem wir kickten, ein Ascheplatz war, der dem groben Leder von früher arg zusetzte. Als mein Ball zu zerkratzt war, zog ich die einzelnen Leder-Rechtecke mühevoll ab, und wir spielten nur noch mit der Blase.
Die Sache mit Schalke und den vermeintlichen Vorurteilen gegenüber ausländischen Spielern arbeitete noch längere Zeit in mir. Doch dann, in meinem dritten Jahr bei Rot-Weiss Essen, lernte ich Norbert Elgert kennen. RWE hatte mir das Angebot unterbreitet, mich zum Profi zu machen. Mit nur fünfzehn Jahren sollte ich einen entsprechenden Vertrag bekommen und für die Zweitliga-Mannschaft der Essener spielen. Für rund 4.000 Euro monatlich, wenn ich mich richtig erinnere. Das war richtig viel Geld für mich und meine Familie. Damit hätte sich unser Leben von einem auf den anderen Tag vollkommen verändert. Bis dahin bekam ich schließlich »nur« 150 Euro monatlich, was für mich aber auch schon viel war. Zudem hatte Werner Kik durchgesetzt, dass ich bereits als D-Jugendspieler von zu Hause abgeholt und die zwanzig Kilometer zum Training gefahren wurde. Ansonsten stand dieser Service nur B- und A-Jugendspielern zur Verfügung. Einer der Fahrer konnte diese Ausnahme, die der Verein für mich machte, nicht verstehen und schimpfte anfangs: »Muss ich jetzt schon den Kindergarten chauffieren?«
Doch wir lehnten den angebotenen Profivertrag ab. Wegen Norbert Elgert.
Ich ging damals auf die Gesamtschule Berger Feld, direkt unterhalb der Arena auf Schalke gelegen. Zu den Trainingsplätzen muss man nur einmal quer über die Straße gehen. Und genau darin lag das Besondere. Die Schule ermöglicht und fördert nebenher eine sportliche Ausbildung. Dreimal die Woche hatten wir Fußballtalente statt Mathe, Englisch oder Kunst am Vormittag zusätzliches Training. Den versäumten Stoff konnten wir dank eines flexiblen Stundenplans mit Kompensationsunterricht nacharbeiten, der meist mit Nachhilfelehrern am Nachmittag durchgeführt wurde.