Die Magie des Zehnkampfs. Der deutsche Weltmeister über die Königsdisziplin der Leichtathletik - Niklas Kaul - E-Book

Die Magie des Zehnkampfs. Der deutsche Weltmeister über die Königsdisziplin der Leichtathletik E-Book

Niklas Kaul

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der Zehnkampf, die Königsdisziplin der Leichtathletik, ist einer der spektakulärsten olympischen Wettbewerbe: Zwei Tage lang laufen, werfen und springen die besten Athleten der Welt in den klassischen Disziplinen wie Diskuswerfen, Hochsprung oder Hürdenlauf um die Wette. Alleskönner, die stets mit der Gefahr des Scheiterns leben müssen. Typen, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber immer im fairen Wettstreit miteinander bleiben. Dieses Jahr im Mittelpunkt: Niklas Kaul. Weltmeister, Europameister – und bald Olympiasieger? Gemeinsam mit dem Sportjournalisten Achim Dreis erklärt der deutsche Topathlet die Magie dieses einzigartigen Wettkampfs, von innen und außen. Die beiden beleuchten die Hinterbühne einer ganz besonderen Szene, erklären Strategien, Trainingsmethoden und Punkte-Wertungen, beschäftigen sich mit den unglaublichen mentalen und physischen Herausforderungen des Zehnkampfs. Mit exklusiven Einblicken von einem der besten deutschen Zehnkämpfer. Und Erinnerungen an Helden von einst, deren Strahlkraft bis heute reicht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 280

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

DER ZEHNKÄMPFER

DER ZEHNKAMPF

DIE ZEHNKÄMPFER

MEHR ALS ZEHNKAMPF

EpilogFrank Busemann: „Zehnkampf ist geil“

DER ZEHNKÄMPFER

Der Moment

München, 16. August 2022, Leichtathletik-Europameisterschaften. Zehnkampf, Tag zwei, die neunte Disziplin. Ein lauer Sommerabend, kurz nach 20 Uhr. Niklas Kaul tritt an zum Speerwerfen. Es ist sein dritter Versuch.

Er trippelt ein paarmal auf der Stelle. Über den Ellenbogen seines rechten Wurfarms trägt er eine schwarze Armmanschette. Noch einmal animiert er das Publikum. Dann läuft er an, dreizehn, vierzehn Bodenkontakte, Stemmschritt, ein mächtiger Hieb – und kaum dass er den Speer auf seine Flugbahn geschickt hat, bricht Niklas Kaul in Jubel aus. Im Moment des Abwurfs weiß er, dieser Versuch ist richtig gut. Und tatsächlich: Einstich deutlich hinter der 75-Meter-Marke. Es ist mit Abstand der beste Wurf des Abends. Wahnsinn.

Die Anspannung bricht sich Bahn. Mit weit ausgebreiteten Armen rast er los, dreht eine halbe Ehrenrunde. Mit diesem entscheidenden, phänomenalen Wurf prescht Niklas Kaul in der Gesamtwertung auf den Bronzerang vor und hat Silber so gut wie sicher – sogar Gold ist in greifbarer Nähe. „Oh, wie ist das schön!“ 40 000 Leichtathletikfans im Olympiastadion im Freudentaumel.

76,05 Meter ergibt die Weitenmessung. Ein fantastisches Ergebnis für einen Zehnkämpfer. Vor dem abschließenden 1500-Meter-Lauf hat Kaul damit umgerechnet nur noch 27 Sekunden Rückstand auf den Schweizer Simon Ehammer, den Gesamtführenden bei dieser EM. Das ist zu schaffen!

Denn: Zehnkampf ist nicht nur laufen, werfen und springen, sondern auch kopfrechnen. Permanente Leistungsvergleiche. Reell und virtuell. Was war und was kommt? Wer hat wie weit geworfen? Wer kann wie schnell rennen? 27 Sekunden mögen wie eine Ewigkeit klingen, aber Niklas Kaul weiß, er kann diese Zeit herausholen.

Die Gegensätze

Des einen Lieblingsdisziplin ist des anderen Fluch. Ehammer wirft den Speer an diesem Abend lediglich 53,46 Meter weit, also über 20 Meter weniger als Kaul. Und das ist für seine Verhältnisse noch ziemlich gut. Ehammers Bestwert liegt bei 55,98 Metern.

Und erst recht sind die 1500 Meter auf der Bahn nicht Ehammers Sache. Im Gegensatz zu ihm läuft Kaul über diese Distanz so schnell wie kaum ein anderer Zehnkämpfer. Ehammers Bestzeit liegt bei 4:42,52 Minuten, die von Kaul bei 4:15,70, gelaufen bei seinem WM-Triumph 2019. 27 Sekunden, tatsächlich. Gold scheint möglich. Zwei Konkurrenten um einen Titel, aber so gegensätzliche Typen. Das gibt es nur im Zehnkampf.

Ehammers Leistungskurve verläuft in diesem 2-Tages-Vergleich genau entgegengesetzt zu der von Kaul. Der Schweizer gehört zur Klasse „Sprinter-Springer“. Er ist 1,84 Meter groß, aber keine 80 Kilogramm schwer. Seine besten Disziplinen stehen zu Beginn des ersten Tages auf dem Programm. Die 100 Meter sprintet er in phänomenalen 10,5 Sekunden. Erst recht im Weitsprung kann Ehammer es mit den Spezialisten aufnehmen. 8,45 Meter ist seine Weite im Frühsommer 2022 in Götzis: Das ist Weitsprungweltrekord für Zehnkämpfer! Auch das: Wahnsinn.

1178 Punkte erhält Simon Ehammer für seine Weitsprungleistung. Bei einer persönlichen Bestleistung von 8468 Punkten macht das fast 14 Prozent der Gesamtpunktzahl aus.

Niklas Kaul dagegen, 5 Zentimeter größer und 10 Kilo schwerer, muss sich bei den Schnellkraftdisziplinen quälen. Er braucht länger, um in den Flow zu kommen. Seine Stunde schlägt aber am Ende des zweiten Tages.

Der Endspurt

Neun Disziplinen lang führt Simon Ehammer das Feld der Zehnkämpfer bei dieser Europameisterschaft an. Doch nach der zehnten Prüfung steht Niklas Kaul ganz oben. Eine atemberaubende Aufholjagd, die ihn an diesem Augustabend 2022 den Sieg beschert. Das Olympiastadion steht Kopf, als er spätabends, es ist 21:45 Uhr Ortszeit, den 1500-Meter-Lauf von vorn angeht und in persönlicher Bestzeit gewinnt. Er startet unwiderstehlich, schnell, schüttelt alle Gegner ab – und hält sein Tempo bis zum Ende durch. „Es gab ein Konzept“, sagt er nach dem Lauf, „aber es hat nicht funktioniert.“

Denn er unterbietet seine geplante Durchgangszeit für 1000 Meter um 5 Sekunden. Das hätte auch schiefgehen können. Aber das Publikum peitscht ihn nach vorn. Vor dieser Kulisse steigert er sich in einen Rausch: „Lauf, lauf, lauf – ein Schritt nach dem nächsten, irgendwann kommst du an …“

Die Uhr stoppt bei 4:10,04 Minuten. Noch einmal: Wahnsinn!

Kaul gibt zu Protokoll:„Wenn man fest wird, wirds langsam. Ich musste also zwanghaft locker bleiben. Die letzte Runde ist zwar hart, aber 300 Meter gehen immer.“ Letzteres ist seine goldene Laufregel. Mit 8545 Punkten krönt er sich in München zum König der Leichtathleten in Europa, der nächste Schritt einer atemberaubenden Karriere. „Dieser Titel ist noch viel mehr wert als der WM-Titel vor drei Jahren.“2019 war Niklas Kaul Weltmeister geworden.

Die Stimmung in München ist unbeschreiblich. Der Funke der Begeisterung springt vom Athleten zu den Zuschauern und von diesen wieder zurück. „Mir sind fast die Ohren weggeflogen“, sagt der Sieger im Rückblick, „es war einfach der Wahnsinn.“ Ehammers Vorsprung vom ersten Tag schmilzt von Disziplin zu Disziplin, bis am Ende nichts mehr davon übrig ist. Der Schweizer schleppt sich nach 4:48,72 Minuten als Letzter ins Ziel, 38 Sekunden nach Niklas Kaul. In der Endabrechnung reicht es aber für die Silbermedaille – mit Schweizer Rekord: 8468 Punkten. (Zehnkampf ist immer auch Mathematik …)

Gold fürs Publikum

„Nach dem Stabhochspringen habe ich nicht mehr an die Goldchance geglaubt. Aber nach der Mittagspause sagte ich mir: Gut, die Goldchance mag weg sein, aber in den letzten beiden Disziplinen will ich den Zuschauern wenigstens eine Show bieten.

Man hat es mir, glaube ich, beim Speerwurf angemerkt, was für ein Stein mir vom Herzen gefallen ist. Ich kanns ja noch mit dem Speer, dachte ich nur. Und dann war sie plötztlich doch wieder da, die Chance auf Gold.

Über die 1500 Meter wollte ich mit einer 69er-Runde anlaufen, dann wäre ich bei 1000 Metern so bei 2:52 Minuten angekommen und hätte das Tempo langsam anziehen können. Aber dann waren es 2:47 Minuten, und da wusste ich: Die letzten 400 Meter werden hart. Wenn das Publikum mich nicht getragen hätte …

In der letzten Runde kreiste nur noch ein Gedanke in meinem Kopf: Laufen, laufen, laufen. Einen Schritt nach dem anderen setzen, irgendwann ankommen. An die letzten 100 Meter kann ich mich nicht mehr erinnern. Aber dann die Ehrenrunde mit den anderen Zehnkämpfern: So etwas habe ich noch nicht erlebt. Das war etwas ganz, ganz Besonderes.“

Ziemlich beste Konkurrenten

Nach dem 1500-Meter-Lauf verharren Kaul und Ehammer Arm in Arm auf der Bahn, in Erwartung des Gesamtergebnisses, das sie in diesem Moment noch nicht überblicken. Kameras fangen das Konkurrentenpaar ein. Niklas Kaul bezeichnet diesen Augenblick als einen der schönsten des Wettkampfes. Nicht nur Ehammer und er liegen sich in den Armen. Alle Zehnkämpfer bilden irgendwie ein Team. Das ist der Spirit des Zehnkampfs.

Niklas Kaul, geboren am 11. Februar 1998 in Mainz, und Simon Ehammer, geboren am 7. Februar 2000 in Stein im Kanton Appenzell Ausserrhoden, sind herausragende Vertreter einer neuen Generation. Sie sind so professionell wie lässig; dazu ehrgeizig und doch großzügig, sie gönnen sich gegenseitig ihre Erfolge. Sie duellieren sich, aber sie schätzen und respektieren sich. Was sie alle vereint, ist die Leidenschaft für den Zehnkampf, die härteste Disziplin in der Leichtathletik.

Am 27. April 2023 erhalten die beiden den Fair-Play-Preis des deutschen Sports, überreicht in Schloss Biebrich. „Ihr seid ziemlich beste Konkurrenten“, sagt Thomas Weikert, Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, in seiner Laudatio.

Können sie so locker miteinander umgehen, gerade weil sie so unterschiedlich sind? Tatsache ist, dass sie sich gegenseitig zu Höchstleistungen antreiben, ohne ihre Bestmarken dem anderen zu neiden. Sie verharren gemeinsam vor der Ergebnistafel, und einer gönnt dem anderen den Sieg.

In Zeiten eines ellenbogengeprägten Konkurrenzdenkens, im Sport wie im richtigen Leben, ist das offenbar so selten, dass Kaul und Ehammer für ihre Geste ausgezeichnet werden. Für sie ist es eine Selbstverständlichkeit. „Ich freue mich sehr über den Preis“, sagt Kaul nach der Auszeichnung, „wundere mich aber auch.Der Preis an uns ist stellvertretend für unsere Sportart zu sehen. Es geht nur miteinander.“

Will sagen, alle, die die Prüfung Zehnkampf bestehen, sind Sieger. Das ist Kauls Credo. Die Ehrenrunde laufen die Athleten nach zwei Tagen, die sie im Stadion mit- und nebeneinander verbracht haben, traditionell gemeinsam, als Freunde fürs Leben. In München gestaltete sich diese Tour d’Honneur besonders emotional, denn neben dem neuen Champion wurde auch der entthronte König gefeiert: Alle Athleten standen Spalier für den Schwaben Arthur Abele, den Europameister von 2018, der diesmal mit 7662 Punkten den letzten Platz belegte – aber immerhin noch einmal einen Zehnkampf beenden konnte. Stehende Ovationen sowohl für den abgehängten Abele als auch den Ersten: Das gibt es vielleicht nur im Zehnkampf.

Die Würdigung im Kleinen speist sich aus der Haltung im Großen: „Zehnkampf ist die Teamsportart der Leichtathletik“, sagt Kaul. „Man baut sich gegenseitig auf“, ergänzt Ehammer. In jedem Wettkampf komme man irgendwann an den Punkt, an dem es einem schlecht gehe und die Gefahr des Ausscheidens drohe. „Wenn du dann niemanden hast, der dir hilft, machst du das nicht lange“, sagt Kaul.

Der Fair-Play-Preis ist nicht die einzige Ehrung, die Niklas Kaul für seine mitreißende Darbietung im Münchner Olympiastadion erhält. Am 18. Dezember 2022 gewinnt er in Baden-Baden die Wahl zu Deutschlands Sportler des Jahres. Der Ritterschlag.

Die Laudatio

Emma Kaul, Jahrgang 2006, hat bei der Gala im Kurhaus von Baden-Baden ihren großen Auftritt. Vor über 500 geladenen Gästen im festlichen Ballsaal und vor rund drei Millionen Zuschauern vor den Fernsehern tritt die damals Sechzehnjährige im schwarzen Gala-Outfit auf, um ihren großen Bruder zu ehren. Ein Manuskript hat sie nicht dabei. Sie spricht frei – und hat sich den Text für ihre Rede erst zehn Minuten vorher überlegt.

„Ich glaube, du bist genauso überrascht, wie ich es vor vier Tagen war, als die Mama mich angerufen und gefragt hat: ‚Emma, willst du deinem Bruder bei der Ehrung zum Sportler des Jahres 2022 eine Laudatio halten?‘ Ich habe gesagt: ‚Äh, mhm, okay!‘ Wie ist es, als kleine Schwester zu sagen, man sei stolz auf den großen Bruder? Das geht eigentlich gar nicht. Aber was ich sagen kann: Für unsere Generation bist du ein wahnsinniges Vorbild. Und nicht nur für das, was du im Sport machst, sondern die Art Mensch, die du auch bist. Und die du uns auch jeden Tag im Training zeigst. Mit deiner Hilfsbereitschaft. Und zu zeigen, wie du es gelernt hast, wie du uns immer weiterhelfen kannst. Und mit deiner Großzügigkeit. Was ich sagen kann: dass ich super stolz bin und super dankbar, dass ich dir diesen Preis heute verleihen darf. Weil: Dir habe ich es zu verdanken, dass ich auf dem Sportplatz aufgewachsen bin. Und in Handballhallen. Danke!“

Familienangelegenheit

Emma Kaul rundet mit ihrer Rede die Familienangelegenheit ab, denn die sportlichen Kinder werden von ihren Eltern Stefanie und Michael Kaul trainiert. Dass die Familie in Baden-Baden komplett anwesend ist, weiß Niklas Kaul nicht. Er wähnt sie „zu Hause auf dem Sofa“.

Denn er hat seinen Vater noch nie in einem Anzug gesehen. „Wenn man einen Anzug braucht, komme ich nicht“, ist ein Standardsatz von Vater Michael. Und bislang hat er tatsächlich noch keine Veranstaltung besucht, bei der diese Kombination vorgeschrieben ist.

Die Kauls sind eine Leichtathletikfamilie durch und durch. Mutter Stefanie Kaul, geborene Zotter, Jahrgang 1971, war 1991, 1994 und 1995 österreichische Meisterin über 400 Meter Hürden. Ihre Bestmarken über 400 Meter flach (54,69 Sekunden) und Hürden (57,27 Sekunden) werden noch heute in der Liste der Landesrekorde der Steiermark geführt. Stefanie Zotter kommt als Sportstudentin nach Mainz, wo sie ihren späteren Mann Michael kennenlernt – auch er ein Hürdenläufer über die Stadionrunde und 1993 sogar Deutscher Meister. Niklas’ Eltern heiraten 1997. Im Februar 1998 kommt Niklas zur Welt. Und kaum dass er anfängt zu laufen, ist er auch schon ein Sportler.

„Ich bin auf dem Sportplatz und in der Turnhalle aufgewachsen. Es gibt schlimmere Orte. Ich habe mit fünf Jahren mit Handball angefangen und mit sechs mit der Leichtathletik. Meine Freunde aus dem Kindergarten und der Grundschule haben das auch so gemacht. Und gemeinsam macht das ja auch mehr Spaß.

Meine Eltern haben mir eigentlich immer die Freiheit gelassen und mich zu nichts gedrängt. Handball? Leichtathletik? Sport auf Leistungs- oder doch lieber Freizeitniveau? Es war gut, dass ich immer die freie Entscheidung hatte, das zu machen, was mir am meisten Spaß macht.

Wenn man von den Eltern in irgendeinen Bereich gedrängt wird, funktioniert es nicht. Natürlich möchten sie ihre Faszination für ihren Sport oder was es ist an ihre Kinder weitergeben. Mein Weg war schon ein bisschen vorgezeichnet, aber niemals so, dass meine Eltern gesagt haben: Du musst jetzt Leichtathletik machen! Es war meine eigene Entscheidung, die ich bis heute nicht bereue.“

Stefanie und Michael Kaul teilen sich ihre Trainertätigkeit in Mainz als Nebenjob. Beide sind hauptberuflich Lehrer – sie arbeitet als stellvertretende Leiterin einer Gesamtschule, er ist als Referatsleiter im Bildungsministerium von Rheinland-Pfalz. Dass Niklas ein Lehramtsstudium (Sport und Physik) gewählt hat, ist sozusagen naheliegend.

Zur Trainingsgruppe Kaul gehört neben Niklas und Emma auch Mareike Rösing. Die aus Lübeck stammende Siebenkämpferin ist Niklas’ Freundin. Kennengelernt haben sie sich vor seinem WM-Triumph bei einer Juniorenmeisterschaft – seit 2019 wohnen sie zusammen in Mainz.

„Wir wollten da sein“

„Es war nicht geplant“, sagt Michael Kaul über den Familienbetrieb mit weltmeisterlichem Ertrag. Er erinnert sich an die Anfänge seiner Trainertätigkeit bei seinem Heimatverein in Saulheim unweit von Mainz. „Wir wurden gefragt, ob wir Zeit haben.“ Damals ist Niklas sechs Jahre alt. Nach kurzer Überlegung kommen die Kauls auf die Formel: „Zweimal pro Woche können wir.“ Wenn nicht ehemalige Leichtathleten das Training übernehmen, so ihr Gedanke, wer dann? „Und dann wurde das immer mehr.“

Ein erster Umbruch steht an, als Niklas Kaul als Jugendlicher von Saulheim nach Mainz wechselt. „Wir haben angeboten, dass wir das Training bei Bedarf übernehmen können“, erinnert sich Stefanie Kaul. „Aber wir hatten keinen Plan“, ergänzt Michael Kaul. „Wir wollten einfach da sein.“ Und so kommt es dann.

Die Kauls bieten von Anfang an Leichtathletik als Wettkampfsport für Jugendliche an. Es geht immer auch darum, sich zu messen: „Das ist das, was Spaß macht und die Kinder weitermachen lässt“, sagt Michael Kaul, das gelte für Jungs und Mädchen gleichermaßen. Was als Erfolg gesehen wird, ist dabei immer individuell unterschiedlich. Der eine freut sich über einen Kreismeistertitel, die andere ist geknickt, wenn sie bei deutschen Meisterschaften Zweite wird.

„Wirklich gut sein“

Herausragend innerhalb der Gruppe ist der Sohn des Trainerpaars – von Anfang an: „Ich würde schon sagen, Niki hat früh für sich erkannt, dass er das wirklich will“, erinnert sich Stefanie Kaul an den Ehrgeiz ihres Sohnes. „Er hat neben dem Handball begonnen stabzuspringen – das war etwas, was ihn sehr gereizt hat. Das hat er bereits früh ziemlich konsequent trainiert.“

Irgendwann entscheidet sich Niklas, mit dem Handballspielen aufzuhören und sich ganz auf die Leichtathletik zu werfen. Von nun an gilt seine gesamte Konzentration nur dieser, ein Schritt, der die Voraussetzung für die Karriere ist. Hinzu kommt: Neben der Begabung sind auch der Wunsch und der Wille da, das eigene, sich abzeichnende Talent auszuschöpfen.

Stefanie Kaul erinnert sich an diese entscheidende Phase: „Niklas hat schon mit dreizehn den Entschluss gefasst, gut sein zu wollen in dem, was er macht, und das war der Mehrkampf. Er hat immer schon Ziele für sich definiert und sich ausgerechnet, was er erreichen will, und diese Punktzahl stand in seinem Kopf.“ Seine Eltern haben auch ein klares Ziel: „Es ging darum, ihn darin zu bestärken, was er wirklich will.“ Der Plan geht auf.

Die Ehrung

Dass Niklas Kaul von den deutschen Sportjournalisten zum Sportler des Jahres 2022 gewählt wird, ruft nicht nur Anerkennung, sondern auch Verwunderung hervor. Auch bei ihm selbst: Er hatte damit nicht gerechnet. Schließlich ist er „nur“ Europameister, während andere Athleten im Saal als Olympiasieger geladen sind.

Zum Beispiel Francesco Friedrich, Olympiasieger von Peking mit dem Zweier- und Viererbob. Doch Friedrich und sein Team werden bei der Wahl nur Vierte. Rodel-Olympiasiegerin Natalie Geisenberger wird Dritte bei den Sportlerinnen und Vinzenz Geiger, Goldmedaillengewinner in der nordischen Kombination, kommt auf Rang zwei bei den Männern, hinter Niklas Kaul.

Es ist unmöglich, die verschiedenen Leistungen zu vergleichen, weiß Niklas Kaul. Tatsache ist: Er erhält 1256 Stimmen, Vinzenz Geiger 871, Schwimmweltmeister Florian Wellbrock 761.

Niklas Kaul vermutet drei Gründe, warum es die Wintersportler in der öffentlichen Meinung so schwer hatten: die Zeitverschiebung von sieben Stunden, weshalb die Peking-Spiele hierzulande nicht ohne Weiteres zu verfolgen waren; die politische Situation und der wirtschaftliche Gigantismus in China; und schließlich machte es Corona noch komplizierter – es waren keine Zuschauer zugelassen, die Winterspiele in den chinesischen Mondlandschaften, die wenig bis keinen olympischen Geist verströmten, hinterließen einen tristen Eindruck. „Dadurch konnte Begeisterung einfach nicht aufkommen.“

Dazu kam umgekehrt: „Wir hatten mit München einfach Glück.“ Die European Championships, in die auch die kontinentalen Leichtathletiktitelkämpfe integriert waren, überzeugten mit neun gleichzeitig ausgetragenen Europameisterschaften in einer Stadt. Die Leichtathletik-EM im Olympiastadion bildete das Herzstück dieser Wettkämpfe, die als stimmungsvolle Sportveranstaltung mit einem begeisterungsfähigen Publikum durchaus an die Olympischen Sommerspiele 1972 in der bayerischen Hauptstadt erinnerten.

Herausragende Vorstellungen, die Begeisterung des Publikums, eine grandiose Stimmung – so lief es wunderbar. Sport ist eben mehr als Zahlen und Medaillen. Insbesondere die Leichtathletik profitierte davon.

Ohne dass es ihm bewusst war, erfüllte Niklas Kaul die Rolle des Türöffners. Denn der Zehnkampf war von den Organisatoren der EM für die beiden Auftakttage terminiert worden – in der Hoffnung, dass für die Gastgeber ein doppelter Ertrag herausspringt: Medaillen und die dadurch aufkommende Begeisterung, die, einmal geschürt, bis zum letzten Tag anhält und die Veranstaltung trägt. Dass neben Niklas Kaul keine Stunde später auch noch Gina Lückenkemper den 100-Meter-Sprint der Frauen gewann, machte diesen Dienstagabend zu einer Sternstunde der deutschen Leichtathletik.

Folgerichtig wurde Lückenkemper Sportlerin des Jahres 2022. Die schnellste Frau des Kontinents und der König der Athleten – ein Traumpaar und ein Traumerfolg für die deutsche Leichtathletik.

Totgesagt und quicklebendig

Dass die Leichtathletik in Deutschland plötzlich wieder so sehr gefeiert wurde, nachdem sie wenige Wochen zuvor wegen enttäuschender Leistungen der DLV-Athleten bei den Weltmeisterschaften in Eugene noch heftig kritisiert worden war, zeigt, wie groß die Aufmerksamkeit ist, die ihr zukommt, wie viel Emotionen bei den Zuschauern und Fans sie auslöst, zwischen Jubel und Kritik. Sie bietet in der Tat eine ganze Farbpalette, mehr als nur Schwarz und Weiß.

Bei der WM hatten die deutschen Starterinnen und Starter nur einen Titel gewonnen: Malaika Mihambo hatte sich Gold im Weitsprung gesichert. Hinzu war lediglich eine weitere Medaille für das gesamte Team gekommen. Die Statistik lügt nicht: So eine geringe Ausbeute hatte es für die deutschen Leichtathleten bei einer Weltmeisterschaft noch nie gegeben, entsprechend heftig fiel die Kritik aus. Dass für viele der Sportlerinnen und Sportler die „Europameisterschaft dahoam“ in München den eigentlichen Saisonhöhepunkt darstellte, wie unter anderem Niklas Kaul immer wieder betonte, ging im Orkan der Kritik unter. Und siehe da: In München war kurz darauf nicht nur die Stimmung fantastisch, sondern auch das Resultat: 16 Medaillen, darunter 7 goldene. Platz eins in der Nationenwertung. Gestern schlecht, heute wieder top. Ging es wirklich so schnell wieder nach vorn?

Das nun auch wieder nicht, wie sich ein Jahr später zeigen sollte. Bei der WM 2023 in Budapest lief es erneut bescheiden für die deutschen Leichtathleten. Ohne gesetzte Stars und Medaillenhoffnungen wie Mihambo oder Langstreckeneuropameisterin Konstanze Klosterhalfen gewann das deutsche Team nicht eine einzige Medaille, es war wie beim Eurovision Song Contest – Germany: zero points.

Plötzlich erschien wieder alles schwerfällig und zäh, und sofort wurde wieder der Ruf nach Konsequenzen laut. Cheftrainerin Annett Stein wurde abgesetzt, Sportdirektor Jörg Bügner mit größeren Kompetenzen ausgestattet. Doch ist so etwas auch im Sinne der Athleten?

Niklas Kaul wünscht sich bei der Beurteilung der sportlichen Leistungen mehr Wertschätzung – vonseiten der Öffentlichkeit ebenso wie von den Medien. „Eine gesunde Einordnung würde helfen, die Sportler bei der Stange zu halten“, gibt er im September 2023 zu bedenken. Statt sich einmal in die Situation der Sportler hineinzuversetzen, heiße es hierzulande schlecht gelaunt und kategorisch: „Wieder nur Platz acht.“ Was ist mit der individuellen Situation der Athleten? Unter welchen Bedingungen und Strukturen versuchen sie, sich nach ganz oben vorzuarbeiten, sich in der Spitze zu etablieren? Oft gehen sie halbtags einem Brotberuf nach, trainieren ohne finanzielle Sicherheit, in nicht immer optimal ausgestatteten Sporthallen und auf bisweilen sanierungsbedürftigen Sportplätzen. Und auch die Trainer können ihren Job nicht immer hauptberuflich ausüben. In diesem Zusammenhang lohnt der Blick auf Niklas Kaul, der mit seinem speziellen Umfeld den Sprung in die Weltelite geschafft hat. Sein Beispiel ist die Ausnahme. „Wir haben in Deutschland zu wenig Trainer für die vielen Menschen, die Sport treiben wollen“, stellt er nüchtern fest.

Die Leichtathletik ist zudem sehr global aufgestellt. Laufen, Springen, Werfen lassen sich überall praktizieren, und entsprechend fällt der Medaillenspiegel aus. Bei der WM 2023 taucht Deutschland gar nicht auf, dafür aber 46 andere Nationen. Insgesamt waren 2187 Athleten aus 202 Ländern von Afghanistan bis Zypern für die 49 Wettbewerbe in Budapest gemeldet.

Zudem ist die Leichtathletik eine zutiefst individuelle Sportart. Ein Einzelkönner wie der indische Speerwerfer Neeraj Chopra genügt da schon, um eine leichtathletische Außenseiternation mit einer Goldmedaille zu verwöhnen. Weltmeistertitel sicherten sich in Budapest Sportler aus Uganda, Marokko, Venezuela und Burkina Faso. Leer gingen dagegen große Leichtathletiknationen wie Gastgeber Ungarn und Frankreich aus, die Nation, die 2024 zu den Olympischen Sommerspielen nach Paris einlädt.

Im Zehnkampf, Kauls Disziplin mit der großen Breitenwirkung, Stichwort: Könige der Athleten, gewannen die beiden Kanadier Pierce LePage und Damian Warner in Budapest Gold und Silber. Kaul scheidet nach gutem Beginn mit einer Fußverletzung aus, wie schon bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021, erneut passiert es beim Hochsprung. Er hätte in Budapest weitermachen können, aber nicht mit voller Kraft, deshalb brach er den Wettkampf ab, auch mit Blick auf Paris 2024. Der deutsche Rekordhalter Leo Neugebauer wird nach Halbzeitführung Fünfter und zeigte, was für ein Potenzial in ihm schlummert. Insgesamt aber galt allgemein und speziell für die Zehnkämpfer in Budapest: Keine Medaille für Deutschland.

Überraschend gewann Lindon Victor aus Grenada Bronze mit 8756 Punkten – persönliche Bestleistung und Landesrekord mit dreißig Jahren. Victor trainiert in den USA und startet für einen Klub in Texas, wo er zuvor auch studierte. Und: Er ist der fünf Jahre jüngere Bruder des Zehnkämpfers Kurt Felix, der bei den Olympischen Spielen von Rio 2016 Neunter wurde. In diesem Fall war es das familiäre Vorbild, das den Bronzegewinner pushte.

Was aber bedeutet das Ergebnis von München für den Stellenwert der deutschen Leichtathletik insgesamt? Niklas Kaul nach seinem Coup im Olympiastadion:

„Es gibt Dinge, die nicht ganz optimal laufen. Die sollte man ansprechen. Aber wer den heutigen Abend verfolgt hat, wird gesehen haben, dass die gern totgesagte deutsche Leichtathletik zumindest noch ein bisschen lebt.“

Chaos mit Happy End

Niklas Kaul hatte stets betont, dass im Sportjahr 2022 die EM für viele deutsche Athleten und vor allem für ihn der emotionale Höhepunkt der Saison sein würde – trotz der vorgeschalteten WM, die vom Stellenwert her höher einzustufen ist. Hat sich seine Erwartung an München also erfüllt?

„Nein – es war besser, viel, viel besser.“

Dass Kaul im Nachgang seines Triumphs zum zweiten Mal zu Deutschlands Sportler des Jahres gekürt wurde, könnte auch mit seiner besonderen Geschichte zusammenhängen. Schon 2019 hatte er die Wahl gewonnen. Zuvor hatte er als jüngster Zehnkämpfer der Geschichte den Thron des Weltmeisters erobert. Niklas Kaul war der upcoming star, der künftige Stern, nicht nur am deutschen Sportlerhimmel. Doch die Zeit nach dem sensationellen Erfolg waren eine harte Schule für den jungen Eroberer der Festung Zehnkampf.

Aus dem Olympiajahr 2020 wurde das Coronajahr. Kaul ließ sich am Ellenbogen operieren – ein fälliger, aber zu diesem Zeitpunkt nicht zwingend notwendiger Eingriff –, weil er sowieso keinen einzigen Wettkampf bestreiten konnte. Beim nachgeholten Olympiazehnkampf 2021 startete er fulminant, um dann im Rollstuhl aus dem Stadion geschoben zu werden. Er hatte sich wie gesagt im Hochsprung beim geglückten Versuch über 2,11 Meter am Fuß verletzt. Den 400-Meter-Lauf ging er zwar noch an, musste dann aber unter Schmerzen abbrechen.

Auch das Wettkampfjahr 2022 begann mit einem abgebrochenen Zehnkampf. Es passierte in Ratingen, diesmal stoppte ihn ein eingeklemmter Halswirbel. Ellenbogen, Fuß, Nacken: Ist er womöglich nicht hart genug, um dauerhaft in der Zehnkampfszene zu bestehen? Er selbst wirkte nach dem Rückzug von Ratingen resigniert: „Ich möchte einfach mal wieder befreit Sport machen können.“

Am Jahresende, nach erfolgreich verlaufenem Rehaprogramm, sprach er im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung mit der Zufriedenheit und der Erleichterung des Wiedergenesenen über seinen Saisonverlauf:

„Ganz kurz kann man es als ‚Chaos mit Happy End‘ beschreiben. Es lief am Anfang gar nicht gut. Ich denke an den Mehrkampf in Ratingen, bei dem ich aussteigen musste. Rückblickend kam er einfach zu früh für mich. Dann musste ich nach Götzis und quälte mich mit Fußproblemen. Deshalb fehlten an der ein oder anderen Stelle ein paar Punkte. Dann kam immerhin ein sehr versöhnlicher Wettkampf bei der WM in Eugene. Plus das Highlight in München. Und damit kann ich sehr, sehr zufrieden aus der Saison rausgehen.“

Wenn man EM-Gold gewinne, so Kauls Fazit, sei es eigentlich egal, wie der Rest der Saison verlaufen sei, dann war es eine gute Saison. Aber für ihn sei es vor allem wichtig gewesen, drei Zehnkämpfe durchgestanden zu haben – erst das Meeting in Götzis, um sich überhaupt für die EM zu qualifizieren, was ihm mit 8303 Punkten auch gelang. Dann die WM in Eugene, bei der er als Titelverteidiger mit einer Wildcard antrat und den sechsten Rang belegte. Es war kein glanzvoller Wettkampf, aber er hatte mit 8434 Punkten seinen Nimbus als bester Deutscher vor dem aufstrebenden Leo Neugebauer gewahrt, der Zehnter wurde und 8182 Punkte erzielte.

Zuvor hatte Niklas Kaul seit seinem WM-Sieg 2019 zweieinhalb Jahre lang pausieren müssen, er hatte keinen einzigen Zehnkampf durchgestanden – in dieser Zeit war ihm die Wettkampfroutine abhandengekommen:

„Es ist das eine, Dinge im Training zu ändern, und das andere, sie im Wettkampf auch rüberzubringen.“

Und dann gehört auch Taktik dazu, etwa Prioritäten zu setzen. Obwohl die Weltmeisterschaft der wichtigere Wettbewerb war, hatte Kaul stets seinen Fokus auf die Europameisterschaft gelegt.

Es war dem unglücklichen Timing der Wettkampfplaner geschuldet, dass wegen einer aufgrund der Coronapandemie ausgefallenen WM binnen eines Sommers zwei Großereignisse zu bewältigen waren. Die eigentlich für 2021 geplante WM in Eugene war wegen der verschobenen Olympischen Spiele von Tokio um ein Jahr nach hinten gerutscht. Auch das war eine Folge von Corona.

Der Zehnkampf wurde bei der WM als traditioneller Abschluss an das Ende des Wettkampfprogramms gelegt (23./24. Juli). Bei der EM jedoch wurde er gleich als Knaller zum Auftakt ins Programm gesetzt, mit Kaul als Top Act. Das alles machte die Trainingsgestaltung für die doppelt startenden Athleten sehr kompliziert.

Niklas Kaul hatte schon als junger Athlet die EM 2018 in Berlin erleben dürfen und als emotionalen Höhepunkt in seinen Erinnerungen abgespeichert. Nicht nur weil er beim Sieg seines Teamkollegen Arthur Abele (er erreichte 8431 Punkte) mit damals persönlicher Bestleistung von 8220 Punkten überraschend Vierter geworden war, sondern wegen der überragenden Stimmung im Berliner Olympiastadion. Er ahnte daher, dass in München eine ähnlich gewaltige Atmosphäre herrschen würde, vielleicht sogar noch eine Prise gewaltiger. Deshalb fiel es ihm leicht, Eugene als eine Art Generalprobe für die beiden Wettkampftage im Olympiastadion zu kategorisieren. Es ist tatsächlich aufgegangen.

Weltmeister 2019

Der Name Niklas Kaul war am späten Abend des 3. Oktober 2019 erstmals auch einer größeren, an Sport interessierten Öffentlichkeit in Deutschland präsent. An jenem Feiertag überträgt das ZDF den Zehnkampf der Männer aus dem Khalifa International Stadium von Doha live, die Quote ist beachtlich: Leichtathletikgroßereignisse sind Zuschauermagneten. Und plötzlich sorgt ein deutscher Zehnkämpfer für Furore, steigert sich von Disziplin zu Disziplin.

An seinem traditionell schwächeren ersten Tag findet sich Kaul noch im hinteren Teil des Feldes wieder. Einigermaßen unbeachtet startet der WM-Novize mit einem „langsamen“ Sprint: 11,27 Sekunden – für einen Zehnkämpfer ist das unterdurchschnittlich. Platz zwanzig nach der ersten Disziplin. Doch es geht kontinuierlich nach vorn: Kaul verbessert sich über die Plätze sechzehn und zwölf auf Rang elf mit 4164 Punkten nach den fünf Disziplinen des ersten Tages. Rückstand auf die Spitze: 349 Punkte. Ganz vorne liegt der Kanadier Damian Warner (4513 Punkte). Er führt knapp vor seinem Landsmann Pierce LePage (4486) und dem Topfavoriten und Weltrekordhalter Kevin Mayer (4483) aus Frankreich.

Zweieinhalb Monate zuvor, am 13. und 14. Juli bei der U-23-Europameisterschaft in Gävle, Schweden, hatte Kaul seine persönliche Bestmarke auf 8572 Punkte gesteigert. Er gewinnt mit dieser Leistung nicht nur den EM-Titel bei den Junioren, sondern erfüllt damit zu diesem frühen Zeitpunkt bereits die Olympianorm für Tokio. Seine Punktzahl von Gävle ist vor dem Start in Doha die drittbeste aller 24 WM-Teilnehmer. Nur Mayer und Warner liegen in der Weltjahresbestenliste davor. Ein Außenseiter ist er also nicht, zumindest nicht im Kreis der Teilnehmer. In der öffentlichen Wahrnehmung sieht das jedoch anders aus, dort fliegt er unter dem Radar.

WM-Tag zwei ist dann sein Tag. Immer näher rückt der U-23-Europameister an die Spitze heran, immer verblüffender wird seine Aufholjagd, bis die Frage nach einer Medaille im Raum steht und welche Farbe sie haben könnte. Mayer verletzt sich beim 110-Meter-Hürdenlauf, Disziplin sechs von zehn, er übersteht den Diskuswurf nur mit Mühe und muss schließlich beim Stabhochsprung passen, der achten Zehnkampfstation. Warner büßt an seinem schwächeren zweiten Tag wie erwartet Boden und Punkte ein – und fällt zurück. Und Kaul? Nimmt seine Chance wahr und greift an.

Er steigerte sich über die Plätze neun und sechs auf drei – nach seinem unfassbaren Speerwurf, der neunten Disziplin, über mehr als fabelhafte 79 Meter steht Kaul auf einem Medaillenrang.

Kauls Fähigkeiten spiegeln sich in einer außergewöhnlichen Leistungskurve, die es ihm ermöglicht, lange Zeit unbeachtet im Klassement nach vorne zu surfen, bis auch dem letzten Starter klar wird, dass da plötzlich ein Konkurrent mitmischt. Kaul gerät in einen Flow, spätestens nach dem Speerwurf aufgeputscht von Adrenalin und dem begeisterten Publikum, und ist nicht mehr aufzuhalten. Dabei bleibt er stets ganz bei sich, unabhängig von den Zwischenresultaten. Das ist sein Markenzeichen, das er schon in jungen Jahren perfektioniert. Eine außergewöhnliche mentale Stärke.

Im 1500-Meter-Lauf gewinnt Niklas Kaul, der Außenseiter aus Mainz, der Mann des zweiten Tages, den Weltmeistertitel im Zehnkampf. König der Athleten mit 8691 Punkten. Mit gerade mal 21 Jahren. Als bisher jüngster Goldgewinner in dieser Disziplin.

Persönliche Höhepunkte

Niklas Kaul hebt in der Rückschau der beiden Tage von Doha vor allem zwei seiner Leistungen als seine größten Highlights hervor. Da ist zunächst der Speerwurf, sein zweiter Versuch. 79,05 Meter – ein Weltrekord für Speerwerfer innerhalb eines Zehnkampfs. Eine Fabelweite. Eine Sensation. Mit diesem Wurf hätte er einen Tag später sogar bei den Spezialisten einen Platz in den Top Ten erreicht.

Doch für ihn war dieser fulminante Speerwurf in den Abendhimmel von Doha auch ein persönlicher Auftrag:

„In dem Moment, wo mein Speer bei über 79 Metern gelandet ist, wusste ich, das reicht auf jeden Fall für eine Medaille. Und da war schon jede Menge Druck abgefallen. Weil ich doch sehr aufgeregt war vor dem Speerwurf. Die Zeit zwischen Stabhochsprung und Speerwurf war sehr schwierig zu verarbeiten für mich. Da bin ich erstmals hibbelig geworden.“

Nach dem Stabhochsprung, bei dem er 5,00 Meter überquerte – Warner aber nur 4,70 Meter – befasste sich Kaul erstmals mit dem Gedanken, dass er hier in der Wüste der Arabischen Halbinsel tatsächlich gewinnen könnte. Ein Wort setzte sich in seinen Gedanken fest: „Weltmeister“. „Und ab da kam ich nicht mehr richtig zur Ruhe.“

Diesmal empfindet er die Zeit zwischen Stab und Speer, mit mehr als zwei Stunden äußerst üppig bemessen, als sehr schwierig, ist entgegen seiner sonstigen Erfahrung sehr nervös. „Sonst habe ich in den Zehnkampfpausen immer geschlafen.“

Das klingt abgebrüht, doch es gelingt Niklas Kaul diesmal nicht. Umso erstaunlicher daher, dass ihm dann trotzdem der Speerwurf seines Lebens gelingt, der ihm die Chance auf Gold eröffnet. Das spricht für Kauls außergewöhnliche mentale Stärke.

Der Augenblick, als ihm das klar wird, war sein zweiter magischer Moment. Der 1500-Meter-Lauf:

„Als ich auf die Zielgerade komme, weiß ich: Das reicht. Hundertprozentig.“

Es ist die Nacht des 4. Oktober, 0:30 Uhr Ortszeit, als der Lauf beginnt. Kaul rennt dem Feld mit großem Vorsprung davon. Nur sein Teamgefährte Tim Nowak, in der Gesamtwertung auf Rang zehn, kann noch halbwegs mithalten. Im Ziel hatte der Este Maicel Uibo als Dritter 15 Sekunden Rückstand. Warners Abstand beträgt über 25 Sekunden.

Aus den Augenwinkeln sieht Kaul eingangs der Zielgeraden seitlich die mitlaufende Zeit auf der Uhr: „Die stand bei 3:58, und ich ahnte, das kann knapp Bestleistung werden.“

Auf alle Fälle schnell genug für den Titel. Die Zielgerade ist eine Art Ehrenavenue für den kommenden Sieger. „Diese letzten 100 Meter, die tun zwar weh wie Sau. Aber die machen auch einen Riesenspaß. Weil du weißt, jeder Schritt mehr ist ein Schritt Richtung Ziel, Richtung WM-Titel, und auch wenn du es da noch nicht so richtig fassen kannst, fällt doch viel Spannung von dir ab.“

Bei 4:15,70 Minuten stoppt die Zeit. Kaul gewinnt mit 8691 Punkten – persönliche Bestleistung – die Goldmedaille, Uibo holte mit 87 Zählern Rückstand Silber. Warner blieb Bronze mit weiteren 75 Punkten Rückstand. Niklas Kaul gelingt das Wunder von der Wüste. Unglaublich.

Die Ruhe nach dem Sieg

„Der Moment der Zielüberschreitung war ganz komisch. Weil: In dem Moment habe ich es überhaupt nicht verstanden. Klar, ich wusste: Ich bin jetzt Weltmeister. Aber so richtig verstanden habe ich es noch nicht. Und das hat auch noch gedauert bis zur Siegerehrung, bis ich mal ein paar Minuten Ruhe hatte und diesen Zehnkampf reflektieren konnte.“

In Doha sind so gut wie keine Zuschauer im Stadion, als Kaul sein Husarenstück gelingt. Zu heiß, zu wenig Interesse im Golfstaat, der es ohnehin nur darauf anlegt, der Welt zu zeigen, dass er in der Lage ist, sportliche Großereignisse auszurichten. Schon vor der viel diskutierten Fußball-WM 2022 bekommt Katar den Zuschlag für die Schwimm-WM 2014, die Handball-WM 2015, die Rad-WM 2016, die Turn-WM 2018 und auch die Leichtathletik-WM 2019.